Mit der Anfrage an die Teams für eine Gruppendiskussion zum Thema sexuelle Gewalt und welche Rolle diese Thematik bei ihrer Arbeit spielt, wurde das Phänomen als ein Thema markiert, zu dem die angefragten Teams einen Beitrag leisten könnten. Im Forschungsdesign wird also schon vorausgesetzt, dass sexuelle Gewalt in Institutionen für die Befragten relevant ist. Bereits in den telefonischen Erstkontakten zeigte sich, dass die Einrichtungs- und Gruppenleiter*innen das Thema als wichtig einordneten. Dies drückt sich auch darin aus, dass die Akquise für die Teilnahme an der Untersuchung sehr gut verlief und es keine Absagen auf Anfragen für Gruppendiskussionen gab. Die Rahmung des Themas als relevant war also – dokumentarisch gesprochen – die Proposition der empirischen Studie.

Der erzählgenerierende Stimulus I greift genau diesen starken propositionalen Gehalt auf und ist aus diesem Grund für die Rekonstruktion der Orientierungen der Professionellen relevant. Die Rekonstruktion dieser Initiierung des selbstläufigen Teils der Gruppendiskussion steht am Beginn dieses Kapitels (5.1). Im Anschluss an die Rekonstruktion des propositionalen Gehaltes des Stimulus selbst werden die Reaktionen der Teams rekonstruiert. Hierzu werden alle sechs Gruppendiskussionen, bzw. die Orientierungen der Teams stetig miteinander verglichen. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt als Komparatistik (5.2). So werden sowohl die starken Homologien, als auch die Differenzen zwischen den Teams herausgearbeitet. Abschließend wird die Orientierung, die sich über die sechs Gruppendiskussionen zeigt, pointiert zusammengefasst (5.3).

5.1 Der propositionale Gehalt des Stimulus

Nach einer ersten Phase des Kennenlernens und der Gewöhnung wurde der Hauptteil der Gruppendiskussion mit einem Stimulus als Anregung für eine selbstläufige Diskussion unter den pädagogischen Fachkräften eröffnet. Ein Stimulus soll die Diskutant*innen dazu anregen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Zu diesem Zweck benötigt er einen propositionalen Gehalt, d. h. er eröffnet selbst eine Position, an der sich die Diskutant*innen abarbeiten können (Loos/Schäffer 2001b: 61). Die Proposition des Stimulus wird im Folgenden rekonstruiert. Exemplarisch wird hier die Eingangssequenz in der Gruppendiskussion 1 zum Gegenstand genommen. Auch wenn die Wortwahl der Hinführung zum Stimulus in den anderen Gruppendiskussionen etwas abweicht, ist der propositionale Gehalt identisch. In die Interpretation wird die Hinführung zum Stimulus mit einbezogen, da die vorangehenden und nachgestellten Sätze den propositionalen Gehalt wesentlich mitprägen:

figure a

Die Textpassage beginnt mit einer deutlichen Zäsur. Die Forscherin schließt das vorangegangene Thema mit „°gut°“ ab. Während das leise gesprochene „°gut°“ sich in erster Linie an die Forscherin selbst richtet, wird der thematische Abschluss für die Diskutant*innen mit „ja dankeschön für den ersten eindruck?“ markiert. In dem Dank und der Aussage, einen ersten Eindruck bekommen zu haben, dokumentiert sich, dass die Gruppendiskussion nach Einschätzung der Forscherin bislang gut verlaufen ist.

In der folgenden Formulierung „ähm ich hab ja vorhin schon angekündigt“, hebt die Forscherin das Gespräch auf eine Metaebene. Nun ist gerade nicht der Inhalt zentral, sondern die Konzeption des Gespräches. Sie ruft noch einmal auf, dass Sie bereits den Schwerpunkt der Gruppendiskussion „mehrfach“ erläutert hat. Dass es nun im Weiteren um das Thema sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen gehen wird, ist also als bekannt vorausgesetzt. Bemerkenswert an dieser Einleitung sind zwei Dinge. Erstens bedarf der Gegenstand der Gruppendiskussion einer Rahmung und wird erst mit mehrfacher Ankündigung und einem Vorlauf eingeführt. Diese forschungstaktische Entscheidung, dem Beginn der eigentlichen Gruppendiskussion eine Vorstellungsrunde vorzulagern, ist dem Forschungsgegenstand geschuldet, der bereits vor der Erhebung als für die Diskutant*innen schwierig eingeschätzt wurde (vgl. Kap. 3). Diese grundlegende Proposition der Forschung manifestiert sich nun auch in der Einleitung des Stimulus. Mit dieser Feststellung wird zweitens in Erinnerung gerufen, dass die pädagogischen Fachkräfte bereits ihre Zustimmung gegeben haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Insofern kann die Feststellung als ein Einfordern der bereits zugesicherten Mitarbeit gelesen werden: Die Diskutant*innen hätten schon mehrfach die Möglichkeit gehabt, das Thema abzulehnen. Da sie dies aber nicht getan haben, müssen sie nun mit der Forscherin sprechen. Auch hier deutet sich der propositionale Gehalt des einführenden Stimulus an: Es ist schwierig über das Thema sexuelle Gewalt zu sprechen und dennoch sollte dies geschehen. Das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte bekommt schon in der Anlage der Forschung eine Relevanz.

