3.1 Fragestellung und Suchthese

Die unterschiedlichen, oben dargestellten Forschungslücken und im Besonderen die Arbeiten von und mit Sebastián Ureta stellen den Ausgangpunkt des Forschungsinteresses dar, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Die Fragestellung dieses Vorhabens entspringt zudem vorwiegend aus eigenen Erkenntnissen und selbst erhobenen Daten zweier vorangegangener Untersuchungen. Zwischen 2014 und 2015 habe ich im Rahmen des Fondecyt-Projekts El desecho de Chile: Un análisis sociotécnico de las prácticas y políticas respecto del manejo de relaves mineros en el país, das von Sebastián Ureta geleitet wurde, zwei Teilprojekte durchgeführt. Bei dem ersten wurden, zusammen mit Florencia Mondaca, die Diskurse und Praktiken der betroffenen Bevölkerung gegenüber der Umweltrisiken von Tailings untersucht. Hierbei wurde neben dem Auftreten des environmental injustice-Phänomens vor allem die generelle Tatenlosigkeit (inaction) und Ungewissheit unter den beteiligten Akteuren konstatiert.Footnote 1 Im zweiten Projekt untersuchte ich die Hindernisse auf dem Weg zu einer Umweltregulierung mit Hilfe einer Genealogie des Prozesses der Generierung und Anwendung wissenschaftlichen Wissens über zwei Tailings. Hier wurde die Tatenlosigkeit (inaction) seitens der staatlichen Institutionen und Behörden, vor allem in Bezug auf das vorhandene Wissen, festgestellt. Das gesamte Fondecyt-Projekt hatte dabei eine explorative Ausrichtung, was dem beschränkten Forschungsstand zu diesem Thema innerhalb der Sozialwissenschaften geschuldet ist (Ureta 2013, 2016). Deshalb wurden die gewonnenen Erkenntnisse und die dadurch identifizierten Phänomene im Umgang mit Tailings, sowie ihre zentralen Dimensionen und Kategorien noch nicht als solche untersucht oder miteinander in Beziehung gesetzt.

Meine vorangegangenen Untersuchungen zeigen dabei, dass es im Falle der Tailings zu einer Überschneidung von toxischer Ungewissheit (Auyero & Swinstun 2008a), toxischer Frustration (Singer 2011) und slow violence (Nixon 2011) kommt, die in Kapitel 2 bereits näher beschrieben wurden. Genau wie bei den Forschungen von Auyero & Swistun (2008a, 2008b) und Singer (2011) wurden Unsichtbarkeit, Nichtwissen und inaction dabei als zentrale Bestandteile der slow violence identifiziert. Forschungen zu Phänomenen mit diesen drei Merkmalen sind in den Sozialwissenschaften – wie oben schon mehrfach erwähnt – kaum vertreten, da Umweltschäden meistens nur dann erforscht werden, wenn durch sie ein offener sozio-ökologischer Konflikt entsteht und sie somit durch die action der Betroffenen oder durch ein katastrophales Ereignis sichtbar werden. Die Sichtbarkeit der Tailings entsteht – wie bereits angedeutet – meist nur durch Unfälle (z. B. in Form von Dammbrüchen oder einem Leck), da sie fast nie den Ausgangspunkt offener Konflikte darstellen. Im chilenischen Kontext beschränkt sich die Literatur über Tailings deshalb vorwiegend auf die wenigen, oben aufgelisteten soziologischen Arbeiten und vereinzelten Untersuchungen von (Umwelt)HistorikerInnen, wie etwa die historische Aufarbeitung der Tailings in Chañaral von Angela Vergara (2011).

In Chile, ebenso wie in anderen „Bergbaunationen“, sind es vorwiegend und fast ausschließlich die Naturwissenschaften, die sich mit Tailings befassen. Im chilenischen Fall gibt es in dieser Hinsicht eine Reihe an Untersuchungen, die in der Vergangenheit sowohl von unabhängigen WissenschaftlerInnen (Universidad de Atacama 2001; Muñoz y Silva 2001; Cortéz y Silva 2000; CENMA 2011; Cortés 2009), von den Unternehmen selbst sowie von staatlichen Institutionen (Erberle und SERNAGEOMIN 1998a, 1998b, 2015; Ministerio de Medio Ambiente 2011, 2012) durchgeführt wurden. Innerhalb des Fondecyt-Projekts von Sebastián Ureta (2013) stellte sich allerdings heraus, dass dieses Wissen zwar existiert, aber größtenteils nicht verbreitet wurde. Die wissenschaftlichen Arbeiten verweilen bis heute meist unbeachtet in den Bibliotheken der Universitäten und in den Laboren. Staatliche Erhebungen wurden nur mangelhaft an die beteiligten Institutionen und gar nicht an die Betroffenen weitergeleitet. Manche der staatlichen Erhebungen sind zudem nicht mehr auffindbar. Bei Firmendaten besteht darüber hinaus kein Zugang für Externe. In den vorangegangenen Arbeiten konnte zudem aufgezeigt werden, dass die Informationen und das Wissen über ein bestehendes Risiko zwar ausschlaggebend für staatliches Handeln sind, allerdings dieses nicht unbedingt hervorrufen. Es wurde deutlich, dass es selbst in den zahlenmäßig geringen Fällen, in denen das notwendige Wissen vorhanden ist, meist zu einer Tatenlosigkeit der Institutionen gegenüber den Umweltschäden und der betroffenen Bevölkerung kommt, was neben einer Reihe anderer Faktoren vorwiegend organisatorischen Probleme und mangelndem Wissensaustausch geschuldet ist (Ureta, Mondaca & Landherr 2018).

Die Forschungslücke lässt sich zusammengefasst wie folgt darstellen: Es handelt sich bei der slow violence, die von den Tailings des chilenischen Bergbaus ausgeht, um (materiell) unsichtbare Umweltprobleme, die meist Bevölkerungsgruppen betreffen, die innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen und den Sozialwissenschaften im Besonderen wenig oder keine Beachtung finden (unsichtbare Betroffene). Deshalb bleibt auch die von ihnen erlebte slow violence unbeachtet und äußerst sich höchstens in einem latenten Konflikt. Meine Arbeit setzt sich im Folgenden zum Ziel, die spezifischen Mechanismen zu untersuchen, die dazu führen, dass das zahlenmäßig und von seinen (naturwissenschaftlich nachgewiesenen) Folgewirkungen so umfassende Problem der Tailings in Chile nur in seltensten Fällen zu offenen Konflikten oder sozialem und politischem Handeln führt und somit die öffentliche Wahrnehmung so gut wie nie erreicht. Um dies zu tun, ist es zunächst notwendig, die zentralen Charakteristika der slow violence im chilenischen Bergbau mit Blick auf die Tailings zu untersuchen. Die generelle Unsichtbarkeit des Phänomens sowie das Nichtwissen und die inaction der Akteure (z. B. staatliche Institutionen, Unternehmen, Medien, Wissenschaft, Bevölkerung, Zivilgesellschaft) gegenüber der Problematik kennzeichnen die slow violence der Abfallproduktion des chilenischen Bergbaus. Der vorliegenden Forschung liegen deshalb folgenden Forschungsfragen zugrunde: Warum bleiben Tailings trotz ihrer enormen Belastung für Mensch und Umwelt weitgehend „unsichtbar“? In welcher Beziehung stehen Wissen/Nichtwissen und action/inaction der Akteure zur Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit des Phänomens? Wie, warum und durch wen wird das slow violence-Phänomen unsichtbar gehalten oder sichtbar gemacht? Welche sozialen Mechanismen, Interessen und Strukturen stecken hinter dem Phänomen der Unsichtbarkeit und führen zu ihrer konkreten aktuellen Ausprägung? Welche Strukturen, Mechanismen und Akteure verhindern die Sichtbarkeit? Wann kommt es zu latenten und wann zu manifesten Konflikten in Bezug auf Tailings? Unter welchen Umständen wird dieses slow violence-Phänomen sichtbar? Die zentrale These dieser Arbeit besteht darin, dass alle drei Kategorien – (Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Wissen und (in-)action – in ihren jeweiligen positiven oder negativen Ausprägungsformen miteinander korrelieren und sich wechselseitig verstärken, wobei die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure gegenüber der Problematik direkt von den Wechselwirkungen abhängen.

Bei der empirischen Forschung wurde berücksichtigt, dass auch soziale und ökologische Gegebenheiten – allen voran die Materialität chemischer Stoffe – als auch nationale und globale Strukturen sowie eine Reihe weiterer „externer“ Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Ausprägung der drei Kategorienpaare haben und somit Teile dieser Frage beantworten. Allerdings wird der Fokus der Forschung auf die handelnden Akteure gesetzt, auf ihren Wissensstand und Umgang mit dem Nichtwissen, auf ihre action/inaction und auf ihre Beteiligung an der Sichtbar-/Unsichtbarmachung der Tailings als gesellschaftliches Problem. Der Blick auf die Akteure und deren Beziehungen untereinander ist zudem von Bedeutung, um hinter den drei zentralen Charakteristika der slow violence im chilenischen Bergbau, Fragen nach gesellschaftlichen Interessen sowie nach Macht und Herrschaft zu stellen. Diese können einen Beitrag dazu leisten, zu verstehen, warum es in vielen Fällen zu keinen (offenen) Konflikten beziehungsweise keinem problemorientierten Handeln bezüglich der Tailings kommt. Die Ergebnisse meiner Forschung werden dann in einem abschließenden Kapitel (9) nochmals mit der bereits dargestellten, bestehenden Literatur in Verbindung gebracht, um diese in Bezug zu den Strukturen und Mechanismen der Unsichtbarkeit auf der Makroebene zu setzen.

3.2 Forschungsheuristik

Im Folgenden nutze ich die im Theorieteil dargestellten zentralen Elemente und Dimensionen der slow violence und die daraus gewonnenen Kategorien zur Operationalisierung meiner Forschungsfragen. Die folgende Heuristik soll aber keineswegs als Leitfaden fungieren, dem die Empirie nur als theoretische Überprüfung dient. Sie stellt eine Art flexiblen Wegweiser dar, der anhand der Befunde im Laufe dieser Arbeit verändert oder erweitert wurde. Während die empirischen Erkenntnisse im Mittelpunkt stehen, kann diese Forschung gleichzeitig nicht ohne Berücksichtigung der bestehenden Theorie und der strukturellen Erklärungsversuche auskommen. Diese werden als Bereicherung und Analyseinstrumente der erhobenen Daten dienen und – im Sinne der Grounded Theorie – im weiteren Forschungsprozess im Dialog mit der Empirie und den aus ihr abgeleiteten theoretischen Erkenntnissen stehen.

Das Konzept der slow violence (siehe Kapitel 2) wird als analytischer Rahmen dieser Arbeit verwendet, innerhalb dessen anschließend der Fokus auf die handelnden Akteure gelegt wird. Die spezifischen materiellen Gegebenheiten und strukturellen Bedingungen, in denen sich die Akteure bewegen, wurden wiederum anhand der empirischen Forschung herausgearbeitet. Welche der hier ausgeführten theoretischen Ansätze auch in der Analyse der Daten aufgenommen wurden, wurde von den Forschungsergebnissen abhängig gemacht, um zu vermeiden, dem Forschungsgegenstand schon mit vorgefertigten Annahmen zu begegnen. Dazu habe ich die folgende Heuristik erstellt, die die zentralen Kategorien der Forschungsfragen miteinander in Verbindung bringt (Abbildung 3.1). Die dieser Forschung zugrunde liegende These besagt vorrangig, dass die drei zentralen Charakteristika der untersuchten slow violence-Phänomene in enger Verbindung und Wechselwirkung zueinanderstehen, sich teilweise gegenseitig bedingen und verstärken und die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure bestimmen.Footnote 2

Abbildung 3.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Kategorienpaare der Heuristik und ihre Wechselwirkungen.

Die drei zentralen Kategorien der Un-/Sicherbarkeit, des Nicht-/Wissens und der in-/action werden in den empirischen Kapiteln dieser Arbeit, auf die in jedem der drei Fälle identifizierten, beteiligten Akteure angewandt. Auf diese Weise möchte ich herausfinden, wie die jeweiligen Kategorien zueinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Um dies zu analysieren, arbeite ich im Vorfeld in den folgenden Abschnitten ihre wichtigsten Merkmale und Ausprägungsformen heraus. Alle drei Konzepte werden dabei bezüglich des gesellschaftlichen (Umwelt-)Problems der Tailings definiert. Sie stellen sich demnach als das (Nicht-)Wissen über die potenziellen Risiken der Tailings, die gesellschaftliche (Nicht-) Wahrnehmung dieser Risiken als Umwelt- und Gesundheitsprobleme und den (in)actions der beteiligten Akteure gegenüber diesem Problem dar.

Abbildung 3.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Korrelation der positiven und negativen Ausprägungen der Heuristik-Kategorien.

Die Suchthese dieser Arbeit geht von einer Korrelation und einem sich wechselseitigen Bedingen der drei Kernkategorien in ihrer jeweils positiven oder negativen Ausprägung aus (Abbildung 3.2). Dennoch sind die Kategorienpaare dabei nicht jeweils als zwei einzig mögliche absolute Gegensätze zu verstehen, sondern als ein Kontinuum von möglichen Ausprägungsformen zwischen diesen Gegensätzen (siehe Ausführung in den folgenden Abschnitten). Dabei stellt das Kategorienpaar der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit die größte empirische Herausforderung dar, da es bisher am wenigsten erforscht ist.

