Seit dem Jahr 2010 hat sich die öffentliche Thematisierung von sexueller Gewalt im Allgemeinen und gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen im Besonderen stark ausgeweitet. Bundesweit wurde von pädagogischen Organisationen berichtet, in denen Kinder und Jugendliche in der Vergangenheit massiv sexuelle Gewalt erlebt hatten. Dies hatte und hat politische, juristische, disziplinäre und professionelle Folgen.

Die offensichtliche Wirkmächtigkeit dieses Diskurses führte zu der Ausgangsthese dieser Arbeit, dass sich die mediale Thematisierung, in Kombination mit den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen, auch im Alltag der sozialpädagogischen Fachkräfte niederschlagen wird. Daraus resultiert die Forschungsfrage:

Vor welchen Herausforderungen stehen pädagogische Fachkräfte in der Heimerziehung angesichts des neuen, öffentlichen Diskurses über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene?

Vor einer empirischen Annäherung an die Fragestellung ist es notwendig, den Forschungsgegenstand zu bestimmen, grundlegende Phänomene und Begriffe der Arbeit zu definieren, sowie die Studie in der Forschungslandschaft zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen zu verorten.

Zu diesem Zweck ist das Kapitel in sechs Unterkapitel gegliedert. Als erstes (2.1) wird der Ausgangspunkt der Arbeit, die mediale Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen, in den Blick genommen, dabei finden politischen und juristischen Reaktionen besondere Berücksichtigung. Als zweites (2.2) schließ sich ein Kapitel an, welches das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen erläutert. Hierzu werden zunächst Begrifflichkeiten diskutiert und die Prävalenz von sexueller Gewalt gegen Kinder in pädagogischen Institutionen dargestellt. Daran anschließend wird die Heimerziehung als Untersuchungskontext dargestellt (2.3). Weiter wird für diese Studie elementaren Forschung zu institutionellen Bedingungen wurde ein eigenes Unterkapitel systematisiert (2.4).

An diese Trias der grundlegenden Bezüge (medialer Diskurs, sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene, Heimerziehung) schließen sich zwei Kapitel an, in denen die umfangreichen Forschungsarbeiten zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen aus dem deutschsprachigen Raum dargestellt werden. Der Forschungsstand ist untergliedert in zwei Unterkapitel: Das erste widmet sich den organisationalen, pädagogischen und organisationalen Entstehungsbedingungen sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen (2.4.). Im zweiten Unterkapitel sind die professionellen Herausforderungen zentral, die sich durch die Thematisierung von sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen ergeben (2.5). Zentral sind dabei die problematische Verbindung zwischen Nähe und sexueller Gewalt, die für das Feld der Kindertagesstätten schon gut erforscht ist und der für Fachkräfte zu Verunsicherungen und Angst führt, selbst der Ausübung sexueller Gewalt verdächtigt zu werden. Mit einer zusammenfassenden Begründung der Forschungsfrage dieser Studie wird die Einordnung des Gegenstands „Sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Institutionen – Mediale Thematisierung und professionelle Herausforderungen“ vervollständigt (2.6.).

2.1 Mediale Thematisierung sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in pädagogischen Institutionen

Zu allen Zeiten hatten Betroffene, kritische WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen der Jugendhilfe über gewaltförmige Erziehungspraxis in Heimen der Jugendhilfe berichtet, ohne bei den Verantwortlichen in den Regierungen und Verbänden Gehör zu finden. Erst die Skandalisierung durch die Medien und die mit ihr hergestellte Öffentlichkeit gab und gibt den Opfern eine Stimme, die nicht weiter ignoriert werden kann.

(Kappeler 2015: 83)

Viele einschlägige Fachpublikationen der letzten Jahre zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen beginnen mit dem Verweis darauf, dass sich mit dem Erscheinen des Artikels „Das Schweigen muss gebrochen werden“ (Anker/Behrendt 2010) am 28. Januar 2010 in der Berliner Morgenpost eine massive Veränderung in der Thematisierung von sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen in den Medien vollzogen hat (Fangerau et al. 2017: 11; Fegert/Wolff 2015: 18). Nun folgend werden einige dieser Einordnungen betrachtet. Sie zeigen, wie weitreichend die Diagnose der massiven Veränderung und der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit des Diskurses um sexuelle Gewalt in Institutionen ist.

Als „diskursives Ereignis“ (Baader 2018: 28) bezeichnet Meike Sophia Baader die mediale Thematisierung sexueller Gewalt im Jahr 2010. Mit dieser Formulierung bleibt sie relativ neutral und markiert lediglich eine weitreichende Relevanz der medialen Debatte, welche die gesellschaftliche Perspektive auf sexuelle Gewalt in Institutionen beeinflusst hat. Einordnungen in einem ähnlichen Duktus sind das „Aufbrechen der Debatte“ (Wazlawik et al. 2019b: 1) und der „Einschnitt in der Debatte“ (Fegert/Wolff 2015: 15). Während bei diesen Bezeichnungen der Schwerpunkt auf der plötzlichen Veränderung liegt und diese selbst zunächst nicht weiter gewertet wird, gibt es Klassifizierungen, zum Teil derselben Autor*innen, die starke Bewertungen einschließen. So bezeichnen Sabine Andresen, Karin Böllert und Martin Wazlawik die mediale Thematisierung von 2010 mit einem metaphorisch starken Begriff aus dem Bereich der Religion und sprechen von „Erweckung“ (Andresen/Böllert/Wazlawik 2016: 621). Jörg M. Fegert und Mechthild Wolff bezeichnen die Berichterstattung als „mediale Bombe“ (Fegert/Wolff 2015: 18) und sprechen von einer Skandalisierung die „eine neue Qualität der Debatte zum Schutz vor Missbrauch in Institutionen“ (ebd.) markiert. Hier zeigt sich, dass die Autor*innen die mediale Aufmerksamkeit prinzipiell begrüßen, mit dem Bild des Skandals und der Bombe werfen sie jedoch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Berichterstattung auf und bewerten diese als eher übertrieben. Eine weitere Einordnung, die in ihrer Formulierung eine Übertreibung andeutet, kommt von Michael Behnisch und Lotte Rose. Sie schreiben über den „entbrannte[n]“ „gesellschaftlichen Skandal“ (2011a: 12) und an anderer Stelle über eine „gewaltige Welle“ (2011b: 12). Auch Jürgen Oelkers bedient sich einer Metapher aus dem Bereich der Naturkatastrophen und spricht von einer „publizistische[n] Lawine“ (Oelkers 2017: 16). So markiert er die mediale Thematisierung ebenfalls als enorme, unaufhaltsame, zerstörerische und tödliche Kraft.

Gemein ist diesen Einordnungen, dass sie zwar eine Veränderung, eine Transformation oder einen Bruch beschreiben, aber auch gleichzeitig markieren, dass es das Phänomen selbst zuvor schon gegeben hat, und dass es – zumindest innerhalb der Institutionen und auch kundigen Fachkreisen – bekannt war, dass sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ein verbreitetes Phänomen ist. Das Neue ist die Verschiebung der öffentlichen, politischen und fachwissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Bemerkenswert an den Einordnungen ist die Vehemenz die dem Diskurs zugeschrieben wird und die sowohl die Dimension der gewünschten Aufmerksamkeit, wie das zerstörerische Potential betont.

Die neue Relevanzsetzung wird von den Akteur*innen, neben der Zunahme der medialen Thematisierung, an sehr schnellen politischen Maßnahmen und einem Erstarken der Forschungslandschaft festgemacht. Dabei sind die wissenschaftlichen Akteur*innen selbst in genau diese Prozesse verwoben. Ihre Arbeiten sind Teil der öffentlichen Thematisierung, sie sind Teil des Diskurses. Ebenso ist diese Arbeit auch Teil dessen.

2.1.1 Voraussetzungen für die öffentliche Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen

„Zu allen Zeiten [wurde] […] über gewaltförmige Erziehungspraxis in Heimen der Jugendhilfe berichtet“ (Kappeler 2015: 83). Diese Berichte hatten jedoch wenig Einfluss auf den öffentlichen Diskurs über sexuelle Gewalt in Institutionen. Exemplarisch zeigt sich dies am Beispiel der Odenwaldschule. Denn bereits 1999 berichtete die Frankfurter Rundschau in ganz ähnlicher Weise wie 2010 über sexuelle Gewalt durch den Schulleiter Gerold Becker (Schindler 1999/ 2010). Dieser und auch andere Medienberichte über weitere Gewaltkonstellationen vor 2010 blieben jedoch weitgehend folgenlos (u. a. Kessl 2021). Wenn diese Arbeit also nun den Zusammenhang einer neuen gesellschaftlichen Thematisierung und deren Einfluss auf die pädagogische Praxis in den Blick nehmen will, so muss sie die Voraussetzungen identifizieren, die zur Aufnahme der medialen Berichterstattung 2010 geführt haben.

Wie kam es also dazu, dass seit Januar 2010 sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen mit weitreichenden Folgen öffentlich problematisiert werden konnte? Zunächst mussten das Handeln und die strukturellen Bedingungen, die heute als sexuelle Gewalt klassifiziert werden, als eben solche eingeordnet werden. Hier ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass Gewalt kein Faktum an sich ist, sondern die Definition dessen, was als Gewalt angesehen wird, immer im historischen Kontext gesehen werden muss. Francisca Loetz schreibt dazu:

Gewalt ist nicht mehr eine feste, ontologische Größe, sondern eine relative Kategorie, indem bestimmte Verhaltensformen für eine Gesellschaft dadurch zu Gewalt werden, dass diese Verhaltensformen von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft als nicht tolerable Grenzverletzung eingeschätzt und erlebt werden.

(Loetz 2012: 18, Hervorh. im Orig.)

Die Einordnung von Gewalt als relative Kategorie macht deutlich, dass gesellschaftliche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Geschehnisse als Gewalt eingeordnet werden und ebendiese Gewalt gesellschaftlich problematisiert werden kann. Die Identifikation einzelner Voraussetzungen ist schwierig und eine direkte Kausalität nicht herstellbar. Dennoch gibt es drei gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die als wesentliche Voraussetzungen bezeichnet werden können: (1) eine gestiegene Aufmerksamkeit für Kinderschutz, (2) eine zunehmende gesellschaftliche Delegitimierung von sexueller Gewalt und (3) die veränderte öffentliche Wahrnehmung von Ursachen sexueller Gewalt.

Diese drei Voraussetzungen werden im Folgenden dargestellt. Anschließend geht das Unterkapitel noch auf öffentliche Thematisierung von (sexueller) Gewalt in Institutionen im Runden Tisch Heimerziehung ein. Diese können gewissermaßen als Vorläufer der Thematisierung ab 2010 gefasst werden. Wenngleich sie wesentlich weniger wirkmächtig war.

Gestiegene Aufmerksamkeit für Kinderschutz Footnote 1

Insgesamt wird spätestens seit Beginn der 2000er Jahre in Deutschland eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Kinderschutz konstatiert (Eckhardt 1998; Fischer/Buchholz/Merten 2011; Thole/Retkowski/Schäuble 2012; Bode/Turba 2014; vgl. Brandhorst 2015; Marthaler et al. 2012). Die Etablierung von Kinderrechten ist dabei ein wichtiger Einflussfaktor. Die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland 1992 und die Rücknahme der Vorbehaltserklärung im Jahr 2010 waren mit Blick auf Veränderungen im deutschen Kinderschutz wichtige Schritte. Eine einflussreiche Umsetzung von Kinderrechten wurde im Jahr 2000 vollzogen, als das Recht auf gewaltfreie Erziehung als §1631 in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurde. Kai-D. Bussmann et al. (2008) zeigen in ihrer Evaluation, dass das Gesetz einen wesentlichen Einfluss auf den Rückgang von Körperstrafen hat. Dies bestätigen auch aktuelle Studien zu Einstellungen von Eltern zu Körperstrafen (Clemens et al. 2020). Gleichwohl zeigen diese auch, dass immer noch über 40 Prozent der Eltern leichte Körperstrafen für angemessen halten (ebd.).

Sabine Andresen nennt retrospektiv die gesetzliche Ächtung von Erziehungsgewalt gegen Kinder „eine Zäsur für die Thematisierung von Erziehungsverhältnissen“ (Andresen 2018: 8) die es möglich macht „gewaltvolle Praktiken gegen Heranwachsende als Unrecht [zu] klassifizieren“ (ebd.).

Weiterhin bedeutsam waren die öffentlich viel diskutierten Kinderschutzfälle seit Mitte der 1990er Jahre. Der wohl bekannteste ist der des Bremer Kleinkindes Kevin, dessen Tod 2006 unmittelbar zum Rücktritt der Bremer Sozialsenatorin führte und der massive Kritik am Jugendamt der Stadt Bremen hervorrief (Brandhorst 2015). Auch die Tode von Jessica (2005), einer siebenjährigen Hamburgerin, die jahrelang von ihren Eltern eingeschlossen und vernachlässigt wurde, und von Lea-Sophie (2007), die in Schwerin durch Vernachlässigung ums Leben kam (Döring 2018a), gehören in diese Reihe. Das Neue an diesen Fällen ist, dass vielfach auch gegen Mitarbeiter*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe ermittelt wurde und in einigen Fällen auch Verurteilungen wegen Tötung oder Körperverletzung durch Unterlassung ausgesprochen wurden (ebd.). Mit diesen Urteilen wird juristisch nicht nur gegen die einzelnen Personen vorgegangen – es wird auch deutlich, dass das Wächteramt des Staates nicht fehlerlos wahrgenommen wurde.

Weitreichende Folgen dieser Kinderschutzfälle sind die Einführung des §8a (2006), sowie die Erweiterung des SGBVIII durch das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz). Auch wenn letzteres erst 2012 in Kraft getreten ist, so begann die Vorbereitung bereits vor 2010. Die Gesetzesänderungen nehmen die öffentliche Hand stärker in die Pflicht, Meldungen von Kindeswohlgefährdung nachzugehen und mit weiteren Akteuer*innen des Kinderschutzes zu kooperieren (vgl. auch BMBFSJ 2013).

Die gestiegene Aufmerksamkeit für den Kinderschutz lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Seit 2006/2007 gab es eine Personalsteigerung in der Kinder- und Jugendhilfe um ein Drittel und die Kosten für Kinder- und Jugendhilfe haben sich von 2006/2007 bis 2016 mehr als verdoppelt (DJI 2019). Das Deutsche Jugendinstitut benennt neue Ausgaben im Kinderschutz als wesentlich für die Kostensteigerung (ebd.).Footnote 2

Die hier dargestellten Eckpfeiler der Verstärkung des Kinderschutzes sind keine Reaktion auf einen Anstieg von Gewalt gegen Kinder. Was sich vielmehr verändert hat, sind die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen von guter Kindheit: Es besteht der Anspruch, dass Kinder gewaltfrei aufwachsen können müssen (u. a. Biesel et al. 2019). Verhalten, dass als gute Praxis gewertet wurde, wird nun untersucht. Pädagogisches Handeln wird zunehmend hinterfragt und öffentlich kritisiert. Brandhost (2015) zeichnet nach, dass die Kritik an Strukturen und individuellem Handeln im Kinderschutz zu einer stärkeren Verregelung geführt haben, wie sie, das wird diese Arbeit noch zeigen, auch für den Bereich der sexuellen Gewalt kennzeichnend ist.

Zunehmende gesellschaftliche Delegitimierung von sexueller Gewalt

Seit den 1970er Jahren hat es wesentliche gesellschaftliche Umbrüche in der Wahrnehmung, Einordnung und Ahndung von Gewalt in Beziehungen, speziell auch sexueller Gewalt, gegeben. Zunehmend wurde auf Grenzüberschreitungen und schwere Gewalt gegen Frauen, Mädchen und später auch Jungen hingewiesen, bzw. gewaltvolle Handlungen als solche klassifiziert und so delegitimiert. Ein wichtiger Meilenstein in dieser Normverschiebung war die Gründung von Frauenhäusern Ende der 1970er Jahre (Brückner 2010). Kurz nach den ersten Frauenhäusern wurden Anfang der 1980er Jahre erste Beratungsstellen zu sexueller Gewalt in Deutschland gegründet (bspw. 1983 Wildwasser e. V., 1987 Zartbitter e. V.). Das Bewusstsein für sexuelle Gewalt in der Familie wurde in den 1980er Jahren unter dem Fokus „Väter als Täter“ (Kavemann/Lohstöter 1987) auch auf die Perspektive der Mädchen erweitert, die Gewalt erfahren. Jungen und Männer als Betroffene kamen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor (Holch 2019), das änderte sich erst Anfang der 2000er (bspw. 1999 Gründung Tauwetter e. V.)Footnote 3. Ein weiterer Schritt zur Delegitimierung von sexueller Gewalt in nahen Beziehungen war die Möglichkeit, Vergewaltigung in der Ehe anzuzeigen (1997). Nicht zuletzt haben mutmaßlich auch internationale Aufdeckungen von sexueller Gewalt in pädagogischen InstitutionenFootnote 4 dazu beigetragen, dass auch in Deutschland eine Empfänglichkeit dafür gereift ist, sich mit sexueller Gewalt auseinanderzusetzen.Footnote 5

Dass die hier skizzierten Voraussetzungen eng miteinander verwoben sind, zeigen wichtige Bemühungen, die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen zu schützen. Einflussreich waren ebenfalls die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote Konvention 2007). Vor allem das letztere, internationale Übereinkommen hat dazu beigetragen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder in Institutionen als solche benannt und öffentlich problematisiert werden konnte. Durch die Ratifizierung (2015) verpflichtete sich Deutschland, sexuelle Gewalt gegen Kinder zu verfolgen. Dies macht deutlich, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder politisch als soziales Problem anerkannt wird.

Die veränderte öffentliche Wahrnehmung von Ursachen sexueller Gewalt

Bis 2010 wurde sexuelle Gewalt in Institutionen eher als Gewalttat einzelner krimineller Täter problematisiert. Ein Verständnis dafür, dass Risiken für sexuelle Gewalt in den Strukturen der Institutionen liegen, gab es in der Breite nicht. Erst im Zuge der gesellschaftlichen Problematisierung intrafamiliärer sexueller Gewalt in den 1980er Jahren wiesen einzelne Autor*innen auf strukturelle Risiken für sexuelle Gewalt in Institutionen hin (Conen 1995). Anfang des Jahrtausends zeigte ein Bericht des österreichischen Ministeriums für soziale Sicherheit und Generationen, dass zuvorderst Menschen aus dem „sozialen Nahraum – wie z. B. […] LehrerInnen, FreundInnen der Familie, NachbarInnen, Pfarrern, ErzieherInnen etc.“ (Kaselitz/Lercher 2002: 27) Täter*innen werden. Und auch der Mediziner und Psychotherapeut Werner Tschan wies in seinem Buch „Missbrauchtes Vertrauen“ (2001) auf strukturelle Risiken für sexuelle Grenzverletzungen in pädagogischen Beziehungen hin. In Deutschland gaben zeitgleich der Psychiater Fegert und die Erziehungswissenschaftlerin Wolff ihr Lehrbuch „Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen. Prävention und Intervention.“ (2002) heraus. Hier versammelten sie erstmals einzelne Expertisen aus Wissenschaft und Beratung zum Thema sexueller Missbrauch in Institutionen. Auch Ursula Enders von Zartbitter e. V. wies bereits Anfang der 2000er Jahre auf die Problematik von sexueller Gewalt in Institutionen hin (Enders 2003a, 2003b). Die hier genannten Publikationen bekamen nur begrenzt Aufmerksamkeit. Retrospektiv wird sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene vor 2010 vielfach als tabuisiert bezeichnet (Retkowski/Treibel/Tuider 2018: 15). Diese Einordnung als Tabu bestätigt aber ebenfalls, dass es zuvor mindestens ein rudimentäres Wissen gegeben haben muss, das tabuisiert werden konnte. Auch die Berichte von Betroffenen an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2019) zeigen, dass nicht nur das Verhalten der Täter*innen die Tabuisierung aufrechterhalten hat, sondern viele Menschen um die Gewalttaten wussten, ohne diese wirkungsvoll zu problematisieren. Dass Wissen um die Gewalttaten kann jedoch gleichwohl aus Voraussetzung für eine öffentliche Thematisierung angesehen werden. Der Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen begann 2010 dann auch nicht bei null. Gerade zu Beginn wurden die genannten Akteuer*innen als Expert*innen wahrgenommen. Die Veränderung bezieht sich vornehmlich auf die gesellschaftliche Relevanz die dem Wissen um die Gewalt nun entgegengebracht wurde, bzw. wird.

Erste wirkmächtige Thematisierung von (sexueller) Gewalt in Institutionen – Der Runde Tisch Heimerziehung

Eine erste mediale Thematisierung von massiver Gewalt, auch sexueller Gewalt, in pädagogischen Institutionen in Deutschland, die eine große Reichweite hatte, war der 2003 veröffentlichte Spiegelartikel von Peter Wensierski, der den Film „The Magdalene Sisters/ Die Unbarmherzigen Schwestern“ des britischen Regisseurs Peter Mullan (2002 in Irland, 2003 in Deutschland) als Anlass nahm, um Berichte von ehemaligen Heimkindern öffentlich zu machen. In der Folge meldeten sich weitere Personen bei Wensierski, einige Geschichten sind Gegenstand seines Buchs „Schläge im Namen des Herrn“ (Wensierski 2006). Grundlegend sowohl für den Film Mullans als auch Wensierskis Recherchen und Publikationen waren Berichte von erwachsenen Menschen, die Gewalt in pädagogischen Institutionen erlebt hatten. Diese Berichte von Betroffenen waren eine grundlegende Voraussetzung dafür um systematische institutionelle Gewaltkonstellationen in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken (Kessl 2021). Gemeinsam mit Peter Schiltsky, Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder, reichte Wensierski 2006 beim Bundestag eine Petition mit der Forderung ein, das zugefügte Leid anzuerkennen und Kompensationen zu gewähren (Struck 2015). Die Petitionen und die Anhörungen durch den Bund hatten Erfolg und führten dazu, dass am 17. Februar 2009 der „Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ eingerichtet wurde. Die Einrichtung des Runden Tisches wurde zwar medial begleitet, erregte aber kein großes Aufsehen (Kappeler 2015; Struck 2015). Auch wenn die Zustimmung des Bundestages, einen Runden Tisch Heimerziehung einzurichten, als großer Erfolg für die Betroffenen gewertet werden kann, und schon in sich einen ersten Schritt in der Anerkennung des Leids darstellt, so wirkte die tatsächliche Durchführung des Runden Tisches aus Perspektive von Betroffenen als Beschwichtigungsversuch und erneute Zurückweisung. Besonders kritisch werden hier zwei Dinge angemerkt: Zum einen die politische Intention, keine Ausgleichzahlungen zu leisten und zum anderen eine Zusammensetzung des Runden Tisches zunächst ohne Betroffene, welche die Machtverhältnisse vollständig negierte (Kappeler 2015).