Bevor der Stimulus selbst formuliert wird, gibt die Forscherin noch Regieanweisungen: Die Diskutant*innen sollen sich „austauschen“ und sie wird sich „ganz zurückhalten“. Der Modus des Gespräches soll also ein anderer sein als erwartet, und es wird antizipiert, dass es sich um eine „komische situation“ handelt. Komisch ist in diesem Fall als befremdlich, unnatürlich, künstlich, vielleicht sogar zunächst als unangenehm zu verstehen. Die Diskussionsleiterin bestärkt die Diskutant*innen darin, dass sie diese Aufgabe dennoch meistern können. Diese Bewertung wirkt vertraut und empathisch. Der so hervorgerufene Schulterschluss mit den Diskutant*innen macht es ebenfalls schwieriger, sich der kommenden Diskussion zu entziehen. Auch in dieser Ermunterung findet sich der propositionale Gehalt, dass den Diskutant*innen eine schwierige Aufgabe bevorsteht. Die Schwierigkeit bezieht hier jedoch die ungewohnte Situation mit ein. Sowohl der Inhalt der Diskussion als auch die Diskussion selbst werden als herausfordernd gerahmt.

Die Formulierung des eigentlichen Stimulus beginnt plötzlich und ohne vorangegangene Pause:

figure b

Gleich zu Beginn des Stimulus wird mit „ob“ offen gelassen, dass „das thema“ bislang für die Diskutant*innen nicht von Relevanz gewesen sein könnte. Diese Option scheint jedoch nur kurz auf und wird direkt von der Frage nach dem „wie“ abgelöst. Auch wenn die Möglichkeit angezeigt wird, dass das Thema keine Relevanz haben könnte, beinhaltet die Proposition des Stimulus und seiner Rahmung, dass dies sehr wohl der Fall ist.

Der erste Teil des Stimulus: „ob und wie IHR mit dem thema schon mal zu tun gehabt habt“ zielt auf den ganz persönlichen Bezug der Diskutant*innen und stellt noch keine Verbindung zur professionellen Praxis her. Die Frage nach dem „wie“ im Stimulus öffnet den Raum für mögliche Erzählungen.

Auffällig ist, dass hier in der Eröffnung des Stimulus das Thema selbst, also sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte, nicht genannt wird. Was „das thema“ ist, erschließt sich nur aus den vorangegangen Aufrufen, dass „das thema sexuelle gewalt durch mitarbeiter und mitarbeiterINNEN“ bereits als Schwerpunkt benannt wurde. Linguistisch handelt es sich hier um eine Substitution. Substitutionen, Auslassungen und Euphemismen werden in der Gruppendiskussion immer wieder verwendetFootnote 1. An dieser Stelle bleibt der Grund für die Substitution unklar. Die konkrete Benennung des Themas kann als redundant empfunden werden, oder die Benennung wird von der Diskussionsleiterin vermieden. Das stark betonte „IHR“ unterstreicht, dass es um persönliche Erfahrungen geht und dass die Diskutant*innen, an die sich die Frage richtet, wichtig sind. In der Formulierung „zu tun gehabt“ bleibt die Frage nach dem „wie“ bzw. der Art und Weise offen und für einen Stimulus notwendig vage, denn zu tun haben kann man mit etwas auf ganz vielfältige Arten und Weisen.

