Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass es zwischen den Teams große Unterschiede in den Orientierungen hinsichtlich des organisationalen Umgangs mit der medialen Berichterstattung gibt. Weitere Anlässe der Thematisierung sexueller Gewalt werden in den Bedingungen der Institution selbst verortet. Dabei geht es einerseits um organisationale und pädagogische Bedingungen, die sich auf die stationäre Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen beziehen lassen und andererseits um solche Bedingungen, die für spezifische organisationale Konstellationen gelten. Abbildung 8.1 zeigt eine Übersicht über die empirisch rekonstruierten organisationalen Bedingungen. Alle Bedingungen werden von den Teams als Bedingungen für das Entstehen von sexueller Gewalt und/oder der Möglichkeit, unter falschen Verdacht zu geraten, thematisiert. Dabei wird sowohl darauf eingegangen, dass einige Bedingungen Schutz, andere Risiken bergen und manche auch ambivalent sind und sowohl schützen als auch riskant sind.

Abbildung 8.1
figure 1

Übersicht institutionelle Bedingungen

8.1 Organisationale Bedingungen

8.1.1 Geteilter privater Raum

Für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe ist es konstitutiv, dass die in Wohngruppen untergebrachten Kinder und Jugendlichen einen Großteil ihres Alltags in den Räumlichkeiten vor Ort verbringen. Sie schlafen, essen und waschen sich in den Räumen der Wohngruppe, dort ist ihr privater Raum. In der Regel sind die stationären Gruppen so konzipiert, dass auch die pädagogischen Fachkräfte Teil dieses Alltags sind. Viele schlafen mindestens gelegentlich, viele mehrmals wöchentlich in der Wohngruppe. Sie essen dort und nutzen die Sanitäreinrichtungen der Kinder und Jugendlichen mit. Aus dem partiellen Teilen des Alltags und der Räumlichkeiten entsteht eine Nähe, welche die pädagogischen Fachkräfte vor dem Hintergrund des Themas sexuelle Gewalt als risikovoll einstufen:

figure a

In der Wohngruppe des Teams 5 ist es so, dass die innewohnende Mitarbeiterin, Frau März, innerhalb der Räumlichkeiten ihr eigenes Zimmer und Badezimmer hat. Im Gegensatz zu ihr teilen sich die anderen pädagogischen Fachkräfte, zu denen Frau Siepen gehört, die Räumlichkeiten mit den Kindern. Dies wird besonders dann relevant, wenn sie die „vollvertretung“ machen, also auch in der Wohngruppe übernachten. Frau Siepen stellt sich dann die Frage, ob es wohl in Ordnung ist, wenn sie mit einem Mädchen aus der Wohngruppe gleichzeitig das Badezimmer benutzt. Hier zeigt sich, wie der geteilte private Raum und die so entstehende Intimität eine Handlungsunsicherheit auslösen.

Das Badezimmer, insbesondere das Duschen der Kinder und Jugendlichen im Badezimmer sind für alle Teams Situationen, in denen das Thema sexuelle Gewalt durch Professionelle relevant wird (vgl. auch Kap. 10). Auf die räumliche Dimension der Situation geht das Team 6 in folgender Passage ein. Hier schildert Herr Aman:

figure b

Der Auszug aus der Passage ist aus mehreren Gründen sehr interessant. An dieser Stelle wird zunächst die räumliche Dimension fokussiert: Die pädagogische Fachkraft hält sich notwendigerweise in der Wohngruppe auf, also im privaten Wohnraum der Kinder. Ihre Anwesenheit in Kombination mit den räumlichen Gegebenheiten – man scheint vom Garten ins Badezimmer sehen zu können – reichen aus, um das Szenario einer Beschuldigung sexueller Übergriffigkeit zu konstruieren.

8.1.2 Asynchrones Arbeiten

Neben der räumlichen Nähe zeigt sich in der vorangegangenen Sequenz noch eine weitere organisationale Bedingung: Pädagogische Fachkräfte sind in vielen Wohngruppen mindestens am Abend und in der Nacht, in diesem Fall auch den ganzen Tag allein im Dienst. Dieser Umstand des asynchronen Arbeitens führt dazu, dass kein*e Kolleg*in ihr Verhalten kontrolliert, bzw. ihre Unschuld bezeugen könnte. Somit ist das asynchrone Arbeiten ein Risikofaktor für sexuelle Gewalt, aber auch ein Risiko, unter Verdacht zu geraten, der nicht durch Kolleg*innen entkräftet werden kann. Besonders deutlich wird der Risikofaktor des asynchronen Arbeitens an einem Beispiel aus Team 3, da hier organisational in einer sehr spezifischen Art und Weise mit dem „alleine im Dienst sein“ umgegangen wird. In der nachfolgenden, in Abschnitte unterteilten Sequenz werden nach und nach die unterschiedlichen Dimensionen des asynchronen Arbeitens rekonstruiert.

figure c

Hier wird die konzeptionelle Besonderheit, dass nahezu immer mehrere pädagogische Fachkräfte im Dienst sind, als Schutz hervorgehoben. Ein weiterer Schutz ist der Umstand, dass die Bewohner der Wohngruppe immer unter Aufsicht sein sollen. Ist eine Fachkraft alleine im Dienst, ist sie „dann halt mit allen jungs zusammen“. Auch in diesen Fällen gäbe es dann eine Kontrolle des eigenen Verhaltens. Hier werden also von den pädagogischen Fachkräften Situationen der körperlichen Nähe im Eins-zu-Eins-Kontakt mit den Jugendlichen als risikovolle Situationen identifiziert und für sich ausgeschlossen. Die Anwesenheit von Dritten ist hier ein Schutzfaktor und wird durch das Konzept mit unterstützt. Interessant ist hier, dass der „gegenseitig[e]“ Schutz der pädagogischen Fachkräfte für Herrn Maus im Vordergrund steht. Erst die geflüsterte Intervention von Frau Kreis führt dazu, dass der Schutz der Kinder mitberücksichtigt wurde. Hier zeigt sich ein doppelter Schutz, wobei der Schutz der pädagogischen Fachkräfte klar im Vordergrund steht.