In seiner Analyse des Runden Tisches stellt Manfred Kappeler fest:

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ging es jetzt um die Aufklärung von systematischer struktureller und personaler Gewalt in Einrichtungen der Republik, die im staatlichen Auftrag handelten und aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wurden. Zudem handelte es sich um Einrichtungen, die offiziell dem Wohl der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen verpflichtet waren und das im Grundgesetz verankerte „Wächteramt“ des Staates für das gedeihliche Aufwachsen dieser Schutzbefohlenen realisieren sollten. Dieses „Wächteramt“ beinhaltet die effektive Aufsicht und Kontrolle der Heime und diese hatte, das stand schon lange bevor es zum RTH kam fest, in katastrophaler Weise versagt. Um Opferzahlen dieser Größenordnung hatte es sich bis dahin nur bei nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gehandelt.

(Kappeler 2015: 85 f)

Kappeler geht von tausenden Kindern und Jugendlichen aus, die Anrecht auf Entschädigungszahlungen hätten und begründet die abwehrende Haltung von Politik und Funktionären mit einer „narzisstischen Kränkung, die mit Strategien des Leugnens, Verharmlosens, Verdächtigens und Entwirklichens abgewehrt wurde“ (Kappeler 2015: 86).

Neben den drei hier beschriebenen Voraussetzungen gibt es weitere Faktoren, die die öffentliche Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen begünstigt haben. Immer wieder wird der Umstand genannt, dass die ersten bekannt gewordenen Fälle in prominenten Internaten stattfanden, deren ehemalige Schüler*innen einen anderen gesellschaftlichen Rückhalt genießen und machtvollere Positionen innehaben, als ehemalige Heimkinder (z. B. Bange 2018: 32). Doch auch der bereits erwähnte Artikel über sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule (Schindler 1999/ 2010) behandelt eine solch prominente Einrichtung mit gesellschaftlich angesehenen Absolvent*innen, ohne, dass ein gesellschaftlicher Diskurs angestoßen wurde. Hier wird deutlich, dass aus zweifellos wichtigen Voraussetzungen keine direkten Kausalitäten abgeleitet werden können.

2.1.2 Das Jahr 2010 als diskursives Ereignis

Die Forschungsinteresse dieser Arbeit begründet sich aus dem Zusammenhang der neuen medialen Thematisierung ab 2010 und deren Auswirkungen auf die pädagogische Praxis. Um dem Zusammenhang nachgehen zu können, bedarf es zunächst einer breiten Vergewisserung über die mediale Thematisierung und deren Folgen. Hierzu wird im Weiteren eine Genealogie der Debatte um sexuelle Gewalt vorgenommen, um einen Überblick über die Geschehnisse zu geben. Zunächst geht es (1) um die Thematisierung von sexueller Gewalt in der Tagespresse, dann (2) um erste politische und juristische Reaktionen und schließlich (3) um wissenschaftliche Analysen des diskursiven Ereignisses.

Thematisierung von sexueller Gewalt in der Tagespresse

Arno Görgens und Heiner Fangerau (2018) zeigen in ihrer Studie zur Präsenz von sexueller Gewalt gegen Kinder in pädagogischen Institutionen in den Medien, dass es ab 1990 einen Anstieg von medialen Berichten (hier am Beispiel von FAZ und Spiegel) gegeben hat. Für das Jahr 2010 lässt sich ein Höhepunkt der Berichterstattung nachweisen. In diesem Jahr gab es mehr als zweieinhalbmal so viele Berichte über sexuelle Gewalt in Institutionen wie in den Jahren zuvor (ebd.).

Als erster Bericht des Jahres 2010 über sexuelle Gewalt erlangte der Brief von Pater Mertens, abgedruckt im Berliner Tagesspiegel am 28. Januar große Aufmerksamkeit (Anker/Behrendt 2010). Bemerkenswert an dieser diskursiven Marke ist, dass die öffentliche Thematisierung dieser Gewaltkonstellation nicht singulär blieb, sondern in der Folge zahlreiche Gewaltkonstellationen aus den 1950er bis 1980er Jahren durch die Tagespresse thematisiert wurden (für einen Überblick Behnisch/Rose 2011b; UBSKM 2017).

Ein wesentlicher Schwerpunkt der Berichterstattung lag dabei auf den pädagogischen Einrichtungen in katholischer Trägerschaft. Genannt wurden das Kolleg St. Blasien, das Kloster Ettal (Stadler 2012; Keupp et al. 2017b; Obermayer/Stadler 2011), das Aloisius-Kolleg, die Kapuziner in Burghausen, die Regensburger Domspatzen (Baumeister/Weber 2019) und die Kinderheime Hofheim und Eilenburg (Der Spiegel 2010; Behnisch/Rose 2011b). Ein weiterer Schwerpunkt waren reformpädagogische Einrichtungen, allen voran die Odenwaldschule (Schindler 1999/ 2010, 2010), sowie die Helene-Lange-Schule (Autor*innenkollektiv „Die Fünf“ 2011)Footnote 6. Den Berichten gemein ist, dass immer eine einzelne prominente Institution, in einigen Fällen auch einzelne Personen als Täter*innen im Fokus der medialen Berichterstattung standen. Es wird von vielen Autor*innen angenommen, dass die hohe gesellschaftliche Stellung der Betroffenen und Institutionen dazu geführt hat, dass so breit über die sexuelle Gewalt berichtet wurde (Kappeler 2011; Bange 2018). Hierin besteht eine deutliche Differenz zum Runden Tisch Heimerziehung. Während die ehemaligen Heimkinder sich nur sehr schwer und nur unter Hilfe von Fürsprecher*innen gesellschaftliche Aufmerksamkeit erkämpften, war dies für die Internatsschüler*innen ab 2010 einfacher.

Im medialen Diskurs selbst wird die Zunahme der Berichterstattung als aufklärerisches Projekt markiert. Es wird davon gesprochen, dass mit der öffentlichen Thematisierung Tabus gebrochen werden, dass „Sprechen hilft!“ (Die Bundesregierung 2010) und dass die Berichterstattung längst überfällig sei. Für die Betroffenen geht mit der öffentlichen Thematisierung neben der Aufarbeitung aber auch die Gefahr der Reviktimisierung einher.

Nicola Döring (2018b: 335) verweist in diesem Zusammenhang auf die ambivalente Rolle der Medien. Auf der einen Seite hat eine mediale Thematisierung einen bestärkenden Charakter, der Betroffene ermutigt, mit ihren eigen Widerfahrnissen zu arbeiten und deutlich zu machen, dass sexuelle Gewalt kein individueller Makel ist. Zudem stärkt die mediale Präsenz auch das gesellschaftliche Bewusstsein für sexuelle Gewalt und hilft darin, eine Sprache für sexuelle Gewalt zu finden. So bekommt die mediale Berichterstattung zum einen die Funktion Leid anzuerkennen und zum anderen soll sie präventiv wirken. Gleichzeitig sind journalistische Berichte auch riskant. Betroffene sind in den Momenten, in denen sie ihre Geschichte erzählen, besonders vulnerabel. Die Gefahr der Reviktimisierung durch die Interviewenden oder Reaktionen auf die Berichte ist groß. Betroffene müssen einen Teil der Kontrolle abgeben. Andere erzählen ihre Geschichte und sie sind den Interpretationen und Beurteilungen Dritter ausgesetzt. Es kommt immer wieder dazu, dass die Glaubwürdigkeit Betroffener angezweifelt wird und sie angefeindet werden, weil sie dem Ansehen des Täters oder der pädagogischen Institution schaden. Misstrauen entsteht, weil sich viele Dritte die Gewalttaten nicht vorstellen können oder wollen und der Schutz der Institution priorisiert wird (Fischer 2015). Zahlreiche autobiografische Schriften unterstreichen die Schwierigkeiten, wenn sie ihre Erfahrungen in den Medien thematisieren (bspw. Dehmers 2011).

Erste politische und juristische Reaktionen

Die politischen Reaktionen auf die mediale Thematisierung waren weitreichend. Auch wenn die Diskursverschiebung weiterhin wirkmächtig ist und politische, juristische und gesellschaftliche Folgen nach sich zieht, interessieren an dieser Stelle nur die Reaktionen, die relativ zügig auf die medialen Berichte folgten und in zeitlichem Zusammenhang mit der Erhebung der Gruppendiskussionen (2011–2013) stehen. Aus diesem Grund soll im Folgenden der Zeitraum von 2010 bis ca. 2013 dargestellt werden.

Bereits nach zwei Monaten war das einstmalige Nischenthema durch die neue gesellschaftliche Thematisierung deutlich auf die politische Agenda gerückt. Die erste weitreichende Maßnahme der Bundesregierung war die Einrichtung des Amtes der Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM). Hierzu wurde die Bundesfamilienministerin a.D. Christine Bergmann am 24.03.2010 berufen. Das Amt hat sich in den folgenden zehn Jahren als wichtige Koordinationsstelle für bundesweite Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder gezeigt. Bei der Koordination und Initiierung vieler der im Folgenden beschriebenen Maßnahmen war die UBSKM beteiligt. 2011 übernahm Johannes-Wilhelm Rörig das Amt und im Dezember 2018 wurde es verstetigt, seit März 2022 ist Kerstin Claus die Unabhängige Beauftragte (UBSKM o. J. a; Beck 2020; Bange 2018).

Teil der Arbeit der UBSKM war die Koordination der telefonischen Anlaufstelle N.I.NA., die zwar bereits 2005 eingerichtet wurde, jedoch ab dem 21.09.2010 mit einer großangelegten Kampagne Betroffene dazu aufforderte, sich zu melden. Bereits Ende März 2010 wurde die Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen Missbrauchs eingerichtet (Zimmer 2015).

Politisch am umfassendsten war zunächst die Initiierung des „Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ am 24. 03. 2010 (BMJ/ BMFSFJ/ BMBF 2012). Dieses Gremium setzte sich aus Politiker*innen und Expert*innen zusammen und wurde vom Bundesfamilienministerium, dem Bundesjustizministerium und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam geleitet. Diese breite ministeriale Präsenz ist symbolisch für die Aufmerksamkeit, die dem Thema zu Teil wurde. Mit „66 weiteren Mitgliedern von Institutionen und Organisationen aus Medizin, Psychotherapie, Wissenschaft, Sozialarbeit, Justiz, Beratungsstellen, Kinderschutzorganisationen, Schulen, Internaten, der evangelischen und katholischen Kirche, den Sportverbänden, der freien Wohlfahrtspflege sowie des Bundestags, der Länder und Kommunen“ (Bange 2018: 33) war der Runde Tisch breit aufgestellt. Sechs Vertreter*innen der Bundesinitiative Betroffener wurden nachträglich eingeladen im Gremium mitzuwirken (Fegert/Wolff 2015; Kappeler 2015).Footnote 7

Ergebnisse des Runden Tisches wurden im Abschlussbericht am 30. November 2011 veröffentlicht (BMJ/ BMFSFJ/ BMBF 2012). Wichtige Empfehlungen waren die Hilfe für Betroffene, die Reform des Opferentschädigungsgesetzes (OEG), die Einrichtung eines ergänzenden Hilfesystems, Leitlinien für Prävention, Intervention und Strafverfolgung und die Entwicklung von Schutzkonzepten (Bange 2018: 34). In der Folge der politischen Diskussion wurde am 27. November 2011 der Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung (BMBFSFJ 2011) von der Bundesregierung verabschiedet.

Bereits während der Arbeit des Runden Tisches wurden Forschungen zum Gegenstand angestoßen. Pilotstudien waren hier die Begleitforschung zur telefonischen Anlaufstelle (Fegert et al. 2011) und eine Studie des Deutschen Jugendinstitutes (Helming et al. 2011b), in der erste Ergebnisse zur Prävalenz von Verdachtsfällen in Institutionen und unterschiedliche Einschätzungen von Expert*innen zu sexueller Gewalt in Institutionen gesammelt wurden. Weiter wurden vom Runden Tisch zwei Förderlinien des Bundes angestoßen, zum einen in der Gesundheitsforschung (Ausschreibung Ende 2010), zum anderen für Forschung zur Prävention sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten (Ausschreibung Mitte 2011). Beide Forschungslinien wurden verlängert und das BMBF gibt selbst an, bis Anfang 2020 mit 63 Millionen Euro eine „international sichtbare Forschungslandschaft“ geschaffen zu haben (BMBF 2019).

Auch juristisch zeigen sich Reaktionen auf die öffentliche Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen. Im Wesentlichen manifestieren sich diese im Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) und im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Hier wurden neue Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt eingeführt. Es besteht nun ein Rechtsanspruch auf anonymisierte Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft (§4KKG Abs. 2), Voraussetzungen für die Betriebserlaubnis pädagogischer Einrichtungen wurden geschärft (§§ 45 ff. SGB VIII), die organisationale Sicherung von Kinderrechten und der Schutz vor Gewalt wurden festgeschrieben (§§ 79 und 79a SGB VIII), die Vorlage von erweiterten polizeilichen Führungszeugnissen ist für breite Teile von pädagogisch Tätigen verpflichtend, sowie der Tätigkeitsausschluss von vorbestraften Personen (§ 72a SBG VIII) (Bange 2018: 35 ff).

Besonders öffentlichkeitswirksam angelegt sind vom Bund initiierte Präventionskampagnen. 2010 warb die Kampagne „Sprechen hilft“ mit Plakaten und Filmen dafür, dass Betroffene ihr Leid aussprechen und sich so Hilfe holen können (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) 2010). Die Kurzfilme (Regie: Wim Wenders) vermittelten, dass Betroffene sich durch den eigenen Mut von der Macht der Täter*innen befreien können.Footnote 8 Einen ähnlich individualistischen Ansatz wie „Sprechen hilft“, wenn auch für die allgemeine Prävention, verfolgt das schulische Präventionsprogramm „Trau Dich“ (www.trau-dich.de; gestartet 2013), das darauf zielt, Kinder und Jugendliche aufzuklären.Footnote 9

Als weitere Zielgruppe öffentlicher Präventionskampagnen wurden pädagogische Organisationen in den Blick genommen. Ab 2013 machte die Initiative: „Kein Raum für Missbrauch“ (UBSKM o. J. b) auf institutionelle Risikokonstellationen aufmerksam. Dabei wurden auf spezifische Risikopotentiale von pädagogischen Organisationen hingewiesen. Zentral ist das Anliegen die Entwicklung von Schutzkonzepten zu unterstützen.Footnote 10

Das verstetigte Präventionsnetzwerks „Kein Täter werden“ (www.kein-taeter-werden.de), welches es bereits vor 2010 gab, ist an der Schnittstelle von Aufklärungskampagne und therapeutischer Unterstützung zu verorten. Hier liegt der Fokus auf Männern mit pädosexuellen Neigungen, die lernen wollen, mit ihren sexuellen Neigungen umzugehen, ohne zu Tätern zu werden.

Der Bereich der Unterstützung von Betroffenen wurde als einer der letzten offensiv vorangebracht. Erst im Mai 2013 wurde als erster Schritt für Entschädigungszahlungen der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) für Opfer intrafamilialer sexualisierter Gewalt eingerichtet: Insgesamt fällt dieser viel schmaler aus als angedacht, da sich nur wenige Länder beteiligen. Das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) wurde am 26. Juni 2013 verabschiedet. Neben der Stärkung der Rechte legt es außerdem eine wesentliche Verlängerung der Verjährungsfristen für sexuelle Gewalttaten fest. Umfassende Hilfsangebote für Betroffene bündelt das Online-Angebote „Hilfeportal sexueller Missbrauch“ (www.hilfeportal-missbrauch.de) seit dem 15. Juni 2013 (BMG 2018).

Resümierend lässt sich Folgendes über die politischen und juristischen Reaktionen der Jahre 2010 bis ca. 2013 festhalten: Sie zeigen deutlich, wie sexuelle Gewalt gegen Kinder ab 2010 bundesweit zum Thema gemacht worden ist. Zugleich verdeutlichen sie, dass ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür wächst, dass pädagogische Institutionen für Kinder und Jugendliche nicht per se schützend sind, sondern eben auch zu Orten der Gewalt werden können. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass pädagogische Fachkräfte potentielle Täter*innen sein können.

Auch in den Jahren nach 2013 gab es weitere umfassende politische, programmatische Initiativen, wie bspw. die Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK o. J., Beck 2020: 2), der „Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend“ (o. J.) und des „Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ (2019), alle mit dem Ziel „ein Unrechtsbewusstsein für Gewalt gegen Kinder im sozialen Kontext [zu] etablieren“ (Andresen 2018: 9). Mit diesen Maßnahmen zeigt sich eine deutliche Verstetigung der politischen Haltung gegenüber sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.

An den politischen und juristischen Reaktionen lässt sich ablesen, dass die medialen Berichte wesentlich dazu beigetragen haben, sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen als Gefahr für die Gesellschaft zu identifizieren, oder mindestens als soziales Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Einige der Maßnahmen haben unmittelbar Einfluss auf das Feld der Kinder und Jugendhilfe. Die politischen und juristischen Reaktionen zielen dennoch nicht direkt auf die pädagogische Praxis, allerdings deutet sich in den folgenden Analysen an, dass die medialen Berichte auch einen deutlichen Appel an die Profession sowie die pädagogische Praxis richten.

Wissenschaftliche Analysen des diskursiven Ereignisses

Um das diskursive Ereignis 2010 weitreichend zu verstehen, sind insbesondere zwei Diskursanalysen geeignet. Ulrike Hoffmann (2011, 2015) hat sich in ihrer wissenssoziologischen Diskursanalyse mit dem medialen Diskurs um sexuelle Gewalt von Januar bis Dezember 2010 befasst. Ausgangspunkt der Studie war die Beobachtung, dass „[i]m Diskurs um sexuellen Missbrauch in Institutionen im Jahr 2010 […] verschiedene neue Aspekte thematisiert [wurden], die bei vorherigen Diskussionen über sexuellen Missbrauch in Institutionen keine Rolle spielten“ (Hoffmann 2015: 37). Genannt werden hier von Hoffmann (1) der Umstand, dass es sich bei den Betroffenen der Gewalt um Eliten, bzw. deren Kinder handelte, (2) die Kritik an der gesellschaftlich geachteten Reformpädagogik und (3) die Tatsache, dass Jungen als Betroffene in den Fokus rückten. Die Forschung von Hoffmann basiert auf 380 Artikeln deutscher Leitmedien (aus Bild, FAZ, SZ, Die Welt, FR, TAZ, DIE ZEIT und Der Spiegel), die sie mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Keller analysiert hat (Hoffmann 2015: 38). Für die hier vorliegende Arbeit sind drei Ergebnisse ihrer Arbeit relevant:

Hoffmann zeichnet nach, dass ab 2010 der Diskurs von einem neuen Deutungsmuster bestimmt wird, das sie „Sexueller Missbrauch in Institutionen“ nennt. Besonders im Fokus stehen dabei die katholische Kirche und ihre Einrichtungen. Hoffmann rekonstruiert, dass drei wesentliche Verschiebungen für das neue mediale Deutungsmuster charakteristisch sind: eine starke Fokussierung auf Jungen als Betroffene, eine Inblicknahme von Autoritätspersonen als Täter*innen und eine Wahrnehmung von Institutionen als Orte sexueller Gewalt. Besonders die letzten beiden Punkte sind hier von Belang. In den Blick geraten pädagogische Fachkräfte mit ihrer Sexualität und der Möglichkeit zur Gewalttätigkeit, sowie pädagogische Institutionen als strukturell risikovolle Orte.

Hoffmann zeigt zweitens, dass neue Ursachen für die Ermöglichung sexueller Gewalt wahrgenommen werden. In der Kritik stehen: ein übersteigerter Vertrauensvorschuss für Pädagog*innen, Machtakkumulation bei einzelnen Personen und Verfügungsgewalt über Kinder, pathologische Nähe- und Distanzverhältnisse, wie das pädagogische Konstrukt des pädagogischen Eros und katholische Moralvorstellungen (Hoffmann 2015: 42 ff). Mit diesen Ursachen, die im Diskurs neben anderen für den Missbrauch verantwortlich gemacht werden, werden pädagogische Institutionen zum Teil in ihrer grundlegenden Konstitution in Frage gestellt – dann zum Beispiel, wenn eine explizite Orientierung an Reformpädagogik oder der katholischen Kirche erfolgt, aber auch wenn Intimität gezielt pädagogisch eingesetzt wird, wie es in vielen familienanalog arbeitenden Einrichtungen der Fall ist.

Als drittes Ergebnis der Studie sind sechs Diskurslinien zu benennen, (Hoffmann 2015: 44) die sich darin unterscheiden, inwieweit sie die Ursachen für sexuelle Gewalt bei den individuellen Tätern verorten, oder aber institutionelle Rahmenbedingungen als Ursache mit in Betracht ziehen. Insgesamt lässt sich eine einseitige Zuschreibung an individuellen Ursachen nur für die Tageszeitung „Bild“ rekonstruieren. Die anderen Diskurslinien sind über die Medien verteilt. Es ist daher davon auszugehen, dass der Diskurs insgesamt ein heterogenes Bild von Ursachen schafft.

Welche Diskurslinien in der pädagogischen Praxis als besonders relevant erachtet werden, ist unklar. Die Autorin markiert resümierend, dass „die innerinstitutionellen Auswirkungen des Diskurses“ (Hoffmann 2015: 48) Gegenstand weiterer Untersuchungen sein sollten.

Auch Michael Behnisch und Lotte Rose legen eine Diskursanalyse der medialen Debatte um sexuelle Gewalt 2010/2011vor (2011a, 2011b). Ihr Ausgangspunkt ist ebenso die stark angestiegene Anzahl und Reichweite von Presseberichten über sexuelle Gewalt, die sie, wie bereits beschrieben, als einen „entbrannte[n]“ „gesellschaftlichen Skandal“ (2011a: 12) und eine „gewaltige Welle“ (Behnisch/Rose 2011b: 12) markieren. Den Datenkorpus der Untersuchung bilden Artikel, die zwischen Januar 2010 und September 2010 veröffentlicht wurden.Footnote 11 Die Studie beschreibt zwei „Frontlinien des Missbrauchsskandals“ (Behnisch/Rose 2011b: 5). Die Wortwahl der Überschrift ist bereits metaphorisch. Das Bild der Frontlinie bedient sich im Jargon des Militärs. Übertragen bedeutet dies, dass es durch die Skandalisierung zu zwei feindlichen Lagern kommt, die miteinander kämpfenFootnote 12. Analog zur Chronologie der Berichterstattung wird von den Autor*innen zunächst die katholische Kirche in den Blick genommen, die mit dem Canisius-Kolleg und weiteren katholischen Internaten zuerst in die Schlagzeilen geraten war. Hier wird u. a. ausgeführt, dass die katholische Kirche als Ganze medial aufgrund ihrer Sexualmoral und ihrer patriarchalen Strukturen infrage gestellt wird. Die Kirche wird im Anschluss an Volkmar Sigusch (2010) in einer „tiefen Krise“ (Behnisch/Rose 2011b: 6) verortet, die das Potential habe, die Machtverhältnisse der katholischen Kirche zu verändern. Es wird aufgezeigt, wie sogar die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger der Kirche „systematische Vertuschung“ vorwarf. Diese Äußerungen führten dazu, dass innerkirchliche Vertreter von einer „Kampagne gegen die Kirche“ und von „Hysterie“ sprachen (Behnisch/Rose 2011b: 6). Als weitere „Fortlinie“ identifizieren Rose und Behnisch in ihrer Analyse auch die Reformpädagogik: „An vielen Stellen wird die Frage nach der Seriosität der Reformpädagogik als essenzielle Überlebensfrage nicht nur für dieses Konzept, sondern gar für die pädagogische Zunft im Allgemeinen aufgeworfen“ (2011b: 13). Die Autor*innen sehen die „Demontage der Odenwaldschule und der Reformpädagogik“ (Behnisch/Rose 2011b: 10) im Kontext eines neo-konservativen Rollbacks und der Hinwendung zu Disziplin als Erziehungsmittel: „Zum einen ist er [der gesellschaftliche Diskurs, Anm. MW] Anlass für konservative Fraktionen, einzelne Vertreter der Bewegung wie auch das ideologische Gedankengut zu brandmarken, zum anderen wird er aber auch zur Arena der internen Abrechnung von Mitgliedern der Bewegung untereinander“ (2011b: 18). Die Autor*innen zeigen, wie der Diskurs Dritte vereinnahmt und ihrer Einschätzung nach unzulässig verallgemeinert.