3.2.1 Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit

Jared Diamond beschreibt in seinem Buch „Kollaps“, warum manche Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit überlebten und andere untergingen. Dabei wird deutlich, dass die schwerwiegendsten Umweltkatastrophen für Gesellschaften jene sind, die sich in Form einer slow violence darstellen und die aus verschiedenen Gründen für die entsprechenden Bevölkerungen so lange unsichtbar und unbehandelt blieben, bis die Konsequenzen irreversibel geworden sind (Diamond 2010). Dies hat in der Geschichte der Menschheit immer wieder zum völligen Zusammenbruch von Gesellschaften geführt, wenn durch die selbstverursachten Umweltprobleme ihre gesamten Lebensgrundlagen zerstört wurden. Vor diesem Hintergrund und insbesondere dann, wenn wir aktuelle Probleme des Klimawandels betrachten, erscheint es besonders wichtig, herauszufinden, weshalb und wie solche Probleme trotz ihrer größtenteils schwerwiegenden Konsequenzen und oftmals irreversiblen Schäden für die große Mehrheit verborgen bleiben. Deshalb steht die Unsichtbarkeit sozial-ökologischer Probleme im Mittelpunkt meines Dissertationsvorhabens. Dabei sollen die in Kapitel 2 größtenteils aufgeführten strukturellen Aspekte, die zur (Un-)Sichtbarkeit führen oder beitragen –wie etwa die durch die globale Arbeitsteilung bedingte räumliche Distanz zwischen Produktion und Konsum– zwar berücksichtigt werden, allerdings nicht im Vordergrund stehen. Der Fokus wird auf die Akteure gesetzt, die sich innerhalb dieser Rahmenbedingungen bewegen, um zu untersuchen, wie es konkret zu Unsichtbarkeit oder Sichtbarkeit eines solchen Phänomens kommt und wie die jeweiligen Akteursgruppen daran beteiligt sind. Dies ist besonders wichtig, da die frühzeitige gesellschaftliche Wahrnehmung eines Umweltproblems von zentraler Bedeutung dafür ist, Lösungen für diese Art der sozio-ökologischen Belastungen und Ungleichheiten zu finden, bevor sie sich in Form von Katastrophen äußern. Deshalb stellte sich auch schon Rob Nixon in Bezug auf slow violence die Frage nach der Möglichkeit ihrer Sichtbarmachung:

„In an age when the media venerate the spectacular, when public policy is shaped primarily around perceived immediate need, a central question is strategic and representational: how can we convert into image and narrative the disasters that are slow moving and long in the making, disasters that are anonymous and that star nobody, disasters that are attritional and of indifferent interest to the sensation-driven technologies of our image-world?“ (Nixon 2011:3)

Ab wann etwas als sichtbar oder unsichtbar gilt, ist allerdings schwer zu definieren,Footnote 3 denn es gibt viele verschiedene Ebenen und Formen der „Sichtbarwerdung“. Sichtbarkeit entsteht bei dieser Art von Umweltbelastungen im Wesentlichen erstens durch Wissen, das darüber produziert und verbreitet wird (Wissenschaft, Medien, Politik), zweitens durch die actions der Akteure (z. B. die Entstehung eines Konflikts oder die Durchsetzung einer Umweltregulierung) sowie drittens durch gelegentliche katastrophale Unfälle wie etwa einen Dammbruch oder die Vergiftung von Trinkwasser. Wissen und action sind dabei zwar wichtige Bestandteile der Sichtbarkeit, sie garantieren allerdings nicht, dass Tailings seitens der beteiligten Akteure und innerhalb der öffentlichen Wahrnehmung als zu lösendes Problem oder Risiko angesehen werden.

Die genauere Analyse der Hintergründe der Unsichtbarkeit von Umweltproblemen, die sich in Form einer slow violence darstellen, ist auch deshalb relevant, weil in den Medien, der Politik und auch in den Sozialwissenschaften besonders jene Probleme unbehandelt bleiben, die gesellschaftlich gar nicht erst als Problem erkannt oder anerkannt werden. Bei Umweltproblemen geschieht diese Anerkennung generell meist durch die Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts. Dies bedeutet aber bei weitem nicht, dass ohne manifesten Konflikt auch kein (Umwelt-)Problem besteht, sondern oftmals vielmehr, dass die Sichtbarkeit des Problems durch materielle Gegebenheiten, Strukturen, Machtverhältnisse oder bestimmte Mechanismen unsichtbar gehalten wird (Auyero & Swinstun 2008b; Singer 2011; Landherr & Graf 2021). Für die Sichtbarkeit eines sozial-ökologischen Problems spielen folglich Wissen, action, katastrophale Ereignisse und Konflikte eine zentrale Rolle, wobei gleichzeitig sowohl psychische Prozesse, die mediale Berichterstattung als auch soziale Interessen von zentraler Bedeutung sind, auf die ich im Weiteren schlaglichtartig eingehen werde.

Sichtbarkeit wird in dieser Forschung als Wahrnehmung eines Phänomens – in diesem Fall der vom Bergbau produzierten Tailings – als zu lösendes (Umwelt-)Problem verstanden. Dabei muss diese Wahrnehmung nicht unbedingt durch eine offiziell anerkannte Risikodiagnose –etwa durch naturwissenschaftliche Untersuchungen – bestätigt sein. Sichtbarkeit ist demnach nicht mit dem bestehenden offiziell anerkannten Wissen über ein Phänomen gleichzusetzen. Die Wahrnehmung von Umweltproblemen und die daraus resultierenden „Umweltängste“ sind lokal und historisch gebunden, weshalb die erlebte Bedrohung nicht unbedingt mit der objektiven Umweltbelastung einhergeht (Matthies 1994: 3; Slovic 1999). Die subjektive Einschätzung der Gefahren durch Umweltbelastungen ist wesentlich durch die Möglichkeiten der Betroffenheit geprägt (Matthies 1994: 2, Slovic 1987:283 f.). Dies führt zu sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen unter den verschiedenen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette, von den AnwohnerInnen des Extraktionsort und den Beteiligten am Produktionsprozess bis hin zu den KonsumentInnen des Endprodukts. Bei den Bevölkerungsgruppen, die ein unmittelbares Interesse am reibungslosen Funktionieren der Bergbauindustrie haben, wird diese Mitverantwortung oftmals durch ein individuelles und kollektives Vergessen im Sinne eines „Nicht-wissen-Wollens“ verdrängt (Lessenich 2016:67 f.).Footnote 4 Das externalisierende Handeln baut demnach nicht nur auf äußeren Strukturen, sondern auch auf psychischen Strukturen auf: „Auslagerung und Abwälzung, Verdrängung und Abspaltung, Entlastung und Umlenkung sind nicht nur sozialen, sondern auch psychische Praktiken (in) der Externalisierungsgesellschaft […]. Das belastende Moment oder Motiv wird gewissermaßen nach außen verlagert und einem konkreten oder abstrakten Gegenüber zugeschrieben, um das innere Gleichgewicht aufrechtzuerhalten“ (Lessenich 2016:68). Deshalb wird laut Lessenich „die psychische Belastung eines allgemeinen Wissens um die – oder zumindest einer Ahnung von den – Bürden, die anderen Menschen und Weltregionen auferlegt wird, vom kollektiven Gefühlsleben abgetrennt und ins Jenseits der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschoben“ (Lessenich 2016:69). Dieses externalisierende Handeln stellt eine der zentralen Praktiken der Unsichtbarmachung des Problems der Tailings auf globaler Ebene dar.

Auf der anderen Seite sehen sich die Betroffenen der Bergbauindustrie auf lokaler Ebene den Gefährdungen durch Umweltbelastungen direkt ausgesetzt. Je größer dabei die wahrgenommene Bedrohung ist, desto häufiger sind auch die daraus resultierenden psychischen Belastungen und Stresssymptome, so Matthies (1994: 2). Ausschlaggebend für diese Wahrnehmung ist – und dies gilt besonders bei Belastungen, die nicht direkt wahrnehmbar sind – einerseits das Wissen über die Gefährdung als auch der öffentliche Diskurs darüber in den Medien (Matthies 1994:3). Die Präsenz und die Darstellung der Tailings im hegemonialen Diskurs, in den Medien, der Politik und der Wissenschaft, sind für die Sichtbarkeit durchaus ebenso wichtig (Nixon 2011) wie das Wissen/Nichtwissen an sich (siehe folgender Abschnitt). Kulturelle Aspekte (Machado 2014; de Sousa Santos 2010) und die einzelnen Interessen der Entscheidungs- und Verantwortungsträger, der Zivilgesellschaft, sowie der betroffenen Bevölkerung und die Wissens- und Machtasymmetrien (Foucault 1978) zwischen ihnen, haben wiederum großen Einfluss auf die actions der einzelnen Akteure und das Wissen, das über Tailings produziert wird. Ob ein Umweltproblem als solches anerkannt wird, hat also oftmals weniger damit zu tun, ob es tatsächlich schädlich für die Natur, die Ökosysteme und die Gesundheit ihrer BewohnerInnen ist, als vielmehr damit, ob es gesellschaftlich als solches definiert wird. Die öffentlichen Medien wiederum berichten besonders häufig über einmalige und eindeutige Risiken sowie deren Ursachen und Auswirkungen, während abstrakte und chronische Risiken meistens von der Berichterstattung ausgeschlossen werden (Nerb et al. 2001). Dramatische Vorfälle und Gefährdungen, die medienwirksam in Szene gesetzt werden können, werden hingegen künstlich als besonders bedrohlich dargestellt bzw. hervorgehoben (Synger & Endreny 1994; Sandman 1994). Risikowahrnehmung bzw. die wahrgenommene Bedrohung hat wiederum bedeutenden Einfluss auf die individuellen und kollektiven actions gegenüber den dafür verantwortlichen Umweltproblemen (Sandman et al. 1998). Sie bedingt somit die Entscheidungen und die Handlungen der (betroffenen) Personen (Slovic 1987). Die Risikowahrnehmung setzt sich dabei aus einer Reihe psychosozialer, kultureller, politischer und individueller Elemente zusammen und wird laut Paul Slovic (1987: 283 f.) unter anderem durch folgende Faktoren verstärkt: erstens, dass das Risiko eine katastrophale Erscheinungsform hat, zweitens dadurch, dass Ursachen und Konsequenzen als ungewiss und unkontrollierbar wahrgenommen werden, drittens dadurch, dass die Betroffenen dem Risiko unfreiwillig ausgesetzt sind, viertens wenn verletzliche Personengruppen besonders betroffen sind (Kinder, Ältere, Vorerkrankte, usw.), fünftens wenn ein niedriges Vertrauen in Behörden und beauftragte Institutionen besteht, sechstens wenn die öffentlichen Medien darüber berichten, siebtens wenn ähnliche Fälle und ihre Folgen bereits bekannt sind, achtens wenn kein positiver Ausgleich für die Gefahrenexposition gesehen wird (etwa wirtschaftliche Vorteile), neuntens wenn dafür aber ein Dritter Nutzen aus den eigenen Kosten schlägt, zehntens wenn die Folgen als irreversibel eingestuft werden, elftens wenn die Ursachen und Konsequenzen sowie ihre zeitliche Verzögerung als unklar wahrgenommen werden und zwölftens wenn die Betroffenen identifizierbar sind und eine Zugehörigkeit zu ihnen empfunden wird sowie zuletzt, wenn das Umweltproblem durch menschliches Handeln (oder technologisches Versagen) ausgelöst wurde.

Ökologische- oder Umwelt-Risikowahrnehmungen sind demnach soziale Konstruktionen, die auf der Interaktion zwischen Individuen und Gruppen basieren und unter anderem Ergebnisse früherer Erfahrungen sind, die ihnen ein kognitives Schema bieten, um diese Risiken zu definieren, zu verstehen und ihnen zu begegnen (Weber et al. 2000). Unter den direkten Betroffenen ist in früheren Untersuchungen selbst bei einem vorhandenen Bewusstsein von den vor Ort bestehenden Gesundheitsrisiken oftmals eine starke affektive Bindung an einen bestimmten Ort beobachtet worden (Altman & Low 1992), weshalb sie tendenziell eine räumliche Nähe zu diesem Ort wahren (Hidalgo & Hernández 2001), obwohl sie eine Gefahr für ihre Gesundheit wahrnehmen. Dies kann (zusammen mit anderen Gründen) unter den Betroffenen teilweise zu einer kognitiven Dissonanz führen, wobei die Risikowahrnehmung (nach unten) angepasst wird, um dem ständigen Zweifel zu entgehen, der sich aus dem verdrängten Wissen ergibt, ununterbrochen einer unausweichlichen drohenden Gefahr ausgesetzt zu sein (Festinger 1957). Dadurch können die negativen Emotionen und besonders die Angst kontrolliert und somit das alltägliche Handeln ermöglicht werden (Slovic 2000).

