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Differenzierungsdimensionen und multiple Übersetzung der Religion in der modernen Gesellschaft

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Multiple Übersetzung der Religion

Zusammenfassung

Es könnte der Eindruck entstanden sein, mit einer staatlichen Anerkennung der alevitischen Glaubensgemeinschaft und ihrer Organisation(sform)en (die bis dato nicht erfolgt ist) könnten sich die Herausforderungen und spannungsgeladenen Probleme lösen. Dass es nicht um das Entknoten makrostruktureller Fäden oder lediglich die mikrologische Abbildung subjektiv situierter, praktischer Vollzugskontexte geht, ist hier Gegenstand der Auseinandersetzung mit den bisher eindimensional vereinfachten Perspektiven. Der Ausgangspunkt der Untersuchung zu Formen und Formaten religiöser Lebensführung und Religionszugehörigkeit der Alevit:innen sind die Anerkennungsfragen, Aushandlungsprozesse und Verteilungskonflikte in der globalisierten Moderne als Dimensionen der größer gebauten sozialen Kontexte, die es erfordern, von unterschiedlichen Formen der Übersetzung zwischen alevitischem Milieu und alevitischer Organisation auszugehen.

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Notes

  1. 1.

    Arbeiten von Nancy Ammerman zur „Alltagsreligion“ (Ammerman 2006) und das Konzept der „gelebten Religion“ (McGuire 2008) thematisieren Religion aus einer religionssoziologischen Perspektive mit bedeutender (in der Literatur als „revolutionär“ [Woodhead 2017: 42] bezeichneter) feministischer Prägung – und zwar in der Hinsicht, wie über Religion nachgedacht werden kann unter Berücksichtigung des Körpers und/oder der Emotionen, wie und wo Religion beobachtet wird (nicht ausschließlich in Kirchen) und wie die Erforschung der Religion vollzogen wird – und leisten einen wichtigen Beitrag z. B. zur Systematisierung der Theoretisierung von Religion.

  2. 2.

    Dass Habermas’ Überlegungen nicht ohne Weiteres auf eine nicht westliche, islamisch geprägte Gesellschaft übertragen werden können, muss hier nicht betont werden.

  3. 3.

    Zum Begriff der Säkularisierung bzw. zu den Säkularisierungsprozessen und den damit zusammenhängenden sowohl religionssoziologischen als auch religionswissenschaftlichen Diskussionen hinsichtlich der verschiedenen semantischen Differenzierungen und Vielfalt siehe ausführlich: Pollack 2009. Pollacks (ebd.: 181) korrigierender Blick auf die bisherigen Säkularisierungsdebatten konstatiert, „dass De-Institutionalisierung und Individualisierung der Religiosität (im Unterschied zur Kirchenbindung) primär theoretische Einwände gegen die Säkularisierungsthese stützen“ (Renn 2018b: 125), aber mit Renn gesprochen „empirisch […] keinen Bestand haben“ (ebd.). Schließlich münde Pollacks Korrekturvorschlag „in der Empfehlung, die Frage nach den nachhaltigen Tendenzen für oder wider konstanter, aber formvariabler Religiosität (in Deutschland) vorerst offen zu halten“ (ebd.).

  4. 4.

    Vgl. auch: Casanova 1994. Hier verschafft Casanova (ebd.) Klarheit über die verschiedenen Positionen innerhalb der Säkularisierungsdebatten: So gebe es jene, die unter Säkularisierung den Bedeutungsverlust der Religion verstehen; jene, die behaupteten, dass es sich dabei um einen Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit handele und letztlich jene, die darunter eine Befreiung gesellschaftlicher Teilbereiche von religiöser Kontrolle verstünden. Für Casanova stellt die Trennung zwischen Staat und Kirche einen Anknüpfungspunkt der Säkularisierungsthese dar – einen Bedeutungsverlust oder eine Privatisierung der Religion weist er zurück (vgl. ebd.).

  5. 5.