Das weibliche Pendant zu den missbrauchenden Priestern und Lehrern wird von den Medien genau nicht in pädagogischen Institutionen, sondern im Privaten gefunden.

So macht der Missbrauchsskandal unausgesprochen, aber nachhaltig klar, dass Frauen in öffentlichen Einrichtungen keine Kinder missbrauchen. Die Missbrauchsdebatte ist wie selbstverständlich und unhintergehbar konfiguriert als Männer-Debatte. Dies wird aber nicht als solches zum Thema gemacht.

(Behnisch/Rose 2011b: 25)

Behnisch und Rose arbeiten heraus, dass die öffentliche Debatte „einen Generalverdacht gegen Männer in diesem Beruf [schürt]“ (Behnisch/Rose 2011b: 32). Dieses weitreichende Ergebnis ergänzen sie noch mit der Annahme: Das, „[w]as sich für das Priesteramt vollzieht, könnte im Prinzip auch das erzieherische Amt ereilen. In den medialen Beiträgen wird dieser Schritt noch nicht gemacht, dennoch ist die Frage, ob er im öffentlichen Bewusstsein nicht schon längst gemacht wurde“ (Behnisch/Rose 2011b: 32).

Neben der Gefahr eines umfassenden Generalverdachtes gegen pädagogische Fachkräfte sehen die Autor*innen auch eine unzulässige Verkoppelung im Diskurs von sexueller Gewalt gegen Kinder und Homosexualität. Sie arbeiten heraus, dass eine „systematische Frage nach […] einem möglichen Zusammenhang zwischen Homosexualität, Institution und Kindesmissbrauch [gestellt wird]“ (ebd.: 19) und implizit mindestens ein starker Verdacht des Zusammenhangs suggeriert wird. Damit entsteht durch die mediale Berichterstattung eine Verschränkung von Homosexualität und sexueller Gewalt gegen Kinder, die wissenschaftlich nicht haltbar ist (vgl. exempl. Kuhle/Grundmann/Beier 2015). Zudem wird katholischen Klerikern statistisch eine erhöhte sexuelle Unreife zugeschrieben. In Bezug auf die Reformpädagogik wird durch die Bezüge und Kritik am pädagogischen Eros ebenfalls Homosexualität und Pädosexualität verknüpft. Es wird gefordert, zu prüfen, ob Pädosexualität ein genuiner Bestandteil von Reformpädagogik sei.

So ziehen Behnisch und Rose dann auch das Fazit:

Allein der Umstand, dass vielfach schwule Täter zum Thema gemacht werden, reicht aus, um den diffusen Eindruck entstehen zu lassen, dass homosexuelle Vorlieben ein besonderes Risiko für Übergriffigkeiten gegenüber ‚Knaben’ in sich tragen. Damit trägt der Diskurs dazu bei, Diskriminierungen männlicher Homosexualität einmal mehr zu reproduzieren und einer schwulenfeindlichen Stimmung Nährboden zu verschaffen.

(Behnisch/Rose 2011b: 20)

Die Studie von Behnisch und Rose rekonstruiert also für die mediale Thematisierung von sexueller Gewalt, dass diese einen Generalverdacht erzeugt. Dabei deutet sich an, dass Pädagog*innen im Allgemeinem unter Verdacht stehen, sich dieser jedoch noch viel stärker gegen männliche Fachkräfte richtet und sich potenziert, wenn es um homosexuelle Männer und katholische Einrichtungen geht. Gleichzeitig markieren sie aber auch, dass die medialen Berichte ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Thema sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen wahrgenommen wurde und als gesellschaftliche Gefahr identifiziert werden konnte.

Zwischenfazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen kein neues Phänomen ist, es wird aber seit 2010 in einer neuen Art und Weise öffentlich thematisiert. Eine genaue Analyse des diskursiven Ereignisses 2010 zeigt auf, dass die Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen durch die Medien wirkmächtig gewesen ist. Dazu bedurfte es einiger gesellschaftlicher Voraussetzungen. Die wohl wesentlichsten waren: (1) eine gestiegene Aufmerksamkeit für Kinderschutz, (2) eine Delegitimierung von sexueller Gewalt und (3) eine veränderte Einordnung von sexueller Gewalt.

Medial viel diskutierte Kinderschutzfälle und neue Maßnahmen im Kinderschutz betonen in den letzten Jahren zunehmend die Vulnerabilität von Kindern und markieren diese als besonders schutzbedürftig. Gleichzeitig ist es relativ neu, dass Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe persönlich für das fehlende Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen juristisch belangt werden.

In Bezug auf sexuelle Gewalt zeigt sich ebenso eine zunehmende Delegitimierung. Ein legitimer sexueller Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern ist im derzeitigen Diskurs nicht denkbar. Das schlägt sich auch in Gesetzen und Konventionen nieder.Footnote 13 Diese Delegitimierung ist untrennbar mit einer Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung verbunden. Das öffentliche Besprechen schafft ein Bewusstsein dafür, dass es institutionelle Risiken und Strukturen gibt, die sexuelle Gewalt fördern.

So wird institutionellen Konstellationen eine (Mit-)Verantwortung für sexuelle Gewalt zugeschrieben und Ursachen werden nicht länger nur bei Täter*innen gesucht. Damit geht auch das Bewusstsein einher, dass staatliche Institutionen versagt haben.

Im Weiteren hat das vorangegangene Kapitel gezeigt, dass eine stark gestiegene öffentliche Thematisierung zum einen als notwendig und überfällig kategorisiert worden ist. Gleichwohl war und ist sie für die Betroffenen auch mit Risiken besetzt, und die Art und Weise der Thematisierung sowie der politischen Reaktionen – bzw. deren Abwesenheit –ist immer wieder schmerzvoll. Die Summe der legislativen, judikativen und exekutiven Maßnahmen, die mit der öffentlichen Thematisierung in Verbindung gebracht werden können, zeigen eine weitreichende Wirkmächtigkeit. Die wissenschaftlichen Analysen von Hoffmann, sowie Behnisch und Rose zeigen, dass die Medien die Risiken wahrgenommen haben, die in den pädagogischen Institutionen eingelagert sind. Macht- und Näheverhältnisse, aber auch institutionelle Ideologien wie ein Bezug auf pädagogische Intimität und katholische Moralvorstellungen, werden als risikovoll kritisiert.

Während Hoffman in der Analyse vornehmlich systematisiert, bewerten Behnisch und Rose die Art und Weise der Berichterstattung auch als Gefahr, die einen großen Einfluss auf die sozialpädagogische Praxis haben könnte. Sie beschreiben, dass der Diskurs einen gesellschaftlichen Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte schafft, der besonders männliche Fachkräfte und stärker noch männliche, homosexuelle Fachkräfte unter Verdacht stellt, ihre Position für pädosexuelle Handlungen zu nutzen.

Aus diesen Darstellungen und den Ergebnissen der Diskursanalyse ergibt sich die Annahme, dass das diskursive Ereignis 2010 und dessen Folgen einen unmittelbaren Einfluss auf die pädagogische Praxis genommen haben. Ziel dieser Arbeit ist, genau dies zu klären.

2.2 Sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen

Nachdem im ersten Teil des Kapitels die neue Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen als Anlass dieser Forschungsarbeit dargestellt wurde, sollen im Folgenden einige grundlegende Begriffe erläutert werden, mit denen der Gegenstand dieser Arbeit gefasst wird. In diesem zweiten Unterkapitel soll dargestellt werden, welches Verständnis von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche dieser Arbeit zugrunde liegt. Dazu wird zunächst auf die Begriffe eingegangen, die in dieser Arbeit verwendet bzw. nicht verwendet werden (2.2.1), im nächsten Schritt wird dargestellt, welche Definitionen von sexueller Gewalt in Institutionen für diese Studie grundlegend sind (2.2.2). Um das Ausmaß des sozialen Problems zu umreißen, wird abschließend der Forschungsstand zur Prävalenz von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen dargestellt (2.2.3).

2.2.1 Macht der Sprache – Begründungen für begriffliche Entscheidungen

Manfred Kappeler hat in seinem Buch Anvertraut und Ausgeliefert (2011) im Anschluss an die Sprachphilosophie deutlich gemacht, wie wichtig die Wahl der Worte ist, um sexuelle Gewalt zu bezeichnen. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass „die Sprache mit der Sache, die beschrieben und benannt wird, etwas Wesentliches zu tun hat“ (Kappeler 2011: 8). Im Anschluss an John L. Austin versteht Kappeler Worte als Taten. Zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gedacht wird, besteht ein Zusammenhang. Die Begriffe sind Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und produzieren diese gleichermaßen mit (Retkowski/Treibel/Tuider 2018: 23).

Die Begriffe für sexuelle Gewalt haben sich historisch immer wieder verändert und auch heute noch werden, je nach disziplinärem Zusammenhang, verschiedene Begriffe und Operationalisierungen verwendet (Retkowski/Treibel/Tuider 2018). Der im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitete Begriff ist wohl sexueller Missbrauch, welcher im deutschen Strafrecht und der UN-Kinderrechtskonvention verwendet wird, genauso wie in den zuvor beschriebenen, neugegründeten Gremien und politischen OrganenFootnote 14,Footnote 15. Zudem wurde sexueller Missbrauch bis in die 2000er Jahre hinein auch im wissenschaftlichen Diskurs (Fegert/Wolff 2002; Bange/Deegener 1996) vor allem in medizinischen, therapeutischen und juristischen Fachdebatten und in der Beratung gebraucht (Enders 2003b; Retkowski/Treibel/Tuider 2018). Tagespresse, Politiker*innen, aber auch viele Wissenschaftler*innen verwenden den Begriff nach wie vor. Jud und Kindler (2019) verweisen auf die internationale Verwendung des Begriffs – im englischen dann sexual abuse – als Markierung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Abhängigkeitsverhältnissen zu Bezugs- und Betreuungspersonen. Im Alltagssprachlichen wird oftmals auch das Attribut sexuell vernachlässigt und nur von Missbrauch, bzw. abuse gesprochen. Ungeachtet seiner großen Popularität ist der Begriff sexueller Missbrauch problematisch, denn:

[w]er „Missbrauch“ sagt, setzt sprachlogisch „Gebrauch“ voraus, ohne ihn explizit zu thematisieren. Dieses Nicht-Erkennen der in der Rede vom „Missbrauch“ verborgen mitschwingenden Möglichkeit des „Gebrauchs“ kann ganz unterschiedliche Motive haben. […] Einen „sexuellen Gebrauch“ von Kindern durch Erwachsene, der sprachlogisch als Möglichkeit in ihm enthalten ist, darf es, in welcher Form auch immer, nicht geben. Bei sexuellen Handlungen Erwachsener an/mit Kindern handelt es sich immer um die Ausübung von psychischer und physischer Gewalt zur Erlangung sexueller Befriedigung des Erwachsenen, legiert mit der Befriedigung von Machtstreben, mithin um sexuelle Gewalt. Sie ist nach dem StGB eine schwere Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

(Kappeler 2017: 52)

Kappelers Kritik an dem Begriff beruht auf dessen euphemistischem Charakter, der verschleiert, dass es sich um Gewalt handelt. Er verortet den Begriff sogar als Teil eines „Missbrauchsjargons“ (Kappeler 2017: 53), welcher die Gewalttaten verharmlose. Auch in der feministischen Gewaltforschung wird der Begriff kritisiert (Kavemann et al. 2016: 12), gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, dass für einige Betroffene der Begriff Missbrauch zugänglicher sein kann, weil es für sie oft schwer ist, das Erlebte selbst als Gewalt einzuordnen. Für diese Forschungsarbeit, die eine analytische Perspektive einnimmt, scheint es angemessen, den Begriff sexueller Missbrauch zu meiden. Er wird nur dann verwendet, wenn Bezug auf andere Quellen genommen wird, die diesen Terminus nutzen.

Alternativen sind die Begriffe sexuelle und sexualisierte Gewalt. Diese Begriffe wurden mit den feministischen Debatten um Gewalt gegen Frauen und Kinder am Ende des 20. Jahrhunderts eingeführt. Durch die Bezeichnung Gewalt wird auf eine patriarchale Ordnung der Gesellschaft hingewiesen und auf die strukturelle Verankerung von Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen aufmerksam gemacht. (Retkowski/Treibel/Tuider 2018: 22 f). Der semantische Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen besteht darin, dass im Terminus sexuelle Gewalt die Gewalt selbst als etwas Sexuelles angesehen wird. Gewalt und das Sexuelle erhalten so eine Verbindung. Diese ist bei der Formulierung sexualisierte Gewalt schwächer. Hier liegt die Betonung stärker auf der Gewalt. Beide Begriffe sind im sozialwissenschaftlichen Diskurs etabliert und werden nahezu synonym genutzt. In dieser Arbeit wird der Begriff der sexuellen Gewalt verwendet, weil so deutlich wird, dass „die Sexualität sowohl des Täters als auch (infolge der Tat) des Opfers im Gewaltgeschehen involviert ist“ (Hagemann-White 2016: 15). Das Sexuelle mit seiner körperlichen Nähe, der Intimität und der Verletzlichkeit, die es mit sich führt, ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was hier untersucht wird. Die Arbeit wird zeigen, dass gerade in der Nähe, der Intimität und der Verletzlichkeit das Risiko für Gewalt eingelagert ist.

Andere Begriffe werden nur dann verwendet, wenn die Darstellung sich auf die Ergebnisse und Argumentationen anderer Autor*innen bezieht, die nicht von sexueller Gewalt, sondern bspw. von sexualisierter Gewalt oder sexuellem Missbrauch schreiben.

2.2.2 Umkreisungen einer Definition von „sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene“

Bange spricht im Zusammenhang mit sexueller Gewalt von einem „Begriffs- und Definitionswirrwarr“ (Bange 2002: 47). Verschiedenste Begriffe und Definitionen werden mal für dasselbe, mal für sehr unterschiedliche Phänomene benutzt. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind unterschiedliche Definitionen von Gewalt nicht ungewöhnlich (Beck/Schlichte 2017) und deuten eher auf eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten hin. Je nach Wahl der theoretischen Bezüge geraten andere Dimensionen von Gewalt in den Blick. Eine Definition von sexueller Gewalt muss deshalb dem Gegenstand angepasst werden. Dieses Unterkapitel hat zum Ziel, herauszuarbeiten, welches Verständnis von sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in pädagogischen Institutionen dieser Forschungsarbeit zugrunde liegt. Um eine präzise Bestimmung vorzunehmen, wird das Phänomen von außen nach innen eingekreist. Es wird zunächst etwas über das Verständnis von Gewalt gesagt, dann über sexuelle Gewalt, über sexuelle Gewalt gegen Kinder und abschließend über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene in pädagogischen Institutionen.

„In allen historischen Gesellschaften und in allen heutigen sozialen Kontexten kommt Gewalt vor“ (Beck/Schlichte 2017: 36). Sie ist strukturell (Galtung 1984) und symbolisch (Bourdieu 1982/2011) in unsere Gesellschaften eingeschrieben, weil diese durch Machtungleichheiten gekennzeichnet sind und diese Unterschiede dazu genutzt werden, die Einschränkungen anderer, weniger mächtigen Personen, zu legitimieren. In dieser Studie wird im Anschluss an Loetz (2012: 18) Gewalt als historisch geworden und veränderlich verstanden. Die historische Veränderlichkeit hat sich im vorangegangenen Unterkapitel über die Voraussetzungen zur medialen Thematisierung sexueller Gewalt bereits darin gezeigt, dass bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen dafür geschaffen sein mussten, um die Handlungen, die heute als sexuelle Gewalt kategorisiert werden, als solche einordnen zu können. Auch aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive betont Margrit Brückner, dass „die Grenzen zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt im Geschlechter- und Generationenverhältnis […] einem historischen Wandel und kulturellen Festlegungen [unterliegen]“ (Brückner 2001: 723). Definitionen von Gewalt sind nicht verallgemeinerbar, sondern „stets gebunden an gesellschaftliche Wertvorstellungen sowie das Interesse der Definierenden“ (Brückner 2001: 723). Die gesellschaftlichen und institutionellen Verhältnisse schaffen Machtunterschiede zwischen Personen. Damit erhalten einzelne die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1972: 28). „Die ‚Definitionsmacht über körperliche Berührungen und Zugriffe […] existiert gemäß gesellschaftlicher Machtverhältnisse nur abgestuft nach Geschlecht, Alter und sozialem Status‘“ (Brückner 2001: 724). Die Frage, ob die eingesetzte Macht legitim ist, oder ob sie illegitim ist und damit zu Gewalt wird, kann nicht mit einer klaren Grenze beantwortet werden. Bei Gewalt handelt es sich vielmehr um ein „mehrdimensionales Kontinuum“ (Andresen/Demant 2017: 4). Ansätze, welche ebendiesen machtvollen Gesellschaftsverhältnissen entgegenwirken wollen, vertreten die Auffassung, dass Betroffene selbst definieren müssen, welche Strukturen und Handlungen sie als Gewalt erleben (Hagemann-White 1992). Gleichwohl sind auch Betroffene Teil der Gesellschaftsverhältnisse und ihre Definitionen werden von eben diesen geprägt. Das Bewusstsein, dass gesellschaftliche Diskurse um Gewalt gleichzeitig machtvoll und veränderlich sind, ist für diese Studie zentral. Dies hat, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, Auswirkungen auf die professionelle und disziplinäre Praxis.

In den meisten Unterscheidungen wird sexuelle Gewalt als eine eigene Form von Gewalt beschrieben. Dabei hat sexuelle Gewalt sowohl physische, als auch psychische, verbale und strukturelle Aspekte. Grundlegend für sexuelle Gewalt, wie für Gewalt generell, ist die Machtasymmetrie:

Der Machtüberhang wird zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse am Unterlegenen benutzt, genauer: Macht wird sexualisiert. (…) Das Opfer wird zum Objekt sowohl eines Bedürfnisses sexueller Befriedigung/Erregung als auch nach Befriedigung eines Machtwunsches.

(Heiliger & Engelfried 1995: 22)

Sexuelle Gewalt ist nach dieser Definition eine intentionale sexuelle Handlung, bei der ein Machtüberhang zugunsten der eigenen Interessen ausgenutzt wird. Dabei werden die Betroffenen willentlich geschädigt oder aber eine Schädigung billigend in Kauf genommen. Im Unterschied zu anderen Gewaltformen beinhaltet sexuelle Gewalt immer eine sexuelle Komponente. Was genau unter sexueller Gewalt verstanden wird, unterliegt – wie Gewalt allgemein – historischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Aushandlungen. „Mindestens bis in die Sattelzeit hinein ist für das Gericht sexualisierte Gewalt nicht als psychisches Trauma eines Subjekts, sondern unter anderem als moralische Gefährdung eines Christenmenschen und seiner Gesellschaft von Bedeutung“ (Loetz 2012: 204). Nicht selten wurden betroffene Frauen und Mädchen gesellschaftlich ausgestoßen. Hier zeigt sich, dass nicht nur das gesellschaftliche Verständnis von Gewalt, sondern auch das von Sexualität Veränderungen unterliegt. Dies manifestiert sich bspw. in jüngeren Gesetzänderungen. So steht seit 1997 Vergewaltigung auch unter Eheleuten unter Strafe (§177). Und seit 2016 hat mit dem Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung die Nichteinverständnislösung Einzug in die deutsche Gesetzgebung gehalten.

Für sexuelle Gewalt gegen Kinder ist die Kategorie der Generation als Teil der machtvollen Beziehung zwischen den Personen zentral. Eine sexuelle Beziehung eines Erwachsenen zu einem Kind ist nach deutschem Recht heute per se sexuelle Gewalt und auch die UN-Kinderrechtskonvention setzt dies als Norm. Gerade diesbezüglich hat sich die Wahrnehmung von sexueller Gewalt stark verändert. In Deutschland wurden noch vor fünfzig Jahren Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren hatten, mit der Diagnose sexueller Verwahrlosung bedacht in Heimen untergebracht, um sie dort zu bessern (Kuhlmann 2008: 13). Unabhängig davon, was zu der gegebenen Zeit als sexuelle Gewalt definiert wird, beschreibt Jens Brachmann sexualisierte Gewalt gegen Heranwachsende als „ein manifestes Muster der Regulierung von Generationenbeziehungen“ (Brachmann 2018: 810). Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wurde genutzt, um den generationalen Machtunterschied aufrecht zu erhalten. Auch internationale Definitionen von sexueller Gewalt gegen Kinder beziehen sich auf die Generationendifferenz und die Generationenschranke als Marker für sexuelle Gewalt. Ein Beispiel ist die Definition der WHO:

Sexual abuse is defined as the involvement of a child in sexual activity that he or she does not fully comprehend, is unable to give informed consent to, or for which the child is not developmentally prepared, or else that violates the laws or social taboos of society. Children can be sexually abused by both adults and other children who are – by virtue of their age or stage of development – in a position of responsibility, trust or power over the victim.

(Butchart 2006: 10)

Grundlegend ist hier die Annahme, dass sich die Sexualitäten von Erwachsenen und Kindern unterscheiden. Es wird angenommen, dass Kinder aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht informiert sexuellen Handlungen mit Erwachsenen zustimmen können. In Deutschland ist jeder sexuelle Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern – Personen unter 14 Jahren, sowie das Bestimmen von Kindern zu sexuellen Handlungen an oder vor Dritten strafbar (§ 176 StGB). Sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren sind dann strafbar, wenn sie unter Ausnutzung einer Zwangslage geschehen, oder von einer fehlenden Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung der Jugendlichen ausgegangen werden kann (§ 182 StGB).