Slow violence-Phänomene, wie sie die Tailings des chilenischen Bergbaus darstellen, sind –besonders für die Betroffenen – oftmals schwer wahrzunehmen, da sie aufgrund ihrer Materialität für die menschlichen Sinne unsichtbar sind (Ureta 2022) und sich wegen der zeitlichen Verzögerung zwischen Ursache und Wirkung der menschlichen Wahrnehmung entziehen (ebd.) und somit ohne ein konkretes Wissen über ihre Existenz und Zusammensetzung oftmals kaum nachvollziehbar sind (Nixon 2011).Footnote 5 Deshalb spielt bei ihnen – viel stärker als bei anderen Umweltproblemen – die Wissensproduktion und besonders die Risiko- und Gefahrendefinition bezüglich des Phänomens eine zentrale Rolle für die (An-) Erkennung des Problems als solches und somit auch für die Möglichkeit ihrer Sichtbarkeit. Das wissenschaftlich erzeugte Wissen ist dabei besonders ausschlaggebend für die Risikoeinschätzung und Gefahrenwahrnehmung seitens staatlicher Behörden und den verursachenden Unternehmen selbst. Auf die besonderen Herausforderungen der Wissensproduktion werde ich im nächsten Abschnitt detailliert eingehen.

Während eine Großzahl der chilenischen Tailings in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existiert (Ureta 2022), besteht teilweise auf lokaler Ebene eine deutliche Gefahrenwahrnehmung. Es lässt sich eine Divergenz zwischen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und jener vieler Betroffener feststellen. Die häufig vor Ort existierenden latenten sozial-ökologischen Konflikte, deren Ursachen keine gesellschaftliche Anerkennung erlangen, sind in meiner Analyse von zentraler Bedeutung. Dabei gilt es auch zu klären, warum diese Konflikte es nicht schaffen, manifest zu werden und öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. Wie bereits dargestellt, werden in den Sozialwissenschaften Umweltprobleme meist dort untersucht, wo sie durch einen manifesten Konflikt sichtbar geworden sind, weshalb eine Großzahl der bestehenden sozial-ökologischen Probleme – darunter besonders slow violence-Phänomene – nicht als solche wahrgenommen, anerkannt und untersucht werden (Landherr & Graf 2021; siehe auch Kapitel 2). Das Ausbleiben eines manifesten Konflikts bedeutet allerdings – wie oben bereits dargestellt – keineswegs, dass die betroffene Bevölkerung die negativen Konsequenzen nicht spürt oder wahrnimmt (Auyero & Swinstun 2008b; Singer 2011; Ureta et al. 2018). Wie meine empirische Forschung zeigen wird, tragen gerade die oftmals ausbleibende agency der Betroffenen sowie die Bergbauunternehmen mit ihren unterschiedlichen Machtressourcen dazu bei, dass die Konflikte vor Ort latent bleiben und ihnen keine größere Aufmerksamkeit zu Teil wird (siehe etwa Kapitel 6 und 7 sowie Landherr & Graf 2017, 2021).

Sichtbarkeit wird folglich für diese Forschung konkretisiert als die oftmals sehr unterschiedlichen (Gefahren-)Wahrnehmungen spezifischer Akteursgruppen, um sie in Zusammenhang mit ihrem jeweiligen (Nicht-)Wissen und (in)actions bezüglich der Tailings zu bringen. Andererseits wird die gesellschaftliche (Un-)Sichtbarkeit der sozial-ökologischen Probleme, die mit Tailings einhergehen, an einer gewissen Einigkeit unter allen beteiligten Akteuren über die diesbezüglichen Risiken und Gefahren sowie an deren Anerkennung durch offizielle Behörden festgemacht.Footnote 6 Grundsätzlich wird in dieser Arbeit unter gesellschaftlicher Sichtbarkeit verstanden, dass der Großteil der beteiligten Akteure das Phänomen als ein Problem wahrnimmt, für das eine Lösung gefunden werden muss. In der vorliegenden Forschung wird deshalb zum einen die (Nicht-)Wahrnehmung der Tailings als Problem seitens der unterschiedlichen Akteure (Betroffene, Staat, Unternehmen, Zivilgesellschaft, WissenschaftlerInnen) sowie die öffentliche Problemwahrnehmung, die in den Medien und hegemonialen Diskursen zirkuliert, untersucht. Dabei werden letztere auch auf ihre gesellschaftliche Legitimität und Reichweite und den daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten analysiert. Dabei sollen neben den geäußerten Diskursen der unterschiedlichen AkteurInnen auch implizite Wahrnehmungen, die sich etwa in bestimmten (teils auch institutionalisierten) Praktiken oder Handlungen äußern, berücksichtigt werden.

Für diese Forschung sind bezüglich der Sichtbarkeit des durch Tailings verursachten Umweltproblems folglich einerseits die Gefahren- und Risikowahrnehmung der Betroffenen und ihre Reichweite innerhalb der Gesellschaft relevant. Andererseits spielen – wie im Folgenden deutlich wird – die inneren und äußeren Möglichkeitsbedingungen (in Anlehnung an Foucault 1991) der Sichtbarkeit eine entscheidende Rolle für die Bevölkerung vor Ort. Die Möglichkeitsbedingungen der Sichtbarkeit beinhalten sowohl anerkannte Gefahren- und Risikodefinitionen bezüglich eines Phänomens, welche eine soziale oder ökologische Gefährdung als solche überhaupt einstufen lassen als auch die den spezifischen slow violence-Phänomenen inhärenten Unsichtbarkeitsmerkmale, -strukturen und -mechanismen (bspw. Materialität, Zeit und Raum). Diese Unsichtbarkeitsmerkmale, die vorwiegend für die Bevölkerung vor Ort eine große Rolle spielen, werden im Folgenden kurz dargelegt und anschließend durch die in der Soziologie der Abwesenheit identifizierten Logiken (de Sousa Santos 2010) ergänzt.

Die generelle Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen setzt sich – wie in Kapitel 2 bereits angedeutet – aus drei wesentlichen Bestandteilen zusammen, die sich gegenseitig verstärken. Diese Phänomene sind –wie schon beschrieben– oftmals unsichtbar, weil sie sich aufgrund ihrer Materialität, ihrer räumlichen Distanz und der zeitlichen Verzögerung zwischen Ursache und Wirkung der menschlichen Wahrnehmung entziehen und ohne ein konkretes Wissen über diese Tatsachen kaum nachvollziehbar sind (Nixon 2011). Die materielle Unsichtbarkeit der Tailings und die daraus folgenden Schwierigkeiten diese nachzuweisen, als Gesundheits- und Umweltproblem einzustufen und in offizielles Wissen zu transformieren, wurden ausführlich im Kapitel 2 dargestellt und werden in Abschnitt 3.2.2 weiter ausgeführt. Die Wissensproduktion steht vor großen Herausforderungen was die Wirkungen von Chemikalien und Schwermetallen anbelangt und führt in mehreren Bereichen zu „allgemeinem Nichtwissen“ gegenüber den aus ihnen entstehenden Umweltproblemen (siehe Abschnitt 3.2.2). Ein weiterer Faktor bei chemischen Schadstoffen, der zu ihrer Unsichtbarkeit beiträgt, ist die Problematik, dass sich ihre Wirkung meist erst über lange Zeiträume entfaltet oder es einer sehr hohen Dosis bedarf, um eine direkte Wirkung und somit einen direkten Zusammenhang zur Ursache herzustellen. Während also die Konsequenzen meist erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar werden, bleibt die Ursache oftmals unerkannt. Hinzu kommen die (Unsichtbarkeits-)Mechanismen, die aus den individuellen und kollektiven actions (Verhalten, Handlungen, Praktiken) der jeweiligen AkteurInnen und deren Interaktion und Beziehungen untereinander entstehen (siehe Abschnitt 5.2.3). Die räumliche Distanz zwischen NutznießerInnen und Umweltproblem und die strukturellen Mechanismen, die zur Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen dieser Art auf nationaler und globaler Ebene führen, wurden außerdem bereits in den Abschnitten 2.2 bis 2.4 dargestellt. All diese Faktoren, die zur Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen führen und teilweise in dieser Forschung empirisch untersucht werden, werden im Folgenden zudem durch das Konzept des abyssalen Denkens ergänzt, das es ermöglicht, die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit der Sichtbarkeit bestimmter Phänomene besser zu begreifen. Dabei handelt es sich um eine gemachte, institutionalisierte und strukturell verankerte Unsichtbarkeit, die durch das, was Boaventura de Sousa Santos (2010) das abyssale Denken nennt, produziert und aufrechterhalten wird. Da diese Dynamik der Unsichtbarkeit auch die Sozialwissenschaften und die in dieser Arbeit empirisch untersuchten Fälle betrifft, werde ich im Folgenden näher auf sie eingehen.

Das abyssale Denken (de Sousa Santos 2010) hat zur Folge, dass gewisse Ereignisse, Gegebenheiten, Probleme und Realitäten keinen Platz in den hegemonialen (westlichen) Denksystemen haben. Dabei kommt es auch zur Unsichtbarkeit oder „Nicht-Existenz“ von gesellschaftlichen Problemen und Forschungsgegenständen im hegemonialen Diskurs und den westlich dominierten Sozialwissenschaften. In der Folge spricht de Sousa Santos von einer derzeit bestehenden Soziologie der Abwesenheit, die durch eine Soziologie der Emergenzen ergänzt werden müsse, um die Unsichtbare konstitutive Kehrseite der Moderne und ihrer Wissens- und Produktionsformen untersuchen zu können (siehe Abschnitt 2.2.5). De Sousa Santos (2010: 22 ff.) zeigt fünf Logiken des abyssalen Denkens und ihrer monokulturellen Rationalität auf, die als „Nicht-Existenz“ dasjenige produzieren, was als Unwissen, rückständig, unterlegen, lokal und unproduktiv gilt. Einerseits geschehe dies durch eine „Monokultur des Wissens“ (ebd.: 22), die das Wissen und die Wahrheit für sich bzw. für die moderne Wissenschaft beansprucht. Alles, was sie nicht legitimiert, gilt als ignorant und unwissend, denn ohne wissenschaftliche Belege ist seine Existenz nicht bewiesen. Zweitens bringe die „Monokultur des linearen Denkens“ (ebd.) eine Auffassung hervor, nach der bestimmte Gruppen als rückständig oder zurückgeblieben wahrgenommen werden. Ihre Prämissen sind der Fortschritt, die Evolution, die Modernisierung, die Entwicklung, das Wachstum und die Globalisierung. Die Zentren haben in dieser hierarchisch linearen Geschichtsschreibung den höchsten Stand, sie besitzen demnach den höchsten Wissensstand und die gültigen Wissensformen sowie die besten Institutionen und Gesellschaftsformen. Alle anderen sind im Vergleich rückständig und je nach Epoche primitiv, wild, traditionell, vormodern, einfach, überholt oder „unterentwickelt“. Drittens identifiziert er die Logik der Sozialen Klassifizierung (die Monokultur der Naturalisierung der Unterschiede), die die Einteilung der (Welt-)Bevölkerung in hierarchisierte Gruppen zur Folge hat. Die Hauptäußerungsform davon ist die rassifizierte und geschlechtliche Unterteilung, die – im Gegensatz zur Beziehung zwischen Kapital und Arbeit – die Beherrschung der Einen durch die Anderen als Konsequenz und nicht als Ursache der Hierarchie darstellen. Es erscheint als eine absichtslose, ausweglose, unüberwindbare – da natürliche – Hierarchie. Die „Nicht-Existenz“ wird dadurch produziert, dass der/die Unterlegene konsequenterweise keine glaubwürdige Alternative für die Überlegenen darstellen kann (de Sousa Santos bezieht sich hier auf Quijano, Mignolo, Dussel, Wallerstein, etc. siehe hierzu Kapitel 2). Die vierte Logik ist die der dominanten Skala. In der westlich modernen Denkweise ist diese, die des Universellen und Globalen. Der Universalismus setzt sich über alle spezifischen Kontexte hinweg durch. Besonderes und Kontext-Abhängiges wird absorbiert, denn die Globalisierung hat innerhalb der (Sozial-)Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten höchste Priorität erlangt. Die expansiven Entitäten und Realitäten stehen also im Mittelpunkt und definieren in ihrem Tun alle anderen Realitäten als lokal oder speziell. Sie gelten als Ausnahmen, Besonderheiten oder Seltenheiten und existieren nur marginal, am Rande des universellen und globalen Modus. Die letzte Logik ist die produktivistische Ausrichtung bzw. die „Monokultur der kapitalistischen Produktivitätskriterien“ (ebd.: 24). Wirtschaftliches Wachstum ist in dieser Logik ein rationales und unumstrittenes Ziel und somit gelten auch jene Kriterien, die am zielführendsten hierfür sind, als rational und unbestreitbar. Diese Logik wird sowohl auf die Natur als auch auf menschliche Arbeit angewandtFootnote 7, wobei die maximal fruchtbare Natur und die maximal profitgenerierende Arbeit Priorität hat und das (im kapitalistischen Sinne) nicht produktive nicht-existent wird. Dieser letzte Punkt trifft gänzlich auf den Forschungsgegenstand sowie Abfälle und Altlasten im Allgemeinen und einen Großteil der dort lebenden Bevölkerung sowie deren Reproduktion zu. Die Logiken des abyssalen Denkens tragen dazu bei, dass die Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie die wirtschaftlichen Praktiken, Einstellungen und Interessen der lokalen Bevölkerung in der Regel exkludiert werden. Um dem zu entgegnen, stellt die Kritik von de Sousa Santos am hegemonialen westlichen Denken den äußeren Rahmen für die Kategorie des (Nicht-)Wissens im folgenden Abschnitt dar (Abschnitt 3.2.2).