    Vgl. auch Krech 2008, der von einer „Transformation der Religion“ spricht. Knoblauch greift diesen Begriff zur Beschreibung des Bedeutungswandels der Religion auf (2009), problematisiert aber in seinen späteren Veröffentlichungen angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen und Veränderungen dessen Verwendung (siehe dazu: Knoblauch 2020: 7–8).

  6. 6.

    Während Peter L. Berger (2015) Pluralisierung als Folge des Modernisierungsprozesses sieht, geht Casanova (2019) davon aus, dass es multiple Prozesse gebe, die in der Konsequenz zur Ausbildung verschiedener Formen von Pluralismus führten. Dieser Ansatz von Casanova kommt der theoretischen Heuristik einer multipel differenzierten Gesellschaft der Moderne sehr nahe.

  7. 7.

    Neben religiösen „Organisationsformen“ (Pollack 2018: 8) wird in der Forschungsliteratur auch oft von „Institutionalisierungsformen“ (ebd.) oder „Sozialformen“ (ebd.) der Religion gesprochen. Nach Pollack (2018) handele es sich bei der religiösen Sozialform um einen „strukturellen Rahmen […], in dem sich das Skript religiöser Praktiken und Interaktionen konkretisiert, in dem die Akteure faktisch ihre religiösen Beziehungen aufbauen und entfalten“ (ebd.: 9). Die klassische dichotomische Unterscheidung Kirche und Sekte von Max Weber und Ernst Troeltsch (1912; 1965 [1922]) greife für Untersuchungen zum Islam zu kurz. Weber charakterisiert die Kirche zwar nicht unmittelbar unter Bezugnahme seiner Schriften zur Bürokratie (vgl. Petzke/Tyrell 2012: 277–278), aber arbeitet dennoch organisationsförmige Merkmale der Kirche heraus. Nach Weber (1972) sei die Kirche „eine einheitliche rationale Organisation […] mit monarchischer Spitze und hierarchisierter Kontrolle der Frömmigkeit“ (ebd.: 336), die „sich in den Konzilien, dem Amtsapparat der Bischöfe und der Kurie und vor allem der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt und dem unfehlbaren Lehramt Organe zu rationaler Rechtsprechung [schuf], wie sie anderen Weltreligionen fehlen“ (ebd.: 460–461, vgl. auch: Tyrell 2005). Die Kirche wird auch bei Niklas Luhmann (1977: 272–316) als Organisation beschrieben. Sie verfüge über „eine klare Grenzziehung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, Hierarchiebildung und Stellen mit formalisierten Entscheidungsbefugnissen sowie über eine organisationale Programmatik in der Form der Dogmatik“ (Schlamelcher 2018: 494). Die Arbeit will unter Applikation der Theorie multipler Differenzierung und der mühevollen theoretischen Rekonstruktionen eine alternative Begriffsprogrammatik für Untersuchungen zum Islam und Formen/Formate islamischer Religiosität entwickeln.

  8. 8.

    Die Unschärfe betrifft vor allem die fehlende Unterscheidung Luckmanns zwischen Religiosität und Religion (vgl. Bochinger et al. 2009: 159). Dies versucht die vorliegende Arbeit bei der Fallanalyse (vgl. Kap. 5) zu berücksichtigen und mit begrifflicher Schärfe Luckmanns Ansatz für die Untersuchung fruchtbar zu machen.

  9. 9.

    Nach Joas (2020) würde der Begriff der Privatisierung, analog zum Säkularisierungsbegriff, mehr Klarheit vorspielen, als er einlösen könne. Denn bei der Thematisierung des Rückzugs der Religion ins Private sei „durchaus uneindeutig, wo dieses liegt: außerhalb des Staates in der Zivilgesellschaft, außerhalb von Staat und Zivilgesellschaft in den Familien, nur im Seelenleben des Einzelnen?“ (ebd.: 562, vgl. auch: ders. 2012: Kap. 1). Angesichts der spezifischen Konstellation der alevitischen Organisation im Kontext der Türkei und unter Berücksichtigung von Joas’ Vorbehalten ergibt sich für Alevit:innen ein besonderer Prozess der Privatisierung, den es gilt, in den vorstehenden Analysen zu entfalten.