In dieser Forschungsarbeit geht es einzig um sexuelle Gewalt von pädagogischen Fachkräften gegen Schutzbefohlene. In pädagogischen InstitutionenFootnote 16 sind die Machtverhältnisse, welche sexuelle Gewalt ermöglichen, spezifisch. Erwachsene Fachkräfte haben qua Status eine institutionelle Machtposition gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Sie sind Erwachsene, haben eine pädagogische Ausbildung, die ihnen ein sinnvolles, den Kindern zuträgliches Handeln unterstellt. Ihnen wird zugeschrieben, Mann oder Frau zu sein, pädagogische Erfahrung zu haben oder eben nicht. Sie verfügen über vielfältige Mittel der Macht (Wolf 1999). Kinder und Jugendliche sind als Werdende positioniert, als Hilfebedürftige, oft auch als verhaltensauffällig, als Mädchen oder Jungen, als normal entwickelt oder behindert. Dies alles führt zu strukturellen Machtverhältnissen in der Heimerziehung, die zwar pädagogisch konstitutiv sind, in Bezug auf sexuelle Gewalt aber auch als risikovolle Bedingung gesehen werden müssen.Footnote 17

Juristisch wird sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene im §174 StGB als „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ gefasst. Das Strafgesetzbuch stellt alle Kinder und Jugendlichen, die Erwachsenen „zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut“ sind, unter besonderen Schutz, weil davon ausgegangen wird, dass ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht. Strafrechtlich relevant ist jeder sexuelle Kontakt zwischen unter 18-jährigen Schutzbefohlenen und Betreuungspersonen. § 174 bezieht sich auf alle Personen der Erziehung, Ausbildung und Betreuung, also pädagogische Fachkräfte genauso wie auf leibliche, rechtliche und soziale Eltern. In der Heimerziehung wird diese Gleichstellung von pädagogischen Fachkräften mit Eltern besonders relevant. Das Wohnen in der Einrichtung geht damit einher, dass Teile von (Ver-)Sorge- und Erziehungsaufgaben, die juristisch primär bei den Eltern liegen, auf pädagogische Fachkräfte übertragen werden. Mit Dörr (2017b) kann davon ausgegangen werden, dass die Übertragung von elterlichen Sorgeaufgaben normativ das Inzesttabu berührt, welches sexuellen Kontakt zwischen Eltern und Kindern verbietet. Stärker in Bezug auf Vertrauen formulieren Jud et al. (2016: 9) die besonderen Verletzungen, die bei sexueller Gewalt durch Bezugspersonen entstehen:

Bei sexuellem Missbrauch durch Bezugspersonen sind die Betroffenen nicht nur mit einer Handlung konfrontiert, welche persönlichste Erfahrungen verletzt, sondern auch mit einem Bruch eines Vertrauensverhältnisses, was oft massive Ambivalenzkonflikte nach sich zieht.

(Jud et al. 2016: 9)

Sexuelle Gewalt in der Heimerziehung ist somit kein isoliert zu betrachtendes Phänomen, vielmehr müssen hier die Akteur*innen in ihrer Eingebundenheit in die institutionellen und affektiven Strukturen und Ambivalenzen gesehen werden. Sie sind nicht nur Betroffene und (potenzielle) Täter*innen, sondern gestalten Alltag gemeinsam. Sie haben jeweils biografische Erfahrungen und sind voneinander abhängig.

Resümierend wird sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene für diese Arbeit wie folgt definiert:

Sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen ist jede absichtsvolle sexuelle Handlung zwischen einer Person, die mit der Versorgung und/oder Erziehung einer minderjährigen Person beauftragt worden ist, und der ihr anvertrauten minderjährigen Person. Sexuelle Handlungen umfassen alle Formen von verbalen, visuellen und physischen sexuellen Handlungen, die dazu dienen, Bedürfnisse der volljährigen betreuenden Person zu befriedigen.

Mit dieser Definition werden im Gegensatz zum Strafgesetzbuch auch Handlungen ohne Körperkontakt miteingeschlossen. Sie markiert einen Standpunkt in der Debatte und im Hinblick auf die empirische Untersuchung stellt sie ein sensibilisierendes Konzept dar. Gleichzeitig ist die Untersuchung offen für die Definitionen und Deutungen der pädagogischen Fachkräfte.

2.2.3 Zur Prävalenz von sexueller Gewalt gegen Kinder und zu sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene

In diesem Abschnitt werden Studien zur Prävalenz von sexueller Gewalt gegen Kinder und sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen zusammengefasst. Leitend ist dabei die Frage nach dem Ausmaß des Phänomens. Um die Zahlen der betroffenen Kinder und Jugendlichen in Institutionen besser einordnen zu können, werden zunächst Studienergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum vorgestellt, die sich auf die Gesamtgesellschaft beziehen.

Prävalenz von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend in der Gesamtgesellschaft

Bei der Zusammenschau von Studien fällt auf, dass sich die Prävalenzen stark unterscheiden. Ursächlich sind hier verschiedenen Faktoren: unterschiedlichen methodischen Zugriffen, differenten Definitionen von sexueller Gewalt (weit oder fokussiert auf strafrechtlich relevante Taten), Limitierungen von Stichproben (Jud et al. 2016; Andresen et al. 2021). Zudem sind die Ergebnisse aus dem Hellfeld, also den polizeilich erfassten Taten, um ein Vielfaches geringer, da sexuelle Gewalt oft nicht angezeigt wird, gerade wenn sie im nahen Umfeld erlebt wird (Linke 2018: 402).

Studien, die auf die Diskrepanz zwischen Hell- und Dunkelfeld hinwiesen, stammen aus den 1990er Jahren (Bange/Deegener 1996; Wetzels 1997). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es 10 bis 20-mal mehr Fälle sexueller Gewalt gibt, als im Hellfeld erfasst werden (Linke 2018: 402). Bezogen auf das Hellfeld zeigen aktuelle Forschungsergebnisse, dass „die Zahl der polizeilich dokumentierten Opfer von versuchtem oder vollendetem sexuellen Missbrauch in den letzten 18 Jahren sowohl absolut als auch bevölkerungsbezogen rückläufig“ (Forschungsverbund DJI/TU-Dortmund 2021: o.S.) ist.

Häuser et al. (2011) gehen anhand einer retrospektiven Studie mit repräsentativer Bevölkerungsstichprobe (Personen älter als 14 Jahre) davon aus, dass in Deutschland 12,6 Prozent der unter 16-Jährigen sexuellen Missbrauch und 1,9 Prozent der Bevölkerung schwere Formen sexueller Gewalt in der Kindheit erlebt haben.

Aktuelle Zahlen (zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Studie) für Deutschland liefert die PARTNER 5 Studie zur Jugendsexualität (Weller et al. 2021). Hier wurden 861 Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren befragt. Die Forschung wurde vom Land Sachsen-Anhalt gefördert und hat einen Fokus auf die ostdeutschen Bundesländer. Sie ist eine der ersten Befragungen zum Erleben sexueller Gewalt, die sich direkt an Jugendliche richtet. Wichtig zur Einordnung der Ergebnisse ist, dass unterschiedliche Schweregrade von Gewalt differenziert werden. In Bezug auf sexuelle Belästigung, die u. a. auch verbale Übergriffe und Online-Grenzverletzungen mit einbezieht, zeigen die Ergebnisse, dass „[f]ast alle weiblichen und diversgeschlechtlichen und die Hälfte der männlichen Jugendlichen [ ] bereits Formen sexueller Belästigung erlebt [haben]“ (Weller et al. 2021: 5). Bemerkenswert ist, dass für den Ort der Übergriffe überwiegend der öffentliche Raum, die Schule und das Internet genannt werden. Sexuelle Grenzverletzungen in diesem weiten Verständnis betrifft nur acht Prozent der Befragten in den Herkunftsfamilien.

In Bezug auf schwere Formen sexueller Gewalt, versuchte und erlebe Vergewaltigung, zeigen die Ergebnisse der PARTNER 5 Studie deutlich höhere Werte als die Ergebnisse von Häuser et al. (2011). Es berichten 24 Prozent der weiblichen, sieben Prozent der männlichen und 39 Prozent der diversgeschlechlichen befragten Jugendlichen von Vergewaltigungsversuchen. Für selbst erlebte Vergewaltigung geben 14 Prozent der weiblichen, 4 Prozent der männlichen und 21 Prozent der diversgeschlechtlichen Jugendlichen an, eine Vergewaltigung als Betroffene erlebt zu haben.

Im weiteren deutschsprachigen Raum ist die Schweizer OPTIMUS Studie (Averdijk/Mueller-Johnson/Eisner 2012) als Vergleich relevant. Hier wurden Jugendliche in der 9. Klasse zum Erleben von sexueller Gewalt befragt. 22 Prozent der Mädchen und acht Prozent der Jungen gaben an, in der Vergangenheit sexuelle Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Diese Zahlen ähneln denen der PARTNER 5 Studie in Bezug auf schwere Formen sexueller Gewalt.

Für die vorliegende Studie ist noch ein Blick auf den Kontext der Familie als Ort sexueller Gewalt von Bedeutung. Zum einen, weil mindestens seit den 1990er Jahren bekannt ist, dass in Bezug auf schwere Formen sexueller Gewalt die große Mehrheit der Täter*innen aus dem nahem Umfeld der Betroffenen kommt (Bange/Deegener 1996; Wetzels 1997; Linke 2018), zum anderen, weil Familie auch im sozialpädagogischen Diskurs oftmals einen idealisierten Bezugspunkt für pädagogische Konzeptionen darstellt. Dass Familie, bzw. Familialität immer in ihrer Ambivalenz betrachtet werden muss, zeigen sowohl Studien zu Gewalt in Familien (Honig 1992; Bussmann 2007), als auch Studienergebnisse, die Familie als Ort sexueller Gewalt diskutieren. Eine umfassende Übersicht über den Forschungsstand zu sexueller Gewalt in Familien geben Andresen et al. (2021). Stadler/Bieneck/Pfeiffer (2012: 31) kommen zu dem Ergebnis, dass männliche Familienangehörige mit knapp fünzig Prozent am häufigsten als Täter*innen für sexuelle Gewalt mit Körperkontakt genannt werden. Weitere Informationen über die Prävalenz von sexueller Gewalt in Familien liefert die wissenschaftliche Auswertung der telefonischen Anlaufstelle für Kindesmissbrauch. Die Stichprobe, ist zwar nicht repräsentativ, liefert dennoch Tendenzen. So berichteten 64,8 Prozent der weiblichen Betroffenen und 30,3 Prozent der männlichen Betroffenen über sexuelle Gewalt im familiären Kontext. In Bezug auf Institutionen waren es bei den weiblichen Betroffenen 19,2 Prozent und bei den Männern 54,3 Prozent (zitiert nach Andresen et al. 2021: 49). Es lässt sich also eine deutliche Differenz nach Geschlecht feststellen. Was sich nicht aus den Zahlen ableiten lässt sind Aussagen darüber, ob die Gefahr, sexuelle Gewalt zu erleben, für Kinder und Jugendliche in Institutionen höher ist als in Familien. Wohl aber zeigen die Zahlen, dass der familiäre Kontext mit seinen spezifischen Eigenschaften Risiken für sexuelle Gewalt birgt (siehe auch Kessl/Koch/Wittfeld 2015; Wittfeld/Bittner 2019).

Auswirkungen von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend

Sexuelle Gewalt in der Kindheit und Jugend hat oftmals lebenslange Auswirkungen für die Betroffenen. Andreas Witt et al. (2019) summieren die möglichen Folgen in einer unabgeschlossenen Liste: Bindungs- und Beziehungsstörungen, externalisierende und internalisierende Aggressionen, Schulprobleme, Depressionen, Verhaltensstörungen, Drogenmissbrauch, Persönlichkeitsstörungen, geringes Selbstbewusstsein sowie selbstverletzendes Verhalten in der Jugend und im Erwachsenenalter (Witt et al. 2019: 644). Berichte von Betroffenen schildern immer wieder, wie immens die individuellen Folgen sexueller Gewalt sein können (Dehmers 2011; UKASK 2017; UKASK 2019; Wensierski 2006; Esser 2011; Obermayer/Stadler 2011). Neben den individuellen Folgen gibt es auch hohe ökonomische Kosten für die Gesellschaft zu verzeichnen. Susanne Habetha et al. (2012) schätzen die gesellschaftlichen Kosten für die Versorgung von Betroffenen im Jahr auf 11,1 – 29,8 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Bundeshaushalt 2021 wird für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Gesamtetat von 20,8 Milliarden Euro veranschlagt (BMF 2021).

Prävalenz von sexueller Gewalt in gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen

Empirische Forschungen zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe sind im internationalen Kontext ab den 1990er Jahren zu finden (Timmerman/Schreuder 2014; Hobbs/Hobbs/Wynne 1999). Besonders im englischsprachigen Raum wurden institutionelle Konstellationen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufgedeckt. Es folgten politische Kommissionen, die mit der Aufarbeitung betraut wurden, in England (Warner 1992; Utting 1997), Wales (Waterhouse 2000), Irland (Ryan 2009; Murphy 2009; Murphy/Buckley/Joyce 2005) und den USA (John Jay College 2006; The National Review Board for the Protection of Children and Young People 2004).

In Deutschland war ein Wissen über die Häufigkeit von sexueller Gewalt in Institutionen zu Beginn der starken öffentlichen Thematisierung 2010 kaum vorhanden (Bundschuh 2010; Helming et al. 2011b). Dies hat sich binnen zehn Jahren geändert. Die erste deutsche Prävalenzstudie, die sexuelle Gewalt in Institutionen erhob, wurde vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. (KFN) durchgeführt. Stadler et. al. (2012) befragten in einer Repräsentativbefragung (N = 11.428) Personen zwischen 16 und 40 Jahren. Ein Teilergebnis dieser Studie war eine Prävalenzrate von 0,38 Prozent von Personen, die sexuelle Gewalt durch Erwachsene in Institutionen erlebt hatten. Hierbei ist auffällig, dass das Heim als Tatort ähnlich oft genannt wird wie die Schule (Stadler/Bieneck/Pfeiffer 2012: 41). Da jedoch viel weniger Kinder und Jugendliche in Heimen Zeit verbringen als in Schulen, bedeutet dieses Ergebnis im Umkehrschluss, dass die Gefahr, sexuelle Gewalt zu erleben, im Heim wesentlich größer ist als in der Schule. Etwas höhere Zahlen finden sich für das Vereinigte Königreich. Radford et al. fanden in einer größeren Stichprobe der Gesamtbevölkerung Prävalenzraten für sexuelle Gewalt durch Lehrer*innen, Trainer und andere Erwachsene in Institutionen von 0,4 Prozent der unter Elfjährigen, 0,9 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen und 1,3 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, die von Misshandlungen durch eine*n Lehrer*in, Trainer*in oder Erwachsene*n in einer Institution berichteten (Radford et al. 2011: 75).

Witt et al. (2019) haben in einer repräsentativen Stichprobe (N = 2.437) der deutschen erwachsenen Bevölkerung eine quantitative Befragung zu Lebensprävalenz von sexueller Gewalt in Institutionen durchgeführt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass 3,1 % aller Befragten in ihrer Jugend mindestens einmal sexuelle Gewalt in Institutionen erlebt haben. Frauen waren hier, wie in allen weiteren Studien auch, wesentlich häufiger betroffen als Männer. Die ca. achtmal höhere Prävalenz gegenüber der Studie des KFN erklären die Forscher*innen mit einem erweiterten Verständnis von sexueller Gewalt, das auch strafrechtlich nicht relevante Gewalt miteinschloss. Die Autor*innen weisen aber darauf hin, dass Personen mit besonderem Risiko, z. B. Personen, die fest in Institutionen leben, im Sample unterrepräsentiert waren (Witt et al. 2019: 654). Im Umkehrschluss gehen sie davon aus, dass die Häufigkeit von sexueller Gewalt in Institutionen höher ausfiele, würden deren derzeitige Bewohner*innen ihrem Anteil gemäß in der Bevölkerungsstichprobe berücksichtigt. Dies ist ein Problem, das viele randomisierte Studien aufweisen (Stadler/Bieneck/Pfeiffer 2012). Neben der Häufigkeit für sexuelle Gewalt in Institutionen können Witt et al. feststellen, dass Proband*innen aus jüngerer Zeit in der retrospektiven Studie insgesamt weniger häufig von erzwungenem Geschlechtsverkehr berichteten (Witt et al. 2019: 655). Hier deutet sich eine Tendenz an, dass schwere sexuelle Gewalt gegen Kinder insgesamt abgenommen hat. Auch internationale Studien weisen insgesamt auf einen Rückgang sexueller Gewalt hin (Finkelhor et al. 2010). Dennoch zeigt sich auch über den deutschsprachigen Raum hinaus ein hohes Risiko für Kinder und Jugendliche, in Heimen sexuelle Gewalt zu erfahren (Euser et al. 2013; Greger et al. 2015).

Neben den Studien, die sexuelle Gewalt in Institutionen innerhalb einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe untersuchten, gibt es auch einige wenige Studien, die gezielt Erwachsene und Jugendliche aus Heimeinrichtungen befragen. Auf diese soll nun im Folgenden eingegangen werden. Wichtige Informationen zur Prävalenz in Institutionen liefert die Hellfeldstudie unter der Leitung des DJI (Helming et al. 2011b: 10 f). In Bezug auf die Häufigkeit von sexueller Gewalt in der Heimerziehung ist besonders die quantitative Erhebung der Studie interessant. Sie untersucht bekannt gewordene Verdachtsfälle sexueller Gewalt der letzten drei Jahre in drei unterschiedlichen pädagogischen Institutionen: Schule, Internat und Heim. Befragt wurden hauptsächlich erwachsene Leitungskräfte der Institutionen. Die Gefahr, sexuelle Gewalt durch Gleichaltrige (Schule 16 % bzw. 17 %Footnote 18, Internat 28 %, Heim 38 %), sowie sexuelle Gewalt außerhalb der Räume der Institution zu erfahren (Schule 31 %, Internat 34 % und Heim 48 %), war bezogen auf die Institution Heim mit Abstand am größten. Im Vergleich dazu ist die Gefahr, sexuelle Gewalt durch erwachsene Beschäftigte zu erfahren, um ein Vielfaches geringer. Für Schulen betrug der Anteil hier drei Prozent, für Internate vier und für Heime zehn Prozent (Helming et al. 2011a: 99). „Ganz überwiegend handelte es sich bei den Vorwürfen um Berührungen am Körper bzw. Berührungen an den Geschlechtsteilen. Allerdings wurde auch in fast 20 % der Fälle eine erfolgte Penetration vorgeworfen.“ (Helming et al. 2011a: 83). Die Forscher*innen resümieren, dass besonders die hohen Zahlen von sexueller Gewalt durch Beschäftigte besorgniserregend seien. Während sich „überzufällig höhere Belastung von Heimeinrichtungen durch verschiedene Arten von Verdachtsfällen auf sexuelle Übergriffe“ (Helming et al. 2011a: 99) in Bezug auf Übergriffe zwischen Kindern und Jugendlichen mit einer erhöhten Vulnerabilität der untergebrachten Kinder erklären lassen, ist die erhöhte Zahl der Übergriffe durch Erwachsene in den Institutionen erklärungsbedürftig (Helming et al. 2011a: 99).Footnote 19 Auch andere Studien zeigen für sexuelle Gewalt durch Erwachsene innerhalb der Einrichtung ähnliche Zahlen. Sie schwanken zwischen 13 Prozent bei einer niederländischen Studie (Euser et al. 2013) und 5 Prozent bei einer kleineren Befragung von Bewohner*innen von Heimeinrichtungen des DJI (Derr et al. 2017: 14).

Während die zuvor beschriebenen Studien vornehmlich erwachsene Personen adressierten, hat die Studie „Sprich mit! – Erfahrungen von Jugendlichen zu sexueller Gewalt“ (Rau et al. 2019) Jugendliche aus Heimeinrichtungen befragt. Ziel des 2013 gestarteten Projektes war, Auskunft darüber zu geben, „wie häufig und welche Formen sexueller Gewalt in Einrichtungen lebende Jugendliche, speziell in Jugendhilfeeinrichtungen und Internaten in Deutschland, in ihrem bisherigen Leben und während der Zeit einer stationären Unterbringung erfahren haben“ (Rau et al. 2019: 34). In der Fragebogenerhebung gaben 57 Prozent der Jugendlichen (n = 176) an, schon einmal sexuelle Gewalt erfahren zu haben, davon 25 Prozent mit Penetration. Weibliche Befragte berichteten signifikant häufiger von sexuellen Gewalterfahrungen als männliche. Ebenso waren Kinder und Jugendliche aus Heimeinrichtungen signifikant häufiger betroffen als diejenigen aus Internaten. Damit haben Mädchen in Heimeinrichtungen ein besonders hohes Risiko, von sexueller Gewalt betroffen zu sein. Aber auch das statistische Risiko für Jungen ist gegenüber Altersgenossen, die nicht in Institutionen leben, stark erhöht. Im qualitativen Teil der Studie zeigen Rau et al., dass für Jugendliche sexuelle Gewalt durch Peers wenig präsent ist. Dass ungleiche Machtverhältnisse aufgrund von Alter und Geschlecht, wie sie zu den erwachsenen Fachkräften der Einrichtung bestehen, ausgenutzt werden könnten, war den Jugendlichen dahingegen sehr wohl bewusst. Es zeigt sich, dass sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte als Möglichkeit von den Jugendlichen wahrgenommen wird. Zur Häufigkeit dieser Konstellation kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: „Betreuer_innen der Wohneinrichtung werden von jeweils 10,9 % bei sexueller Belästigung bzw. Penetration genannt, während es bei den Übergriffen ohne Penetration 3,2 % sind.“ (Rau et al. 2019: 32). Dieses Ergebnis deckt sich mit den Angaben der großen repräsentativen Befragungen (s. o.). Weiter stellen Rau et al. fest:

Von den 176 (57,0 %) von irgendeiner Form von sexueller Gewalt betroffenen Jugendlichen erlebte knapp ein Drittel (n = 54; 30,7 %) einen Übergriff erstmalig während des Aufenthaltes in der Einrichtung, in welcher sie aktuell untergebracht waren. Das entspricht 20,3 % (n = 16) derjenigen, die Opfer von Penetration wurden, 32,9 % (n = 52) der Opfer ohne Penetration und 28,2 % (n = 24) der Opfer sexueller Belästigung.

(Rau et al. 2019: 32)

Das Erschreckende an diesen Werten ist, dass gerade die Institutionen, die Kinder und Jugendliche schützen und ihr Wohl sicherstellen sollen, die Orte sind, an denen ein Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen erstmalig sexuelle Gewalt erfahren. Hinzu kommen noch die Kinder und Jugendlichen, die in Heimeinrichtungen zum wiederholten Mal sexuelle Gewalt erleiden. Angesichts des Wissens um eine sehr hohe Quote an Reviktimisierung dürfte die Anzahl derjenigen, die sexuelle Gewalt im Heim selbst erleben, also noch höher sein.

Die Zahlen zur Häufigkeit sexueller Gewalt in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe bestätigen sich auch in einer weiteren Untersuchung des DJI (Derr et al. 2017). Von den in dieser Studie befragten Jugendlichen, „erlebten 29 % (N = 76) […] nach ihren Angaben mindestens eine Form sexueller Gewalt seit sie in ihrer Wohngruppe leben. 61 % der betroffenen Jugendlichen waren Mädchen“ (Derr et al. 2017: 13). Als Angaben zum Ort der Gewalthandlung wurden zu 16 % die Einrichtung selbst und zu 17 % die Wohngruppe genannt. Auch diese Studie zeigt, dass die meisten Täter*innen in etwa gleichaltrige Jugendliche sind. In 5 % der Fälle handelte es sich um Erwachsene aus der Einrichtung (Derr et al. 2017: 14). Damit lag hier der Anteil um die Hälfte niedriger als in den zuvor dargestellten Studien.