Herr Holt führt die Sequenz weiter und erinnert daran, dass die pädagogischen Fachkräfte im Nachtdienst allein arbeiten und sich auch dort Situationen ergeben, in denen sie Kindern körperlich nah sein müssen. Dieser Einwand wird von den Kollegen Leut und Braun bestätigt. Situationen des Alleinseins mit Kindern und Jugendlichen lassen sich auch in dieser Wohngruppe nur eingeschränkt vermeiden. Das asynchrone Arbeiten besteht hier ebenso als Risiko, auch wenn der höhere Personalschlüssel und die Tagesstruktur das Risiko eindämmen. Die Proposition, dass die Anwesenheit einer weiteren pädagogischen Fachkraft schützt, wird im Folgenden noch erweitert. Herr Leut bringt ein, dass sie ja auch Videokameras in der Einrichtung hätten, die zusätzlich beobachten würden:

figure d

Herr Leut greift die Konklusion noch einmal ironisch auf. Im Konzept der Gruppe sind nicht nur Personen als Dritte vorgesehen, sondern auch Videokameras auf den Fluren der oberen Etage installiert. Diese erfüllen die Funktion eines technischen Dritten, der das Handeln der pädagogischen Fachkräfte überwacht. Videos von körperlich nahen Situationen könnten belegen, dass in diesen keine sexuelle Gewalt verübt wurde. Zwar erweitert diese technische Möglichkeit den Schutz der pädagogischen Fachkräfte, aufgrund ihrer räumlichen Begrenztheit ist sie jedoch keine umfassende Alternative für die Anwesenheit eines Menschen.

figure e

Herr Braun differenziert dieses Argument und sieht die Kameraüberwachung noch einmal stärker als Schutz. Auch wenn diese nicht in die Zimmer der Jungen hineinsehen kann, könnte sie sehr wohl zeigen, wenn Personen sich länger in den Zimmern aufhalten. Dies in Kombination mit dem Fehlen eines erklärenden Eintrages im Dienstbuch würde zu einer Verwunderung führen. Insofern ist die Videoüberwachung doch ein etwas stärkerer Schutz als zuvor angenommen.

Über die Gruppendiskussionen hinweg kann festgestellt werden, dass das asynchrone Arbeiten für die pädagogischen Fachkräfte einen vierfachen Risikofaktor beinhaltet:

  • Es besteht das Risiko, dass ein*e Kolleg*in unbemerkt sexuelle Gewalt ausübt.

  • Es besteht ein stärkeres Risiko, fälschlicherweise der Ausübung sexueller Gewalt verdächtigt zu werden, weil kein*e Kolleg*in die Unschuld der Fachkraft bezeugen kann.

  • Sie selbst sind nicht in der Lage, sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen zu verhindern und die Kinder und Jugendlichen umfassend zu schützen.

  • Sie könnten mit Beschuldigungen gegen Kolleg*inn*en konfrontiert werden, die sich auf Zeiten beziehen, in denen sie selbst nicht anwesend waren.

Übergreifend für die beiden organisationalen Bedingungen wird deutlich, dass vor allem die fehlende Kontrolle von körperlicher Nähe zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Kindern und Jugendlichen als Risiko für sexuelle Gewalttaten gerahmt wird. Gleichzeitig stellt die fehlende Kontrolle auch ein Risiko für die pädagogischen Fachkräfte dar, unter Verdacht gestellt zu werden.

8.2 Pädagogische Bedingungen

Während das asynchrone Arbeiten vor allem (aber nicht ausschließlich) als Risiko für die pädagogischen Fachkräfte diskutiert wird, gibt es noch weitere Risiken, die eher unter den Vorzeichen des Kinderschutzes angesprochen werden. Hier handelt es sich um pädagogische Bedingungen.

8.2.1 Machtasymmetrie zwischen Bewohner*innen und pädagogischen Fachkräften

Direkt im Anschluss an den vorangegangenen Abschnitt aus der Gruppendiskussion 3 verschiebt Herr Leut das Thema des asynchronen Arbeitens hin zu „abhängigkeitsverhältnissen“, in welchen sich die Jugendlichen befinden:

figure f

Viel riskanter als das asynchrone Arbeiten bewertet er für die Kinder und Jugendlichen das hierarchische Verhältnis und die Abhängigkeit, in der sie stehen. Diese führt dazu, dass sie bei sexuellen Gewalttaten durch Fachkräfte „mitmachen; beziehungsweise verschweigen“. Eine Auflehnung der Jungen gegen die Gewalt würde seiner Einschätzung nach nicht stattfinden. Dritte, ob Kolleg*inn*en oder nicht betroffene Jugendliche, würden die Gewalttat deshalb nicht wahrnehmen können, da die Kinder sich aufgrund ihrer Abhängigkeit an der Verschleierung beteiligen würden. So ist die Machtasymmetrie ein starker Risikofaktor für die Kinder und Jugendlichen, auch wenn sie gerade in der behavioristisch arbeitenden Wohngruppe 3 sehr bewusst eingesetzt und von Team 3 als pädagogisch wertvoll beschrieben wird (vgl. GD3, 690–701). Zur Illustration fügt Herr Leut noch ein Beispiel aus der Nachbargruppe an, in dem sexuell übergriffiges Verhalten nicht durch einen direkten Bericht von beobachtetem oder erlebtem Verhalten aufgedeckt wurde. Vielmehr wurde eine SMS-Konversation zwischen einer pädagogischen Fachkraft und Jugendlichen öffentlich. Obgleich in der Wohngruppe sehr selten pädagogische Fachkräfte allein mit Kindern und Jugendlichen sind, könnte es zu übergriffigen sexuellen Handlungen kommen. Nach dem Beitrag von Herrn Leut fällt eine sehr lange Pause von neun Sekunden auf. Dass hier die Abhängigkeit der Jugendlichen als ein so starkes und durch das Beispiel reales Risiko dargestellt wird, macht die Diskutant*innen kurzfristig sprachlos. Denn mit der Aussage von Herrn Leut wird klar, dass es sexuelle Gewalt in der eigenen Wohngruppe geben kann. Die noch zum Beginn der Sequenz überaus sicher geglaubte Wohngruppe wird in der Entwicklung der gemeinsamen Orientierung zum riskanten Ort für sexuelle Gewalt.