Im Sinne einer „Soziologie der Emergenzen“ (de Sousa Santos 2010) fragt die empirische Untersuchung dieser Arbeit nach den Prozessen der (Un-)Sichtbarwerdung auf lokaler Ebene. Die Unsichtbarkeit der Tailings wird hier nicht epistemologisch verstanden, sondern in der konkreten Beziehung der beteiligten Akteursgruppen zu den Tailings, ihrem Wissen über sie sowie ihrem Umgang mit diesen. Dabei wird Sichtbarkeit als individuelle und kollektive Wahrnehmung der Tailings als Risiko oder Gefahr für die eigene Gesundheit (und die Anderer), für ihre soziale (Re-)Produktion und wirtschaftliche Subsistenz sowie für Ökosysteme und die Natur im Allgemeinen verstanden. Die Wahrnehmung der lokalen Bevölkerung setze ich dabei nicht mit dem Wissen über die Folgen oder Zusammensetzung der chemischen Substanzen, die diese beinhalten, gleich. Ich verknüpfe allerdings Wissen, Wahrnehmung und Erfahrung eng. Wissen basiert in diesem Sinne nicht ausschließlich auf „objektiv-neutralem“ wissenschaftlichen Wissen, sondern kann auch durch andere Wissensformen, etwa durch berufliche Erfahrungen im Bergbau oder alltäglichen Erfahrungen aus dem Zusammenleben mit Tailings vor Ort, entstehen. Auf diese Wissensformen werde ich im Folgenden eingehen.

3.2.2 Wissen/Nichtwissen

Im Allgemeinen werden Phänomene wie die Belastung von Umwelt und Menschen durch chemische Stoffe unter der Kategorie des Risikos behandelt (Beck 1986; Wehling 2011). Mit der Zeit wurden allerdings die Beschränktheit und Selektivität des Risikobegriffs erkannt und nach einem Konzept gesucht, das ein adäquates Verständnis des dynamischen Charakters gesellschaftlich erzeugter Umweltgefährdungen und des gesellschaftlichen Umgangs damit ermöglicht (Wehling 2011).Footnote 8 Um der Komplexität, die das Wissen über Umweltprobleme und -gefährdungen darstellt, gerecht zu werden, stütze ich mich in der Folge auf die Konzepte des „Wissens“ und des „Nichtwissens“ (Wehling 2006, 2011). Die Einführung des Begriffs des Nichtwissens ermöglicht es, die problematischen Aspekte des Risikobegriffs zu vermeiden, wobei Nichtwissen sowohl eine Abgrenzung von Wissen und gleichzeitig eine Wissensform darstellt. Dafür setzt dieses Konzept ein Verständnis dessen voraus, was wir als „Wissen“ verstehen.

Unter Wissen werden jene produzierten „Wahrheiten“ (Foucault 1978; Nash 2008) gezählt, die von den gesellschaftlich als legitim angesehenen „Wahrheitsproduzenten“ (Kuhn 1976; Foucault 1978; de Sousa Santos 2006) produziert werden und mit Hilfe der anerkannten Werkzeuge, als solche nachgewiesen werden können. Im Falle der Tailings und den von ihnen ausgehenden Risiken handelt es sich vor allem um das Wissen der Naturwissenschaften. Das wissenschaftliche Paradigma definiert dabei im Wesentlichen die wissenswerten Untersuchungsgegenstände, welche Akteure dieses Wissen produzieren können, wer anschließend InhaberIn der Wahrheit ist und wer die Definitionsmacht besitzt (Kuhn 1976; de Sousa Santos 2006). Die Moderne verkörpert ein reduktionistisches und mechanistisches Paradigma der Naturwissenschaft (Merchant 1987), das als ein universales, wertfreies Wissenssystem konzipiert ist, welches durch die Logik seiner Methode für sich beansprucht, zu objektiven Schlüssen zu kommen. Laut ökofeministischen Zugängen sei die willkürliche Schranke zwischen „Wissen“ (des Spezialisten) und „Unwissen“ (des Laien) für die Beherrschung der Natur, der Frauen und der Länder aus der „Dritten Welt“ wesentlich, auch, weil dadurch zentrale Fragen aus der wissenschaftlichen Domäne ausgeschlossen werden (Mies & Shiva 2016: 35). Seit Beginn der Kolonialisierung und im Zuge der Globalisierung hat sich dieses westliche Paradigma global durchgesetzt und alle anderen Wissensformen als ungültig, minderwertig, primitiv oder unwahr eingestuft (siehe hierzu Abschnitte 2.2.4, 2.2.5 und 3.2.1). De Sousa Santos spricht in diesem Zusammenhang von einem Epistemizid, also der „Ermordung“ aller anderen Wissensformen (de Sousa Santos 2010: 7 f., 57). Das moderne Wissen definiert demnach Wahrheit und Nicht-Wahrheit, die dann wiederum im modernen Rechtssystem als richtig oder falsch (legal/illegal) verfestigt werden (ebd.: 32). Das wissenschaftliche Wissen ist – so wenden kritische AutorInnen ein – demnach keineswegs objektiv und neutral, sondern Ausdrucksform und Durchsetzungsmechanismus bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Foucault 1977)Footnote 9. Wissenschaftliches Wissen ist auf diese Weise einerseits blind für bestimmte Ereignisse, Gegenstände und Prozesse, andererseits stößt es auch innerhalb des eigenen Paradigmas auf Grenzen, gerade beim Versuch, komplexe ökologische Prozesse nachvollziehen, verstehen und vorhersagen zu können. Die Trennlinie zwischen Wissen und Nichtwissen vollzieht sich demnach nicht zwischen dem wissenschaftlich produzierten Wissen und allen anderen Wissensformen, sondern verläuft quer durch alle Wissensformen, wie weiter unten ausführlich dargestellt wird. Wissenschaftliches Wissen spielt trotz seiner angesprochenen Schwächen eine zentrale Rolle für die Problemdefinition dieser Arbeit sowie in meiner empirischen Forschung. Da Tailings unsichtbare Chemikalien und Schwermetalle beinhalten, spielt die Wissensgenerierung eine erhebliche Rolle, um die mit ihnen einhergehenden Probleme erkennen und beheben zu können (siehe Abschnitt 2.4.2).

Neben der dominanten Wissensform, die die Wahrheit für sich beansprucht, stehen allerdings erstens auch all jene alternativen nicht-hegemonialen Wissensformen sowie zweitens das „implizite Wissen“ (Wehling 2006: 123). Beide Wissensformen gelten zwar nicht als anerkanntes Wissen müssen jedoch gleichzeitig vom Nichtwissen abgegrenzt werden. Auf diesen subalternen Formen des Wissens beruht oftmals die erste Gefahrendiagnose und -wahrnehmung der betroffenen Bevölkerungsgruppen und der Zivilgesellschaft. Diese lassen sich im Laufe der Zeit entweder durch wissenschaftlich anerkannte Verfahren in anerkanntes Wissen transformieren oder durch diese widerlegen und als unbegründete Sorgen oder „Mythen“ abtun (Ureta 2020). Diesen verschiedenen Wissensformen steht das Nichtwissen gegenüber, das immer auch Teil von Wissensproduktion, -management, und -verbreitung sowie Grundlage individueller und kollektiver Handlungen im Umgang mit chemischen Substanzen und der Vorhersehbarkeit möglicher negativer Konsequenzen darstellt.

(Nicht-)Wissen ist nicht nur eine Kernkategorie der Heuristik, sondern bei chemischen Schadstoffen und Schwermetallen gleichzeitig meistens die Grundvoraussetzung für die Fragen der (Un-)Sichtbarkeit und der (in)action. Daher wird die Kategorie (Nicht-)Wissen in dieser Arbeit besonders intensiv erforscht und analysiert. Gleichzeitig sind die Abgrenzung, Unterscheidung und Definition von Wissen und Nichtwissen besonders komplex und die verschiedenen Zwischenformen und die Möglichkeit der gleichzeitigen Koexistenz von Wissen und Nichtwissen äußerst vielfältig. Aus diesen beiden Gründen wird der Operationalisierung dieser Kategorie im Folgenden eine besondere Relevanz zugesprochen.Footnote 10

Das Konzept des Nichtwissens hat in den 1970er und 1980er Jahren im Zuge der zunehmenden Umwelt-, Technik- und Risikokonflikte an gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gewonnen. Parallel dazu ist das Thema des unsicheren Wissens und des Nichtwissens zum Untersuchungsgegenstand soziologischer Analysen geworden, was sich besonders aus theoretischen Entwicklungen in den Feldern der Wissens- und Wissenschaftssoziologie ergab (Wehling 2006: 83). Dabei wurden die diesbezüglichen Debatten – wie oben dargestellt – anfangs überwiegend unter dem Stichwort „Risiko“ geführt. Doch bald wurde klar, dass dieser Begriff zu viele Unschärfen zur Bearbeitung des Nichtwissens aufwies. In Bezug auf Technologien wie die Nuklearenergie konstatiert in dieser Hinsicht Peter Wehling: „Weder schienen Eintrittswahrscheinlichkeiten und Schadenshöhen (die zentralen Größen der klassischen Risikoberechnung) auch nur annähernd abschätzbar zu sein, noch konnte davon ausgegangen werden, daß überhaupt sämtliche, oder wenigstens die gravierendsten, potentiellen Negativfolgen des Einsatzes dieser Technologien bekannt sind“ (Wehling 2006:85). Der Begriff des Risikos erschien also nicht ausreichend, um die Charakteristika der immer häufiger auftretenden „nicht kalkulierbaren Unsicherheiten“ (Beck 2002: 121) zu erfassen. Auch Luhmann (1992a: 146) sah in der Komplexität der Ökologieproblematik die „Grenzen der Risikosemantik“, da die zu erwartenden Schäden und Langfristwirkungen eine Zurechnung auf Einzelentscheidungen unmöglich mache. Diese Problematik eines technisch verkürzten Risikobegriffs wurde durch die Einführung der Kategorie des Nichtwissens und die daraus resultierende Soziologie des Nichtwissens gelöst (Wehling 2006:87, 18 ff.). Daraufhin wurde aus der Prämisse des wissenschaftlich Unbekannten als ein „Noch-nicht-Wissens“ zu der Analyse gewechselt, die es ermöglicht, gesellschaftlich völlig ungewusstes und unerkanntes Nichtwissen – wie etwa das jahrzehntelang „unsichtbare“ Ozonloch – zu berücksichtigen. Bei diesem „gesellschaftlich unerkannten Nichtwissen“ handelte es sich nicht einzig und allein um undurchschaubare komplexe oder unbekannte Wirkungszusammenhänge, sondern auch um die Folgen von institutionellen Barrieren innerhalb des Wissenschaftssystems und das Fehlen von Wahrnehmungshorizonten für die Fern- und Langzeitwirkungen chemischer Stoffe (Wehling 2006: 11). Nichtwissen in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Formen ist darüber hinaus eine zentrale Ursache für die Unsichtbarkeit von ökologischen Prozessen und den Folgen menschlicher Eingriffe in diese, die wiederum häufige Ursache für slow violence und unaufhaltsame Zerstörungsprozesse innerhalb der derzeitigen ökologischen Krise darstellen. Unter diesen Bedingungen von Nichtwissen muss von den AkteurInnen auch gehandelt und entschieden werden, sowohl politisch als auch individuell (Wehling 2006:14; Beck 1996:305). Wissen ist heute in allen Bereichen der Gesellschaft Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns (Stehr 1994: 350). Dieses Handeln kann durch Nichtwissen, mehr den jedes andere, wiederum unvorhersehbare Handlungsfolgen mit sich bringen (Wehling 2006: 48 ff.; Merton 1936: 898 f., 899; Dietz 2004).

Die in diesem Sinne entstandene „Soziologie des Nichtwissens“ hat ihre Ursprünge in Überlegungen wie denen von Michael Smithson (1985), der eine „social theory of ignorance“ erarbeitet hat, aber auch im Denken von Niklas Luhmann (1992b), für den Nichtwissen der Ursache die Intensität ökologischer Kommunikation bestimmt oder den Überlegungen von Ulrich Beck (1996b), in denen Nichtwissen die gesellschaftliche Dynamik der „reflexiven Moderne“ darstellt. Peter Wehling (2006: 15 f.) beschreibt auf dieser Grundlage die zentralen Anhaltspunkte für wissenssoziologische und gesellschaftstheoretische Analyse von Nichtwissen wie folgt: a) Nichtwissen ist kein homogenes Phänomen, sondern weist unterscheidbare Formen und Typen auf; b) Sowohl die politischen Konsequenzen, die aus Nichtwissen zu ziehen sind, als auch dessen Ursachen sind uneindeutig und umstritten; c) Nichtwissen mitsamt seiner unterschiedlichen Facetten und Dimensionen ist Resultat vielschichtiger sozialer Konstruktions-, Definitions- und Anerkennungsprozesse und d) Nichtwissen, obwohl es gesellschaftlich primär in „Risikodiskursen“ problematisiert wird, ist nicht mit Risiko identisch, da es auf Bereiche jenseits der abschätzbaren und bekannten Risiken verweist. „Nichtwissen ist demnach nicht einfach nur eine quantitative, graduelle Steigerung von Risiko und Ungewissheit, sondern bezeichnet qualitativ andersartige Grenzen des Wissens“ (Wehling 2006:16).