Kindler et al. (2018) weisen in ihrer Studie „Prävention von Reviktimisierung bei sexuell missbrauchten weiblichen Jugendlichen in Fremdunterbringung“ (PRÄVIK) auf eine sehr starke Belastung von Mädchen in stationärer Unterbringung hin, die zuvor sexuelle Gewalt erlebt hatten. Damit unterscheidet sich die Zielgruppe der Studie noch einmal wesentlich von den bislang dargestellten. Die Mädchen hatten alle zuvor Gewalt erlebt und Ziel der Erhebung war es, Aussagen zu Reviktimisierungen zu treffen. Von den Ergebnissen der Längsschnittstudie (N = 42) über ein Jahr ist besonders hervorzuheben, dass es eine sehr hohe Korrelation mit anderen Formen von Gewalt gab:

Bezogen auf ihr bisheriges Leben schilderten zum ersten Befragungszeitpunkt alle sexuellen Missbrauch, 60 % körperliche Misshandlung, 84 % psychische Misshandlung, 72 % miterlebte Partnerschaftsgewalt und 92 % Vernachlässigung. 48 % der Mädchen berichteten, allen fünf Gewaltformen ausgesetzt gewesen zu sein, 44 % vier Gewaltformen.

(Kindler et al. 2018: 128)

Zu den anfänglich sehr hohen Belastungsraten kommt eine enorm große Rate an Reviktimisierung über die zwölf Monate zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten hinzu. 75 Prozent der jugendlichen Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren erlebten im Follow-Up-Zeitraum sexuelle Gewalt, „davon jeweils die Hälfte mit und ohne Penetration. 25 % der Teilnehmerinnen gaben keine sexuelle Reviktimisierung an“ (Kindler et al. 2018: 129). Kindler et al. arbeiteten heraus, dass ein fehlendes „subjektives Konzept sexueller Integrität“ für eine Reviktimisierung ein entscheidender Faktor ist.

Das subjektive Konzept sexueller Integrität umfasst die (Nicht-)Existenz einer Vorstellung von einem abgegrenzten, intimen sexuellen Bereich sowie Annahmen zur Qualität der Abgrenzungen, also zu ihrer Art (z. B. porös-prekär oder selbstverständlich, flexibel oder starr) und zu grenzbezogenem sexuellem Handeln (z. B. Vermeidung sexueller Kontakte, Promiskuität, Aushandlung).

(Kindler et al. 2018: 129)

Mädchen und junge Frauen mit fehlendem oder ineffektivem subjektivem Konzept sexueller Integrität gaben zu 57 % an, im Follow-up Zeitraum von zwölf Monaten erneut schwere sexuelle Gewalt mit Penetration erlebt zu haben (Kindler et al. 2018: 131). Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass der starke Bezug auf ein subjektives Selbstkonzept den Grund für eine Reviktimisierung bei den betroffenen Mädchen sieht. Institutionelle Bedingungen des Schutzes oder Risikos für bzw. gegen das erneute Erleben sexueller Gewalt, sowie die Verantwortung der Institution werden von Kindler et al. an dieser Stelle nicht diskutiert.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sexuelle Gewalt in Institutionen gesamtgesellschaftlich, je nach angelegtem Gewaltverständnis, zwischen 0,38 % und 3,1 % der Bevölkerung, oder jeden 260sten bis jeden 32sten Menschen betrifft. Betrachtet man nun Heimeinrichtungen selbst und das Risiko, in ihnen sexuelle Gewalt zu erleben, so steigt dieses Risiko mit dem Eintritt in die Institution enorm an. Derr et al. sprechen hier von 29 %, also annähernd jeder und jedem Dritten. Vergleicht man dies mit den oben ausgeführten Zahlen zur Gesamtbevölkerung, so tragen in Einrichtungen lebende Kinder und Jugendliche ein um ein Vielfaches erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden.

Sowohl in Institutionen als auch in der Familie lebende Mädchen erfahren statistisch gesehen wahrscheinlicher sexuelle Gewalt als Jungen. Den hier dargestellten Studien folgend macht sexuelle Gewalt durch Erwachsene in den Institutionen einen Anteil von 10 % aus. Dabei gibt jede zehnte Institution an, in den letzten Jahren einen Verdachtsfall gehabt zu haben. Bemerkenswert sind weiter noch die überaus hohen Reviktimisierungsraten von 75 % derjenigen Mädchen in Heimeinrichtungen, die zuvor in ihrem Leben (ob in einer Institution oder anderswo) sexuelle Gewalt erlebt haben. Auf dieser Datengrundlage muss konstatiert werden, dass sexuelle Gewalt in Institutionen ein breites gesellschaftliches Problem ist und Heimeinrichtungen nicht per Definition als Schutzraum betrachtet werden sollten.

2.3 Heimerziehung – Definition, Entwicklungen und Trends unter besonderer Berücksichtigung von sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene

Das nun folgende Unterkapitel hat die Funktion, diese besondere Form der pädagogischen Institution näher zu beschreiben und einzuordnen. Zunächst wird eine theoretische, juristische und empirische Verortung vorgenommen, welche den Auftrag und die sozialpolitische Situierung der Heimerziehung nach §34 des SGBVIII klärt (2.3.1). Im Anschluss daran ist es zwingend notwendig, die Heimerziehung in historischer Perspektive zu betrachten, um zu verstehen, dass sie keinesfalls genuin am Wohl des Kindes interessiert war, sondern historisch vor allem dem Schutz der gesellschaftlichen Ordnung vor verwahrlosten Kindern und Jugendlichen diente (2.3.2). Im Weiteren werden aktuelle Entwicklungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe beschrieben (2.3.3). Abschließend soll auf das Idealbild der Familie als leitendes pädagogisches Prinzip eingegangen werden, das in der Heimerziehung zunächst randständig, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend als Ideal der Heimerziehung mindestens für jüngere Heranwachsende gehandhabt wird (2.3.4). Das pädagogische Prinzip genauer zu betrachten, liegt in den empirischen Ergebnissen begründet. Die Orientierung am Ideal der Familie stellt diejenigen Teams, die konzeptionell so arbeiten, vor dem Hintergrund des Themas sexueller Gewalt, vor weitreichende Probleme (vgl. 2.4.3 und 8.3.1).

2.3.1 Juristische, theoretische und empirische Verortung der Heimerziehung

Die Heimerziehung ist Teil der Kinder- und Jugendhilfe, die seit 1990Footnote 20 im SGBVIII geregelt istFootnote 21. Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe ist der §1, welcher für jeden jungen Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (Abs. 1) festlegt. Damit wird das individuelle Wohl des Kindes juristisch vorangestellt und die Person gleichzeitig als Teil der Gesellschaft verortet. Zunächst ist es „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (§1 Abs. 2), diese Förderung und Entwicklung zu gewährleisten. Der Staat hat die Aufgabe, über die Erfüllung zu wachen und durch die Jugendhilfe dazu beizutragen, „Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ (§1 Abs. 3), Eltern zu beraten, sowie Kinder und Jugendliche „vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen“ (ebd.). In dieser Aufgabenzuschreibung erhält die Jugendhilfe ein doppeltes Mandat (Böhnisch/Lösch 1973). Sie soll sowohl ungleiche Lebensbedingungen kompensieren, als auch über das Kindeswohl wachen und dieses kontrollieren.

Sollte es dazu kommen, dass „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet [ist]“ (§27 Abs. 1), so haben die Personensorgeberechtigten einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (HzE). Die Maßnahmen der Hilfe werden im Zuge eines Hilfeplanverfahren festgelegt und sollen an die individuelle Lage angepasst werden. Vorrangig sollen die Eltern, bzw. die Personensorgeberechtigten in ihrer Erziehungsfähigkeit unterstützt werden. Daraus ergibt sich die Maxime: ambulant vor stationär. Die Unterbringung „in einer Einrichtung über Tag und Nacht“, wie in §34 SGBVIII die Heimerziehung definiert wird, ist nur vorgesehen, wenn das Kindeswohl nicht anders sichergestellt werden kann. Die Hilfe ist so zu gestalten, dass sie „Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung förder[t]“ (§34 SGBVIII). Sie kann entweder die Rückführung in die Herkunftsfamilie oder in eine Pflegefamilie zum Ziel haben. Sie kann aber auch auf Dauer gestellt sein und „auf ein selbstständiges Leben vorbereiten“ (§34 SGBVIII). Deutlich wird an diesen Zielsetzungen, dass juristisch Familie als Ort des Aufwachsens als Normalzustand, als Ideal mitgeführt wird (Kessl/Koch/Wittfeld 2015). Dies ist prägend für viele Heimeinrichtungen, die sich pädagogisch am Ideal der Familie abarbeiten (siehe 2.4.3).

Träger, die eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe betreiben, müssen nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eine Betriebserlaubnis haben. Die Heimeinrichtungen sind qua Gesetz Orte, die als primäres Ziel haben, das Kindeswohl sicher zu stellen. Dies wird wiederum von der Heimaufsicht kontrolliert. Trotz gesetzlich intendierter Nachrangigkeit ist die Inanspruchnahme der Hilfen nach §34 seit 1990 stetig gestiegen: von 1991 bis 2009 insgesamt um acht Prozent (Fendrich/Wilk 2011: 18). Für das Jahr 2009, also kurz vor der Erhebung dieser Studie, hat die Kinder- und Jugendhilfe Statistik „91.395 Maßnahmen der Heimerziehung gem. §34 SGB VIII ausgewiesen.“ (Fendrich/Wilk 2011: 18). Das sind ca. 56 Kinder pro 10.000 der unter 21-Jährigen in der Bundesrepublik (Fendrich/Wilk 2011: 18). Nach 2009 sind die Zahlen weiter gestiegen (Fendrich/Pothmann/Tabel 2020). Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) im Forschungsverbund DJI/TU-Dortmund erklärt den Anstieg der Inanspruchnahme mindestens in Teilen mit der seit „Mitte der 2000er-Jahre an Intensität zunehmende[n] Diskussion um den Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung“ (Fendrich/Wilk 2011: 18). Hier wird ein direkter Zusammenhang zwischen der Einleitung der Hilfen durch die Jugendämter und der öffentlichen Debatte um Kinderschutz gesehen. Die Antwort auf eine öffentlich thematisierte Gefährdung von Kindern wird mit mehr staatlicher Intervention in den Familien beantwortet. Der Subtext ist hier, dass eine Heimunterbringung dem Kindeswohl zuträglicher ist als ein Verbleib in der Familie. Dabei wird die Heimerziehung eher für ältere Kinder genutzt. 66 Prozent sind über 14 Jahre und lediglich fünf Prozent unter sechs Jahre alt. Die Verweildauer in den Wohngruppen wird gemittelt immer kürzer und der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund steigt über die Zeit gesehen an (BMBFSJ 2013: 348).

Auch als Arbeitsfeld hat sich die Heimerziehung ausgeweitet. „Ende 2010 wurden […] knapp 50 000 Beschäftigte […] gezählt, das sind über 66 Prozent aller in den Erziehungshilfen (einschließlich Erziehungsberatung) erfassten personellen Ressourcen.“ (ebd. 349). Die Heimerziehung ist gerade aufgrund des hohen Personaleinsatzes die kostenintensivste HzE. „Im Jahr 2010 wurden allein für die Minderjährigenhilfen in Heimen 2,99 Mrd. Euro aufgewendet.“ (ebd.).

Als Gegenbewegung zu den steigenden Kosten lässt sich eine zunehmende Ökonomisierung der HzE und eine erstarkende Orientierung an Wirkung feststellen (Polutta 2014). Dies hat dazu geführt, dass marktförmige Prinzipien mit privatgewerblichen Anbietern auch in der Heimerziehung Einzug gehalten haben. Dennoch steigen die Kosten der HzE insgesamt und auch der Hilfen nach § 34 weiter. Von den finanziellen Kosten abgesehen wird der Heimerziehung jedoch eine relativ gute Wirkung zugeschrieben, in dem Sinn, dass im Vergleich gesehen relativ viele Ziele der Hilfen erreicht werden (Moch 2018).

Die Mehrheit der Hilfen erfolgt auf freiwilliger Basis. 2018 betrug der Anteil der Personen, die infolge einer Kindeswohlgefährdung (§8a SGBVIII) in der Heimerziehung untergebracht waren 13 Prozent (Fendrich/Tabel 2019). Die Inobhutnahmen sind dabei zwischen 2005 und 2016 um 58 Prozent angestiegenFootnote 22(Mühlmann 2018: o.S.).

Viele Kinder und Jugendliche haben vor der Heimunterbingung schwere seelische und physische Schädigungen erlebt. Trede und Winkler gehen davon aus, dass drei Viertel der Kinder und Jugendlichen als klinisch auffällig gelten und extrem belastet sind (Trede/Winkler 2012: 322). Viele Kinder werden gesellschaftlich als arm klassifiziert, relativ betrachtet kommen mehr Kinder aus Ein-Eltern-Familien.

2.3.2 Entwicklung der Heimerziehung

Die Unterbringung von elternlosen Kindern ist die älteste Form der Kinder- und Jugendhilfe. Sie hat ihre Wurzeln im Mittelalter, wo mit den kirchlichen Findel- und Waisenhäusern erstmals eigene Einrichtungen für Kinder entstanden. „Die Aufnahme der Kinder galt als Akt christlicher Nächstenliebe, eine gottgefällige Tat, welche auch den Gebenden zur Ehre gereichte“ (Kappeler/Hering 2017: 4). Gleichzeitig waren die Bedingungen in den Einrichtungen oftmals so schlecht, dass es eine äußerst hohe Sterblichkeit der Kinder gab. Der Ursprung von Erziehungseinrichtungen für Kinder liegt also in einer Verantwortungsübernahme für die Kinder begründet, die ohne Erwachsene schutzlos gewesen wären. Dabei wurde die Position der materiell armen und schutzlosen Kinder als gottgegeben gesehen. Es traf sie also keine Schuld an ihrer Lage und sie hatten ein gesellschaftliches Recht auf Almosen (Kappeler/Hering 2017: 4).

Mit dem Beginn der Neuzeit, und damit auch mit der Reformation und einem zunehmend pietistischen Weltbild in dem Gebiet, das heute Deutschland ist, wurde Armut und soziale Randständigkeit zunehmend mit Gottesstrafe und „selbstverschuldetem Verhalten“ gleichgesetzt. Arbeit wurde als gottgefällig angesehen und es wurde von den sündigen Kindern der Armen erwartet, dass sie „in städtischen Armenhäusern durch Arbeit ‚ihr Brot verdien[t]en‘“ (Kappeler/Hering 2017: 4). Mit der Reformation und dem Einfluss der protestantischen Ethik wurde Arbeit zunehmend wichtiger. Kappeler und Hering beschreiben hier für das Ende des 16. Jahrhunderts eine Verquickung eines Appells zur Arbeit mit dem Anspruch aus einer „pietistischen Frömmigkeit“ heraus, den Kindern auch eine Grundbildung zukommen zu lassen (Kappeler/Hering 2017: 5). Dieser Bildungsgedanke war allerdings weniger von schulischer Bildung als von Disziplin bestimmt:

In den kirchlichen und staatlichen Erziehungshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Verbindung von Erziehung und Strafe, von Unterdrückung und „Besserung“ zu dem dominanten pädagogischen Prinzip gemacht, das fortan die Erziehungspraxis in den Anstalten und Heimen bis in die 70er/80er Jahre des 20. Jahrhunderts weitgehend bestimmen sollte.

(Kappeler/Hering 2017: 4–5)

Der Blick auf die Kinder war nun ein abschätziger, der sie als sündige und minderwertige Menschen positionierte. Um die Gesellschaft nicht zu gefährden, war es notwendig, ihnen mit Härte zu begegnen.

Im Zuge der Industrialisierung wurden die Arbeits- und Waisenhäuser als „Lieferanten billiger Arbeitskräfte“ (Kappeler/Hering 2017: 6) entdeckt. Die dort untergebrachten Kinder mussten zu sehr schlechten Bedingungen hart und lange arbeiten, die Sterblichkeit war hoch. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt es dann, im sogenannten Waisenhausstreit, erstmalig zu einer gesellschaftlichen, öffentlichen Kritik. Die hohe Sterblichkeit und die schweren Arbeitsbedingungen wurden angeprangert, einige Einrichtungen geschlossen und einige neue Einrichtungen eröffnet. Für viele, vor allem arme Kinder, gab es jedoch keine wesentlichen Verbesserungen (Lorenz 2020: 36 ff).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden erste pädagogische Ideen in Bezug auf die Heimunterbringung von Kindern festgehalten. Wohl am bekanntesten sind hier Pestalozzi mit seiner Erziehung der Armen zur Armut und der an Familie orientierten „Wohnstubenpädagogik“ (Pestalozzi 1799/1932), und Wichern mit seiner Rettungshausbewegung (Wichern 1949), der durch Sozialerziehung der Armen deren reformerischem Potential begegnen wollte. Ganz ähnlich wie Wichern zielte die Pädagogik von Don Bosco (Braido 1999) in Italien darauf, die armen Jugendlichen von der Straße zu retten. Neu an diesen pädagogischen Perspektiven war, dass sie eine potenzielle Erziehbarkeit der Kinder und Jugendlichen sahen und diesen zumindest auch mit Formen der Wärme und Zuwendung begegneten. Ähnlich wie die Philanthropen des Waisenhausstreits hatten die frühen Pädagogen nur Einfluss auf einige wenige pädagogische Projekte. Dennoch wurden einige ihrer Ideen zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Reformpädagogen aufgegriffen und sind bis heute im pädagogischen Diskurs immer noch wegweisend. In der Praxis der Heimerziehung blieb die hier entstehende Pädagogik, die das Kind ins Zentrum stellte und es mit eigenen Bedürfnissen wahrnahm, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts auf wenige Einrichtungen beschränkt.

Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs wurden erste staatliche Gesetze für die Unterbringung von Kindern in Heimen erlassen. 1878 wurde die „Zwangserziehung“ eingeführt, „die regelte, dass kriminell gewordene Kinder und Jugendliche statt ins Gefängnis in eine „Erziehungsanstalt“ eingewiesen werden konnten,“ (Kuhlmann 2008: 10). Im Jahr 1900 wurde dann das Fürsorgeerziehungsgesetz erlassen und die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Anstalten staatlich geregelt. Die Mehrheit der Träger der Einrichtungen war weiterhin christlich und Teil der sich entwickelnden Wohlfahrtsverbände der Kirchen. 1906 gründete sich der Allgemeine Fürsorge-Erziehungs-Tag (AFET) als Fachorganisation für den Bereich der Anstaltserziehung. In der fachlichen Ausrichtung dominierten hier „die eugenisch orientierten Psychiater mit ihrer Auffassung über die ‚Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen‘ als ‚anlagebedingte psychische Störung‘ […], die dem ‚schlechten Erbgut‘ ihrer Eltern geschuldet sei“ (Kappeler/Hering 2017: 8). Hier zeigt sich eine weitere eine Neuorientierung im Hinblick auf die Kinder: Es zeigt sich das rassistische Gedankengut, das später unter dem nationalsozialistischen Regime und seinen strukturellen Gewaltverhältnissen dominant wurde. Sogenannte verwahrloste Kinder und Jugendliche wurden pathologisiert und als minderwertige Menschen aussortiert, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es aber auch einige öffentliche Skandalisierungen von gewaltvolle Zustände in Heimen, in deren Zuge erste Studien zu Hospitalismus bei Kleinkindern entstanden. Im Geiste der Jugendbewegung kam es zu einigen Gründungen reformpädagogischer Projekte wie der Odenwaldschule (1910), die sich als Gegenorte gewaltvoller Strukturen verstanden.

In der Weimarer Republik wurde 1922 das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) erlassen, in dem erstmals das Recht auf Erziehung festgehalten wurde (§1). Mit diesem Anspruch, der Einführung des Jugendamtes und des Landesjugendamtes sowie des Subsidiaritätsprinzips, kann das Gesetz für die Zeit als reformorientiert beschrieben werden. Öffentliche Mittel wurden eingesetzt, um Gewalthandlungen in der Heimerziehung entgegenzuwirken (Kappeler/Hering 2017; Kuhlmann 2008). Es etablierte jedoch auch eine Zwei-Klassen-Heimerziehung: Auf der einen Seite gab es die Minderjährigenfürsorge als „kommunale Aufgabe der Betreuung von Waisenkindern und der Vormundschaft über verwaiste und uneheliche Kinder“ (Kuhlmann 2008: 11). Auf der anderen Seite war die auf Landesebene organisierte Fürsorgeerziehung mit der „Aufgabe der „Verwahrung“ und Disziplinierung von „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen“ (Kuhlmann 2008: 11).

In diesen 90 Jahren, in denen die Fürsorgeerziehung in Deutschland existierte, zählten zu den Hauptursachen der Unterbringung auf diesem Weg neben kriminellen Handlungen von Jugendlichen auch „Herumtreiben“ und Schul- oder Arbeitsverweigerung, bei den Mädchen vor allem die sogenannte sexuelle Verwahrlosung. Ob ein Mädchen eine Nacht außerhalb der elterlichen Wohnung verbrachte, ob sie sexuell missbraucht worden war oder „häufig wechselnden Geschlechtsverkehr“ hatte – dies alles wurde durch die Kategorie „sexuell verwahrlost“ ausgedrückt. Verwahrlosung wurde aber auch häufig dann unterstellt, wenn Kinder unehelich geboren waren. Automatisch war in diesen Fällen das Jugendamt der Vormund dieser Kinder und achtete besondern [sic] auf ein möglicherweise auffälliges Verhalten dieser Kinder.

(Kuhlmann 2008: 13)

Die Zweiteilung der Heimerziehung setze sich im Nationalsozialismus fort. Nachdem sich die Institutionen der Jugendhilfe schnell an den nationalsozialistischen Apparat angepasst hatten, erfüllten sie den Auftrag, die untergebrachten Kinder nach eugenischen Prinzipien zu sortieren. Die sogenannten erbgesunden, rassisch reinen, erziehbaren Kinder und Jugendlichen wurden in NS-Jugendheimstätten untergebracht. Im Projekt Lebensborn wurden sogar eigene Heime eingerichtet, in denen vornehmlich Kinder geboren und untergebracht wurden, die neues Menschenmaterial für den propagierten arischen Volkskörper liefern sollten. Kinder und Jugendliche, deren Leben als unwert definiert worden war, wurden in Euthanasieprogrammen ermordet, zwangssterilisiert, medizinischen Versuchen ausgesetzt oder kamen in euphemistisch bezeichnete Jugendschutzlager: „getarnte[] Jugend-Konzentrationslager, die für Jungen 1940 in Moringen und für Mädchen 1942 in Verbindung mit dem Frauen-KZ Ravensbrück errichtet wurden“ (Kappeler/Hering 2017, 14).