Nach dem langen Schweigen analysiert Herr Leut die Kehrtwende in der eigenen Orientierung. Er beschreibt, dass es gegenüber dem Entdecken von sexueller Gewalt eine innere Abwehrreaktion gibt. Diese Abwehrreaktion, sexuelle Gewalt vermeintlich wahrnehmen und sehen zu können, sie aber dennoch „möglichst weit, von sich wegschubsen“ zu wollen, ist so dominant, dass auch Schutzfaktoren wie das synchrone Arbeiten aufgehoben werden.

8.2.2 Hohe Vulnerabilität durch Traumata und sexuell problematisches Verhalten von Kindern und Jugendlichen

Die pädagogischen Fachkräfte sprechen in allen Gruppendiskussionen an, dass die Kinder und Jugendlichen, die in den Wohngruppen leben, vorbelastet sind: Einige Teams sprechen von traumatisierten Kindern, weil diese in ihrer Herkunftsfamilie Gewalt, zum Teil auch sexuelle Gewalt erleben mussten. Interessant ist, dass die pädagogischen Fachkräfte von vielen Kinder und Jugendliche nicht wissen, ob sie schon einmal sexuelle Gewalt erlebt haben. Sie antizipieren jedoch, dass die Möglichkeit hoch ist. Zum Erleben von direkter sexueller Gewalt gibt es auch Erzählungen, die deutlich machen, dass die Kinder auch durch das Verhalten bzw. die Biografie der Eltern in Bezug auf Sexualität belastet sind. Es wird von Müttern mit vielen wechselnden Partnern berichtet, von Müttern, die sich prostituiert und/ oder auch selbst sexuelle Gewalt erfahren haben.

In allen Gruppendiskussionen herrscht der Tenor, dass viele Kinder und Jugendlichen in Bezug auf Sexualität abnormal bzw. defizitär sind. Diese Aussagen werden sehr generalisiert getroffen und prägen die Orientierung der pädagogischen Fachkräfte. Bemerkenswert ist die Kausalität, mit der die pädagogischen Fachkräfte von sexualisiertem Verhalten der Kinder und Jugendlichen auf die Herkunftsfamilie schließen. Die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie werden als etwas gesehen, was die Kinder und Jugendlichen mitbringen (GD1, 337 ff.). Dieses konfrontiert sie selbst im Alltag mit den Kindern und Jugendlichen immer wieder mit den Themen Sexualität und sexuelle Gewalt. Als konkrete Beispiele werden angeführt, dass Kinder und Jugendliche vielfach früh sexuell aktiv sind, z. B. in der 4. Klasse bereits mit Knutschfleck nachhause kommen (GD1, 337 ff.), „sich irgendwie, äh für ne zigarettenkippe, äh einen hat blasen lassen“ (GD3 832–834) und generell früh und viel Sex haben (GD1 722). Eine pädagogische Fachkraft erklärt sich die Promiskuität so, dass die Jugendlichen „sich mit (.) mit sexualität, (.) liebe, oder zuneigung eben […] (.) kaufen, in anführungsstrichen. und das oftmals auch zu verwechseln“ (GD1 732 f.) da sie eben diese Liebe und Zuneigung in der Herkunftsfamilie vermissen mussten. Oder wie Team 4 es formuliert durch ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie, ein „verschobenes verhältnis von nähe und distanz“ (GD1 931 f.) haben.

Besonders von Team 6 werden starke Vorbelastungen im Hinblick auf sexuelle Gewalterfahrungen berichtet. In der Wohngruppe haben über einige Jahre Jungen gewohnt, die sich zuvor prostituiert hatten (GD6, 1436 f.) und es gibt Erfahrungen mit Mädchen, die durch sexuelle Gewalt durch den Vater schwer traumatisiert waren (GD6, 1421 ff.). Auch andere Teams berichten von Kindern und Jugendlichen, von denen sie wissen oder vermuten, dass diese massive sexuelle Gewalt erfahren haben. Herr Aman erzählt von zwei Mädchen, die ihm offensiv sexuellen Kontakt angeboten haben:

figure g

Mit der Nennung des Namens „andrea“ ruft Herr Aman für die anderen ein spezifisches kollektives Wissen auf. Gemeinsam erinnern sie sich an Andrea. Herr Aman kontextualisiert das Mädchen hier als „missbrauchsopfer“ von zahlreichen Verwandten. Ihre Gewalterfahrungen haben es für ihn pädagogisch nötig gemacht, eine nicht sexualisierte Emotionalität mit ihr einzugehen, um für sie deutlich zu machen, dass eine emotionale Beziehung zu einem erwachsenen Mann auch ohne Sexualität möglich ist. Während er diese Emotionalität bewusst pädagogisch eingesetzt hat, musste er dem Mädchen immer wieder die Grenzen dieser Beziehung aufzeigen. Es wird deutlich, dass das Mädchen selbst die Grenze zur sexuellen Beziehung überschritten hätte. Noch deutlicher wird dies am weiteren Beispiel von „nadine“ die ihm ebenfalls mit ihrer Aussage, dass sie nackt schlafe, ein Angebot zum Sex macht. Mit der Eröffnung der Möglichkeit für Sexualität zwischen sich und Herrn Aman rufen die Mädchen hier das Thema sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen auf, denn eine Sexualität in diesem Abhängigkeitsverhältnis wäre gesetzlich und auch aus der Perspektive der Mitarbeiter*innen per se gewaltvoll. Es handelt sich bei beiden Beispielen um imaginierte Grenzüberschreitungen der Mädchen.