  10. 10.

    Hier könnte an Casanovas (1994, 1996) Ansatz zur Sichtbarkeit und zum Bedeutungszuwachs von Religion in öffentlichen Arenen angeknüpft werden, denn mit der Migration in die Städte äußert sich die alevitische Religiosität in verschiedenen Formaten der Öffentlichkeit.

  11. 11.

    Eine ausführliche Kritik zur religionssoziologischen Gleichsetzung von Kirche und Religion vgl. Luckmann 1963 sowie Berger 1970: 17.

  12. 12.

    Luckmanns (1991 [1967]) Konzept der Privatisierung der Religion steht damit in Kontrast zu den Beobachtungen Casanovas (1994), der Religion eine aktive Rolle in politischen Diskursen bzw. allgemein in öffentlichen Arenen einräumt und von einer „Ent-Privatisierung“ bzw. „Deprivatisation“ (Casanova 1996: 184) spricht (vgl. auch: ders. 2009). Insofern könnte Casanovas Deprivatisation das Gegenstück für die Luckmann’sche De-Institutionalisierung sein.

  13. 13.

    Vgl. auch: Knoblauch 2006a.

  14. 14.

    Siehe dazu auch Arbeiten von Kieserling (2004: 212) zur Struktur und Semantik von Organisationen; zu Organisation und Religion vgl. Luhmann 1972, 1977, 2001 sowie Petzke/Tyrell 2012, Tyrell 2005.

  15. 15.

    Die durch die Moderne neu entstandenen Probleme und Risiken lösen sich nicht auf. Auch geht es nicht „um eine Reflexion der ersten Moderne, sondern schon um einen Umgang mit der späten und Postmoderne“ (Knoblauch 2020: 11).

  16. 16.

    Die Kopplung zwischen Moderne und Religion, konkreter: das Verhältnis der mit der Moderne einsetzende Säkularisierung und die Re-Sakralisierungen in der Postmoderne ist spannungsgeladen (vgl. Knoblauch 2020: 17). Hier ist auch das Konzept der „multiplen Säkularitäten“ (Wohlrab-Sahr/Burchhard 2012) zu erwähnen, das sich mit den verändernden und neu konstituierenden (Wechsel-)Beziehungen zwischen Religion und Politik beschäftigt.

  17. 17.

    Als einer der zentralen Vertreter der Religionssoziologie beschreibt Durkheim (Durkheim 1981 [1912]: 75) Religion als „ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken […], die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft […] alle vereinen, die ihr angehören“. Nach Durkheim (ebd.) weist der Religionsbegriff drei charakteristische Merkmale auf: die Differenz von profan und heilig, das Gemeinschaftliche und neben der religionskonstituierenden Bedeutung von Glaubensvorstellungen und Praktiken ebenso die zentrale Rolle von Kult sowie religiösen Ritualen (vgl. auch: Tyrell 2014: 21). Im Gegensatz zu Durkheim hat Max Weber (1972) keinen näher bestimmten Religionsbegriff. Weber (ebd.) umgeht diesen und argumentiert, dass „[e]ine Definition dessen, was Religion ‚ist‘, […] [könne] unmöglich an der Spitze, sondern […] allenfalls am Schluss einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen“ (ebd.: 245). Jedoch vermisst die/der Leser:in diese zuvor angekündigte Definition von Religion auch am Ende von Webers Ausführungen.

  18. 18.