Nach 1945 wurde die „die unheilvollen Traditionen in der Heimerziehung“ (Kappeler/Hering 2017: 16, vgl. auch Caspari et al. 2021) weitestgehend bruchlos fortgesetzt. Das Personal und auch die Räumlichkeiten wurden nur selten ausgetauscht und auch die Perspektive auf die Kinder und Jugendlichen änderte sich nur langsam. In den 50er und 60er Jahren waren die allermeisten Kinder und Jugendlichen sowohl in der BRD, als auch in der DDR weiterhin sehr repressiven und demütigenden Methoden der Heimerziehung ausgesetzt (AGJ 2010). In der DDR wurde die Heimerziehung staatlich organisiert. Als neues Motiv der Unterbringung kam hier das staatliche Eingreifen dazu, wenn die Familienerziehung nicht systemkonform war. Kinder und Jugendliche wurden auch hier in großen, rigiden Einrichtungen untergebracht. Es gab mehrere Abstufungen der Disziplinierung; der geschlossenen Jugendwerkhof Torgau stellte die härteste Stufe des Systems dar. Im Grundcharakter blieb die Heimerziehung in der DDR bis zum Ende ihres Bestehens 1990 gleich (Kappeler/Hering 2017). In der BRD wurde Unterbringung und Erziehung auch weiterhin hauptsächlich von den Wohlfahrtsverbänden der Kirchen organisiert. Die Arbeitsbedingungen für die Angestellten waren oft überfordernd. Eine mangelhafte bis gar keine Ausbildung der Betreuenden und große Gruppen verstärkten den Druck, der an die Kinder und Jugendlichen weitergeben wurde.

In der BRD wurde die Heimerziehung in den späten 1960er und 1970er Jahren einer massiven öffentlichen Kritik unterzogen.

Die wesentlichen Kritikpunkte der so genannten 'Heimkampagne' waren die ungleichen Bildungschancen, fehlende Berufsausbildungen für Jungen und insbesondere für Mädchen, mangelnde Informationsfreiheit, Nichtbeachtung von Grundrechten, autoritärer Erziehungsstil, veraltete sexualpädagogische Konzepte, unzureichend ausgebildetes und bezahltes Personal.

(Müller 2009: 75)

Die Studentenbewegung schaffte es durch spektakuläre Aktionen der Befreiung, wie bspw. der Staffelberg-Kampagne, die Missstände in den Heimen öffentlich präsent zu machen (Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010). In der Folge änderte sich die Kinder- und Jugendhilfe in den 1980er Jahren in der BRD grundlegend. War die Heimerziehung traditionell das übliche und zuweilen auch einzige Mittel des Staates, um in die Erziehung der Herkunftsfamilie einzugreifen. Gab es seit den Reformen der Jugendhilfe ab den 1970er Jahren in der BRD zunehmend ambulante und beratende Angebote für Familien. Ebenfalls seit den 1970er Jahren lässt sich eine Pluralisierung von Formen der stationären Unterbringung feststellen, so dass heute gar nicht mehr von Heimerziehung als einheitlicher Maßnahme gesprochen werden kann. Im Zuge der Dezentralisierung entstanden vielfach sogenannte Außenwohngruppen mit einer stärkeren Anbindung an den sozialen Nahraum. Konzeptionelles Ziel war und ist die im Heim lebenden Kinder und Jugendlichen möglichst gut in die Gesellschaft zu integrieren. Heute gelten als „häufigste Form […] Wohngruppen mit 6 bis 10 Kindern und/oder Jugendlichen, die von professionellen Fachkräften im Schichtdienst betreut werden“ (Moch 2018: 633). Trede und Winkler sprechen über diese Fremdunterbringung nach § 34 auch als „Wohngruppenerziehung“ (2012: 335). Diese vorliegende Forschungsarbeit befasst sich mit eben solchen Wohngruppen.

Mindestens seit dem achten Jugendbericht der Bundesregierung ist hier auch die Lebensweltorientierung eine wichtige pädagogische Maxime geworden (BMJFFG 1990; Moch 2018; Trede/Winkler 2012). Am Anspruch der Integration wird deutlich, dass sich der Blick auf die Kinder und Jugendlichen geändert hat. Sie sollen zurück in die Gesellschaft begleitet werden. Die Idee, dass die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden müsse, scheint überholt. Dennoch zeigen Berichte ehemaliger Bewohner*innen, dass die Bezeichnung Heimkind früher und auch heute noch stark stigmatisiert und Bewohner*innen oftmals verheimlichen, wo sie leben bzw. gelebt haben (Bruns 2019).

Im Hinblick auf sozialpädagogische Orientierungen in der Heimerziehung lässt sich feststellen, dass in den letzten zwanzig Jahren eine Vielzahl an spezialisierten, oftmals verhaltenstherapeutischen Wohngruppen eingerichtet wurde. Diese oft auf standardisierten Methoden und Token-Systemen basierende Pädagogik formuliert häufig einen therapeutischen Anspruch. Teil dieses Konzeptes ist ein hoher Grad an Geschlossenheit der Wohngruppe. Es ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die Anzahl der Plätze von geschlossener Unterbringung (GU) von Kindern und Jugendlichen über die letzten zwanzig Jahre zugenommen hat (Lindenberg 2018). In engem Zusammenhang mit behavioristischen Konzepten und geschlossenen Unterbringungen stehen zahlreiche Gewaltkonstellationen in Einrichtungen der Heimerziehung, denen gemein ist, dass sie alle mit verhaltensmodifizierenden Konzepten gearbeitet haben (Lorenz 2020; Kessl et al. 2015a). Diese öffentlich gewordenen Fälle zeigen, dass auch gegenwärtig Kinder und Jugendliche noch massive körperliche und psychische Gewalt in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe erfahren und diese auch mit den bisherigen Reformen nicht vollständig beendet werden konnte.

2.3.3 Die bürgerliche Kleinfamilie als pädagogisches Ideal

Seit dem 18. Jahrhundert wurde konzeptionell immer wieder eine Orientierung der pädagogischen Institution und des pädagogischen Handelns an der bürgerlichen Vorstellung von Familie propagiert. Dabei war diese Orientierung zunächst nicht für die Breite der Anstaltserziehung relevant, gewann aber zunehmend an Bedeutung und ist eine konzeptionelle Variante, die sich bis heute durchgesetzt hat.

In der theoretischen Auseinandersetzung, aber vor allem in der empirischen Arbeit hat sich gezeigt, dass diese konzeptionelle Orientierung an Familie im Kontext von sexueller Gewalt in Institutionen besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie ist, dass eine konzeptionelle Orientierung an Nähe, wie sie für familienanalog arbeitende Wohngruppen gegeben ist, im Kontext von sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen die pädagogischen Fachkräfte vor ungleich größere Handlungsunsicherheiten stellt, als es distanzierte Konzepte tun. Um eine Grundlage für die Darstellung der Rekonstruktionen zu schaffen, wird an dieser Stelle das Konzept der pädagogischen Orientierung am Ideal der bürgerlichen Familie näher ausgeführt.

Historische Einordnung des Familienprinzips

Historisch entstand eine konzeptionelle Orientierung an der bürgerlichen Kleinfamilie als Antwort auf defizitäre Zuschreibungen an Arbeiterfamilien. Sowohl Pestalozzi (1799/1932) mit der Wohnstubenpädagogik, als auch Wichern (1949) mit dem Rauhen Haus, als auch die Reformpädagogen am Beginn des 20. Jhd. hatten zum Ziel, Heranwachsenden fehlende moralische Prinzipien und Sittlichkeit, sowie familiale Nähe beizubringen. Dabei wurde die bürgerliche Kleinfamilie idealisiert und als pädagogisches Konzept adaptiert (Moch 2018, Kappeler 2018). Pestalozzis und Wicherns pädagogische Ansätze wurden in ihrer Zeit nicht in die breite Praxis gebracht, sie galten aber auch damals schon als wegweisende Ansätze für die Entwicklung der Pädagogik.

Dabei berücksichtigten sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Familien nur sehr unzureichend (Kappeler 2018). Ein Beispiel für reformpädagogische Projekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das 1910 vom Ehepaar Geheeb gegründete Landschulheim „Odenwaldschule“, in der die Kinder und Jugendlichen in „Familien“ mit einer Lehrkraft als Elternersatz wohnten (Keupp et al. 2019). Weitere Beispiele sind das 1919 von Siegfried Bernfeld gegründete Kinderheim Baumgarten, Karl Wilkers Anstalt Lindenhof in Berlin (1917) und Janusz Korczaks Kinderheim Dom Sierot (1912). Theoretisch begleitet wurden diese Projekte von der sich neu formierenden sozialpädagogischen Bewegung, „die weit mehr die öffentliche Diskussion [beeinflusste], als die Praxis der Kinderheime und Erziehungsanstalten, die erst um 1980 einen wirklichen Bruch mit der Tradition der alten ‚Zwangserziehung‘ vollzog“ (Kuhlmann 2008: 15).

In der Weimarer Republik kamen mit den Familienfürsorger*innen erste ambulante Hilfen auf. Sie sorgten mit ihren Interventionen entweder dafür, dass sich die Familienpraxis eher dem Ideal der bürgerlichen Familie annäherte, oder aber Kinder und Jugendliche aus den Familien herausgenommen wurden, um sie in Heimen unterzubringen. Kappeler weist darauf hin, dass es bereits in den 1920er Jahren Kritik an der Orientierung am Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie gab, welches die Lebensrealität von Arbeiterfamilien verkennt (Kappeler im Anschluss an Otto Rühle 1922).Footnote 23

Da das Aufwachsen in der Familie nach wie vor juristisch den Normalzustand darstellt (§6 BGB), ist eine staatliche Herausnahme von Kindern und Jugendlichen immer ein Zeichen von Scheitern und Kritik an der Herkunftsfamilie. Der Staat übernimmt die Fürsorge in diesem Fall subsidiär. Inwieweit der pädagogische Ersatzort einer idealen (bürgerlichen) Familie nacheifert, unterscheidet sich je nach pädagogischem Konzept. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren kaum Einrichtungen existent, die sich an einem Ideal der bürgerlichen Familie orientierten. Die öffentliche Erziehung erfolgte im Kontrast zur Familie in großen, geschlossenen Anstalten. Es wurden lediglich einzelne Funktionen übernommen, deren Erfüllung sonst der Familie oblagen: Obdach bieten, erziehen, Schulpflicht gewährleisten. Was in den Anstalten nicht vorgesehen war, ist eine für das Aufwachsen konstitutive Intimität, eine tief vertraute persönliche Beziehung. Kritisch diskutiert wurde die fehlende Intimität ab den 1930er Jahren durch Studien zum Hospitalismus bei Säuglingen (Spitz 2005).

Ein Unterschied zwischen öffentlicher Anstaltserziehung und familialisierten Einrichtungen zeigt sich in der NS-Zeit. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland kam es zu einer Glorifizierung der Familie, wobei auch hier nur bestimmte Familien mit bestimmten Werten gesellschaftlich gewollt waren. Für die in den NS-Jugendheimstätten untergebrachten, als für den Volkskörper wertvoll angesehenen Jugendlichen (vgl. 2.3.2), wurde ein Familienprinzip eingeführt. Eine Investition in die Beziehung und emotionale Fürsorge stand so nur den dem ideologischen Ideal entsprechenden Kindern und Jugendlichen zu.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde Familie als leitendes Konzept im deutschsprachigen Raum von zwei Protagonisten für ihre Pädagogik weiterentwickelt. Zum einen war das Andreas MehringerFootnote 24, der mit dem Münchener Waisenhaus die Anstaltserziehung durch eine familienorientierte Heimerziehung ersetzen wollte (Mehringer 1982; Behnisch 2018) und zum anderen Hermann Gmeiner, der 1949 in Tirol das erste SOS-Kinderdorf gründete (Müller 2009: 74; Münchmeier 2016). Beide Gründungen reagierten, wie vorangegangene familiale Konzeptionen, auf eine soziale Krise der Familie, hervorgerufen durch den Krieg. Was die Herkunftsfamilie nicht (mehr) leisten konnte, musste die Institution übernehmen. Mehringer und Gmeiner sahen in ihren pädagogischen Konzepten das bürgerliche Familienideal als zentralen Bezugspunkt. Die Familie war der Ort, der Zugehörigkeit, Nähe und sittliche Erziehung gewährleisten sollte. Für die allermeisten Kinderheime der 1950er und 1960er Jahre spielte Familienorientierung jedoch keine Rolle. Sie waren weiterhin durch „eine rigide Anstaltspädagogik aus Drill, Stigmatisierung und Entwürdigung geprägt“ (Behnisch 2018: 17; AGJ 2010). Aber auch in den reformerischen Projekten wie den SOS-Kinderdörfern kam es immer wieder zu rigiden, gewaltvollen Verhältnissen (Schreiber 2014).

In den Heimkampagnen ab den späten 1960er Jahren übten politisch Linke, unter ihnen auch Sozialarbeiter*innen, Kritik an den gewaltvollen, totalen Institutionen, die zu deren weitgehenden Abschaffung führten. Sie kritisierten aber ebenso die „konservativ-klerikale Familienideologie“ (Kappeler 2018: 44), welche sie als leitend für die Stigmatisierung vieler Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien identifizierten. 95 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Heimen stammten aus dem Arbeitermilieu (ebd.). Zur Kritik an der normativen Vorstellung von Familie schreibt Kappeler:

Es zeigte sich, dass die Vorstellung einer „normalen“ Erziehung aus dem tradierten Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie […] abgeleitet wurde. Die bürgerliche Kleinfamilie […] wurde dabei mit einer „normalen“, „gesunden“ und „funktionierenden“ Familie gleichgesetzt und zum Beurteilungsmaßstab für eine „misslingende“ oder „gescheiterte“ Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Devianz, Pathologie und Dysfunktionalität wurden somit als Eigenschaften unterstellt, welche keine Bestandteile bürgerlicher Kleinfamilien […] darstellen würden.

(Kappeler 2018: 42)

So waren es dann auch nicht die reformistischen Akteur*innen der Heimkampagne, die die Familienorientierung als pädagogisches Konzept einbrachten. Sie vertraten viel mehr Ansätze neuer Wohnformen nach einem demokratischen Verständnis, das generationale und patriarchale Machtverhältnisse kritisierte. Gleichwohl wird in den Konzepten das kindliche Bedürfnis nach Nähe aufgegriffen, was bis dato als allein charakteristisch für die familienanaloge Pädagogik dargestellt wurde.Footnote 25

Ab den 1970er Jahren ist für die Entwicklung der Heimerziehung die Lebensweltorientierung von Hans Thiersch wegweisend (Thiersch 2009a; Behnisch 2018). Dies spiegeln die Neukonzeption des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und der Achte Jugendbericht (BMJFFG 1990) wider. Die Lebensweltorientierung führt mit ihren Struktur- und Handlungsmaximen zu Regionalisierung, Alltagsorientierung und Normalisierung. In der Heimerziehung bedeutet dies kleinere Gruppen, die nicht mehr auf zentrale Dienste wie eine Großküche oder Wäscherei zurückgreifen, sondern den Alltag, oder, wie Behnisch es nennt, das „Tägliche“ (2018), selbst organisieren und dezentral positioniert sind. Mit diesen Veränderungen gleicht der Alltag der Wohngruppen immer mehr dem von Familien. Diejenigen, welche die Erziehungsverantwortung haben, sind auch zuständig für Care-Arbeit (Waschen, Kochen, medizinische Grundversorgung). Ebenso werden sie auch für das emotionale Wohlergehen der in den Wohngruppen lebenden Kinder verantwortlich gemacht.

Systematische Bestimmung des Leitbildes

Befragt man nun diese rückblickende Darstellung im Hinblick darauf, was eigentlich das Familiale ist, an dem sich die Einrichtungen konzeptionell orientieren, so wird schnell deutlich, dass Familie ein hoch normativ aufgeladenes Konstrukt ist. Die Ausrichtung geht von ganz spezifischen Normalitätsannahmen über

„die idealen (generationalen) Bedingungen kindlichen Aufwachsens sowie über die familial zu leistenden (Sorge-)Aufgaben [aus]. Familie wird auch im 21. Jahrhundert weiterhin als vollständiges Zwei-Generationen-Arrangement (Eltern und leibliche Kinder) mit einer heterosexuellen Erwachsenenkonstellation (Ehe) und einer komplementären geschlechtstypischen Arbeitsteilung (männliche Erwerbsarbeit und weibliche Sorgearbeit) imaginiert“

(Wittfeld/Bittner 2019: 42).

Mit Mühling kann dies als hegemoniales „hoch konsistente[s] Leitbild“ (Mühling et al. 2006: 43) beschrieben werden, das auf eine Personen- und Positionenkonstellation verweist, an die Erwartungen geknüpft sind: „(1) der Liebe und der bedingungslosen Zuwendung, (2) einer engen Bindung und (3) der persönlichen Erfüllung und des persönlichen Glücks.“ (Wittfeld/Bittner 2019: 42 f; vgl. auch Kessl/Koch/Wittfeld 2015). Besonders hervorgehoben wird die besondere Qualität der Beziehungen, die positiv bestimmte Intimität und Fürsorge füreinander.Footnote 26

Bereits in den 70er Jahren wurde die Orientierung an Familie kritisiert: Der Familienbegriff diene „zur ideologischen Absicherung von Verhältnissen und Lebensbedingungen, die dringend verändert oder gar abgeschafft werden müssten“ (Kappeler 2018: 34). Eine konzeptionelle Orientierung an Familie reproduziert die Normalisierung einer aufgeladenen „bürgerlichen Familialität“ (Esser 2013: 164).

„Dass gegenwärtig und auch historisch Familienformen immer vielfältiger waren und sind, wird dabei ignoriert. Pädagogisch-professionelle Strategien der Familialisierung zielen dementsprechend darauf, in pädagogischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule jenen „pädagogischen Urverhältnisse[n]“ (Roth 1999, S. 303) näher zu kommen, sie zumindest zu imitieren, indem sie die pädagogischen Institutionen familialisieren. Bezug genommen wird in diesen Fällen primär oder ausschließlich auf die angenommenen bzw. unterstellten positiven und vorteilhaften Anteile einer spezifischen, dem bürgerlichen Modell von Familie entsprechenden, Familialität.“

(Wittfeld/Bittner 2019: 42 ff)

„Nicht in einer Familie aufzuwachsen ist ein Ausnahmezustand. Dieses gesellschaftliche Deutungsmuster kennen und teilen auch die meisten Kinder […]“ (Wolf 2002: 108). Wolf weist mit Blick auf die Heimerziehung darauf hin, dass die dort aufwachsenden Kinder und Jugendlichen starke Bedürfnisse nach Kontinuität und belastbaren Beziehungen zu Erwachsenen haben. An einem gemeinsamen Lebensort, der mit einer relativ hohen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Erwachsenen und Kindern verbunden ist, sieht er für viele (nicht für alle) Kinder trotz übersteigerter Idealisierung von Familienähnlichkeit einen guten Platz zum Aufwachsen, solange es einen offenen Umgang mit den nicht zu überwindenden Unzulänglichkeiten gibt (Wolf 2002). Winkler (2002) argumentiert an vielen Stellen ähnlich wie Wolf, wobei für ihn die bewusste und auch so benannte Imitation von Familie pädagogisch sehr gewinnbringend sein kann. Wichtiges Element seiner Argumentation ist, dass die Imitationen nicht zu Täuschungen werden dürfen, sondern als „pädagogisches Setting eigener Art und mit eigener Qualität betrieben und beachtet werden müssen, weniger in der Nähe und Distanz zur Familie, sondern vielmehr als eine spezifische pädagogische Leistung“ (Winkler 2002: 303). Mit dieser Agumentation schließt er an Josef Martin Niederberger und Doris Bühler-Niederberger (1988) an, die in ihrer Studie die Familienanalogie in der Heimerziehung als „eine geschickte Täuschung“ (Niederberger/Bühler-Niederberger 1988: 175) kritisieren. Auch, wenn es temporär gelänge eine enge, familiale Bindung herzustellen, scheitere diese immer wieder notwendigerweise an dem institutionellen Rahmen: Die Personen im Arrangement sind austauschbar und eine Mitgliedschaft nur temporär, das führt für die Kinder und Jugendlichen immer wieder zu emotionalen Verletzungen (vgl. auch Planungsgruppe Petra (1987; 1993).

Im normativ positiv aufgeladenen Leitbild wird ebenso ignoriert, dass Familie auch in der bürgerlichen Kleinfamilienkonstellation nicht per se liebevoll ist, sondern wie bspw. Honig (1992) eindrücklich zeigt, ist in Familien Intimität immer eng mit dem Potential für Gewalt verbunden. Familialität als Entstehungsbedingung für sexuelle Gewalt wird in Abschnitt 2.4 noch ausführlicher betrachtet.

Zwei ethnografische Studien zu Familialität in pädagogischen Wohngruppen mit innewohnenden Fachkräften zeigen empirisch, wie im Alltag die genannten Merkmale von Familialität deutlich werden:

Florian Eßer und Stefan Köngeter haben anhand einer Ethnografie in einem urbanen Kinderdorf untersucht, wie Familialität dort hergestellt wird. Dabei übersetzen sie Familialität in die Kategorien Zugehörigkeit und Sorgeverhältnis (Eßer/Köngeter 2012; Eßer 2013). Sie zeigen, dass „[i]n der Rekonstruktion der familien(kind)bezogenen Praktiken in der Heimerziehung […] eine ‚öffentliche‘ Familienkindheit auf der Ebene des konkreten Alltagshandelns durchaus praktisch möglich ist.“ (Eßer 2013: 173). Dabei gehen sie mit ihrem analytischen Zugang des doing family davon aus, dass Familie nicht als Struktur existert, sondern in Praktiken der Kindheit, Sorge und Familialität hergestellt wird. Deutlich wird hier, wie die situative Herstellung von familialen Merkmalen gelingt. In dieser gegenwartsorientierten Perspektive wird Familialität wiederum positiv gerahmt (Sorge und Zugehörigkeit). Weiter geraten Veränderungen der Konstellation aus dem Blick, bspw., wenn Menschen aus dieser ausscheiden.

Werner Thole, Maximilian Schäfer et al. nehmen in ihrer ethnografischen Studie „Zwischen Institution und Familie“ (2018a) auch die Dimension der Sorge in den Blick. Dabei stellen sie vorab fest, dass es in der Heimerziehung eine „handlungspraktische Substitution der elterlichen Sorge im Alltag durch die erwachsenen Erziehungs- und Betreuungspersonen [braucht]“ (Schäfer/Thole 2018b: 82). Sie identifizieren zwei Muster, wie mit der Übernahme eben der elterlichen Sorge umgegangen wird.

Im Falle der distanzmaximierenden pädagogischen Handlungspraxis wird der pädagogische, erzieherische Auftrag in der funktionalen Substitution der elterlichen Sorge gesehen, die Herkunftsfamilie allerdings als unersetzbar gedeutet und den alltäglichen Distanzierungen liegt insbesondere das Motiv zugrunde, Angriffsflächen für antizipierte persönliche Kränkungen durch die stationär untergebrachten jungen Menschen möglichst zu minimieren. Der nähemaximierenden pädagogischen Handlungspraxis entspricht dagegen die pädagogische Auftragsdeutung, neben der funktionalen Substitution der elterlichen Sorge, den jungen Menschen auch im Rahmen ihrer Fremdunterbringung die kompensatorische Möglichkeit für persönlich-familial gefärbte Beziehungserfahrungen zu bieten. In den Rekonstruktionen zeigt sich hier das Motiv, mittels maximierter persönlicher Nähe eine besondere Identifikation der jungen Menschen mit den Settings anregen zu wollen.