In soziologischen Analysen wurde und wird teilweise noch explizit oder implizit „wahres“ und vollständiges – in der Regel wissenschaftliches – Wissen vorausgesetzt, um bei denjenigen, die davon abweichen, Unwissenheit, Desinteresse, selektive oder verzerrte Wahrnehmung zu diagnostizieren. Das Nichtwissen innerhalb der Wissenschaft wurde dabei kaum berücksichtigt oder problematisiert (Wehling 2006: 19) Vor dem Hintergrund der heutigen, weltweiten ökologischen Krise, kann die Wissenschaft allerdings nicht mehr als sichere, gesellschaftliche Instanz dafür gelten, Nichtwissen im Sinne von Forschungslücken verlässlich aufzuspüren und die Wissenslücken „zu füllen“. Denn erstens ist Nichtwissen in wachsendem Maße ein Produkt und eine Folge des Wissens selbst und zweitens fehlt in den meisten Fällen – auch und gerade in der Wissenschaft – ein eindeutiger und verlässlicher Maßstab wahren und vollständigen Wissens (Wehling 2006: 19). Wissen und Nichtwissen sind außerdem durchzogen von Machtasymmetrien. So werden etwa Formen des lokalen oder Laienwissens durch wissenschaftliches Wissen entwertet und als „Unwissenheit“ abgestempelt (Wehling 2006: 18)

Um das hier zu analysierende Kategorienpaar aus Wissen und Nichtwissen zu operationalisieren, muss ein soziologischer Begriff des Wissens verwendet werden, der auch zur Analyse von Nichtwissen tragfähig ist. Dafür ist es notwendig, nicht in oben angedeutete Dichotomien zu verfallen, die alles Wissen, das nicht dem hegemonial anerkannten wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt entspricht, im großen Topf des Nichtwissens versenkt. Dies wäre etwa der Fall, wenn Berger und Luckmanns Ansatz verfolgt würde, deren Überzeugung es war, die Wissenssoziologie müsse sich mit dem beschäftigen, was in der Gesellschaft als Wissen gilt, ganz unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt und seiner Begründbarkeit (Berger und Luckmann 1980:16). Glauben, meinen, vermuten und ahnen wären hier aus der Analyse ausgeschlossen. Sie müssen aber – so meine Perspektive in der vorliegenden Forschungsarbeit – Teil der wissenssoziologischen Analyse bleiben, weil auch diese „Vorformen“ des Wissens kognitive Erwartungen und Einschätzungen formulieren und dies vor allem vor dem Hintergrund einer (ökologischen) Krise Bedeutung hat, in der in vielerlei Hinsicht überhaupt keine verallgemeinerbaren Wahrheitskriterien existieren (Wehling 2006: 21 f.).

Die Abkehr von einem auf Wahrheit eingeengten Wissensbegriff ermöglicht wiederum, (idealtypisch) zwischen Nichtwissen und Irrtum zu unterscheiden und Nichtwissen als Abwesenheit von Wissen und nicht als Abwesenheit von „objektiv wahrem“ Wissen zu begreifen (Wehling 2006:22)Footnote 11. Peter Wehling (2006) greift auf die Begriffe „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ von Koselleck (1995) zurück, um einen umfassenden und dynamischen Begriff von Wissen vorzuschlagen, der auch in dieser Arbeit verwendet wird. Koselleck begreift diese beiden Begriffe als „meta-historische Kategorien“, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verschränken und damit gesellschaftliches Wissen ermöglichen und präformieren. Der Erwartungshorizont ist von den bisherigen Erfahrungen geprägt und nur innerhalb dieses Horizonts lassen sich weitere Erfahrungen machen und sammeln (Koselleck 1995:358). Wissen kann demnach nur in einen Erfahrungskontext eingebettet existieren (Willke 2001:5 f.): „Nur was mit (gesellschaftlichen) Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten verknüpft und in sie integriert werden kann, kann zum Gegenstand des (gesellschaftlichen) Wissens werden“ (Wehling 2006:24). Dabei sind die beiden Kategorien nicht statisch aufeinander bezogen (Koselleck 1995:358): „Nichtwissen wäre in diesem Verständnis dann nicht bloß die mangelnde Kenntnis einzelner Wissensinhalte, sondern das Fehlen des „Erfahrungsraumes“ und die Abwesenheit eines „Erwartungshorizontes“ für bestimmte Wahrnehmungen und Ereignisse“ (Wehling 2006:25).

Aus dieser Wissensdefinition folgt auch, die enge Bindung von Wissen an und als die Fähigkeit zum Handeln, wie sie etwa Bacon oder Stehr (2000:81) darstellen, zu lösen. Erstens ist nicht jedes Wissen mit einer Handlungsmöglichkeit verbunden, zweitens führt Wissen nicht automatisch und direkt zum Handeln und drittens kann auch Nichtwissen Handeln ermöglichen (etwa durch Nichtwissen um die Handlungsfolgen) und ist nicht immer als Handlungsblockade zu begreifen (Wehling 2006: 23). Nichtwissen kann auf diese Weise sogar zur „wichtigsten Ressource des Handelns“ werden (Smithson 1985: 169; Luhmann 1992b: 184 f.).

Nichtwissen steigt zudem mit der Zunahme des verfügbaren Wissens und seiner Komplexität überproportional an (Luhmann 1997:1106) und bedarf in einer Wissensgesellschaft wie der heutigen ein Wissens- und somit auch Nichtwissensmanagement, um den Zugriff auf das jeweils relevante Wissen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass „Wissen und Nichtwissen in einer „Wissensgesellschaft“ immer mehr an Bedeutung als Ressourcen und Medien sozialer Diskriminierung und Ausschließung gewinnen werden, sowohl im nationalstaatlichen als auch im globalen Rahmen“ (Wehling 2006:17). Mit dem Wachstum des Wissens und wie gesagt auch aufgrund dieses Wachstums nimmt das Nichtwissen, nicht nur auf individueller, sondern in der Gesellschaft insgesamt zu (Wehling 2006:17). Die Überfülle an Informationen, Wissen und Nichtwissen ist auch im Falle der hier im Zentrum stehenden sozial-ökologischen Folgen von Tailings ein wichtiger Grund dafür, warum slow violence-Phänomene keinen Platz in der gesellschaftlichen Wahrnehmung finden, merkt auch Nixon (2011) an. Dies führe u. a auch zu „rapidly eroding attention spans to the slow erosions of environmental justice (Nixon 2011:8).

Nichtwissen ist – wie wir gesehen haben – weder mit Risiko noch mit Ungewissheit oder Unbestimmtheit gleichzusetzten (Wynne 1992). Brian Wynne begreift Nichtwissen vielmehr als ein in wissenschaftliches Wissen „eingebautes“ und „endemisches“ Charakteristikum, das Risikoabschätzungen und definierten Ungewissheiten immer zugrunde liegt, aber allgemein unsichtbar und unthematisiert bleibe (Wynne 1992:115). Je mehr die grundsätzliche Unbestimmtheit des wissenschaftlichen Wissens ignoriert und ausgeblendet wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Nichtwissen zunimmt. Ungewissheit, Unbestimmtheit und Nichtwissen sind also nicht graduelle quantitative Abstufungen, sondern können einander überlagern und sich durch soziale Handlungen unter diesen Bedingungen gegenseitig verstärken (ebd.:116). Neben der von Wynne behandelten Form des nicht-gewussten Nichtwissens, stellt Wehling das gewusste und das bewusst intendierte Nichtwissen (Wehling 2006: 113). Wehling schlägt drei Unterscheidungsdimensionen von Nichtwissen vor, auf die ich im Weiteren näher eingehe: das Wissen um das Nichtwissen sowie die Intentionalität und die zeitliche Stabilität des Nichtwissens, wobei er gleichzeitig auf die Existenz eines weiten Spektrums an Übergangs- und Zwischenformen verweist.

Die Differenzierung nach dem Grad und der Form des Wissens unterscheidet zwischen dem gewussten und erkannten Nichtwissen und dem nicht-gewussten, unerkannten Nichtwissen. Während sich ersteres besonders auf benennbare und eingrenzbare „Wissenslücken“ oder „offene Fragen“ innerhalb verfügbarer Wissensbestände bezieht, die sich meistens nicht idealtypisch, sondern in Vermutungen, Ahnungen oder Befürchtungen äußern, verweist die zweite Form auf all das, von dem man nicht weiß, dass man es nicht weiß und demnach auch nicht weiß, wo, wann und wie man nach möglichen unbekannten Handlungs- und Entscheidungsfolgen suchen muss (Wehling 2006:118 f.). Während gewusstes Nichtwissen in dieser Forschung typischerweise bei den Betroffenen auftritt, ist unerkanntes Nichtwissen charakteristisch für eine große Zahl von technischen Unfällen, Gesundheitsschädigungen und Umweltzerstörungen, wie sie etwa in der bisherigen Produktion und Lagerung von Tailings durchaus häufig vorkommen. Unerkanntes Nichtwissen ist demnach durch die Abwesenheit von Wissen gekennzeichnet (Wehling 2006:121; Walton 1996), unterscheidet sich aber gleichzeitig auf der Ebene der bekannten „sichtbaren“ Phänomene zumeist nicht von (vermeintlich) gesichertem Wissen, wenn etwa die Abwesenheit empirischer Belege als Beleg für die Abwesenheit schädlicher Nebenwirkungen oder negativer Effekte herangezogen wird (negative Evidenz) (Walton 1996:140). Dieses pseudohafte „Wissen durch Nichtwissen“ tritt im Fall von Tailings regelmäßig in wissenschaftlichen Studien auf. Durch das Nichtwissen bspw. über die Präsenz einer bestimmten Substanz oder des Zusammenwirkens unterschiedlicher Substanzen werden Messungen falsch durchgeführt oder Ergebnisse anders interpretiert. Diese Ergebnisse haben wiederum zur Folge, dass das Phänomen oder Problem nicht nur unerkannt bleibt, sondern auch als nicht-existent wissenschaftlich „belegt“ wird. Die negative Evidenz kann in der Folge – wie anhand der empirischen Fälle deutlich werden wird – auch taktisch von AkteurInnen zur Legitimation ihrer Handlungen und Interessen eingesetzt werden (Ureta & Contreras 2020; Ureta & Otaegui 2021). Fehlende empirische Hinweise werden als verlässliches Wissen dargestellt.

An dieser Stelle muss zudem zwischen explizitem und implizitem Wissen unterschieden werden, wobei sich zweiteres auf ein personen-, erfahrungs- und körpergebundenes Wissen bezieht, das als solches nicht explizit formuliert wird oder sich nicht in Worte fassen lässt. Durch den Begriff des „impliziten Wissens“ werden Wissensformen jenseits des sprachlich verfügbaren, expliziten, formulierbaren oder vermittelbaren Wissens sichtbar gemacht, die nicht mit Nichtwissen gleichzusetzten sind (Polanyi 1985:14 ff.; Wehling 2006:123; Collins 2001). Diese tauchen in dieser Forschung sowohl bei den Erfahrungen der Betroffenen als auch beispielsweise bei Arbeitsschritten innerhalb der wissenschaftlichen Forschung zu Tailings oder bei den Schilderungen über ihre chemische Zusammensetzung seitens unterschiedlicher AkteurInnen auf. Collins (2001: 72 f.) unterscheidet hier zwischen verborgenem Wissen, Divergenz der Aufmerksamkeit, darstellbarem Wissen, unerkanntem Wissen und unbegriffenem bzw. unzugänglichem Wissen.

Die zweite Unterscheidungsdimension beruht auf der Intentionalität des Nichtwissens, wobei Nichtwissen nicht immer unbeabsichtigt sein muss und von „Nicht-wissen-Wollen“ (Wehling 2006; Lessenich 2016:63) bis zu einem gänzlich unbeabsichtigten und insofern sozial „unvermeidbarem“ Nichtwissen reicht. Die verschiedenen Abstufungen des intendierten Nichtwissens reichen grob von der bewussten und expliziten Abwehr (Tabuisierung) von Wissensinhalten, über Desinteresse und Gleichgültigkeit bis hin zur unbewussten Verdrängung emotional belastender Inhalte. Die Intentionalität ermöglicht es auf diese Weise, analytisch die (strittige) Zurechnung von (Nicht-)Wissen auf das Handeln oder Unterlassen bestimmter Akteure nachzuvollziehen (Wehling 2006: 128).