    Die Diskussion um die genaue Begriffsbestimmung von Religion ist nicht abgeschlossen. So gibt es sowohl funktionale als auch substanzielle Religionsbegriffe. Ein dritter Ansatz versucht eine Verknüpfung der letztgenannten beiden Religionsbegriffe. Daneben gibt es Ansätze, die explizit auf einen Religionsbegriff verzichten oder diesen unter verschiedenen Aspekten zugespitzt analysieren. Zum schwierigen Religionsbegriff siehe Pollack 2018: 18.

  19. 19.

    Zur Kritik am Religionsbegriff und der religionswissenschaftlichen Analyse- und Begriffskategorien: Matthes 2005; Dubisson 2003; Fitzgerald 2000; McCutcheon 1997; Asad 1993.

  20. 20.

    Vgl. Auch: Tibi 1991a, 1991b.

  21. 21.

    Zum islamischen Recht, dessen historischer Entwicklung und Verbreitung sowie Beschaffenheit verfasste Weber, so wie seine ganzen Untersuchungen zum Islam, lediglich allgemeine und weniger detaillierte Ausführungen (vgl. Schacht 1935: 207). Dennoch sind seine Arbeiten im islamischen Kontext sehr relevant, weil er „bei aller Zuspitzung auf Idealtypen von komplizierten, historisch begründeten Wechselwirkungen […] ‚Wahlverwandtschaften‘ zwischen Ideen und Strukturen ausging“ (Krämer 2020).

  22. 22.

    Eine kritische Reflexion der Säkularisierung im Islam und der dazu veröffentlichten Arbeiten sowie die dabei zu berücksichtigende Frage nach den Geschlechterverhältnissen am Beispiel von Marokko siehe El Guennouni 2017.

  23. 23.

    Eine Übersicht zu Untersuchungen des Islam und muslimischer Gesellschaften am Beispiel von Afrika siehe: Soares 2000. Weitere einschlägige Arbeiten aus soziologischer Perspektive vgl.: Crapanzano 1973; Gellner 1992, 1985; Rodinson 1986; Tibi 1985, 1991a, 1991b; Twardella 1996.

  24. 24.

    Vielleicht wäre die Verwendung der Begriffe dogmatisch und nichtdogmatisch eine applizierbare Alternative zu religiös und nichtreligiös, deren Entfaltung würde hier aber zu weit führen.

  25. 25.

    Beispiel für eine aus dem (kritisch zu hinterfragenden) Begriffsapparat entfaltete Ideologisierung siehe: Huntington 1996.

  26. 26.

    Zur Ambiguitätstoleranz (auch) im Westen vgl. Hersche 2006, der als Ergänzung bzw. in Abweichung zur Webers Protestantismus-Theorie einen Barock-Katholizismus als einen Weg in die Moderne nachzeichnet. Für eine andere, ergänzende Sicht auf das mittelalterliche Europa, das in der Literatur inflationär als stets zu überwindendes Übel, so Bauer, dargestellt werde, vgl. Rexroth 2019. Rexroth thematisiert die revolutionären (intellektuellen) Veränderungen Europas zu den Zeiten des Mittelalters. Der Islam hätte kein Mittelalter, sondern sei eine Fortsetzung der Antike und folglich sei es auch teils schwierig, zwischen der Spätantike und dem Frühislam zu unterscheiden (vgl. Bauer 2016).

  27. 27.

    Zur Nachvollziehbarkeit der verkürzt dargestellten Transformation der Tradition der Ambiguität in eine Ambiguitätsintoleranz, über die Bauer (2016: 51) lediglich schreibt „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging all dies zu Ende“, hätte sich die Leserschaft sicherlich weitere Analysen und Untersuchungen gewünscht. An dieser Stelle kamen Bauers Ausführungen zu kurz. Außerdem ist seine Darstellung des Westens als ambiguitätsintolerant (vgl. ebd.: 374) sehr verallgemeinernd.

  28. 28.

    Er verweist dabei auf „zeitgenössische muslimische Philosophen und Theologen, wie Ali Mabrouk und Zakaria Ibrahim“ (Khorchide 2020: 1–2).

  29. 29.