In vielen anderen Beispielen aus den Gruppendiskussionen lassen sich reale Grenzüberschreitungen in Bezug auf Sexualität durch Kinder und Jugendliche rekonstruieren. Im Folgenden soll exemplarisch eine Rekonstruktion von Team 4 (GD4, 996–1054) dargestellt werden. Zur besseren Lesbarkeit wurde die Textstelle in Sequenzen eingeteilt und die Interpretation erfolgt sukzessive:

figure h

Kurz zuvor hat der Bundesfreiwilligendienstleistende Lars berichtet, er habe von einer Kollegin erfahren, dass sie von der Bewohnerin Samanta auf den Mund geküsst worden sei. Dieses Beispiel greift Jan, der innewohnende Mitarbeiter auf. Auch ihm ist es schon passiert, dass Samanta ihn auf den Mund geküsst hat. In der Formulierung „passiert“ und „kannst dich samanta teilweise nicht entziehen“, wird deutlich, dass Samanta den Kuss initiiert hat und Jan in dieser Situation nicht fähig war, hier eine Grenze der Intimität aufzubauen. Der Machtüberhang liegt hier bei dem siebenjährigen Mädchen, dass hier Jans eigene Grenzen in Bezug auf mögliche intime Nähe überschreitet. Aber es sind nicht nur einzelne Momente, in denen Samanta Küsse verteilt, sie überschreitet auch mit anderem Verhalten oftmals bewusst („provozierend“, „explizit“) Intimitätsgrenzen von Mitarbeiter*innen. Ein Beispiel dafür ist exhibitionistisches Verhalten. Der Beitrag von Jan wird von Lars und Ruth mit unterstützt, was sie durch ihre kurzen Zustimmungen deutlich machen.

figure i

Nach den konkreten Exemplifizierungen konkludiert Jan das Problematische an diesem Verhalten: „da steckt […] das drin“. Die Bedeutung von „das“ wird, wie so oft in den Gruppendiskussionen, nicht expliziert. Die wahrscheinlichste Lesart ist hier jedoch, dass „das“ für sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte steht. So gelesen würde die Aussage von Jan dann sein, dass durch das Verhalten von Samanta das Thema sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen aufrufen würde. Die sich dahinter verbergende Logik ist dann, dass die Mitarbeiter*innen die Verantwortung haben, die intime Beziehung zwischen ihnen und den Kindern zu regulieren. Die Grenzüberschreitung von Samanta ist damit nicht dem Kind anzulasten, sondern liegt in der Verantwortlichkeit der Mitarbeiter*innen und wird zu deren Scheitern. So führt Samanta ihnen mit ihrem Verhalten vor Augen, wie risikovoll die Arbeit der Diskutant*innen mit Kindern ist, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Dies lässt sie vorsichtig werden.

figure j

Ruth erweitert die Deutung des grenzverletzenden Verhaltens von Samanta um zwei weitere Punkte: Erstens ist eine Selbstexploration mit sexuellem Verhalten „normal“. Zum zweiten ist nicht von allen Kindern bekannt, ob sie bereits in der Vergangenheit sexuelle Gewalt erfahren haben. Sollte dies der Fall sein, kann das „sofort gefährlich werden“. Hier schließt Ruth an die Proposition von Jan an, in der die pädagogischen Fachkräfte für eine professionelle Intimitätsbeziehung zwischen ihnen und den Kindern verantwortlich sind. Kinder mit sexuellen Gewalterfahrungen fordern diese Beziehung heraus und werden so gefährlich. In der Konsequenz werden sie überprüft und ihnen wird weniger sexuelles Ausprobieren zugestanden, als die Mitarbeiter*innen als normal ansehen. Im „zweifelsfall“ wird Nähe „eher unterbunden“.

figure k

Der Systematisierung von Ruth und Jan folgen Beispiele, die sexualisiertes Verhalten von Kindern aufzeigen, dass die Mitarbeiter*innen nicht als normal bewerten. Es geht um Selbststimulation, unter anderen durch das Reiben an Mitarbeiter*innen und Doktorspiele, bei denen zwei Mädchen Situationen „reproduzier(en)“, die die Mitarbeiter*innen nicht als altersadäquat sehen. Auch hier vermuten die Fachkräfte, dass die Kinder zuvor mit Sexualität in einer Weise konfrontiert wurden, die nicht altersangemessen war und deshalb als sexuelle Gewalt eingeordnet werden kann. Der Maßstab, an dem das Verhalten der Kinder gemessen wird, ist „das eigene, empfinden“, bzw. Denken. Es ist also ein eher intuitiver Vorgang, in dem festgestellt wird, dass das Verhalten der Kinder nicht „passt“, oder „schief“ ist.

figure l

Der letzte Abschnitt der Fokussierungsmetapher erweitert noch einmal die Problematik des sexualisierten Verhaltens der Kinder. Ruth berichtet von „aufklärungsgesprächen“ und Beobachtungen der Körper der Erzieher*innen. Die Fragen der Kinder gehen ihr hier „manchmal“ zu weit, weil es sich um einen „beruflich(en)“ Kontext handelt. Die Fragen der Kinder sind dann zwar normal, „aber (…) die profession [kommt] dazwischen“, so dass selbst das unter anderen Umständen als normal eingestufte Verhalten der Kinder weiter limitiert wird. Eine homologe Orientierung findet sich bei Team 1:

figure m

In dieser Sequenz beschreibt die pädagogische Fachkraft Franz beispielhaft, wie Mädchen in der Wohngruppe auffällig sexualisiertes Verhalten zeigten. Er führt dies auf ihren „missbrauchs hintergrund“ zurück und schildert sehr eindrücklich, wie bedrohlich das Verhalten der Mädchen für ihn persönlich war. Er sieht hier einen Zusammenhang zwischen einer konjunkturell schwankenden Stimmung innerhalb der Organisation, in der sexuelle Gewalt entweder als Thema präsent war oder eben nicht. Für ihn ist es wichtig, nicht in so ein „gesprächsfahrwasser“ zu geraten. Wichtig ist, dass er selbst weder Gegenstand von Gesprächen ist noch in Zusammenhang gebracht wird mit sexueller Gewalt. Das wäre, so seine Einschätzung, wirklich bedrohlich (GD1, 236). Ein weiterer Punkt ist das Verhalten der Kinder und Jugendlichen, das die Grenzen von Mitarbeiter*innen selbst überschreitet. Exemplarisch hierfür ist die folgende Fokussierungsmetapher von Team 1 (GD1, 194–232), die hier rekonstruiert wird:

figure n

Diese Antwort, die Doreen auf den Ausgangsstimulus der Gruppendiskussion gibt, wurde bereits in Kapitel 5 ausführlich analysiert. An diese Feststellung der Unschuld schließt sich an, was Doreen aus ihrer Sicht Relevantes sehr wohl schon erlebt hat:

figure o

Für ihren Arbeitsalltag war relevant, dass Jugendliche durch „sexuelle andeutungen“ ihr und ihren Kolleg*innen gegenüber das Thema Sexualität aufgerufen haben. Die pädagogischen Fachkräfte werden hier als sexuelle Wesen präsent und das macht ein Handeln von ihrer Seite notwendig. Es ist nötig, sich „ganz klar“ von dem Angebot der Sexualität zu distanzieren und auch Anspielungen darauf, dass sie selbst außerhalb der Wohngruppe Sexualität mit ihrem Mann lebt, müssen aus dem Kontakt mit den Jugendlichen ausgeklammert werden. Hier überschreiten die Jugendlichen die Grenzen der pädagogischen Fachkräfte. Gleichzeitig macht diese Textstelle deutlich, dass Doreen aufgrund des Themas sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen selbst nicht als Person präsent werden will, nicht über ihre Sexualität berichten möchte, schon gar nicht in kollektiven Situationen, die sie hier mit „am essenstisch“ beschreibt. Lilians Kommentierung „krass“ verbindet die Erzählung mit dem Beginn der Sequenz, in der Doreen sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ebenfalls als „krass“ bezeichnet hat. Auch wenn es diese noch nicht gegeben hat, so hat es in der Gruppe sexuelle Gewalt gegen pädagogische Fachkräfte gegeben, die für sie sowohl persönlich als auch professionell sehr herausfordernd gewesen sind.

In den Organisationen treffen die Bewohner*innen auf weitere Kinder und Jugendliche, denen aufgrund ihres familiären Hintergrundes ebenfalls problematisches Verhalten hinsichtlich emotionaler und körperlicher Nähe sowie Sexualität zugeschrieben wird. Die pädagogischen Fachkräfte gehen davon aus, dass die Kinder sich mit ihrem problematischen Verhalten gegenseitig prägen und sie, im Gegensatz zu anderen „normalen“ Familienkonstellationen, keine positiven Vorbilder finden.

figure p

Abstrahiert kann hier konstatiert werden, dass das Strukturmerkmal von stationärer Hilfe, für gefährdete Kinder und Jugendliche zuständig zu sein, als Risikofaktor beschrieben wird. Auch hier ist das Risiko wieder doppelt gemeint: (1) Kinder, die selbst schon (sexuelle) Gewalt erfahren haben, sind stärker vulnerabel und (2) Die pädagogischen Fachkräfte gehen davon aus, dass Kinder, die bereits sexuelle Gewalt erfahren haben, zumindest in Einzelfällen sexuelle Gewalt reinszenieren, bzw. das Thema benutzen, um pädagogischen Fachkräften zu schaden. Dies führt zu einem Risiko für die pädagogischen Fachkräfte, unter einen falschen Verdacht gestellt zu werden.

8.3 Konzeptionelle Bedingungen

Im Hinblick auf die konzeptionellen Ausrichtungen der Einrichtungen und ihrer Teams lassen sich organisationale Bedingungen identifizieren, die von den Teams entweder als risikovoll oder schützend in Bezug auf sexuelle Gewalt identifiziert werden können. Im Folgenden werden alle für die Teams des Samples relevanten konzeptionellen Bedingungen rekonstruiert. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Familienanalogie, die, wie bereits einführend dargestellt, als ein erstes Tertium Comparationis relevant geworden ist. Ergänzt wird diese Rekonstruktion noch von konzeptionellen Einordnungen mit Blick auf eine offensive Thematisierung von sexueller Gewalt innerhalb der Organisation und der konzeptionellen körperlichen Begrenzung von Kindern und Jugendlichen

8.3.1 Familienanalogie

Von den pädagogischen Fachkräften aller Teams wird herausgestellt, dass die Entscheidung, wie eine Organisation sich zum Status der Familie positioniert, im Kontext des Themas sexuelle Gewalt als äußerst wichtig angesehen wirdFootnote 1. Dabei werden organisationale Konstellationen, die den Anspruch haben, eine Analogie zur Familie herzustellen, in Bezug auf sexuelle Gewalt als risikovoller beschrieben.

Der Grund für diese Risikohaftigkeit liegt in der Familienanalogie selbst begründet: Die längere Verweildauer und der Anspruch, ein Zuhause zu sein, führen dazu, dass die pädagogischen Fachkräfte familiale Aufgaben übernehmen. Das bedeutet, dass sie sich für das kindliche Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Intimität zuständig fühlen und die Sexualerziehung zu ihrer Aufgabe wird. Des Weiteren führt die familienanaloge Ausrichtung notwendigerweise zu einer Vermischung von Privatem und Dienstlichem, was ebenfalls als risikovoll eingeordnet wird.

Familialität und Körperlichkeit

Beispiele für einen maximalen Kontrast hinsichtlich des kindlichen Bedürfnisses nach körperlicher Nähe und Intimität bieten Team 2 (5-Tage-Gruppe/ familienergänzend) und Team 4 (Wohngruppe mit innewohnender Fachkraft). Die folgende Interpretation kontrastiert zwei Sequenzen aus den Gruppendiskussionen, die jeweils das konzeptionelle Selbstverständnis in Abhängigkeit von der Familienanalogie beschreiben. Die erste konzeptionelle Selbstbeschreibung stammt von Team 2:

figure q

Team 2 beschreibt, dass das Konzept der Wohngruppe so ausgerichtet ist, dass sie sich mit den Kindern gelegentlich minimal berühren. Es wird mal „über den kopf gestreichelt, oder auch mal spaßeshalber, mal so n bisschen am ohr gezogen, wenn die blödsinn machen;“ (GD2, 433), weitere körperliche Berührungen, wie Umarmungen, oder körperliche Nähe beim Trösten finden nicht statt. Dieser Umgang wird von den pädagogischen Fachkräften singulär aus dem Konzept der Wohngruppe abgeleitet und unhinterfragt akzeptiert: „wir haben halt dieses konzept, und arbeiten so,“. Für sie als pädagogische Fachkräfte scheint es auch ein gutes Konzept zu sein, denn sie „fahren damit ganz gut“. Welche Auswirkungen die gelebte körperliche Distanz für die Kinder hat, wird von den Fachkräften nicht thematisiert. Das Konzept der Wohngruppe ist explizit nicht an Familie angelehnt, in der eben diese körperlichen Bedürfnisse aufkommen und die dort gestillt werden würden.