Zu der sehr allgemein gehaltenen ersten Frage kommt noch eine weitere hinzu: „und vor allem inwieweit das thema sexuelle gewalt oder sexueller missbrauch ähm durch mitarbeiterinnen und mitarbeiter in EURER arbeit ne rolle spielt.“ Im zweiten Teil des Stimulus wird nun die Arbeit der Diskutant*innen in den Blick genommen und die Diskutant*innen als Professionelle angesprochen. Der persönliche Bezug wird auch hier durch die Intonation unterstrichen („EURER arbeit“). Der Frage wird semantisch mit dem „vor allem“ mehr Bedeutung beigemessen und zeigt den Fokus der Gruppendiskussion. Der propositionale Gehalt der Relevanz des Themas sexuelle Gewalt wird mitgeführt. Es ist relevant – die Frage ist nur, wie weitreichend. Auch die auf den Stimulus folgende Zusammenfassung: „also wie ist das für euch? (.) zwei punkte wo seid ihr schonmal in berührung, gekommen und wo ist es für euch wichtig“ betont den persönlichen Bezug. Ebenso wird die Zweiteilung des Stimulus noch einmal aufgegriffen und die Fragen simplifiziert wiederholt. Für die erste Frage wird dabei angenommen, dass sie „schon mal in berührung“ gekommen sind, oder paraphrasiert, dass es Erfahrungen gibt, die berichtet werden können. Die zweite Frage wird insofern weiterentwickelt, als dass nicht nur davon ausgegangen wird, dass das Thema sexuelle Gewalt eine „rolle spielt“, also in irgendeiner Weise Bedeutung hat, sondern die Bedeutung bereits gewertet wird, es soll „wichtig“ sein. Gerade dieser Begriff unterstreicht noch einmal die Setzung als relevant. In der zweiten Frage wird das Thema dann auch explizit benannt. Dabei wird zu dem öffentlich weniger verwendeten Begriff „sexuelle gewalt“, der wesentlich populärere Begriff des „sexuellen missbrauchs“ gestellt. Hier liegt die Annahme zugrunde, dass der Begriff sexuelle Gewalt den pädagogischen Fachkräften nicht so geläufig ist wie der populärere Begriff des sexuellen Missbrauchs.

Zusammenfassend lässt sich der propositionale Gehalt des Stimulus in drei Teile gliedern: (1) Es ist schwierig über das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte zu sprechen. (2) Dennoch soll dies in dieser ungewöhnlichen Situation der Gruppendiskussion geschehen. (3) Das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte ist relevant für die professionelle Praxis.

5.2 Notwendige (?) Distanzierungen zu Beginn

Im diesem Unterkapitel werden die Reaktionen der Teams auf den Stimulus rekonstruiert. Damit geht es um die Frage, wie der propositionale Gehalt aufgenommen und weiterentwickelt wird. Es ist auffällig, dass es zwischen drei Gruppendiskussionen große Homologien in der inhaltlichen Reaktion gibt. Die Darstellung verbleibt dabei zunächst wieder bei Team 1 und analysiert die Reaktion auf den Stimulus ausführlich, um dann in einem zweiten Schritt die Reaktionen der anderen zwei Teams (4 und 5) mit dieser zu vergleichen. Hieran schließt sich die Interpretation einer Passage von Team 6 an, die ganz anders verläuft, jedoch denselben Orientierungsgehalt aufweist. Kontrastiert werden die Ergebnisse des ersten Vergleiches mit den Einstiegspassagen der Teams 2 und 3. In UnterAbschnitt 5.3 wird gezeigt, wie sich die Orientierung der Teams vor dem Hintergrund von historischen Fällen sexueller Gewalt in der Einrichtung entwickeln.

5.2.1 „ich hab das noch nie erlebt“

Die Analyse beginnt mit Team 1. Die folgende Passage schließt direkt an die oben abgebildete Formulierung des Stimulus an:

figure c

Nach dem Stimulus fällt eine Pause von drei Sekunden. Es kommt nicht zu spontanen Reaktionen. Doreen fragt zögernd, ob sie anfangen soll und erhält keine Antwort. Das Schweigen der anderen hält noch weiter an und Doreen fragt Franz direkt: „oder willst du anfangen“. Dieser verneint. An ihrem Zögern und der Rückversicherung ist zu merken, dass Doreen nicht aus sich heraus das Bedürfnis hat, als Erste zu sprechen. Vielmehr übernimmt sie die Verantwortung, der Zusage des Teams zur Teilnahme an der Gruppendiskussion nachzukommen, die sie als Gruppenleiterin gegeben hat. Sowohl ihre Position als auch die Kontaktaufnahme führen vermutlich dazu, dass sie initiativ wird. Für die Adressierung von Franz ist dessen Position ebenfalls wichtig. Er ist keine pädagogische Fachkraft der Wohngruppe, sondern Erziehungsberater für die Eltern aller Kinder der Einrichtung und gelegentlich bei den Teamsitzungen anwesend. In der Gruppendiskussion bekommt er viel Deutungshoheit, was sich hier bereits andeutet, wenn sich Doreen rückversichert, dass nicht er beginnen möchte.