    Bei seinen als Korankommentar verfassten Büchern verpflichte Khorchide „sich selbst einer offeneren, dialogischen, dynamischeren […] Interpretation“ (Bagrac 2019).

  30. 30.

    Für seine Herangehensweise und die von ihm vertretenen theologischen Positionen wurde Khorchide u. a. auch von Seiten muslimischer Gemeinden und Verbände stark kritisiert und als nicht tragbar, falsch oder nicht islamkonform bezeichnet.

  31. 31.

    Eine umfangreiche Arbeit zu Organisationen des Islams in Deutschland, zum organisierten Islam unter Berücksichtigung der dem Gegenstand innewohnenden Diversität und spezifischen Dynamiken vgl. Chbib (2017).

  32. 32.

    Wobei der Fokus der Arbeit nicht auf Verhältnisbestimmungen der Alevit:innen zum Islam liegt, d. h. ob sie innerhalb oder außerhalb des Islams zu verorten sind bzw. eine islamische Strömung sind oder nicht.

  33. 33.

    Zum Begriff der „Religionisierung“ ausführlich: Dreßler 2019a, b.

  34. 34.

    Dreßler (2019a) versteht unter dem Traditionsbegriff in Anlehnung an Schulze (2015: 175) eine „Rede- und Handlungsgemeinschaft“ (ebd., zit. In: Dreßler 2019a: 54) mit verschiedenen Institutionalisierungsgraden bzw. „Verdichtung[en]“ (ebd.: 55).

  35. 35.

    Nach Dreßler (2019a) zeichne sich hier eine „Spannung zwischen der Bestimmung von Orthodoxie über autoritative Bezugspunkte islamischer Dogmatik und der genealogischen Methode“ ab (ebd.: 52), d. h. die kritische Hinterfragung diskursiver Machtverhältnisse.

  36. 36.

    Den Begriff der religiösen Tradition entwickelt Dreßler (2019a) in Anlehnung an Bourdieu (1991) und seinen Feldbegriff. Die Bourdieu’schen Überlegungen zum „dialektische[n] Verhältnis zwischen dominierenden und dominierten Positionen“ (Dreßler 2019a: 53), die „bei der Konstituierung und Aufrechterhaltung eines religiösen Feldes und der Bestimmung seiner Grenzen“ (ebd.) eine zentrale Rolle spielen, sind für Dreßlers Analysen leitend.

  37. 37.

    Dreßler (2019a: 71) bezeichnet „die Transformation von religiösen Traditionen in Religionen“ als „Religionisierung“ (ebd.).

  38. 38.

    Vgl. dazu auch Behnan 1927: 12.

  39. 39.

    Dreßler (2019a) widmet sich auch der Frage wie „islamische[] Begriffe wie mezhep (arab. Maḏhab), tarikat (arab. ṭarīqa) und din (arab. Dīn)“ (ebd.: 60–61, Hvg. E.Y.) verwendet werden und „zur Normierung des Islams“ (ebd.) führen. Zweifelsohne würde die Nachzeichnung dieser Diskurse um die Verhältnisbestimmung des Alevitentums zum Islam (vgl. Spuler-Stegemann 2003) eine weitere spannende Perspektive auf die islamimmanenten Unterscheidungsformen ermöglichen. An dieser Stelle sei aufgrund der Tiefe und Breite der Thematik auf Dreßler (2019a) verwiesen, der in seinen Arbeiten die oben genannten Begriffe untersucht.

  40. 40.

    Eine spezifisch islamische Terminologie und die Verwendung islamischer Begriffe wie dīn sind keine Anzeichen von Nichtkonformität des Islams mit bzw. in der Moderne. So gibt es doch „Berührungspunkte und semantische Affinitäten mit dem westlichen Religionsbegriff“ (Dreßler 2019a: 63) (siehe auch: Smith 1991: 81–82; Haußig 1999: 227–234, zit. In: Dreßler 2019a: 63), wie die im Koran verankerten, über die islamische Tradition hinausgreifenden und vergleichend angelegten Elemente oder der dīn-Begriff mit seiner jeweils spezifisch islamischen Implikation beim Religionsvergleich verdeutlichen (Riesebrodt 2004: 132–133; Karamustafa 2017: 166–167, zit. In: Dreßler 2019a: 63).