Im Kontrast zu dieser widerspruchslosen Orientierung steht die antinomische Orientierung des Teams 4 im Hinblick auf die familiale Konzeption ihrer Wohngruppe. Das in der Familialität des Konzeptes eingelagerte, nicht zu lösende Paradox dokumentiert sich in der Bewältigung von Situationen, in denen die sexuelle Aufgeladenheit von Körpern präsent wird.

figure r

Die hier geschilderte Situation thematisiert das problematische Verhalten eines Mädchens, das Körperkontakt erzwingen will. Sie setzt ihren Körper ganz bewusst ein, um Jan den Weg zu versperren. Jan beschreibt auch hier einen inneren Reflexionsprozess („klack“). Er nimmt Tanja als kokettierende Pubertierende war. Auch wenn er sagt, dass er ihr keine sexuelle Absicht unterstellt, so markiert diese Kategorisierung sie jedoch als Person, deren Körper sich stark verändert und weibliche Formen entwickelt, mit denen sie Aufmerksamkeit sucht. Jans Bewältigungsstrategie in Bezug auf diese Situation ist die Verweigerung von Körperkontakt. Er geht nicht auf Tanja ein und bleibt auf Distanz. Dies rahmt er als professionell, im Gegensatz zu einer körperlichen, unprofessionellen Reaktion aus dem „standardrepertoire“. Diese Dichotomie wird im Folgenden mit der familienanalogen Konzeption der Gruppe gerahmt:

figure s

Ruth greift den propositionalen Gehalt auf, dass Professionalität von Sexualität getrennt bleiben muss und beschreibt, dass es hier eine strukturelle Herausforderung für das Team gibt. Sie sind auf der einen Seite professionell, auf der anderen Seite leben sie mit den Kindern „in familie“. Aus diesen beiden Charakterisierungen werden sich ausschließende Implikationen abgeleitet. Professionalität ist mit körperlicher Distanz verbunden, Familie dahingegen mit Intimität und Nähe.

Ruth, Sabine und Jan exemplifizieren die Vermittlung dieser beiden Ansprüche an zwei Beispielen aus ihrem Alltag: Jungen, die ohne T-Shirt laufen wollen, kleine Mädchen, die nackt draußen baden. Die Bewältigungsstrategie in diesem Fall ist das Verbot der Nacktheit im Raum der Wohngruppe, welches jedoch immer wieder auf seine Grenzen befragt wird. Im Fall des ohne-T-Shirt-Laufens der Jungen führt dies zu einer Aufhebung des Verbotes. Die beiden Beispiele schließen sich zwar semantisch an die Situation von Tanja an, der propositionale Gehalt hat sich jedoch verschoben. Ähnlich wie beim Duschen geht es hier nun wieder um ein kindliches Bedürfnis, das als legitim angesehen wird. Nacktsein ist etwas, was Kinder sonst auch tun und ihnen ermöglicht werden sollte. Hier dient die normale Wohnsituation bei der Herkunftsfamilie als Vergleichsfolie. „zuhause“ wäre es den Mädchen möglich, nackt im Garten zu baden, nicht aber in der familial konzipierten Wohngruppe. In dieser Textstelle dokumentiert sich eine nicht aufzulösende Antinomie der professionell-konzeptionell hergestellten Familialität. Besonders vor dem Hintergrund der widerspruchslosen Orientierung des nicht familienanalog arbeitenden Teams 2 wird hier der Widerspruch für die familienanalog arbeitenden Teams deutlich. Dieser Widerspruch an sich muss von den Teams bearbeitet werden. Vor dem Hintergrund des Themas sexuelle Gewalt in Institutionen wird es noch komplizierter.

Dies zeigt eine Fokussierungsmetapher von Team 4 (GD4, 961–1116). Darin sprechen die pädagogischen Fachkräfte über Wege, wie die Kinder und Jugendliche im professionellen Setting mit ihrem Bedürfnis nach körperlicher Zuneigung umgehen können. In diesem Fall geht es um den Wunsch nach einem Gute-Nacht-Kuss. Im Anschluss an diese Sequenz denkt Jan darüber nach, warum sich das Finden von Handlungsalternativen kompliziert gestaltet.

figure t

Als ersten Grund für die Widersprüchlichkeit im Finden von Handlungsalternativen benennt er den Selbstschutz der pädagogischen Fachkräfte. Sie müssen sich selbst absichern, um nicht verdächtigt zu werden. Dieses Handeln wird als professionell gerahmt. Handlungspraktisch wird es übersetzt mit der Balance zwischen Nähe und Distanz. Die Wahrung dieser Distanz ist die professionelle Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte, die man besonders in der familienanalog arbeitenden Einrichtung als erstes lernt, weil dort Nähe konzeptionell viel stärker betont wird.Footnote 2

Sexualität der Kinder und Vertrauen

Verbunden mit der Körperlichkeit ist auch die Sexualität der Kinder und Jugendlichen. Hierfür verstehen sich die pädagogischen Fachkräfte zuständig oder nicht, abhängig davon, ob sie sich als familienanalog verstehen oder eben nicht. Die familienanalog arbeitenden Wohngruppen sehen es als ihre Aufgabe an, mit den Kindern und Jugendlichen über Sexualität zu sprechen und auch sexuelle Aufklärung zu betreiben. Es wird beschrieben, wie Mädchen zum Frauenarzt begleitet werden, die Einnahme der Pille und die Nutzung von Schwangerschaftsöl erklärt wird. Jungen wird beigebracht, wie sie mittels Kondome verhüten können. Es werden je nach Alter und Entwicklung Präventionsmaterialien zur Verfügung gestellt. Nachfolgende Sequenz von Team 4 zeigt, wie die Verantwortung der Erziehung im Hinblick auf Sexualität aus der familienanalogen Konzeption abgeleitet wird:

figure u

Die Sequenz wird damit eingeleitet, dass zu einem Familiensystem auch Aufgaben dazu gehören, „die einem vielleicht auch nicht passen“, die der Fachkraft also unangenehm sind oder die sie gerne vermeiden möchte. Die Integration dieser Aufgaben ist jedoch elementarer Bestandteil ihres Berufes. Die innewohnende Fachkraft Jan grenzt sich von einem anderen Kinderdorfvater ab. Dessen Ablehnung, mit den in seiner Kinderdorffamilie wohnenden Mädchen über Sexualität zu sprechen, hat ihn irritiert. Diese Haltung kommt für ihn selbst nicht infrage: Sexualität gehört für ihn mit zum „lebenszusammenhang“ der familienanalog konzipierten Wohngruppe. Genau diese ganzheitliche Perspektive gehört mit zu seinem „job“ und damit auch zu seinem professionellen Selbstverständnis.

Dies zeigt sich auch in der Orientierung von Team 5, das ebenfalls eine Kinderdorffamilie betreut.

figure v

Auf die Frage der Forscherin, was die Wohngruppe 5 konzeptionell von anderen Gruppen in Bezug auf sexuelle Gewalt unterscheidet, zieht die pädagogische Fachkraft das Thema Sexualität generell und die sexuelle Entwicklung der Jugendlichen heran. Sie sieht viele Fragen und Erklärungsbedarf auf Seiten der Jugendlichen, die Mitarbeiter*innen der Wohngruppe stehen für sie in der Verantwortung, diese Fragen zu beantworten. Dabei braucht es eine genaue Beobachtung der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen sowie Vertrauen. Diese Beziehungsqualität wird in der Orientierung des Teams durch die familienanaloge Konzeption der Wohngruppe eingefordert.

Privatheit und Beruf

Als drittes Charakteristikum des familialen Konzeptes kann die Spannung zwischen privater Welt und Arbeitswelt benannt werden. Die innewohnende Fachkraft des Teams 5 beschreibt Situationen, die vor dem Hintergrund der familienanalogen Konzeption besonderer Aufmerksamkeit bedürfen:

figure w

In diesem Zitat beschreibt Frau März, dass sie ihre privaten Kontakte mit in den Alltag der Wohngruppe eingebracht hat. Hier haben sich für sie Privates und Arbeit getroffen. Dennoch gab es in diesem Aufeinandertreffen Grenzen, die gewahrt wurden. Zentral ist hier der physische Körperkontakt von Kindern zu Männern, der vor allem in Bezug auf die Mädchen reglementiert wird. Sie dürfen nicht so dicht dran“ und auch den Jungen ist nur Körperkontakt zugestanden, der nicht sexuell interpretiert werden kann. Der angeführte Grund ist, dass es „nicht die eigenen kinder“ sind. In Bezug auf den Körperkontakt wird hier ein deutlicher Unterschied zur biologischen Verwandtschaft gemacht. Begründet wird diese Trennung nicht mit einem pädagogischen Argument, sondern mit Schutz für die Kinder und für den Besuch. Die Gefahr, vor der geschützt werden soll, wird hier nicht expliziert. Vor dem Hintergrund des Gruppendiskussionsthemas lässt sich vermuten, dass es hier um den Schutz vor a) übergriffigem Verhalten sowohl durch die Kinder als auch durch die Männer und b) falschen Verdächtigungen der Männer geht.

Im Kontrast zu diesem konzeptionellen Arrangement, welches kontinuierliche Reflexion bedeutet, sind die Grenzen zwischen privatem und beruflichem Leben im nicht familienanalog arbeitenden Team 2 vollkommen klar. Von den pädagogischen Fachkräften wird über grenzüberschreitendes Handeln einer pädagogischen Fachkraft berichtet, deren „emotionale bindung“ (523) vom Träger als „zu nah“ eingeschätzt wurde. Es habe sich nicht um einen sexuellen Übergriff gehandelt. Der Auszug der Sequenz setzt an der Beschreibung der Grenzüberschreitung an.

figure x

Für das Team 2 ist eine zu feste emotionale Bindung im Hinblick auf sexuelle Gewalt besonders gefährlich. Die Vermischung von Privatem und Beruflichem wird von ihnen als Grenzüberschreitung markiert. Für das Team ist „ganz klar“, dass eine private Freundschaft über das berufliche Verhältnis hinaus nicht adäquat ist. Das grenzüberschreitende Verhalten des Kollegen löst dann auch sehr großes Unverständnis aus. Es ist „unglaublich“, bei dieser Aussage klingt Herrn Adams Atmen so, als bliebe ihm ob des Verhaltens die Luft weg.

Der Kontrast zeigt sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Abgrenzung von privater und beruflicher Welt. Während dies für das Team 2 sehr klar geregelt ist, muss im Team 5 immer wieder ausgehandelt werden, wo Grenzen verlaufen. Dies zeigen auch zahlreiche andere Reflexionen dieses und der anderen familienanalogen Teams. Immer wieder muss abgewogen werden, ob und wieweit das Private mit eingebracht wird. Dies ist auch vor dem Hintergrund von sexueller Gewalt in Institutionen relevant. Für die Teams der Einrichtung B ist Privatheit konzeptionell ausgeschlossen. Das bedeutet auch, dass die Übertretung dieser Grenze bereits als illegitim gilt, selbst wenn sie noch vor der Grenze zu sexueller Übergriffigkeit liegt. Die Standards sind hier klar definiert. In den familienanalog arbeitenden Teams ist das Verhältnis notwendigerweise diffus. Denn wenn sie familial sein wollen, müssen sie sich auch auf das Private beziehen. Sie müssen in Beziehung treten und sich emotional verstricken lassen, um auf die Kinder und Jugendlichen eingehen zu können. Das gehört zu ihrer Orientierung in Bezug auf ihr professionelles Handeln.