Die sich anschließende Frage von Doreen „gehts der reihe nach oder gemischt“ zeigt, dass sie sich über den Modus der Diskussion nicht im Klaren ist, auch, wenn sie angeboten hat, als Erste zu sprechen. Sowohl die Diskussionsleiterin als auch Tessa antworten ihr mit „frei“ und „gemischt“. Und auch Franz stimmt ein und beansprucht, zu wissen, dass „diskussionen nie der reihe nach“ gehen. Während die Antworten von Tessa und der Diskussionsleiterin erklärend und dabei wertneutral sind, wertet Franz die Frage ab und betont, dass die Anweisungen klar sind.

Der zögernde Beginn bestätigt im Vollzug die ersten beiden Teile des propositionalen Gehaltes des Stimulus: Über das Thema zu sprechen, ist schwierig, dennoch soll es hier geschehen. Doreen beginnt ihren inhaltlichen Beitrag, als für sie der Modus des Sprechens geklärt ist. Der Beginn − „okay dann fang ich an“ − ist zunächst performativ. Indem Doreen spricht, erfüllt sie die Aussage des Satzes, zögert im Sprechen aber gleichzeitig eine inhaltliche Aussage heraus. Im Weiteren spricht sie für sich selbst − „i:ch“, „selbst“ − und kollektiviert ihre Aussage nicht. Bereits im ersten inhaltlichen Redezug lehnt sie den dritten Teil der Proposition des Stimulus ab: Sie hat „keine erfahrung“, sie hat „das noch nie erlebt“. In der Formulierung weist Doreen auf die Vorläufigkeit ihrer Aussage hin: „bisher“ und „noch“ zeigen, dass sie sich mit ihrer Aussage auf die bis heute gemachten Erfahrungen bezieht. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie nicht ausschließt, dass sie in Zukunft mit sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte konfrontiert werden könnte. Mit ihrer Antwort auf den Stimulus verschiebt Doreen die Proposition der Aussage weg von dem offeneren Fokus des Themas hin zu den eigenen Erfahrungen. Damit lehnt sie die Relevanz des Themas insofern ab, als dass es in ihrer Praxis bislang nicht vorgekommen ist. Mit dieser Aussage stellt sie den dritten Teil der Proposition des Stimulus infrage, dass das Thema sexuelle Gewalt für die Praxis relevant ist.

Im kontrastierenden Vergleich verstehen die Teams 2 und 3 die Formulierung „das thema“ im Stimulus jedoch viel offener. Sie reagieren mit Berichten darüber, dass das Thema, vermittelt über Informationen und Fortbildungen, das Einfordern von erweiterten Führungszeugnissen und die medialen Thematisierungen und institutionell abgeschlossenen Vorfälle, für sie relevant geworden ist.

Das Team 1 legt jedoch den Fokus auf „Erfahrungen“, die, im Gegensatz zu den vermittelten Anlässen, immer sie selbst betreffen müssen. Bei einer Erfahrung ist die Erfahrende viel stärker involviert. Sie könnte sexuelle Gewalt nur dann erfahren haben, wenn es in einer Wohngruppe oder ihrer Einrichtung zu einer Gewalttat gekommen wäre, in der sie oder Kolleg*innen Täter*innen geworden wären. Die nächste Formulierung: „hab das noch nie erlebt“ greift mit dem „erlebt“ wieder auf, dass ein Fall sexueller Gewalt durch Kolleg*innen an ihrer Institution auch sie als Professionelle beträfe. Doreen kann sexuelle Gewalt durch pädagogischen Fachkräfte nur als Beteiligte erleben, also als (a) Täterin oder (b) direkte Kollegin in einer Konstellation, in der der Gewaltakt in der Organisation bekannt wird und dann die Folgen erlebbar werden.Footnote 2 Das „noch nie“ in dieser Formulierung bestätigt die Vorläufigkeit der Aussage – bis heute ist es nicht passiert, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es in Zukunft passieren kann.

Das, was „noch nie erlebt“ wurde, wird wie im ersten Teil der Aussage mit „das“ benannt und bleibt vage. Durch den Bezug auf den Stimulus ist zwar deutlich, dass es um sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte geht, dennoch ist bemerkenswert, dass die Begriffe nicht genannt werden. Im Weiteren wird das „das“ noch konkretisiert, bzw. eingegrenzt. Das „das“, und somit sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte, ist eine „krasse form“. Mit dieser Einordnung wird eröffnet, dass es verschiedene Formen sexueller Gewalt gibt, die Doreen unterschiedlich bewertet. Sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte ist für sie eine „krasse“ Form – ein Extrem.