  41. 41.

    Die Verhältnisbestimmung bzw. die Verortung des Alevitentum zum Islam ist nach wie vor umstritten (vgl.: Dreßler 2013b, zur „Andersartigkeit“ der Alevit:innen vgl.: ders. 2013a, zu den widerstreitenden Deutungen des Alevitentums siehe Überblick: Vorhoff 1998b).

  42. 42.

    Renate Mayntz (1988, 1997: 40) thematisiert die Schwierigkeit der nicht Übertragbarkeit von in europäischen Kontext angewendeten Differenzierungsformen auf „orientalische Gesellschaften“ und der unpassenden und unzureichenden Analyse dieser unter dem Primat der funktionalen Differenzierung. Der Grund liege darin, dass im Gegensatz zu europäischen Gesellschaften, die Gesellschaften im „Orient“ eben nicht funktional differenziert seien und keine stratifikatorischen Strukturen aufweisen. Ferner würden sie sich von segmentaren Gesellschaften grundlegend unterscheiden, weil sie sich besonders durch eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende bürokratische Herrschaftsordnung kennzeichne (ebd. 1988: 13, siehe auch: El Guennouni 2017: 205).

  43. 43.

    In Anlehnung an Renn (2006a: 62) hier Nell: „Mit ‚sozialer Differenzierung‘ ist deren Doppelgesichtigkeit von funktionaler Differenzierung in Teilrationalitäten und der kulturellen Pluralisierung in Teildeutungshorizonte gemeint“ (2020: 44, Hvg. i. O.).

  44. 44.

    Im Gegensatz zu Luhmann und seiner Systemtheorie, die die funktionale Differenzierung als einzige Differenzierungsform vorzieht, betont Renn (2006a: 12) die Koexistenz verschiedener Differenzierungsformen. Denn in einer komplexen modernen Gesellschaft, in der kulturelle Pluralisierung sowie zu variantenreiche Lebensformen und Praktiken vorliegen (ebd.), könne kein Teilsystem (z. B. Religion) die vollständige Integration der modernen Gesellschaft zur Repräsentation der Einheit der Gesellschaft übernehmen. Vor dem Hintergrund der multiplen Differenzierungen fragt Renn (ebd.), wie die Einheit der Gesellschaft noch gewährleistet werden bzw. wie die Integration der modernen Gesellschaft erfolgen kann. Mit einer Modifikation der Systemtheorie und ebenso einer Umstellung der Habermas’schen Überlegungen geht es bei der Theorie multipler Differenzierung um eine Differenzierung zwischen System- und Sozialintegration, d. h. eine Differenzierung zweiter Ordnung (der Integration von Integrationsformen) (vgl. ebd.: 75). Renn richtet den Blick sowohl auf die Interferenzverhältnisse zwischen den Formen der Differenzierung als auch auf grenzüberschreitende Beziehungen und die Frage der Einheit der Differenzen, d. h., es geht hier um die Ausdifferenzierung verschiedener Horizonte des Sinnes, die wechselseitig aufgrund verschiedenartiger Formen der Differenzierung Grenzen bilden (vgl. ebd.: 22). Die Frage nach der Integration der Gesellschaft ist also über einen „Modus der Grenzbeziehungen“ abzuwickeln und dafür reicht die Integration erster Ordnung, die entweder System- oder Sozialintegration vorschreibt, nicht aus (vgl. ebd.: 17, 22). Zur Rekonstruktion dieses Modus führt Renn den Begriff der Übersetzung ein (vgl. ebd.).

  45. 45.