(Schäfer/Thole 2018b: 85–86)Footnote 27

Der entscheidende Unterschied in den Mustern ist also der Umgang mit Nähe und Distanz. Wird in Betracht gezogen, dass körperliche und emotionale Nähe als ein wesentliches Kennzeichen von Familialität und damit auch Familialisierung ist, so ist mindestens bedenkenswert, ob es sich bei Wohnkonstellationen des ersten Typs wirklich um familialisierte Settings handelt, oder ob Familialisierung hier lediglich als leeres Etikett verwendet wird (vgl. auch Schäfer 2021). Auch in diesen Mustern wird Familialität als etwas positives konnotiert. So kann resümierend festgehalten werden das konzeptionell an Familie orientierte Organisationen in Bezug auf das Familienideal immer beides sind „(1) Hilfskonstruktionen, die aufgrund ihrer Institutionalisierung von Familie nie an die ‚echte‘ Familie heranreichen können und (2) die bessere Familie, weil die öffentliche Kontrolle die Unzulänglichkeiten der ‚echten‘ Familie heilen soll.“ (Wittfeld/Bittner 2019: 43).

2.4 Entstehungsbedingungen sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen

Im Folgenden steht die Frage im Fokus, wie es zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen kommen kann. Dabei wird der von Fabian Kessl und Friederike Lorenz vorgeschlagene Begriff der „Gewaltkonstellationen“ (Lorenz/Kessl 2015, S. 286) verwendet, der darauf hinweist, „dass es sich bei Gewalt durch Professionelle in Institutionen um eine Konstellation aus personellen, konzeptionellen und institutionellen Bedingungen handelt, die eine Gewaltausübung ermöglichen“ (ebd). Eine Analyse der Erklärungsansätze zu sexueller Gewalt im Forschungsdiskurs legt nahe, die vorgeschlagene Systematisierung um gesellschaftliche Bedingungen zu erweitern. Auch wenn diese Bedingungen immer miteinander in Verbindung stehen und es sich nicht um simple Kausalitäten handelt (Wolff 2010: 464), ist es für analytische Zwecke sinnvoll, sie getrennt voneinander zu betrachten.

Der Diskurs um sexuelle Gewalt wirft Fragen dazu auf, wie Menschen zu Täter*innen werden und ob und warum manche Kinder und Jugendliche eher zu Opfern sexueller Gewalt werden. Personenbezogene Erklärungsmuster waren bis 2010 im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und Forschung (Hoffmann 2011, 2015). Zentral sind individuelle Merkmalszuschreibungen, von denen ein Risiko abgeleitet wird, Opfer, bzw. Täter*in zu werden. Oftmals finden sich hier psychologische Erklärungsmuster. Bezogen auf personenbezogene Erklärungsansätze ist der wohl bekannteste Ansatz zur Erklärung sexueller Gewalt gegen Kinder das Vier-Faktoren-Modell von David Finkelhor (1984). Dieses Model identifiziert vier Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit es zu sexueller Gewalt gegen Kinder kommt:

  • Ein(e) potenzielle(r) Täter(in) muss motiviert sein, ein Kind sexuell zu missbrauchen. […]

  • Ein(e) potenzielle(r) Täter(in) muss innere Hemmungen gegen das Ausagieren dieser Motivation überwinden.

  • Ein(e) potenzielle(r) Täter(in) muss äußere Hemmfaktoren überwinden.

  • Ein(e) potenzielle(r) Täter(in) muss Widerstand von Seiten des Opfers überwinden oder ein anderer Faktor muss die Widerstandskraft des Opfers schwächen.

(zitiert nach Kolshorn 2018: 141)

Dieses Model ist international weit verbreitet und im deutschsprachigen Diskurs ein prominenter Bezugspunkt (Bundschuh 2010: 32), der kritisiert und erweitert wurde. Tony Ward und Stephen M. Hudson (2001) stellen bspw. die Frage warum emotionale Bedürfnisse und Blockierungen, also nicht-sexuelle Bedürfnisse, durch sexuelle Handlungen befriedigt werden. Hier liefert das Model keine Antwort (Ward/Hudson 2001: 298 ff). Brachmann kritisiert an Tätertypologien die die beiden Kategorien „Pädosexuelle Täter sowie Täter mit primärer Orientierung gegenüber Erwachsenen“ (Brachmann 2019: 110) unterscheiden, dass hier eine Dichotomie suggeriert wird, wie sie real nicht vorliegt.

„Die Grenzen zwischen den deklarierten Tätergruppen sind allerdings fließend, da die Täter der ersten Typologie z. T. ebenfalls situativ agieren und im Falle der zweiten Tätergruppe sich im Verlauf der Täterkarriere Fixierungen ausschließlich auf Heranwachsende ergeben können. Bemerkenswert ist, dass die Tätergruppe der Pädokriminellen im engeren Sinne (Typ 1) innerhalb des Tatkontextes sexualisierter Gewalt gegen Heranwachsende zahlenmäßig in der Minderheit ist und jene Gruppe quantitativ überwiegt, die Gelegenheiten ausnutzt. Dies unterstreicht erneut die Bedeutung institutioneller und organisatorisch-struktureller Rahmungen bei der Ermöglichung sexueller Übergriffe auf Heranwachsende in (pädagogischen) Einrichtungen.“

(Brachmann 2019: 110)

In seiner Kritik macht Brachmann deutlich, dass es unumgänglich ist, institutionelle Bedingungen in den Blick zu nehmen, um das Entstehen von sexueller Gewalt zu erklären.

Besonders feministische, machtkritische Stimmen im Diskurs kritisieren die personenbezogenen Erklärungsmodelle und führen gesellschaftliche Erklärungsmodelle an. So geht bspw. Maren Kolshorn davon aus, „dass sexualisierte Gewalt im Wesentlichen durch eine patriarchale Kultur bedingt ist und gleichzeitig dazu beiträgt, diese aufrechtzuerhalten.“ (Kolshorn 2018: 142). Grade an Finkelhor kritisiert Kolshorn, dass die Ursachen nur aus Perspektive der Täter*innen betrachtet werden. Sie entwickelt das Model weiter, indem sie die Opfer- und die Umfeldperspektive mit einbezieht und zeigt, wie verwoben diese Perspektiven miteinander sind und wie wirkmächtig sich „gesellschaftliche Einflüsse“ darstellen (Kolshorn 2018: 142 ff). So können ihr zufolge dann auch ambivalente Beziehungen, gesellschaftliche Blindstellen und Mythen um sexuelle Gewalt und Geschlechterverhältnisse in den Blick genommen werden (Kolshorn 2018: 142 ff). Die Eingebundenheit von sexueller Gewalt in Macht- und Herrschaftsverhältnisse hier mit unterschiedlichen Theorieperspektiven zu beleuchten, übersteigt den Rahmen dieser Arbeit. Festgehalten werden kann jedoch, dass in Bezug auf Deutschland in Abschnitt 2.1.1 die Voraussetzungen dargestellt worden sind, die dazu beigetragen haben, dass das Thema sexuelle Gewalt in Institutionen (neu) verhandelt werden konnte. Die wissenschaftlichen Studien zur Odenwaldschule zeigen deutlich, dass es eine enge Verknüpfung mit gesellschaftlichen Umbrüchen zur Liberalisierung von Sexualität, auch für Kinder und Jugendliche, ab den späten 1960er Jahren gab, die als Legitimationsfolie für eine Kultur der Grenzverletzungen an der Odenwaldschule diente (Brachmann 2019: 443; Keupp et al. 2019: 403 ff, auch Baader 2017). Besonders im internationalen Vergleich wird deutlich, wie unterschiedlich sexuelle Gewalt in Institutionen je nach historischem und gesellschaftlichem Kontext wahrgenommen und als solche klassifiziert wird. Bislang sind gesellschaftliche Erklärungsmuster im Fachdiskurs wenig beleuchtet worden, auch wenn sie hoch relevant zu sein scheinen. Für einen systematischen Vergleich von historischen und nationalen Kontexten bedarf es hier weiterer Forschung.

Der Fokus dieser Studie liegt auf der stationären Kinder- und Jugendhilfe als pädagogische Institution und der wesentliche Bezugspunkt sind hier institutionelle Entstehungsbedingungen. Während Lorenz und Kessl zwischen konzeptionellen und institutionellen Bedingungen differenzieren, werden in der hier am Gegenstand weiterentwickelten Systematik institutionelle Bedingungen als Oberbegriff verwendet, unter dem organisationale, pädagogische und konzeptionelle Bedingungen zusammengefasst werden (siehe Abb. 2.1). Dabei sind die Diminesionen eng miteinander verwoben und überschneiden sich. Zudem werden die drei Dimensionen von Bedingungen sowohl in Bezug auf ihr Schutz- als auch Risikopotential hin befragt. Es handelt sich in keiner Weise um einen kausalen Zusammenhang mit einer simplen Gleichung wie schlechtere Arbeitsbedingungen = mehr sexuelle Gewalt oder mehr Aufsichts- und Beschwerdestellen = weniger sexuelle Gewalt. Vielmehr geht es darum, institutionelle Rahmenbedingungen auf ihr Schutz- und Risikopotential hin zu diskutieren.

Organisationale Rahmenbedingungen (2.4.1) sind dabei solche, die für alle stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zutreffen. Pädagogische Bedingungen (2.4.2) beziehen sich auf das grundlegende pädagogische Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, die ebenfalls für alle Einrichtungen konstitutiv sind und in weiten Teilen für alle pädagogischen Institutionen gelten. Die konzeptionellen Bedingungen (2.4.3) hingegen beziehen sich auf die unterschiedlichen Ausrichtungen von Einrichtungen und treffen daher nur auf solche Einrichtungen zu, die diese Bedingungen explizit oder implizit schaffen. Gerade in Bezug auf die konzeptionellen Bedingungen könnten hier weitere Bedingungen auf ihr Schutz- und Risikopotential hin befragt werden. Die hier getroffene Auswahl schließt an die empirischen Ergebnisse an, die eben diese Bedingungen im Weiteren als relevant markieren werden. Zum Zeitpunkt der Erhebung traf dies bspw. auf die evangelische Kirche nicht zu. Diesbezüglich setzte die mediale Thematisierung und dementsprechend ein gesellschaftliches Problembewusstsein erst später ein. Die nachfolgende Abbildung gibt eine Übersicht über die Bedingungen, die im Folgenden dargestellt werden sollen.

Abbildung 2.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Institutionelle Schutz- und Risikobedingungen sexueller Gewalt.

2.4.1 Organisationale Bedingungen

Organisationale Bedingungen sind in der Struktur der stationären Hilfen zur Erziehung grundgelegt. Es herrschen immer bestimmte Arbeitsbedingungen, unter denen die Professionellen agieren, es handelt sich immer um ein räumliches Arrangement, das die Ausgestaltung von Privatheit maßgeblich beeinflusst. Strukturell ist auch immer eine Aufsicht über die Einrichtungen vorgegeben. Die letzte hier behandelte Bedingung wird unter dem Begriff „Primat der Einrichtung“ zusammengefasst, der die Neigung zur Selbsterhaltung von Organisationen ausdrückt. Hier handelt es sich eher um eine soziologische Grundstruktur, die Organisationen inhärent ist.

Arbeitsbedingungen

Auf der strukturellen Ebene der Institution sind die Rahmenbedingungen entscheidend dafür, ob und wie professionell gehandelt werden kann. Wie sich Arbeitsbedingungen auf ein institutionelles Risiko sexueller Gewalt auswirken, ist bislang wenig erforscht worden.

Im stationären Kontext bringen die dort lebenden Kinder und Jugendlichen Vorbelastungen mit. Als erste relevante Arbeitsbedingung kann daher auf Reflexionsräume verwiesen werden, die erst eine Bearbeitung dieser Herausforderungen möglich machen. Die Abwesenheit von Reflexionsräumen wird dann zum Risikofaktor für ein Auftreten von sexueller Gewalt (siehe 2.4.2). Als sicher gilt, dass eine Überforderung von Fachkräften durch eine „quantitativ und qualitativ unzureichende Personalausstattung, […] zeitliche, fachliche und psychische Überforderungen der Mitarbeiter_innen und damit potenziell gewaltförmige Erziehungspraktiken bzw. die Duldung von Übergriffen zur Konsequenz haben kann (Pöter/Wazlawik 2018: 37). Auch eine geringe Qualifikation wird somit als risikovolle Bedingung angesehen. Zum einen bringt eine geringe Qualifikation mit sich, dass die pädagogisch Tätigen wenig bis kein Wissen über pädagogische Beziehungen und sexuelle Gewalt haben aufbauen können (Brachmann 2019: 118; Keupp et al. 2019: 407), zum anderen Entstehen durch die geringe Qualifikation Abhängigkeiten gegenüber der Einrichtung, die eine Aufdeckung von Gewaltverhältnissen erschweren (Keupp et al. 2019: 214; Brachmann 2019: 181).

Zentrale Erkenntnisse zur Relevanz von Arbeitsbedingungen, die im deutschsprachigen Raum bislang wenig beachtet wurden, liefert eine englische Studie von Jan Horwath (2000). Ein grundlegendes Ergebnis dieser Studie ist, dass eine subjektiv positiv erlebte Kultur gemeinsamer Werte und gegenseitigen Vertrauens, so positiv und förderlich sie für eine gelingende pädagogische Arbeit generell ist, im Hinblick auf sexuelle Gewalt risikovoll sein kann:

However, in working settings where staff are positive about their job and consider they have similar values to their colleagues, what was found in this study, a culture may emerge which ignores abuse. This can occur because the staff group may assume that since they overtly share the same values, then all members of the staff will behave in a manner guided by those values (Ross and Grenier, 1990). In this situation, it can become difficult to consider a colleague as potential perpetrator. […] Staff who believe they share the same values as colleagues may also presume that abuse could not happen in their unit. Consequently, if an allegation of abuse is made against a colleague, staff react with incredulity.

(Horwath 2000: 187)

Dieses Ergebnis ist für die hier vorliegende Studie besonders relevant. Hier wird bereits angedeutet, dass ein generelles Wissen um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen von den pädagogischen Fachkräften nicht unmittelbar dazu führt, dass sie sich sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene in ihrem Arbeitskontext auch vorstellen können. Interessant ist hier auch, dass Horwath Parallelen zu sexueller Gewalt in der Familie sieht, in der nicht missbrauchende Eltern sexuelle Gewalt verdrängen und nicht im Sinne des Schutzes des Kindes handeln (Horwath 2000: 187).

Als weiteren risikovollen Aspekt beschreibt Horwath eine große Angst und Unsicherheit bei Fachkräften, die dazu führt, dass Fachkräfte Abstriche im pädagogischen Handeln machen:

“In conclusion it would seem that workers in the study practise childcare with gloves on because they feel vulnerable and are fearful of the way their behaviour may be interpreted. If these issues are not addressed, we risk losing the caring aspect of children's residential services.”

(Horwath 2000: 188)

Horwath zeigt hier, dass Wertschätzung und das Gefühl von Sicherheit Voraussetzungen sind, dass Fachkräfte den Schutz von Kindern und Jugendlichen aktiv unterstützen können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeitsbedingungen sind Machtstrukturen in der Hierarchie zwischen Fach- und Leitungskräften, die ebenfalls als risikovoll beschrieben werden (Bundschuh 2010). Wirkmächtig ist hier ein rigider Führungsstil, mit fehlender oder geringer Fehlertoleranz und fehlender Möglichkeit, Kritik zu äußern, gerade gegenüber hierarchisch höher gestellten Personen. Dies geht einher mit Abwertungen persönlicher Leistungen und fehlenden Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Reflexion. Sexuelle Kontakte mit Kindern und Jugendlichen können dann als Kompensation eingesetzt werden, um sich Anerkennung, Macht und Kontrolle zu verschaffen (Conen 1997). Gleichzeitig wird aber auch Unstrukturiertheit und fehlende Kontrolle von Leitungskräften als problematisch beschrieben (Wolff 2015: 218). Hier entstehen Freiräume für pädagogisch Fachkräfte, die ausgenutzt werden können und in denen Gewalthandeln vertuscht und nicht aufgedeckt werden kann. Zudem erschwert ein solcher Leitungsstil insbesondere die Aufklärung von sexueller Gewalt. In Aufarbeitungsstudien zur reformpädagogischen Odenwaldschule und katholischen Klosterinternaten wird herausgearbeitet, dass die Art und Weise der Personalgewinnung ebenfalls als institutionelle Bedingung gesehen werden muss. Durch die Selektion von neuem Personal konnten Täter, die in den Institutionen bereits Einfluss hatten, Personen mit ähnlichen Neigungen einstellen, bzw. solche auswählen, für die eine starke Abhängigkeit von der Institution konstatiert werden muss (Brachmann 2019; Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016; Keupp et al. 2019).

Räumliche Gestaltung

Die räumliche Gestaltung stationärer Wohngruppen ist in zweifacher Hinsicht als Bedingung für sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene relevant: (1) Abgeschlossenheit nach außen, die Bewohner*innen isoliert und (2) mangelnde Rückzugsmöglichkeiten innerhalb der Institution. Beide Bedingungen führen dazu, dass der institutionelle Zugriff auf die Personen groß ist.

Abgeschlossenheit, bzw. Geschlossenheit wird schon 2010 in einer Expertise von Bundschuh als risikovoll markiert (Bundschuh 2010: 47). Sie verweist darauf, dass Heime und Internate sich notwendiger Weise von „anderen sozialen Systemen“ (ebd.) abgrenzen müssen, um zu funktionieren. Alle Einrichtungen haben Regeln über die Außenkontakte von Kindern und Jugendlichen, die auch deren Schutz dienen. Wie starr und einschränkend diese sind, variiert je nach Einrichtung und Wohngruppe. Pöter und Wazlawik konkludieren auf Grundlage eines umfassenden Reviews von Forschung zu Gewaltkonstellationen:

„Die gezielte Einschränkung und Kontrolle der Außenkontakte von Kindern, Jugendlichen und Mitarbeiter_innen scheinen einen nahezu impermeabel begrenzten Raum zu konstituieren, in dem spezifische Normen bzw. Normalitäten – auch in Gestalt von gewaltförmigen Erziehungspraktiken und sexualisierter Gewalt – weitgehend frei von Korrektiven und Interventionen aufrechterhalten werden können“

(Pöter/Wazlawik 2018: 37).

Diese Beurteilung schließt auch an die grundlegende soziologische Perspektive der „Totalen Institution“ von Erving Goffman (1986) an. Diese fokussiert zwar keine sexuelle Gewalt, zeigt aber eindrucksvoll, wie die Geschlossenheit der Institution gegenüber der Außenwelt dazu führt, dass eigene Normen und Werte etabliert werden. Es entstehen stark hierarchische und damit machtvolle Konstellationen zwischen dem Personal, welches die Geschlossenheit kontrolliert, und den Bewohner*innen. Zwar werden Erziehungsheime von Goffman nicht explizit behandelt, dennoch gibt es in seiner Beschreibung der totalen Institution starke Analogien bezüglich des Inneren der Institutionen. Die Kontrolle ist so umfassend, dass es keine Möglichkeit des Rückzugs gibt. Selbst auf der Schlafstätte sind die Bewohner*innen nicht vor dem Zugriff durch das Personal geschützt. Diese hohe Maß an räumlicher Nähe, die zum Alltag der Anstalt gehört, erschwert es den Bewohner*innen auch, sich vor sexueller Gewalt zu schützen (Pöter/Wazlawik 2018: 37). Dies bestätigen auch die Ergebnisse von Miriam Rassenhofer, Nina Spröder und Fegert. Die Forscher*innen haben die Meldungen bei der Anlaufstelle für Betroffene des UBSKM evaluiert (Rassenhofer/Spröber/Fegert 2015). Ein Fokus der wissenschaftlichen Analyse lag dabei auf Gelegenheitsstrukturen in Institutionen. Als besonders risikovoll werden Situationen beschrieben, in denen die Täter*innen mit den Kindern alleine waren. Als Beispiele werden hier Wasch- und Schlafräume, sowie Zelte in Ferienlagern, aber auch Situationen der Beichte und des Kontaktes in den Privaträumen genannt. Räumliche Geschlossenheit findet sich sowohl in streng autoritären Institutionen, als auch in als liberal beschrieben Institutionen, wie bspw. der Odenwaldschule. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen, sich auch räumlich zum Schutz der eigenen Grenzen zurückzuziehen, als Schutz vor Übergriffen diskutiert. Geschlossenheit ist vor allem dann risikovoll, wenn sie einseitig Macht verleiht und Kinder und Jugendliche schutzlos macht.

Semi-Privatheit

Die Heimerziehung nach §34 ist ein Teil der Hilfen zur Erziehung und zeichnet sich durch eine „öffentliche[] Verfasstheit“ (Kessl 2017a: 172) aus. Sie ist eine öffentlich finanzierte, zum Teil gerichtlich angeordnete Sozialleistung, die von sogenannten öffentlichen Trägern verantwortet wird. Damit ist die „öffentliche[] Erziehungs- und Sorgeinstanz“ (ebd.) deutlich zu unterscheiden von der „(Herkunfts)Familie“ (ebd.). Die öffentliche Sorgeleistung wird erst dann erbracht, wenn die Sorge für das Kind aus der privaten Verantwortung der Eltern – zumindest in Teilen – herausgelöst und in öffentliche Verantwortung überführt wird.

Für eine stationäre Wohngruppe gilt aber auch, dass die Kinder und Jugendlichen, die dort untergebracht sind, für eine Zeit ihres Lebens an einem „anderen Ort“ (Trede/Winkler 2012) wohnen. Mit dem Wohnen geht unmittelbar ein privater Charakter einher.

Schließlich zeichnen sich Wohnräume in der bürgerlichen Gesellschaft gerade durch ihren nicht-öffentlichen Charakter aus: Gewohnt wird eben dort, wo – jenseits des öffentlichen Raums – ein eigenständiger Haushalt geführt werden kann, oder im nochmals reduzierten Sinne dort, wo die eigene Schlafstätte verortet ist.

(Kessl 2017a: 173)

Die öffentlich verfasste Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Wohngruppe soll den Kindern und Jugendlichen einen Lebensort anbieten, der „damit Privatheit zumindest auch umfasst“ (Kessl 2017a: 174). Kessl fasst diese Konstitution der Wohngruppe als „Institutionalisierung des Privaten“ (Kessl 2017a: 175 Herv. i.O.). Dies manifestiert sich auch begrifflich in den Bezeichnungen Wohngruppe, Bewohner*innen und Kinderheim. Für die Fachkräfte gilt dies nicht in gleicher Weise, es sei denn, sie sind innewohnende Fachkräfte und haben ihren Lebensmittelpunkt ebenfalls in der Wohngruppe. Aber auch diejenigen Fachkräfte, die Dienste über Nacht in den Wohngruppen absolvieren, haben zumindest temporär ihre Schlafstätte am selben Ort, der hierdurch zumindest in Anteilen auch für sie privat wird. Helming et al. zeigen mit ihren Ergebnissen aus Expert*innenrunden, dass die Übernachtung von Kindern und Erwachsenen am gleichen Ort als besondere Gelegenheitsstruktur für sexuelle Gewalt angesehen wird (Helming et al. 2011a: 100).