Auch wenn Doreen deutlich herausstellt, dass es keine sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in der Wohngruppe gegeben hat, so eröffnet sie bereits mit der Unterscheidung in „krasse form“, dass sie mit andere Formen sexueller Gewalt bereits konfrontiert gewesen sein könnte. Sie berichtet gleich im Anschluss weiter: „ähm ich hab bisher nur erlebt das (…)“. Mit dieser Öffnung wird deutlich, dass sie die Frage des Stimulus sehr wohl positiv beantworten und das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Verbindung mit ihrer professionellen Praxis bringen kann. Obwohl im Stimulus nur nach einer Thematisierung gefragt wurde, ist es ihr dennoch wichtig, zunächst klarzustellen, dass sie selbst noch nicht mit sexueller Gewalt konfrontiert wurde. Diese hier beschriebene Figur wird im Folgenden als Distanzierung von der Gewalttat gefasst.

Die Distanzierung macht es Doreen möglich, der Forscherin gegenüber eine persönliche Betroffenheit auszuschließen. Da sie die Dienstälteste ist, gilt dies auch für eine Betroffenheit der Kolleg*innen, zumindest während ihrer Arbeit in der Wohngruppe. Die Distanzierung sichert die Position, aus der die Sprecher*innen anschließend in die Diskussion gehen: als Expert*innen ihrer Arbeit und nicht als in irgendeiner Art Involvierte in sexuelle Gewalt.

Die Einstiege zweier anderer Teams sind ähnlich: Auch sie distanzieren sich zunächst davon, sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte erlebt zu haben und erläutern anschließend, dass das Thema dennoch für sie relevant ist. Im Folgenden werden die Rekonstruktionen hierzu kurz zusammengefasst.

In Team 4 folgen auf den Stimulus die Bestätigungen, dass das Gehörte verstanden wurde. Es dauert einen Moment, bis Ruth, unterstützt von Jan, mit folgendem Redezug beginnt:

figure d

Analog zu Team 1 beginnt die Reaktion auf den Stimulus hier mit einer Ratifizierung des Gehörten. Mit dem leise gesprochenen „ja::“ übernimmt Ruth die Sprecher*innenposition, zögert aber bevor sie spricht. Auch für Ruth ist es nicht einfach, direkt zu antworten. Genauso wie Doreen spricht sie über sich selbst und ihre Erfahrung, bzw. das Nicht-Erleben von sexueller Gewalt. Ebenso benennt sie „sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen“ nicht, sondern spricht von „das“. Analog zu Team 1 ist auch der Übergang. Nach der Distanzierung fährt Ruth fort mit "aber ähm mir is". Auch sie kann also auf den Stimulus reagieren. Sie kann – und das wird im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion deutlich – sehr viel über das Thema sexuelle Gewalt berichten. Dennoch ist das Erste die Distanzierung von der eigenen direkten Betroffenheit, die eine andere Sprecher*innenposition ermöglicht.

Die erste Reaktion von Team 5, bzw. Frau März auf den Stimulus ist ebenfalls homolog.

figure e

Frau März reagiert ähnlich wie Doreen, indem sie performativ beginnt – sie benennt, dass sie anfängt. Als zweites distanziert sie sich. Hierbei generalisiert sie ihre Aussage im Gegensatz zu Doreen und Frau Rau und spricht für das „haus“, bzw. die Wohngruppe. Dabei sind Frau März und das „haus“ stark miteinander verwoben, da sie bereits seit 18 Jahren die innewohnende Mitarbeiterin ist. Auffällig ist, dass sie den „bereich sexueller übergriff“ benennt. Auch ihrer Ablehnung folgt eine Bestätigung des Stimulus, die mit einem „aber“ eingeleitet wird. Frau März unterscheidet hier die eigene Erfahrung von dem „thema“, das es immer gewesen ist. Diese Explikation macht deutlich, dass sie auch von vornherein positiv auf den Stimulus hätte reagieren können, denn sie bestätigt die Proposition, dass das Thema immer präsent und damit auch relevant gewesen sei. Die Unterscheidung zwischen der Tat und dem Thema, die Frau März hier selbst einführt, unterstreicht, dass die Distanzierung dem Bedürfnis geschuldet ist, als unschuldig wahrgenommen werden zu wollen.