Die letzte Unterscheidungsdimension ist diejenige der zeitlichen Stabilität von Nichtwissen. Sie verweist auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Nichtwissen in Wissen zu verwandeln. Dabei eröffnet sich eine Spanne, die von einem bloß vorübergehenden Nichtwissen, das heißt einem „Noch-nicht-wissen“, das grundsätzlich in Wissen verwandelt werden kann bis hin zu einem zeitlich dauerhaften und im Extremfall unüberwindbarem Nichtwissen reicht, also ein „Nicht-Wissen-Können“.Footnote 12 Das auf die Zukunft bezogene „Nicht-Wissen-Können“ (Faber und Proops 1993:118 f.) ist mit Blick auf die gesellschaftlich anerkannten und politisch durchsetzbaren Lösungsversuchen bspw. bezüglich des Klimawandels von besonderer Bedeutung und wird deshalb besonders kontrovers diskutiert.Footnote 13

Die Kategorie des Wissens/Nichtwissens führt folglich keinen Dualismus ein, sondern fragt, um welche Art von Wissen oder Nichtwissen es sich handelt. Das heißt, was die verschiedenen Akteure (staatliche Behörden, wissenschaftliche Institutionen, Unternehmen, Medien, Umweltorganisationen, Protestbewegungen, Betroffene) über die Tailings wissen oder wissen können und wie sie damit umgehen. Dabei spielen im Komplex des Nicht-/Wissens Machtasymmetrien eine besondere Rolle in der Aushandlung von „Wahrheiten“ (Foucault 2000, 2004). Michel Foucault beschreibt in seiner Analyse der Gouvernementalität (neo-)liberaler Staaten, wie die Wissenschaft als Rechtfertigung und Beweis gilt, um etwas als wahr zu begreifen und dementsprechend zur Produktion von Diskursen und Wahrheiten beiträgt (Foucault 2000). Dabei sind wissenschaftliche Diskurse gleichzeitig durch bestimmte Paradigmen geprägt (Kuhn 1976). Die Wissensproduktionsapparate der Wirtschafts- und Naturwissenschaften enthalten heute beispielsweise den Diskurs der „Naturgesetze“ und tragen somit zur Normalisierung und Vertiefung sozio-ökologischen Ungleichheiten bei (López et al. 2013). Die Unternehmen und der Staat nehmen dabei in der Regel die Position des Wissensmonopols ein, wobei dieses ein wichtiges Machtinstrument zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber anderen AkteurInnen darstellt (Bourdieu 2014).

Die materielle „Unsichtbarkeit“ der Chemikalien führt dazu, dass das Wissensmanagement ein besonders wirksamer Machtmechanismus wird, was wiederum schon bei vorherigen Untersuchungen zu Tailings klar wurde: Die betroffene Bevölkerung wird oftmals in Unwissenheit den potenziellen Risiken ausgesetzt und kann sich nicht dagegen wehren, weil ihr dieses potenzielle Risiko gar nicht bekannt ist, sie keinen Zugang zu den bestehenden Untersuchungsergebnissen hat und sie die Macht zur Wissensproduktion entbehrt. Als zu berücksichtigende Dimensionen treten hier neben dem, was als „Wahrheit“ angesehen wird, der hegemoniale Diskurs sowie offizielle und nicht offizielle Diskurse der einzelnen Akteure, der Wissensstand und der Informationsaustausch sowie die Wissens-Machtpositionen und -asymmetrien unter ihnen, ihre (sozialen und wirtschaftlichen) Interessen und die gesellschaftlich anerkannten Legitimationsformen des Wissens. Dies ist von Bedeutung, weil Nichtwissen und Unsichtbarkeit – wie auch anhand der empirischen Fälle deutlich wird – auch von den handelnden Akteuren (vor allem staatliche Institutionen, Unternehmen, Medien und Wissenschaft) und ihren Praktiken aktiv (re)produziert werden können (siehe Abschnitt 3.2.3). Im Bereich der Wissensproduktion spielen hier vor allem die institutionalisierten Forschungsabläufe sowie die politische Erzeugung von Wissenslücken etwa durch selektive Finanzierung und Förderung von Forschung eine Rolle, da sie weitgehend definieren, was untersucht wird und was nicht (Wehling 2006: 259 ff., 264 ff.). Hinzu kommen die sogenannten doubt producers (Nixon 2011:40) bzw. jene Akteure, die bewusst versuchen, mittels ihrer finanziellen Ressourcen und medialen Einflussmöglichkeiten die Langzeitfolgen zu verschleiern oder herunterzuspielen (Allen 2008; Rich 2019). Bei Umweltproblemen der slow violence haben diese doubt producer besonders leichtes Spiel.Footnote 14 Nixon schreibt in dieser Hinsicht pointiert:

“The forces of the inaction have deep pockets. Environmental activists face well-funded, well-organized interests that invest heavily in manufacturing and sustaining a culture of doubt around the science of slow violence, thereby postponing policies that would help rein in the long-term impacts of climate change in particular.” (Nixon, 2011:39)

In der History of Climate Science und der Wissenssoziologie werden diese Formen kultureller Erschaffung und Aufrechterhaltung von Nichtwissen und Ungewissheit unter dem Begriff der Agnotologie untersucht. Dabei konnte in Bezug auf eine Reihe von Branchen – von der Tabakindustrie bis zu den großen Energieproduzenten – nachgewiesen werden, dass die großen Konzerne eine aktive und wichtige Rolle in der Produktion von Unsichtbarkeit jener negativen Folgen spielen, die ihren ökonomischen Interessen im Weg stehen (Proctor & Schiebinger 2008; Rich 2019a, 2019b).Footnote 15

In der Folge stehen nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Entscheidungs- und VerantwortungsträgerInnen oftmals vor einer breiten Palette an Nichtwissen und Zweifeln (Wehling 2006, 2011). Ein verbreitetes Problem ist dabei auch die kurzweilige Aufmerksamkeitsspanne innerhalb der Gesellschaft, die es nicht erlaubt, die Art von sozial-ökologischen Ungleichheiten wahrzunehmen, die insbesondere slow violence generiert (Nixon 2011:3, 8). Besonders Langzeiteffekte von heutigen Handlungen finden keinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung und Berichterstattung. Die Schlüsselrolle dabei, generiertes Wissen in öffentliche Wahrnehmung zu übersetzen, kommt den Medien zu, die wissenschaftliche Wissens- und Nichtwissensbehauptungen häufig erst zum Thema des öffentlichen und politischen Diskurses machen (Wehling 2006:254).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das offiziell anerkannte Wissen „Wahrheit“ für sich beansprucht und dadurch nicht anerkanntes Wissen gesellschaftlich als „Unwissen“ oder „Halbwissen“ einstuft sowie verschiedene Formen des „Nichtwissens“ hervorbringt. Die Definition dessen, was zum anerkannten Wissen gehört, ist das Resultat von Machtverhältnissen auf globaler, nationaler und lokaler Ebene. Mit Blick auf den in dieser Forschung behandelten Gegenstand der materiell unsichtbaren Schadstoffe, wird deutlich, dass diese vom anerkannten Wissensregime zunächst überhaupt als solche definiert werden müssen, um in der Folge als solche sichtbar zu werden bzw. um überhaupt „zu existieren“ (de Sousa Santos 2010). Dies ist umso komplexer, da gerade die Forschung rund um Chemikalien, deren (Langzeit-)Folgen für Mensch und Natur sowie den Wechselwirkungen verschiedener Schadstoffe von Nichtwissen durchzogen ist (Wehling 2006).

Auch meine eigene Forschung muss sich allerdings auf das vorhandene anerkannte wissenschaftliche Wissen berufen, um das vorliegende sozial-ökologische Problem in den drei untersuchten Fällen als solches definieren zu können. Die gesellschaftliche Position der untersuchten AkteurInnen (Staat, Unternehmen, NutznießerInnen, Betroffene, NGO, WissenschaftlerInnen usw.) ermöglicht ihnen jeweils einen sehr unterschiedlichen Zugang und Einfluss auf die WissensproduktionFootnote 16. So sind etwa der Staat und die Unternehmen – wie in den empirischen Fällen deutlich werden wird – „Inhaber der Wahrheit“, da sie das Wissensmonopol für sich beanspruchen. Sie besitzen zudem großen Einfluss auf die Medien und sämtliche andere Kanäle der Wissensverbreitung. Als Verursacher des Problems haben die Unternehmen außerdem das Wissensmonopol über den Produktionsprozess und mit ihm über die Schadstoffe, die bei diesem eingesetzt werden und die Form und Orte an denen diese später gelagert werden. Die Betroffenen wiederum haben keinen oder kaum Einfluss und Zugang zur „offiziellen“ Wissensproduktion und -verbreitung. Ihre Gefahrenwahrnehmung und Problemdefinition basieren deshalb oftmals auf der eigenen Erfahrung sowie Ahnungen oder Vermutungen – das heißt auf gesellschaftlich abgewerteten oder ungültigen Formen des Wissens. Ihre Forderungen und Beschwerden können auf diese Weise von anderen Akteuren als unbegründet „widerlegt“ werden und werden meistens auch rechtlich nicht anerkannt. Die Betroffenen hängen deshalb von „unabhängigen“ WissenschaftlerInnen oder NGO ab, um überhaupt in den Besitz von anerkanntem wissenschaftlichem Wissen über das Problem zu gelangen. Hinzu kommt die schon erwähnte Tatsache, dass das offizielle Wissen bei dieser Art von Umweltproblemen (Tailings) selbst häufig an seine Grenzen stößt. Die potenziellen Handlungsmöglichkeiten, die sich aus diesen Machtverhältnissen und -asymmetrien des Wissens für die jeweiligen Akteure ergeben, werden im folgenden Abschnitt zum Kategorienpaar der action/inaction genauer betrachtet.

3.2.3 Action/inaction

In dieser Forschung werden die Konzepte action/inaction verwendet, die unter anderem von Nixon (2011) und Auyero und Swinstun (2008b, 2009) als breit gefächerte Konzepte benützt werden, um sowohl soziale Handlungen, soziale Praktiken und agency als auch die Interaktionen unter den Akteuren sowie mit ihrer Umwelt zu beschreiben. Inaction wird in dieser Hinsicht als Tatenlosigkeit eines bestimmten Akteurs bzw. als das Ausbleiben einer action verstanden. Auf welche Art und Weise ein Akteur in Aktion tritt, ist dabei weniger ausschlaggebend als der Bezug dieser action zum hier untersuchten Phänomen der Tailings, die Motivation hinter der action sowie ihre Auswirkungen auf die (Un-)Sichtbarkeit des Umweltproblems und inwiefern sie zu seiner Lösung beiträgt oder diese verhindert. Die actions können sowohl intendiert oder nichtintendiert, routiniert als auch einmalig oder zufällig sein. Dabei sollen vor allem auch die Interessen der einzelnen Akteure, die manifesten und latenten Konflikte unter ihnen, sowie ihr Handlungsspielraum und -möglichkeiten berücksichtigt werden. Um die Bandbreite an möglichen actions, die sich im Besonderen auf die (Un-)Sichtbarkeit und das (Nicht-)Wissen gegenüber Tailings als Umweltproblem auswirken können sowie die Aktionsformen aller beteiligten Akteursgruppen fassen zu können, reichen die klassischen soziologischen Handlungstheorien nicht aus und müssen deshalb durch praxistheoretische Ansätze sowie durch Elemente der Actors-Network-Theory erweitert werden.

Klassische Handlungstheorien definieren soziales Handeln als ein Verhalten bzw. ein Tun, Dulden oder Unterlassen, das sich „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“ orientiert, so etwa Max Weber (1922:30). Dabei sind Handlungen im Gegensatz zum rein reaktiven Verhalten immer motiviert. Diese Sinnhaftigkeit stellt das zentrale Merkmal sozialen Handelns dar und kann sich für Weber idealtypisch durch zweckrationales, wertrationales, affektuelles oder traditionelles Handeln äußern, wobei beim affektuellen Handeln die Sinnhaftigkeit laut Weber teilweise verloren geht und sich dieses teilweise dem „bloßen Verhalten“ nähere. Dieses Verständnis von sozialer Handlung teilt mit den meisten klassischen Handlungstheorien (siehe etwa Émile Durkheim, George Mead, Talcott Parsons, Erving Goffman oder Jürgen Habermas) – mit einigen Abweichungen – eine anthropologische Distinktion zwischen Verhalten und Handeln, wobei das Soziale sowohl in der Sinnhaftigkeit als auch in seinem Bezug auf Andere besteht. Gleichzeitig besteht in diesem Verständnis ein Dualismus zwischen Struktur und Handlung. In diesen Handlungstheorien werden zudem weder der Körper noch Dinge, Objekte und Artefakte ontologisch wahrgenommen. Der Körper stellt ein ausführendes Instrument dar, während Dinge allein dann Relevanz erhalten, wenn sie vom menschlichen Akteur zur Durchführung einer Handlung verwendet werden. Ein solches Absehen von nichtmenschlichen Wesen und Dingen erlaubt es nicht, die gänzliche Wirkungskraft dieser auf menschliches Handeln fassen zu können. In der vorliegenden Forschung ist allerdings nicht nur die Interaktion zwischen den unterschiedlichen beteiligten Akteuren von Bedeutung, sondern auch die direkte Interaktion dieser mit den Tailings. Die klassischen Handlungstheorien reichen – wie wir sehen werden – außerdem nicht aus, um der Spannbreite der möglichen actions bezüglich des vorliegenden Forschungsgegenstands gerecht zu werden.