    In der Renn’schen Theorie „verweist der Begriff der Umgebung dezidiert auf die Besonderheit des pragmatischen Bezuges einer Handlung“ (Nell 2020: 17, dazu auch: Renn 2006a: 483), während Luhmann Umwelt als „ein Negativ-Korrelat eines Systems“ (Nell 2020: 17) versteht.

  46. 46.

    In der Perspektive der Theorie multipler Differenzierung versteht Renn (2006a) Personen sowohl als intentionale Integrationseinheiten als auch als Ausführende von Handlungen. Personen können demnach in Systeme inkludiert, als (optionales) Organisationsmitglied oder in unterschiedliche Milieus (temporär) integriert sein (über Formen der Übersetzung). Unter den Bedingungen einer pluralisierten multipel differenzierten Moderne entwerfen sie ihre personale Identität als dynamische, „transitorische Identität“ (Renn 2018b: 139–140) und verfügen entsprechend ihrer variantenreichen „Inklusionsprofile“ (ebd.) über verschiedene Formen des expliziten und impliziten Wissens je nach Kontext (z. B. milieuspezifisches Wissen). Bei diesen Wissensbeständen handelt es sich aber um Translate größer gebauter Ordnungen bzw. Einheiten (systemische, organisationale oder milieuspezifische) in den subjektiv-intentionalen Sinnhorizont der Person (vgl. ebd.).

  47. 47.

    Parson (1969) entwickelte seine Theorie unter Berücksichtigung der Inklusion und Exklusion in seinem Aufsatz „Full Citizenship for the Negro American?“ (ebd.). Darin beschreibt er die Inklusion von großen Bevölkerungsgruppen als zentralen Prozess in der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, die für die Moderne prägend waren.

  48. 48.

    Dazu auch: Tyrell 1985; König 1976.

  49. 49.

    Für eine handlungstheoretisch fundierte Differenzierungstheorie siehe ausführlich: Schimank 2005 und Schwinn 2001.

  50. 50.

    Siehe dazu auch: Hillebrandt 1999: 246–252 und Farzin 2006: 24–37.

  51. 51.

    Die Zunahme von Handlungsoptionen und der damit einhergehenden Vergrößerung der Freiheiten führe nicht zwangsläufig, so Joas (2012), zu einer radikalen Individualisierung. Vielmehr ermögliche die Optionssteigerung neue Möglichkeiten der Wertgeneralisierungen sowie neue Formen und Formate der Solidarität, die von der Person selbst gewählt sind (vgl. ebd.: 139–148). Für die Empirie bedeutet dies, dass Personen die Möglichkeit haben, zwischen Religionsgemeinschaften, in denen sie sich engagieren oder Mitglied sein wollen, auswählen können.

  52. 52.

    Vgl. auch: Renn 2006a. Damit und aus den bisherigen Ausführungen zu entnehmenden Begründungen stellt sich das vorliegende Projekt wie Nell (vgl. auch: Renn 2012) „in die Linie der pragmatistischen Gesellschaftstheorie Renns, der in überzeugender Weise eine holistische Figur der ‚Welterschließung‘ durch unterschiedliche Typen der Übersetzung vorgelegt hat. Mit der Metapher der Welterschließung setzt man sich sowohl von der konstruktivistischen ‚Erfindung‘ von Gegenständen als auch von repräsentationalistischen ‚Vorfinden‘ von nackten Tatsachen ab […]“ (Nell 2020: 13–14, siehe auch: Renn 2012c: 99).

  53. 53.

    Vgl. dazu: Renn/Straub 2002.

  54. 54.

    Vgl.: Renn 2018b: 130–133.

  55. 55.

    Zu den hier kursorisch skizzierten Überlegungen und besonders zum Integrationsproblem zweiter Ordnung bzw. zum Problem der Integration von Integrationsformen ausführlich vgl.: Renn 2006a.

  56. 56.