Im Kontrast wird nun deutlich, dass die Figur der Distanzierung keine Ablehnung der Proposition ist. Die Verhandlung der Proposition des Stimulus wird vielmehr kurz ausgestellt, um einen eigenen Inhalt zu platzieren. In den Passagen dokumentiert sich, dass ein Teil der Orientierung der pädagogischen Fachkräfte ihre persönliche Unschuld ist. Weiter müssen sie dies vor der fremden Forscherin deutlich machen, um sich auf die Gruppendiskussion einlassen zu können.

In der Gruppendiskussion von Team 6 erfolgt eine Distanzierung nicht direkt nach dem Stimulus, sondern einige Minuten später:

figure f

Herr Aman berichtet hier, wie eine interne Fortbildung sein „weltbild […] ins wanken“ gebracht hat. Ihm wurde dort vermittelt, dass Täter*innen durchaus auch wertgeschätzte Kolleg*innen sein können, die kollegiales Verhalten instrumentalisieren, um Kontrolle zu erlangen. Herr Aman beschreibt bildhaft, wie ihn diese Erkenntnis erschüttert hat. In der Schlussfolge ist davon auszugehen, dass ihm bislang die reale Möglichkeit nicht präsent war, dass eine*r seine*r Kolleg*innen Täter*in sein oder werden könnte. Weiter noch, er geht davon aus, dass es in seiner 35jährigen Zeit als Erzieher in der Wohngruppe keine Fälle sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte gegeben hat. Mit dieser Feststellung distanziert auch er sich davon, bislang sexuelle Gewalt erlebt zu haben und auch er ist wieder (mit) der Dienstälteste, der an dieser Stelle für seine Kolleg*innen mitsprechen kann.

5.2.2 „das is dann aber auch noch vor meiner zeit gewesen“

Die zwei Teams der Einrichtung B reagieren im Vergleich zu den vier bereits beschriebenen Teams anders auf den Stimulus. Im Folgenden wird nun die Rekonstruktion dieser beiden Eröffnungssequenzen dargestellt. Dabei zeigt sich, dass der Orientierungsgehalt dieser beiden Teams differenzierter ist, den Kern der Proposition jedoch weiterträgt. Die Schwierigkeit bei der Darstellung und der Rekonstruktion des Orientierungsrahmens ist an dieser Stelle, dass die Distanzierungen der Teams in den Beschreibungen der Konfrontation mit dem Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte enthalten sind. Anders als bei den vorangegangenen Rekonstruktionen deuten sich also bereits Anlässe der Konfrontation an. An dieser Stelle wird auf diese jedoch nicht eingegangen. Im Fokus der Interpretation steht die Figur der Distanzierung und damit der neue propositionale Gehalt der Schuldzurückweisung.

Im Weiteren wird nun die Interpretation der Reaktion von Team 3 auf den Stimulus dargestellt:

figure g

Der rhetorische Einstieg ohne direkte inhaltliche Reaktion ist analog zu den anderen Gruppendiskussionen. Das Lachen kann hier als Reduktion von Unsicherheit interpretiert werden. Die Diskussionsleiter*in bestätigt, dass es nun losgehen würde. Frau Kreis paraphrasiert „die erste frage“ woraufhin die Diskussionsleiterin diese erneut zusammenfasst. In dieser Verständigung über den Anfang und die Frage bestätigt das Team, dass es schwierig ist, über das Thema sexuelle Gewalt zu sprechen, sie aber dennoch starten wollen.

Herr Holt bestätigt mit „ja mit dem thema“ zunächst auch die Frage des Stimulus, wobei er „das thema“ inhaltlich nicht füllt. In dieser Wiederholung deutet sich bereits an, was sich dann im Folgenden bestätigt: Herr Holt bezieht sich auf die Frage nach dem Thema sexuelle Gewalt. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu den Teams 1, 4 und 5, die sich als allererstes von sexueller Gewalt als Tat distanzieren mussten. Herr Hermann verschiebt mit seiner Aussage also nicht den bearbeiteten Gegenstand (wie die drei anderen Teams dies tun), sondern geht ganz präzise auf die Frage nach dem Thema ein. Es kommt also hier zunächst nicht zu einer Distanzierung von der Gewalttat, wie in den oben beschriebenen Diskussionen. Herr Holt berichtet von einer Thematisierung über einen „text“ den neue Kolleg*innen bei Arbeitsanfang in Einrichtung B zu lesen bekommen. Er leitet diese Aussage mit „das einzige“ ein und schränkt so das Ausmaß der Präsenz und auch der Relevanz ein. „das einzige“ verweist auf eine Besonderheit, etwas Exklusives. Das Thema sexuelle Gewalt wurde am Anfang der Beschäftigungsaufnahme besprochen, zudem gab es noch ein „forum“. Somit ist das Thema sexuelle Gewalt in dieser Schilderung der Praxis nur punktuell präsent und nicht Teil des pädagogischen Alltags.