Zur Operationalisierung der Heuristik stütze ich mich deshalb zunächst auf die von Autoren wie Pierre Bourdieu (2018 [1979]) und Anthony Giddens (1984) oder etwa Michel Foucault (2000) geprägten praxistheoretischen Ansätze. Es handelt sich dabei um ein breites Feld sozialwissenschaftlicher Ansätze sehr unterschiedlicher Herkunft und Anwendungsbereiche. Unter ihnen besteht allerdings ein Konsens über die Notwendigkeit eines modifizierten Verständnisses dessen, was Handeln ist. Eine modifizierte Konzeption des „Handelns“ hat wiederum Folgen für das Verständnis des Akteurs und des Subjekts und führt im gleichen Zuge auch zu einem modifizierten Verständnis des Sozialen (Hirschauer 2016: 45). Praktiken treten in der Praxistheorie zwischen Handeln und Struktur auf der Mesoebene in den Vordergrund, wobei sowohl der Kontext als auch subjektive Perspektiven berücksichtigt werden. Soziale Praktiken und Ordnungen sind dabei räumlich wie zeitlich vom Vollzug durch die Subjekte und vom (materiellen) Kontext der Praktiken abhängig (Schatzki 2002: 64). Der jeweilige Kontext setzt sich aus Bedingungen der natürlichen Umwelt, aus der Beschaffenheit von Artefakten sowie der Ausführung der Praktik selbst – manchmal auch aus mehreren Praktiken – zusammen (ebd.: 130). Soziale Praktiken stellen hier die kleinste Einheit des Sozialen in einem „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ dar (Schatzki 1996: 89). Diese Praktiken bestehen aus einem organisierten Bündel von Tätigkeiten aus Gesagtem und Getanem, die somit einen Zusammenhang miteinander verwobener Handlungen bilden (Schatzki 2002: 71). Sie beinhalten sowohl alle Körperpraktiken wie auch gesprochene Wortgruppen, Mimiken, Gesten oder Stimmlagen. Praktiken bestehen demnach bereits vor der Handlung des Subjekts, ermöglichen Handeln und strukturieren und begrenzen es zugleich. Sie stellen auf diese Weise ein Bindeglied zwischen Akteur und Struktur dar (Kärger et al. 2017:98). Praktiken sind somit als tätige, situierte Seite des Handelns bzw. als vom Akteur dezentrierte Verteilung von Tätigkeiten zu verstehen. Die Praxis stellt den körperlichen Vollzug sozialer Phänomene dar, in denen das Handeln und Verhalten stattfindet. Sie sind als kulturell vorstrukturierte „ways of doing“ zu verstehen, in deren Verlaufsmuster sich Handelnde bei ihrem Tun verwickeln (Hirschauer 2016:46) Praktiken müssen gleichzeitig aus dieser Perspektive nicht intendiert sein, sondern beinhalten auch das alltägliche Verhalten, das nicht oder zumindest nicht bewusst reflektiert wird, da es dank implizitem Wissen (Wehling 2006:123) oder Körperwissen teilweise automatisch und routiniert abläuft. Die meisten dieser Praktiken sind zwar erlernt und somit historisch und kulturell spezifisch, allerdings setzen sie nicht unbedingt einen rational, bewusst oder intentional handelnden Akteur voraus.

Die Vorstellung vom Handeln als Praxis hilft gleichzeitig, die den klassischen Handlungstheorien zugrunde liegende anthropologische Distinktion zwischen Handeln und Verhalten aufzulösen, ermöglicht die Öffnung für Artefakte als Partizipanten des Handelns, begreift Interagieren als sozial verteiltes Handeln, was die Dezentrierung des Subjekts begründet und ermöglicht einen differenzierten Gebrauch von „Tätigkeit“, „Handeln“ und „Praktik“, der jeweils mit einer unterschiedlichen Vorstellung der menschlichen Partizipanten als Subjekt, Akteur und Teilhaber einhergeht (Hirschauer 2016: 46). Aus praxistheoretischer Perspektive ist bei all dem die Berücksichtigung des Interagierens der ausschlaggebende Faktor (ebd.: 46). Die Distinktion zwischen Verhalten und Handeln basiert aus praxistheoretischer Perspektive hauptsächlich auf der wachsenden Selbststeuerung sowie der Wahrnehmung dessen, was getan wird. Handeln ist in dieser Hinsicht so etwas wie bewusstes und kontrolliertes Verhalten (ebd.:48 f.). Anders als beim rationalistischen Handlungsbegriff wird Handeln allerdings nicht als reiner Gegensatz zur Passivität verstanden, sondern als Teil eines Kontinuums von Aktivitätsniveaus. Dabei wird nach einem aktiven Anfang eine immer passivere Kurve durchlaufen, die in ihrem aktiven Gegensatz endet. Die von Hirschauer (2016: 49) vorgeschlagene Kurve geht vom aktiven „unternehmerischen Handeln“, dem „routinierten Praktizieren“ und „beiläufigen Mitvollziehen“ über ein „passives Geschehen machen“, „geschehen lassen“ oder „liegen lassen“ zum passiven Gegensatz des „sich überlassen“, „sich unterlaufen lassen“ und „nicht entstehen lassen“ über und endet mit dem aktiven routinierten Unterbinden und schließlich dem Konterkarieren. Hirschauer beschreibt die Implikationen für den Handelnden wie folgt:

„Die systematische Bedeutung dieser unterschiedlichen Aktivitätsniveaus liegt zunächst darin, dass ein Handelnder sich nicht einfach nur gegebenen situativen Bedingungen und dem kontingenten Tun der Anderen gegenüber sieht; sein eigenes Tun fädelt sich vielmehr ein in schon laufende eigendynamische Geschehnisse: Interaktionen, Diskurse, körperliche und physikalische Ereignisse, mit denen er ›mitläuft‹ oder auf die er sich einlässt.[…] Zu welchem Grade das individuelle Tun dabei ein Handeln oder ein Verhalten ist, ist eine Frage der jeweiligen Bewusstseinsbeteiligung, Selbststeuerung, Initiative, Impulsivität und affektiven Engagiertheit […]. Wenn menschliche Handelnde viele Dinge nur anstoßen oder geschehen lassen, so kann man ontologisch entspannter danach fragen, wie vorstrukturierte situative Gelegenheiten (inklusive ihrer materiellen Settings) umgekehrt Menschen handeln lassen. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von den ›inneren Aufforderungen‹ (den Motiven) oder den verbalen Aufforderungen generalisierter Anderer (den Normen) zu den situativen Umständen, die uns Handlungen nahelegen, und zwar sowohl ihre Erwartbarkeit (als von den Teilnehmern kognitiv gerahmte Anlässe) als auch ihre Machbarkeit – als mit Dingen, Menschen und Zeichen angefüllte Gelegenheiten, die uns etwas tun machen oder lassen. “ (Hirschauer 2016:50 f.)

In diesem Verständnis haben Handlungen klare UrheberInnen, während Praktiken lediglich TrägerInnen oder Teilnehmende kennen. „Man könnte auch sagen, das Handeln ist jener Ausschnitt einer Praktik, der von nur einem Körper getragen wird. ›Handlungen‹ sind das, was die Akteure von den praktischen Tätigkeiten wahrnehmen, die sie vollziehen“ (ebd.:51). Tätigkeiten, Handlungen und Praktiken sind demnach drei Repräsentationsformen menschlichen Verhaltens, die sich nach den Quellen und dem Niveau ihrer Sinnbestimmtheit unterscheiden lassen (ebd.: 59).

Die Praxistheorie bedient sich einer sozialkonstruktivistischen Perspektive zur Verortung des Sozialen (Reckwitz 2003: 287). In ihrem Verständnis erhält die soziale Welt ihre Gleichförmigkeit für die Beteiligten über sinnhafte Wissensordnungen und über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, das heißt durch – im weitesten Sinne – symbolische Ordnungen (ebd.). Die Praxistheorie unterscheidet sich somit sowohl von den Strukturtheorien als auch von den zweckorientierten und normorientierten Handlungstheorien und verortet sich im Bereich der Kulturtheorien: „Die Basis des Problems der sozialen Ordnung ist somit nicht mehr in einem Handlungskoordinationsproblem zu sehen, das über normative Regeln lösbar erscheint, sondern darin, was die Akteure überhaupt dazu bringt, die Welt als geordnet anzunehmen und somit handlungsfähig zu werden“ (Reckwitz 2003:288). Die Strukturierung der Handlungswelt verläuft aus kulturtheoretischer Perspektive durch „[…] kollektiv geteilte Wissensordnungen, Symbolsysteme, kulturelle Codes, Sinnhorizonte – und in der Kollektivität dieser sinnhaften Ordnungen und ihrer symbolischen Organisation der Wirklichkeit“ (ebd.: 288).

Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur als ein praktisches Wissen, ein Können, ein Know-How und nicht als ein geistiges knowing that oder allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, so Reckwitz (2003). Das Soziale wird auf diese Weise in den sozialen Praktiken verortet und diese wiederum werden als know-how-abhängige und von einem praktischen Verstehen zusammengehaltene Verhaltensroutinen verstanden. Das Wissen, das dabei eine Rolle spielt, ist einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte inkorporiert und nimmt andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen verwendeten materialen Artefakten an. Die soziale Welt setzt sich in dieser Perspektive aus miteinander verflochtenen Praktiken, wie etwa Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft oder Praktiken der Verhandlungen, zusammen (ebd.: 289).

Handlungen und Praktiken bilden zusammen das, was ich in der vorliegenden Arbeit als actions fasse. Im Folgenden werden also vereinzelte, punktuelle und individuelle Handlungen bestimmter Akteure genauso als action gefasst wie Praktiken, die ein typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares‘ Bündel von Aktivitäten bilden. Praktiken beschreiben dabei die relative Reproduzierbarkeit und Repetitivität von actions über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg (Giddens 1979: 216). Handlungen sind im sozialen Normalfall in eine umfassendere, sozial geteilte und durch ein implizites, methodisches und interpretatives Wissen zusammengehaltene Praktik eingebettet (Reckwitz 2003: 290). Das Soziale besteht dabei in der Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches praktisches Können zusammengehalten werden.

Gleichzeitig kann aus praxeologischer Perspektive gesagt werden, dass sich actions nur begreifen lassen, wenn auch ihre Materialität und ihre impliziten und nicht-rationalistischen Logiken nachvollzogen werden. Dabei sind es vor allem zwei materielle Instanzen, die die Existent einer Praktik ermöglichen: der menschliche Körper und die Artefakte. Das heißt wiederum, „dass Praktiken nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit ‚Dingen‘, ‚Objekten‘ bedeuten“ (ebd.:291). Die Kernelemente der Praxistheorie liegen demnach in der Materialität der Praktiken. Diese besteht einerseits in der Körperlichkeit von Praktiken, die in Anlehnung an Bourdieu die „Inkorporiertheit“ von Wissen und die „Performativität“ des Handelns miteinbezieht. Andererseits bezieht sie sich auf die Materialität der Dinge, wobei spezifische Artefakte als Teilelement von sozialen Praktiken zu begreifen sind: „Wenn eine Praktik einen Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen darstellt, dann setzen diese nicht nur als ‚Träger‘ entsprechende ‚menschliche‘ Akteure mit einem spezifischen, in ihren Körpern mobilisierbaren praktischen Wissen voraus, sondern regelmäßig auch ganz bestimmte Artefakte, die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann“ (ebd.:291). Artefakte stellen dabei weder nur Objekte der Betrachtung noch reine Kräfte physischen Zwangs dar, sondern sind Gegenstände, deren Gebrauch und praktische Verwendung Bestandteil einer sozialen Praktik sind oder diese darstellen. Ein weiteres Kernelement ist die implizite Logik der Praxis:

„Wenn das Soziale soziale Praktiken sind, dann gewinnen diese ihre relative […] Reproduktivität in der Zeit und im Raum durch ihre materiale Verankerung in den mit inkorporiertem Wissen ausgestatteten Körpern, die – in der Dauer ihrer physischen Existenz – praxiskompetent sind, und in den Artefakten, in denen sich […] Praktiken über Zeit und Raum hinweg verankern lassen“ (Reckwitz 2003:291).

Auf diese Weise versucht diese Perspektive die Dichotomie zwischen Geist und Körper und zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden und definiert sowohl Körper als auch Objekte als notwendige Bestandteile des Sozialen (Bourdieu 1997; Latour 1991, 1996; Schatzki 1996). Sie bedient sich deshalb der Grundannahme einer „informellen“ oder „impliziten“ Logik des Sozialen und des Handelns (Reckwitz 2003:293). Das Handeln enthält aus dieser Perspektive Elemente der Intentionalität sowie normative Kriterien und stellt im Rahmen von Praktiken eine wissensbasierte Tätigkeit dar, in der praktisches Wissen, Können und praktisches Verstehen einfließen. Die daraus resultierenden, impliziten, sozialen Kriterien verschaffen der jeweiligen Praktik einen praktischen Sinn, der den beteiligten Akteuren und Gegenständen eine implizit gewusste Bedeutung gibt (ebd.:293). Relevant wird hier nicht welches Wissen eine Person oder Gruppe besitzt, sondern welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt. Soziale Praktiken entstehen somit, wie gesagt, nicht ausschließlich aus der Interaktion zwischen Subjekten, sondern auch aus der Interaktion mit Objekten (ebd.).