Die Rekonstruktion der Orientierung der familienanalog arbeitenden Teams hat gezeigt, dass die Arbeit in diesen so ausgerichteten Wohngruppen vor dem Hintergrund von sexueller Gewalt in Institutionen herausfordernd ist. Die Umsetzung eines familienanalogen Konzeptes bringt es mit sich, dass die kindlichen Körper anders wahrgenommen und versorgt werden müssen. Sie werden als leibliche und zu sexuelle Wesen wahrgenommen. Der Bezug auf Vertrauen und Privatheit bringt Diffusität mit sich. Auch wenn sich das Arbeiten für die Teams deshalb oft spannungsvoll und ambivalent gestaltet, so beschreiben alle vier Teams auch einen großen Mehrwert für sich selbst und für die Kinder und Jugendlichen, die sie begleiten.

8.3.2 Explizit konzeptionelle Bearbeitungen von sexueller Gewalt in Institutionen

Die Einrichtung B gilt in Fachkreisen als Best-Practice-Einrichtung im Hinblick auf die Prävention von und Intervention bei sexueller Gewalt. Die Forscherin lernte den Einrichtungsleiter, Herrn Schmidt, auf einer Fachtagung kennen, auf der er über seine Einrichtung berichtete. Er hat in Funk und Fernsehen über die Prävention und Aufarbeitung von Vorfällen sexueller Gewalt aus der Geschichte der Einrichtung gesprochen. Die Bearbeitung des Themas sexuelle Gewalt in Institutionen kann als Teil des Konzeptes von Einrichtung B beschrieben werden. Beide Teams der Einrichtung wissen um den Expertenstatus des Einrichtungsleiters und berichten über Fortbildungen, Präventionsmaßnahmen und Aufarbeitung. Die nun folgende Sequenz stammt aus der Gruppendiskussion von Team 3. Sie wird eingeleitet mit der expliziten Nachfrage der Forscherin zum Umgang der Einrichtung mit dem Thema sexuelle Gewalt. Hierauf antwortet Frau Kreis, die gerade erst die Arbeit in der Wohngruppe 3 aufgenommen hat:

figure y

Frau Kreis schildert hier, wie der Einrichtungsleiter, Herr Schmidt, das Thema sexuelle Gewalt mit den neuen pädagogischen Fachkräften bespricht und seine Aktivitäten diesbezüglich deutlich macht. Frau Kreis berichtet wertschätzend über das mediale Engagement des Einrichtungsleiters. Sie bezeichnet die Haltung als „wirklich schon sehr, offen“. Die aktive Thematisierung der organisationalen Bearbeitung von grenzüberschreitendem Handeln einzelner pädagogischer Fachkräfte, wie sie in den Schulungen für neue pädagogischen Fachkräfte und auch in Vorstellungsgesprächen erfolgt, werden von der Organisation als Präventionsmaßnahme eingesetzt. Eine weitere Sequenz zeigt, dass sich die Organisation trotz der Präventionsmaßnahmen aber auch darauf einstellt, dass es zu sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte kommen kann. Um für diese Fälle Handlungssicherheit zu bekommen, ist das Thema in das Standardregelwerk der Institution, den „rote[n] leitfaden“, aufgenommen worden:

figure z

Der rote Leitfaden materialisiert sich in einem „dicken ordner“, hier werden für die Organisation diverse Regeln und Vorgehensweisen festgehalten. Neben alltäglich vorkommenden Fragen – wie z. B. die Ausgehzeiten der Kinder festgelegt sind und welche Menge Taschengeld sie bekommen – gibt es auch einen Abschnitt über das „vorgehen bei sexuellem missbrauch“. Herr Braun bezeichnet hier „sexuellen missbrauch“ als „standardsituation“. Es dokumentiert sich die Orientierung, dass die Prävention von und der Umgang mit sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte Teil des Alltags der Organisation ist.

Weiter manifestiert sich die Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Gewalt darin, dass es auf dem Gelände der Einrichtung eine Wohngruppe für sexuell übergriffig gewordene Jungen gibt. Von der externen fachlichen Begleitung dieser Gruppe profitieren alle pädagogischen Fachkräfte in Form von sexualpädagogischen Schulungen (GD3, 1510 ff.). Auf der immanenten Sinnebene schafft es Einrichtung B, mit Schulungen und standardisierten Interventionsabläufen sowohl organisational als auch für die pädagogischen Fachkräfte individuell die Möglichkeit zu betonen, dass es zu sexueller Gewalt kommen kann. Zwar wird über die konzeptionelle Integration des Themas sexuelle Gewalt in Institutionen eben diese aufgerufen, es zeigt sich aber, dass im Gegensatz zu vielen anderen Anlässen der Thematisierung, die konzeptionelle Integration hier als Schutzfaktor beschrieben wird.

8.3.3 Konzeptionelle körperliche Begrenzung(en) von Jugendlichen

Das Team 3 hat ein konzeptionelles Alleinstellungsmerkmal im Sample der Untersuchung. Die Fachkräfte arbeiten stark mit einem behavioristischen Stufenmodel (vgl. 2.2.1) mit einer Zielgruppe, die sie als körperlich-aggressiv beschreiben. An einigen Beispielen schildern sie, dass es zu Situationen kommt, in denen sie Jugendliche körperlich fixieren:

figure aa

Die pädagogischen Fachkräfte sind sich in dieser Sequenz darüber einig, dass eine Situation, in der sie ein Kind körperlich fixieren, keine Situation ist, in der in klassischer Weise sexueller „missbrauch“ stattfindet. Es ist davon auszugehen, dass sie hier an einen sexuellen Akt denken, der vermutlich nicht im Beisein von Dritten vollzogen werden würde. Eine „belästigung“ wäre hingegen schon möglich, wenn auch unwahrscheinlich, da die pädagogische Fachkraft und der Junge nicht allein sind. Hier taucht der bereits herausgearbeitete Schutzfaktor des*der anwesenden Dritten wieder auf, der*die die Handlungen der pädagogischen Fachkraft kontrollieren kann. Vielmehr beschreiben Herr Holt und Herr Leut hier als wirkliches Risiko, dass eine solche Situation von Jugendlichen benutzt werden könnte, um die pädagogischen Fachkräfte zu verleumden und zu behaupten, dass sexuelle Gewalt ausgeübt worden sei. Somit ist aus Sicht der Diskutant*innen die körperliche Begrenzung vor allem ein Risikofaktor für pädagogische Fachkräfte.