figure h

Nur wenige Augenblicke später verschiebt Herr Braun das besprochene Thema weg von der abstrakten Thematisierung von sexueller Gewalt hin zu einem tatsächlichen Fall sexueller Gewalt in Einrichtung B. Noch bevor er von dem Fall berichtet, sagt er, (1) dass es sich um eine Gegebenheit vor seiner Zeit handele und (2) dass diese immer noch präsent – „im bewusstsein“ sei. Die erste Aussage ist ebenfalls eine Distanzierung: „es“ war vor seiner Zeit. Er ist also nicht schuldig. Weder als Täter noch als Mit-Wisser und auch nicht als Nicht-Wisser. Dennoch ist das Thema sexuelle Gewalt für ihn präsent, weil Gewalttaten aus der Vergangenheit die Institution bzw. das kollektive Bewusstsein prägen.

Auch bei der Orientierung von Team 2 zeigen sich hier große Analogien. Die Reaktion auf den Stimulus beginnt mit der Bestätigung des propositionalen Gehalts, dieser für die Diskutant*innen schwierig ist:

figure i

Die Diskussionsleiterin geht zunächst auf eine mimisch-gestisch geäußerte Unsicherheit ein und fragt nach der ersten Formulierung des Stimulus, ob sie diesen noch einmal wiederholen solle, was sie im Anschluss tut. Danach entsteht zunächst eine Pause. Frau Groß bestätigt mit einem „mhm“, dass sie die Frage gehört hat. Herr Adam scheint überrascht über den Beginn und überwindet sich dann unter Schnauben, Ächzen, Lachen und einer erneuten, sehr langen Pause anzufangen. Wie auch das Team 3 bestätigt Herr Adam den propositionalen Gehalt: sexuelle Gewalt ist ein Thema. Diese Tatsache wird als „natürlich“ und „ganz klar“ eingeordnet. In einem langen Redebeitrag, der hier zusammengefasst wiedergegeben werden soll, erläutert Herr Adam diese Selbstverständlichkeit der Präsenz: Das Thema war in der „berichterstattung“ der „medien“ in den „letzten jahren“ (GD2, 231f) immer wieder präsent. Besonders „konfessionelle“, bzw. „katholische“ (GD2, 233) Einrichtungen wurden hier genannt. Für Herrn Aman genügt die Parallele, ebenfalls in einer katholischen Einrichtung zu arbeiten, um eine Betroffenheit vom Thema sexuelle Gewalt herzustellen („hoppla, da arbeite ich ja auch? //stühle rücken// das heißt es würde mich auch betreffen“ (GD2, 234).

Als weiteren Grund für die Präsenz des Themas sexuelle Gewalt berichtet er von Aufarbeitung des Einrichtungsleiters, dieser hätte „das offen gemacht“ (GD2, 237), „darüber berichtet“ in „foren oder konferenzen“ (GD2, 238); er sei auch „in den medien zu diesem Thema geladen“ (GD2, 239) gewesen und hätte die Mitarbeiter*innen auf seine Aktivitäten hingewiesen. Die Art und Weise und die Fülle der Aktivitäten stehen im Vordergrund des Berichtes von Herr Aman. Erst am Ende der Narration kommt er zu weiter zurückliegenden Fällen sexueller Gewalt in der Einrichtung, die aufgearbeitet werden müssen: „dieses thema (…) das da viel früher gewesen is“ „als das ganze noch von schwestern (…) geleitet worden is [und] bis in die achtziger hinein?“ (GD2, 244ff). Verschlüsselt benennt Herr Aman so, dass die Einrichtung, in der er arbeitet, eine Geschichte hat, in der Kinder und Jugendliche wiederholt Gewalt erfahren haben. Diese institutionelle Schuld wird so zunächst anerkannt. Gleichzeitig wird mit der zeitlichen Einordnung „bis in die achtziger“ auch deutlich, dass keine der pädagogischen Fachkräfte zu dem Zeitpunkt in der Einrichtung gearbeitet hat, waren sie in den 80er Jahren selbst doch noch minderjährig. Dennoch „begleitet“ (GD2, 252) sie als pädagogische Fachkräfte der Einrichtung die Gewalt aus der Vergangenheit immer noch.