Gleichzeitig zeichnen sich die Praktiken durch ihre Routinisiertheit einerseits und ihre Unberechenbarkeit andererseits aus. Die Routinisiertheit erklärt eine gewisse Stabilität gewisser Praktiken auch bei sich verändernden Umständen, während die Unberechenbarkeit auf die Möglichkeit des Misslingens, der Neuinterpretation und der Konflikthaftigkeit hindeutet (ebd.:294). Diese zwei Elemente sind zentral für das Zusammenspiel der drei Hauptkategorienpaare dieser Forschung (Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Wissen/Nichtwissen, action/inaction). Inkorporiertes Wissen und repetitive Praktiken können kontextspezifisch umgedeutet werden, wenn Unbestimmtheit und Ungewissheit in ihnen auftreten (ebd.).

Dieses Verständnis von sozialer Praxis wird in dieser Forschung nicht ausschließlich bei der Untersuchung der betroffenen Bevölkerung und ihrem Umgang mit den Tailings und den von ihnen ausgehenden Schadstoffen angewandt, sondern auch bei allen anderen Akteursgruppen wie etwa den MitarbeiterInnen des Unternehmens, staatlicher Behörden und Institutionen, den Medien sowie der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt den WissenschaftlerInnen, die an der Wissensgenerierung über die Tailings und den von ihnen potenziell ausgehenden Gefahren beteiligt sind. Gerade die Wissenschaft kann als Folge der Untersuchungen der Wissenschafts- und Technikforschung nicht mehr allein als „Institution“ begriffen werden, denn beispielsweise die bekannten „laboratory studies“, haben die Naturwissenschaften als heterogenen Komplex von in hohen Maßen informellen Verhaltensroutinen „at work“ rekonstruiert (Latour & Woolgar 1979). Diese werden von einem impliziten Hintergrundwissen gestützt und sind gleichzeitig hochgradig kontextspezifisch (ebd.). Dabei wurden besonders Artefakte als ermöglichende und begrenzende Elemente von Handlungen und Verhaltensweise hervorgehoben (Latour 1991). In der später unter anderem auch von Bruno Latour (1996) entwickelten Akteurs-Netzwerk-Theorie (ANT) wird die Idee von Artefakten als ermöglichende und begrenzende Elemente von Handlungen und Verhaltensweisen weitergedacht. Dabei verliert die Materie ihren passiven Charakter und ist aktiv an der Konfiguration der Welt beteiligt (Kärger et al. 2017: 98). Das traditionelle Verständnis des Sozialen als Beziehung zwischen Menschen wird hier durch die Verbindung menschlicher und nichtmenschlicher Wesen ersetzt. Gegenstände erlangen auf diese Weise Handlungspotenzial und sind Teil handlungsermöglichender Netzwerke. Die soziale Welt ist in dieser Hinsicht eine „Hybridwelt“ (Latour 2000:27), die aus einem Netzwerk aus Techniken, Dingen, Menschen, Riten und Symbolen besteht (Latour 2010: 19, 112 in Kärger et al. 2017: 98).

Diese Überlegungen haben auch erhebliche Auswirkungen auf die agency der jeweiligen Akteure/Agenten. Agency wurde ursprünglich vorwiegend eingesetzt, um handelnde Akteure mit den Strukturen in Verbindung zu bringen und beinhaltet, dass Akteure die Fähigkeit und Kapazität besitzen, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und bewusst und intentional zu nutzen (Kärger et al. 2017: 100). Handlungsmöglichkeiten stehen nach dieser Auffassung im Zusammenspiel mit einschränkenden und ermöglichenden Strukturen, wobei sich agency und Struktur gegenseitig konstituieren. Das Ziel dieses Ansatzes ist es, ein vollständigeres Bild sozialer Prozesse zu erstellen, weshalb auch die unterschiedlichen Machtpositionen der beteiligten Akteure eine zentrale Rolle spielen, was den Umfang und die Art ihrer Handlungsmöglichkeiten angeht (ebd.). Das Bindeglied zwischen Akteur und Struktur sind in praxistheoretischen Ansätzen die Praktiken selbst. Sie kreieren Agenten und geben ihnen agency. Bei den ANT wiederum wird die Handlungsfähigkeit durch Wirkungs- oder Handlungskraft ersetzt und auch Dingen zugeschrieben (Kärger et al. 2017:98). Agency ist somit der Effekt der Beziehung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, wobei auch Dinge – im Unterschied zu reinen Objekten – das Potenzial haben, Effekte auf das tägliche Handeln auszulösen. Dinge werden als Konfliktstoff begriffen und wirken an der Konstitution der sozialen Welt mit, indem sie das Verhalten von Menschen leiten. Wenn sich durch die An- oder Abwesenheit von Dingen etwas ändert, dann besitzen diese Wirkungskraft (agency) (ebd.:99). ANT und Assemble Theorien positionieren sich auf diese Weise gegen jene Handlungstheorien, die den Menschen als autonomen Schöpfer seiner Entscheidungen begreifen. Ohne deshalb tiefer in die ANT eindringen zu wollen oder Dinge deshalb ontologisch und analytisch in dieser Forschung als „Aktanten“ zu berücksichtigen – wie von der ANT vorgeschlagen –, wird die Idee der Wirkungskraft der Dinge in das action/inaction Konzept dieser Heuristik mitaufgenommen. Dies trägt dazu bei, erforschen zu können, wie Veränderungen in der Umgebung, einmalige Ereignisse (wie etwa ein Tailingdammbruch oder Überschwemmungen) sowie die simple Anwesenheit der Tailings direkte Effekte auf das (tägliche) Handeln der Akteure haben. Ansonsten schließt sich die Forschung dem praxistheoretischen Mittelweg des Agency-Verständnisses an, die die Effekte der Dinge auf Handlungen berücksichtigt, aber ihnen nicht dieselbe Akteursqualität zuspricht, wie es die ANT tut (Kärger et al 2017).

Der praxeologische Ansatz ermöglicht es mir auf diese Weise, unter action nicht nur die expliziten „sinnhaften“ Handlungen einzelner Akteure in den bestehenden Strukturen zu fassen, sondern auch die alltäglichen Praktiken der Betroffenen, die im Zusammenhang mit den Tailings stehen; die Unternehmenspraktiken im Umgang mit ihnen sowie wissenschaftliche Praktiken der Wissensproduktion und -management ihnen gegenüber oder etwa die Praktiken staatlicher Behörden im Umgang mit diesem Umweltproblem miteinzubeziehen. Auf diese Weise werden nicht nur die einzelnen Akteure, sondern vor allem auch die Interaktion zwischen ihnen beobachtet. Dieser Zugang ermöglicht es außerdem, die Aktivitätsniveaus der einzelnen Akteure und Akteursgruppen als Kontinuum zu fassen (Hirschauer 2016:49) und auf diese Weise, die unterschiedlichen Nuancen der action und inaction – etwa zwischen der aktiven Problemlösung und der aktiven Unsichtbarmachung bzw. Lösungsverhinderung – und deren Einfluss auf das (Nicht-)Wissen und die (Un-)Sichtbarkeit des Problems zu berücksichtigen. Besonders auch das Verständnis der Artefakte und Substanzen als Partizipanten des Handelns (Reckwitz 2003; Kärger et al. 2017; Hirschauer 2016) ermöglicht ein erweitertes Verständnis von agency, das nicht nur die Handlungsfähigkeit und -mächtigkeit der menschlichen Akteure beinhaltet, sondern auch die Wirkungskraft von Dingen – in diesem Fall der Tailings – auf die (in)actions der menschlichen Akteure begreifen lässt (Kärger et al. 2017). Action, reaction und inaction werden hier also bewusst als breite Kategorie angelegt und sollen dabei alle menschlichen Verhaltensweisen, Tätigkeiten, Handlungen und Praktiken auf individueller, kollektiver und institutioneller Ebene beinhalten, die in Verbindung zu den Tailings stehen. Die actions, die in dieser Forschung empirisch untersucht werden, sind gleichzeitig in einen bestimmten Kontext (siehe Kapitel 5 zu Chile) eingebettet, teilweise gesellschaftlich institutionalisiert und durch die existierenden Strukturen determiniert (siehe etwa Kapitel 2). Durch sie werden die Handlungsmöglichkeiten der unterschiedlichen AkteurInnen auf den verschiedenen Ebenen wesentlich vorgegeben und eingeschränkt.

Wichtig ist es an dieser Stelle klarzustellen, dass beim Zusammenspiel der drei hier beobachteten Kategorien (Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Wissen/Nichtwissen, action/inaction) nicht von einem linearen Prozess ausgegangen wird – wie oftmals auch innerhalb der Sozialwissenschaften suggeriert (siehe Abschnitt 3.2.2) – in dem Wissen zu Sichtbarkeit und folglich zu Handeln führt. Vielmehr wird in meiner empirischen Forschung deutlich, dass es sich um ein komplexes Zusammenwirken sehr verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und Machtpositionen handelt, in dem die einzelnen Akteure über unterschiedliche Formen des (Nicht-)Wissens verfügen, verschiedene (Gefahren-)Wahrnehmungen und -definitionen haben und teilweise konträre Interessen vertreten. Sie verfügen gleichzeitig über sehr unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten sowie unterschiedlichen Fähigkeiten (Nicht-)Wissen zu generieren und die Wahrnehmung und actions anderer Akteure zu beeinflussen.

Actions sind außerdem in ein spezifisches Wissensregime eingebettet und unterliegen Glaubensansätzen und einem bestimmten (Welt-)Verständnis bspw. über die Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur und dem daraus abgeleiteten sozialen Metabolismus (siehe Kapitel 2). Dabei kann ein auf die Lösung eines Problems orientiertes Handeln auch gegenteilige oder negative Effekte für andere haben oder deren Lösungsvorstellungen widersprechen. Es gibt – gerade bei der von Tailings ausgehenden Art von slow violence-Phänomenen – nicht immer eine objektiv richtige Lösung (siehe Abschnitt 3.2.2) und diese hängt wiederum stark von den jeweiligen Interessen der AkteurInnen ab.Footnote 17 Während ein Akteur bspw. die Gewinnmaximierung verfolgt und die Lagerung der Tailings als „ordnungsgemäß und sicher“ einstuft, indem er sich auf die bestehenden Normen beruft, ist ein anderer Akteur an dem Erhalt des lokalen Ökosystems und seinen Lebensgrundlagen interessiert und problematisiert diese „Lösung“, indem er etwa auf die lückenhafte Rechtslage verweist. Dies führt zu sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen und damit verbundenen Verhaltensweisen, Praktiken und Handlungen gegenüber dem Umweltproblem. Umstritten ist demzufolge nicht nur die „Wahrheit“ über das vorliegende sozial-ökologische Problem, sondern auch die notwendigen und „richtigen“ actions zu seiner Lösung. Der konkrete Umgang mit den Tailings steht also genauso im Mittelpunkt wie die Wissensproduktion, -management und -verbreitung als gesellschaftliche Praxis. Im Fall von Chemikalien und Schwermetallen und ihren Auswirkungen auf die Umwelt und die Körper der Betroffenen besteht zudem, wie im letzten Abschnitt ausführlich dargestellt wurde, eine Situation der allgemeinen Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) unter allen beteiligten Akteuren, weshalb Wehling (2011) dem Umgang mit ihnen als eine Gouvernance des Nichtwissens beschreibt. Diese allgemeine Ungewissheit hat auch einen erheblichen hemmenden Effekt auf die Entstehung von sozial-ökologischen Konflikten bei dieser Art von Umweltproblemen. Im Vergleich zu anderen wissenschaftlich nachweisbaren und deshalb „offiziell anerkannten“ Umweltproblemen – wie es in Chile etwa das allgemein bestehende Problem des Wassermangels ist –, die sich im Kontext der aktuellen „ökoterritorialen Wende“, verstanden als Rahmen kollektiven Handelns (Svampa 2020:46), derzeit immer häufiger in Form von manifesten sozial-ökologischen Konflikten äußern, ist dies bei durch Tailings verursachten Umweltproblemen nicht der Fall. Der fehlende Zugang zu „offiziellem“ Wissen und die allgemeine Ungewissheit gegenüber den möglichen Auswirkungen der Bestandteile der Tailings hindern die Betroffenen oftmals – sogar in Fällen einer deutlichen Gefahren-/Risikowahrnehmung – an einer klaren Problemdefinition und verhindern folglich die Entstehung von Konflikten oder halten diese langfristig latent.

In dieser Forschung werden die drei in diesem Kapitel beschriebenen Kategorienpaare für die verschiedenen Akteursgruppen in ihrer Form und jeweiligen Ausprägung identifiziert, analysiert und miteinander in Zusammenhang gebracht. Dabei fließen sowohl die materiellen und sozialen Gegebenheiten der einzelnen Akteure als auch die Machtverhältnisse unter ihnen, sowie die bestehenden strukturellen Rahmenbedingungen und der spezifische historische Kontext in die Analyse ein. Anhand der empirischen Forschung sollen dadurch einerseits die ihr zugrunde liegenden Thesen und Forschungsfragen überprüft und beantwortet sowie gleichzeitig die zentralen (un-)sichtbarmachenden Mechanismen und Akteure identifiziert werden, um einen Beitrag für die sozialwissenschaftliche Analyse, aber vor allem auch für den gesellschaftlichen Umgang mit Umweltproblemen, die sich in Form einer slow violence darstellen, leisten zu können. Im folgenden Kapitel werden zunächst die methodischen Grundlagen der vorliegenden Forschung dargestellt, um anschließend in den empirischen Teil dieser Arbeit überzugehen.