    Bei Renn (2006a) ist mit Re-Spezifikation „eine pragmatische Applikation von generalisierten Typiken [gemeint] […], bei der aus der Sicht der Soziologie keine vorgefasste Gleichförmigkeit des Handelns angenommen werden muss“ (Nell 2020: 134, Hvg. i. O.).

  57. 57.

    Eine weitere Begründungsdimension der Notwendigkeit der Applikation der Theorie multipler Differenzierung: „Aufgrund der wechselseitigen Bezogenheit […] heterogene[r] Differenzierungsachsen untereinander, ist es auf zunächst formaler Ebene sachgerecht, die moderne Gesellschaft als „multipel differenziert“ zu beschreiben und sich von dem vermeintlichen Zwang zu befreien, einer besonderen Differenzierungsform (funktionale Differenzierung oder „soziale Ungleichheit“) den Primat für die Charakterisierung der Zentralstruktur der modernen Gesellschaft zuzusprechen“ (Renn 2018a: 207).

  58. 58.

    Im Übergang zwischen Ordnungen und Kontexten können Bedeutungsbrüche, d. h. „Differenz[en] zwischen Sinnhorizonten“ (Renn 2018a: 199), entstehen. Insofern zeigt „[d]er Bedeutungsbruch […] bei Beziehungen über die Grenzen zwischen ausdifferenzierten Typen der Handlungskoordination hinweg eben diese Grenzen als Sinngrenzen symptomatisch an […]“ (ebd.: 210). Übersetzungen erfolgen dabei sowohl auf der vertikalen als auch auf der horizontalen Ebene zwischen Integrationseinheiten unter Berücksichtigung der jeweiligen Abstraktionsgraden. Eine lineare Sinnübertragung zwischen beispielsweise zwei Systemen ist also nicht möglich, sodass die Übersetzung einen Umweg gehen muss über eine Integrationseinheit mit einem höheren Konkretionsgrad (hier: durch die Organisation). Die konkrete Handlungsbedeutung muss je nach Sinnhorizont der Integrationseinheit spezifiziert bzw. respezifiziert werden. Gerade die aufgrund der in der multipel-differenzierten modernen Gesellschaft asymmetrisch gelagerte Integrationen auf Teilbereiche, die sich wechselseitig abgrenzen, erfordern eine Übersetzungsarbeit zwischen eben diesen Integrationen über ihre spezifischen Grenzen (je nach gesellschaftlicher Differenzierungslage) der Sinn-Horizonte (vgl. ebd.: 234, die Übersetzungsarbeit wird an weitere Einheiten delegiert). Dabei nehmen mit zunehmendem Grad der Abstraktion von sozialen Einheiten und Ordnungen, zwischen denen dauerhaft der Konkretionsgrad verwandelt werden muss, die Komplexität der Übersetzungskaskade und die „Übersetzungsschritte“ (Renn 2006a: 409) der Kaskade zu.

  59. 59.

    Zur detaillierten Einbettung und Begründung des Rückgriffes auf die zentrale Terminologie des latenten Sinnes: „Eine entscheidende Modifikation etablierter Methoden setzt deshalb am Begriff des ‚latenten‘ Sinnes an, der heuristisch auf interne Symptome externer Imperative (oder auch Möglichkeitsbedingungen etc.) bezogen werden muss. Und aus eben diesem Grunde trägt die differenzierungstheoretisch vorbereitete Makroanalyse als eine Variante der qualitativen Sinn-Rekonstruktion im Titel den Namen einer Tiefenhermeneutik. Das gesellschaftsanalytische Mandat verpflichtet zum hermeneutischen Durchgang durch den manifesten Inhalt des untersuchten Materials auf die Tiefendimensionen latenter Sinnschichten, in denen sich externe Bedingungen der Fallstruktur indirekt als Übersetzungsfolge bemerkbar machen“ (Renn 2018a: 227–228).

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Yıldızlı, E. (2023). Differenzierungsdimensionen und multiple Übersetzung der Religion in der modernen Gesellschaft. In: Multiple Übersetzung der Religion. Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43218-8_3

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