Zu einer expliziten Distanzierung, wie bei allen anderen Teams, kommt es in dieser Gruppendiskussion zu Beginn nicht. Dennoch wird implizit auch hier bereits in der ersten Antwort auf den Stimulus vermittelt, dass die Gewalttaten, die es in dieser Einrichtung gegeben hat, abgeschlossen sind. Die pädagogischen Fachkräfte positionieren sich durch die zeitliche Distanzierung als unbeteiligte Personen. Das bedeutet, dass sie nicht an den Gewalttaten beteiligt waren.

5.3 Distanzierung von Gewalttaten als Voraussetzung zum Sprechen

Ausgangspunkt der vorangegangenen Unterkapitel war, zu rekonstruieren, wie der propositionale Gehalt des Stimulus aufgenommen wurde. Die beiden ersten Teile: (1) es ist schwierig über das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte zu sprechen und (2) dennoch soll dies in dieser ungewöhnlichen Situation der Gruppendiskussion geschehen, wird von allen Teams bestätigt. Die Unsicherheit, die die Thematisierung von sexueller Gewalt generell und in Bezug auf die Relevanz für die eigene Praxis hervorgebracht hat, findet sich bei allen sechs Teams. Diese Erkenntnis entspricht der normativen Aufladung des Themas. Ebenso ist die Bereitschaft zu sprechen erwartbar in einer Situation, in der die Teilnahme an der Gruppendiskussion bereits im Vorfeld zugesagt worden ist.

In der Bearbeitung des dritten Teils der Proposition „Das Thema sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter*innen ist relevant für die professionelle Praxis“ hingegen, zeigen sich auf der expliziten Ebene zunächst Unterschiede. In der Rekonstruktion des Impliziten waren die Orientierungen der Teams homolog: Bezogen auf sexuelle Gewalt unterscheiden alle Teams zwischen dem Thema und der Gewalttat. Diese Unterscheidung ist notwendig, um sich dann von der Gewalttat distanzieren zu können: Für vier der Teams (1, 4, 5 & 6) hat sexuelle Gewalt als Tat in ihrer professionellen Arbeit insofern keine Relevanz, als dass sie (noch) nicht vorgekommen bzw. aufgedeckt wurde. Als Thema ist es ihnen in der Praxis dennoch begegnet. Die Teams 2 und 3 wissen um Gewalttaten in ihrer Einrichtung, die in der Vergangenheit verübt wurden.Footnote 3 Die institutionelle Aufarbeitung und Fortbildung für pädagogische Fachkräfte machen das Thema präsent.

Für alle sechs Teams kann eine Distanzierung von Taten sexueller Gewalt rekonstruiert werden. Für die zuerst vorgestellten vier Teams (1, 4, 5, 6) ist eine generelle Distanzierung des Nicht-Erlebens von sexuellen Gewalttaten festzustellen. Für die zwei weiteren (2, 3) konnte eine zeitliche Distanzierung zu den Gewalttaten in ihrer Institution herausgearbeitet werden. Die Distanzierung verweist auf die moralische Dimension des Themas. Die Fachkräfte machen deutlich, dass sie sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ablehnen.

Durch die Distanzierungen wird in der Gesprächssituation ausgeschlossen, dass es einen Grund für einen Verdacht gegen die derzeit tätigen pädagogischen Fachkräfte gäbe. Dies schafft die Grundlage, um über das Thema sexuelle Gewalt sprechen zu können. Mit dem Ausschluss demonstrieren die pädagogischen Fachkräfte, dass sie nicht an sexueller Gewalt gegen die ihnen anvertrauten Kinder beteiligt waren, weder als Täter*innen, noch als Mitwisser*innen, und dass während ihrer Zuständigkeit keine Taten sexueller Gewalt unbemerkt stattgefunden haben. Der Ausschluss macht gleichzeitig deutlich, dass die pädagogischen Fachkräfte einen (impliziten) Tatvorwurf antizipieren, denn ohne einen latent wahrgenommenen Verdacht wäre keine Distanzierung notwendig.

Die Distanzierung macht es den Teams möglich, als Expert*innen ihrer Arbeit über das Thema sexuelle Gewalt durch Fachkräfte zu sprechen und nicht als Personen, die Erfahrung in der Bewältigung von institutioneller sexueller Gewalt haben. Mit dieser Positionierung ist es ihnen im Folgenden auch möglich, zu berichten, in welcher Form sexuelle Gewalt sehr wohl Thema bei ihnen ist.

Neben der Distanzierung von der Tat benennen die pädagogischen Fachkräfte zahlreiche Anlässe, durch die das Thema sexuelle Gewalt für sie bzw. für ihre Praxis relevant wird. In den folgenden Kapiteln werden diese Anlässe systematisch vorgestellt.