Mit der Privatheit von Familie ist auch eine gesellschaftliche Sonderstellung verbunden (Honig 1992: 276), aus der eine relative Autonomie abgeleitet wird, die für den familialen Raum konstitutiv ist (Kessl/Koch/Wittfeld 2015). Das kann pädagogisch sinnvoll und intendiert sein, wie die Darstellung zur konzeptionellen Familialität in der Heimerziehung gezeigt hat (vgl. 2.3.4). Bezogen auf das Risiko von Privatheit muss festgehalten werden, dass der private Charakter die Möglichkeit der öffentlichen Regulierung eingeschränkt. Aus der Forschung zu Gewalt in Familien ist bekannt, dass gerade diese Privatheit zu einer Isolation von Familien führen kann und sie im Hinblick auf Gewalt als risikovoll beschrieben werden muss (Honig 1992; Bussmann 2007). Geht man also davon aus, dass eine stationäre Wohngruppe immer von „Semi-Privatheit“ (Kessl 2017a: 190) geprägt ist, also mindestens in Teilen einen privaten Raum schafft, dann wird hier bei der Adaption von Privatheit auch eine Abgeschlossenheit mit übernommen, die auf der einen Seite Raum für Nähe und Intimität schafft, auf der anderen Seite aber immer auch ein Risiko für die unkontrollierte Ausnutzung von Machtungleichgewichten mit einschließt und so zum Risiko für sexuelle Gewalt wird (Wittfeld/Bittner 2019).

Aufsichts- und Beschwerdestellen

Pöter und Wazlawik beschreiben das Fehlen von Aufsichts- und Beschwerdestellen (Pöter/Wazlawik 2018: 37)) als risikoreich da so die dort vertretenen Werte und Normen sowie die praktische Arbeit nicht kontrolliert werden und der Kritik entzogen. In der Folge können sich totale Institutionen entwickeln (s. o.). Kappeler erweitert dies noch um die fehlende Überprüfung der Bedingungen vor der Genehmigung. Regelmäßige und unangemeldete Kontrollen der Lebensbedingungen und der erzieherischen Praxis durch die Heimaufsicht sieht er als unumgänglich an, um das Kindeswohl sicher zu stellen (Kappeler 2014: 16–17). Dies ist derzeit mit den personellen Ressourcen der Heimaufsicht nicht möglich (Kappeler 2014).

Die Forderung nach mehr Kontrolle fällt ein Stück weit hinter die Erkenntnisse zurück, die Thomas Mühlmann (2014) in seiner ethnografischen Studie herausarbeiten konnte. Er stellt dar, dass sowohl Kontrolle als auch vor allem Vertrauen die Arbeitsbasis der Aufsichtsbehörden ist.

„Einerseits müsste daher Vertrauen einen festen Platz in der Aufsichtspraxis zugewiesen bekommen. Das damit verbundene Risiko müsste benannt und transparent seinem Nutzen gegenübergestellt werden. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil dieser Wert im Rahmen von Skandalisierungen von Gewalt und Übergriffen immer wieder in Frage gestellt wird. Entscheidend ist hier darauf hinzuweisen, dass eine Ersetzung von Vertrauen durch Misstrauen in diesem Arbeitsfeld nicht funktional ist, sondern dass allenfalls das Verhältnis beider Aspekte immer wieder neu justiert und die jeweiligen Funktionen klar umrissen werden müssen. Ermöglichungsbedingungen für begründetes Vertrauen wären zu schaffen, insbesondere mehr Gelegenheiten zur Gewinnung von Vertrautheit durch Interaktion.“

(Mühlmann 2014: 228–229)

Neben der fehlenden öffentlichen Aufsicht gibt es im Vergleich zu anderen pädagogischen Institutionen, wie etwa der Schule, nur selten Elternteile als primäre Ansprechpersonen. Eltern von Kindern, die in der stationären Kinder- und Jugendhilfe leben, sind oftmals weniger gute Ansprechpartner*innen für ihre Kinder, als dies für andere der Fall ist (Kappeler 2014). Dies galt zumindest in der Vergangenheit oftmals auch für Internatsschüler*innen (Brachmann 2018), hier kommt noch hinzu, dass die Eltern die Schule oftmals in dem Glauben aussuchen, eine besonders geeignete, gute Institution für ihre Kinder gewählt zu haben. Sexuelle Gewalt durch Pädagog*innen passt nicht zum Bild des Internates. Ob die selbe Inkongruenz in Bezug auf stationäre Jugendhilfe gilt, wäre zu untersuchen.

Primat der Einrichtung

Sexuelle Gewalt innerhalb einer Institution ist für diese und ihre Mitglieder stark herausfordernd. Ursula Enders spricht vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung in der Beratung von pädagogischen Institutionen von einem institutionellen Trauma, das diese spalten kann (Enders 2015). Die Interessen des*der Betroffenen stehen dann der Gefahr gegenüber, die Institution zu schädigen. Diese „institutionelle Angst“ (Pöter/Wazlawik 2018) kann dazu führen, dass sexuelle Gewalt dethematisiert und das Interesse der Institution über die des*der Betroffenen gestellt wird. In der Fachdebatte wird von einem sehr wirkmächtigen Mechanismus ausgegangen, der oftmals mit der sinnbeladenen Metapher des „Schweigens“ gefasst wird (Lorenz 2020: 65). Lorenz macht deutlich, dass die im Diskurs verwendeten Begriffe „Schweigepanzer“, „Mantel des Schweigens“, „Mauer des Schweigens“, „Schweigekartell“, „Kartelle des Schweigens“ oder „Ringe[] des Schweigens“ (zitiert nach Lorenz 2020: 65) bildlich beschreiben, dass die Mitarbeiter*innen der Institutionen durch Dethematisierungen einen Selbstschutz aufbauen, der „gegen Fragen und Nachforschungen schützen soll, die zu einer öffentlichen Thematisierung der Gewalt führen könnten.“ (Lorenz 2020:66). Dahinter steht die Furcht, dass ein Öffentlichwerden der Gewalt die Institution zerstören könnte.

Für den Einzelfall der Odenwaldschule haben Jens Brachmann und Kolleg*innen diesen überaus starken Mechanismus rekonstruieren können. Brachmann stellt in Anlehnung an Lewis A. Coser (2015) fest, dass Einrichtungen wie sozialpädagogische Wohngruppen zu „gierigen Institutionen“ werden können, die sich

„im Falle existenzieller Bedrohung – ein gegen die Einrichtung vorgebrachter Verdachtsfall auf Kindesmissbrauch ist immer ein solcher Krisenfall – regelrecht von ihren Außenbeziehungen abschotten, die internen Organisationsprozesse unabhängig von ihren Umweltbedingungen regulieren und das Engagement wie die Loyalität der involvierten Systemakteure und -akteurinnen vollständig absorbieren. Ein solches Systemhandeln zielt dann vor allem darauf ab, Autopoiesis zu ermöglichen, mithin also das Überleben der Einrichtung um jeden Preis zu sichern.“

(Brachmann 2019: 30)

Brachmann beschreibt diesen organisationalen Mechanismus als „Wagenburgmentalität“ (ebd.), die oftmals auch nach Bekanntwerden von Sexualdelikten eine Aufarbeitung erschwert oder verhindert. Dies belegen er und seine Kolleg*innen eindrücklich für die Odenwaldschule und weisen darauf hin, dass besonders die formellen und informellen Leiter*innen der Odenwaldschule einen wesentlichen Einfluss darauf hatten, dass bereits Ende der 1960er Jahre bekannt gewordene schwerwiegende Fälle sexueller Gewalt keine institutionellen Konsequenzen hatte. Weiter schreibt Brachmann:

Es ist zu vermuten, dass andere potentielle Täter dadurch motiviert wurden, sich um Anstellung in der Odenwaldschule zu bemühen, weil sie plausiblerweise annehmen durften, selbst im Falle einer begründeten Anschuldigung nicht ernsthaft mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen.

(Brachmann 2019: 37)

Zu diesem wirkmächtigen Mechanismus passt der Verweis von Enders darauf, dass sexuelle Gewalt in Institutionen oftmals durch Personen aufgedeckt wird, die der Institution weniger verbunden sind, erst kurze Zeit dort arbeiten, oder weniger materiell abhängig sind (Enders 2015: 312; Brachmann 2019: 178). Auch dies betont die Relevanz einer externen Kontrollinstanz.

2.4.2 Pädagogische Bedingungen

Pädagogische Bedingungen werden hier als solche Bedingungen gefasst, die sich aus pädagogischen Grundmustern ergeben. Dabei ist wichtig, vorab festzuhalten, dass nicht die pädagogischen Grundmuster selbst infrage gestellt werden. Sie sind grundlegende, konstitutive Kategorien, mit denen sich pädagogisch Handelnde fortwährend auseinandersetzen müssen. Unter der Perspektive auf sexuelle Gewalt sind sie jedoch auch institutionelle Bedingungen, die auf ihre Risiken hin befragt werden müssen.

Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche sind durch ihre „anthropologische Ausgangssituation“ (Andresen/Koch/König 2015: 9) vulnerabel. Von Beginn an sind sie in ein Generationenverhältnis eingebunden, in dem sie fundamental angewiesen sind auf „die Sorge und liebevolle Zuneigung der Älteren“ (Andresen/Koch/König 2015: 9). Diese Feststellung gilt aus einer vulnerabilitätstheoretischen Perspektive für Kinder und Jugendliche generell.

Für Kinder und Jugendliche in Wohngruppen der stationären Kinder- und Jugendhilfe hat Vulnerabilität noch eine besondere Bedeutung. Unter ihnen „findet sich eine große Zahl hochbelasteter Kinder und Jugendlicher mit einem besonderen Hilfebedarf, worin ja im Übrigen überhaupt der Grund liegt, warum es eine solche intensive Form der Kinder- und Jugendhilfe geben muss.“ (Wolff 2015: 213). Die hohe Belastung, die Wolff hier anspricht, umfasst oft auch eine Form der Kindeswohlgefährdung, aufgrund der die Kinder und Jugendlichen untergebracht worden sind. Zudem zeigen Kinder und Jugendliche in Heimeinrichtungen eine überdurchschnittlich hohe Belastung durch psychische Erkrankungen (Wolff 2015: 214), sicherlich nicht zuletzt infolge von Gewalterfahrungen.

Diese „biografischen Vorbelastungen“ (Mosser 2015: 104) machen die Kinder und Jugendlichen in Heimeinrichtungen in mehrfacher Hinsicht zu einer sehr vulnerablen Gruppe (vgl. auch Helming et al. 2011a: 100). Kindler et al. (2018) zeigen, dass es für Kinder und Jugendliche, die vor der Unterbringung sexuelle Gewalt erlebt haben, ein sehr hohes Risiko für Reviktimisierung gibt (vgl. 2.4.1). Helfferich et al. zeigen in ihrer Studie zu Reviktimisierung von Mädchen in der Heimerziehung, dass ein fehlendes Konzept sexueller Integrität infolge von sexueller Gewalterfahrungen entscheidend dazu beiträgt, ob Mädchen Reviktimisierungserfahrungen machen (Helfferich et al. 2019: 65–66). Auch die Absenz von stabilen Bindungen zu Freunden und/oder Erwachsenen wird in dem Zusammenhang als risikovoll beschrieben. Diese ist eng mit einem Bedürfnis nach positiver Zuwendung und emotionaler Nähe verbunden. „Diese Bedürftigkeit kann ausgenutzt werden, um sexuelle Gewalt anzubahnen und auch, um sie zu verdecken, indem mit dem Entzug der Zuwendung gedroht wird.“ (Pöter/Wazlawik 2018: 39). Neben der emotionalen Bedürftigkeit, die die Kinder und Jugendlichen oft mit in die Institution bringen, sind gerade auch pädagogische Ansätze risikovoll, die auf starker Distanz und Härte zwischen den Fachkräften und den Kindern aufbauen. So erzeugen sie eine emotionale Leerstelle, die durch gewaltvolles Handeln in Form vermeintlicher Zuneigung gefüllt werden kann. Eine weitere Bedingung, die eine Reviktimisierung stützt, ist ein oftmals geringes Selbstbild der Kinder und Jugendlichen, hervorgerufen durch Gewalterfahrungen und auch durch die Heimunterbringungen selbst. Pöter und Wazlawik verweisen darauf, dass eine defizitäre Beschreibung von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe deren Widerstandsfähigkeit herabsetzt (2018: 38). Das schließt auch ein, dass Kinder und Jugendliche, die traumatischen Erfahrungen gemacht haben, als eingeschränkt glaubwürdig dargestellt werden.

In Publikationen zu Täter*innen-Strategien wird davon ausgegangen, dass die Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen bzw. ihre geringe Widerstandsfähigkeit ein hohes Risiko mit sich bringen, von erwachsenen Täter*innen als Opfer ausgewählt zu werden (Enders 2017). Ebenso sind oftmals viele gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche gemeinsam untergebracht, was zu „explosiven Gefährdungskonstellationen“ (Mosser 2015: 104) führen kann. Dann treffen Kinder und Jugendliche mit einem sehr geringen Selbstschutz auf Kinder und Jugendliche, die auf traumatische Gewalterfahrungen mit Aggressionen und/oder stark sexualisiertem Verhalten reagieren. Unter anderem auf diesen Umstand ist der hohe Anteil an sexueller Gewalt durch Peers und auch durch Erwachsene außerhalb der Institution zurückzuführen.

Die Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen und deren besondere Gefährdung, Opfer sexueller Gewalt zu werden, erfordert einen besonderen Schutz seitens der Institutionen und der dort tätigen Fachkräfte. Behnisch und Schäfer beschreiben die Herausforderungen, denen sich die Professionellen hier stellen müssen:

Die Reaktion der Fachkräfte ist nicht selten zerrieben zwischen Überforderung (im Umgang mit Übertragung und Retraumatisierung), Unsicherheiten über die Einschätzung (nicht-) abweichenden sexuellen Verhaltens, dem Ruf nach Therapie, der Angst um das Image der Gruppe, dem Druck, die anderen Kinder schützen zu müssen, sowie dem Reflex nach ‚Verlegung‘ in eine der mittlerweile nicht mehr so seltenen Spezialgruppen wie beispielsweise etwa solche für sexuell übergriffige Kinder.

(Behnisch/Schäfer 2018: 471)

Auch wenn die Berücksichtigung der Kinder und Jugendlichen mit ihren individuellen Vorbelastungen eine genuine Aufgabe der Fachkräfte ist, ist die Bearbeitung herausfordernd. Geschieht dies nicht oder nicht ausreichend, ist dies ebenfalls Teil des Risikos für sexuelle Gewalt (Wolff 2018: 464). Um diesen Herausforderungen gerecht werden zu können, braucht es Arbeitsbedingungen für Fachkräfte, die ihnen ein adäquates, professionelles Handeln ermöglichen. Die bereits angesprochenen Reflexionsräume, die dafür notwendig sind, müssen neben der Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen auch weitere Aspekte des pädagogischen Verhältnisses mitberücksichtigen. Ein ganz wesentlicher ist die Machtasymmetrie. Kessl merkt kritisch zu der hier eingenommenen vulnerabilitätstheoretischen Perspektive an, dass die angenommene Schutzbedürftigkeit von Kindern, die derzeit wohlfahrtsstaatlich gegebene, unterschiedlich machtvolle Positionierungen von Kindern und Erwachsenen zementiert (Kessl 2017b). Die Betonung der generationalen Ordnung führe dazu, dass Kinder und Erwachsene weiterhin als Personen mit unterschiedlichem Rechtsstatus angesehen würden. Die paternalistische Perspektive auf Kinder als uneigenständig und schwach, sowie die sich daraus ergebenden fürsorglichen Aufgaben führe dazu, dass die Rechte von Kindern nicht in einem emanzipatorischen Sinn durchgesetzt werden könne und sich das generationale Machtverhältnis verstärke (Kessl 2017b).

Gerade in Bezug auf Gewalt ist das Verhältnis von Schutz und Ermächtigung diffizil. Bestehende Machtverhältnisse und das Ausnutzen von Macht sind immer Voraussetzung für Gewalt. Diese Machtverhältnisse müssen berücksichtigt werden. Gleichzeitig führt eine ausschließliche Positionierung von Kindern als vulnerable und schwach dazu, dass diese Gefahr laufen gänzlich ohnmächtig zu werden. Widerständige Praxen gerade auch von Betroffenen, das Artikulieren und die Einschätzung eigener Bedürfnisse von Kindern können so leicht überhört werden. Eine Positionierung als schwach und ohnmächtig könnte so die Gewaltverhältnisse verstärken. Gleichzeitig ergibt sich aus bestehenden Machtverhältnissen auch Verantwortung für Taten und institutionelle Konstellationen. Eine Stärkung der Akteursposition von Kindern darf nicht dazu führen, dass diese mitschuldig gesprochen werden oder sich schuldig fühlen, weil sie als kompetente Personen sich hätten widersetzen können. Gerade in der Präventionsarbeit, die oftmals einen Schwerpunkt auf die Stärkung der Kinder legt muss dies berücksichtigt werden.

Machtasymmetrie

„Macht ist in sozialen Prozessen unvermeidlich. Sie ist, wie das Bild der Machtbalance von Norbert Elias verdeutlicht, (Elias 1970/2004; Wolf 2007), überall existent, wo Menschen ihr Verhalten aufeinander abstimmen.“ (Urban-Stahl 2018: 80). In pädagogischen Beziehungen, wo eine Person als Helfende und die andere als Hilfeempfangende situiert wird, kommt es automatisch zu einer Machtasymmetrie, die den Helfenden Machtmittel (Wolf 1999) und Definitionsmacht verleiht, während Hilfeempfangende eher abhängig sind. Das bedeutet keinesfalls, dass die einen alle Macht und die anderen keine haben. Vielmehr geht es um die strukturelle Ungleichheit, in der Macht verteilt ist und die den pädagogischen Fachkräften eine besondere Verantwortung gibt, diese im Interesse der Kinder und Jugendlichen zu nutzen (Urban-Stahl 2018: 80). In Wohngruppen der Heimerziehung ist die Machtasymmetrie aber nur zum Teil durch das pädagogische Verhältnis zu erklären. Weiter gründet sie auch auf der Tatsache, dass es sich immer um Generationen- und Sorgeverhältnisse handelt, denen ebenfalls Machtungleichheiten inhärent sind.

Die Machtasymmetrie eröffnet den Fachkräften auch die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1972: 28). Gewalt, auch sexuelle Gewalt in pädagogischen Beziehungen, setzt einen Missbrauch der Machtasymmetrie voraus, der der Bedürfnisbefriedigung der pädagogischen Fachkräfte dient und den Kindern und Jugendlichen Leid zufügt (vgl. 2.2.2). Insofern kann diese pädagogische Bedingung von Institutionen als risikovoll für sexuelle Gewalt beschrieben werden:

„Die bewusste Steigerung von immanenten Asymmetrien und Abhängigkeiten in Erziehungs- und Bildungsverhältnissen schafft Bedingungen, in denen Kinder und Jugendliche dem Handeln von Erwachsenen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind und die jene somit leicht zur Befriedigung eigener Bedürfnisse ausnutzen können.“

(Pöter/Wazlawik 2018: 38)

Bedeutend an der Ausführung von Pöter und Wazlawik (siehe auchWolff 2015: 213) ist, dass der Machtmissbrauch „bewusst“, das heißt intentional geschieht. Auch wenn das Handeln ggf. nicht reflektiert wird, so steht das eigene Bedürfnis nach Macht oder sexueller Befriedigung doch im Vordergrund.

Der Missbrauch von Macht kann in pädagogischen Institutionen nicht ohne Kontext gesehen werden. Er setzt institutionelle Gegebenheiten voraus, die den Machtmissbrauch möglich machen. Dazu zählt eine alltägliche Realität, in welcher Grenzen von Kindern und Jugendlichen ständig überschritten werden und die von unzureichendem Respekt zeugt. Gewalt wird hier normalisiert. Es kommt zu einer grundlegenden Desensibilisierung, durch die sexuelle Gewalt vielleicht gar nicht als solche erkannt werden kann. Zu einer Kultur der Gewalt tragen nicht nur diejenigen bei, die Gewalt ausüben, sondern auch Kolleg*innen, die diese dulden (Pöter/Wazlawik 2018: 39).

Vertrauen

Mit Martin Hartmann lässt sich Vertrauen wie folgt definieren:

„Vertrauen ist eine relationale, praktisch-rationale Einstellung, die uns in kooperativer Orientierung und bei gleichzeitiger Akzeptanz der durch Vertrauen entstehenden Verletzbarkeiten davon ausgehen lässt, dass ein für uns wichtiges Ereignis oder eine für uns wichtige Handlung in Übereinstimmung mit unseren Wünschen und Absichten eintritt, ohne dass wir das Eintreten oder Ausführen dieses Ereignisses oder dieser Handlung mit Gewissheit vorhersagen oder intentional herbeiführen können und auf eine Weise, dass sich das durch Vertrauen ermöglichte Handeln unter eine Beschreibung bringen lässt, die wesentlich einen Bezug auf das Vorliegen verschiedener Handlungsoptionen enthält.“

(Hartmann 2011a: 56)

In der Definition wird deutlich, dass Vertrauen immer auf die Zukunft gerichtet ist. Personen vertrauen darauf, dass etwas eintritt oder eben nicht. Dabei gründet sich diese Einstellung auf praktisch-rationale Überlegungen, die sich auf eigene und/oder stellvertretende Erfahrungen sowie einem „public image […] die subjektive Wahrnehmung und Zuschreibung in der Öffentlichkeit“ (Wagenblas 2018: 1808) gründet. Eine Gewissheit, wie Hartmann es formuliert, über das Eintreffen dessen, worauf vertraut wird, gibt es nicht. Damit ist Vertrauen konstitutiv mit dem Risiko verbunden, dass es missbraucht werden kann und der Vertrauende verletzt wird (Mühlmann 2014: 203).

In vielen Bereichen des Lebens wird aber Vertrauen benötigt, um handlungsfähig zu sein, so auch in der Kinder- und Jugendhilfe. Es braucht ein gesellschaftlich „[g]eneralisiertes Vertrauen in die Soziale Arbeit“, „Vertrauen in interprofessionelle Kooperation“ und „Vertrauen als strukturierendes Moment in der Beziehung zwischen AdressatInnen und Professionellen“ (Wagenblas 2018: 1808 ff).

Birgit Bütow (2012) erläutert, warum es wichtig ist, Vertrauen als „pädagogische Kategorie“ in den Blick zu nehmen. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden, auf denen sie argumentiert. Zunächst zur Ebene des persönlichen Vertrauens:

Im Kontext von hierarchischen Beziehungen zwischen PädagogInnen und Schutzbefohlenen muss also von einer Verantwortung und Vertrauenswürdigkeit der Erwachsenen ausgegangen werden. Daher sind sexuelle Übergriffe immer auch Missbrauch von Vertrauen durch Professionelle, die zunächst v.a. für die Betroffenen eine grundlegende Erschütterung ihres personalen Vertrauens in erwachsene Personen darstellen und oftmals auch durch die Kontextbedingungen von Tabuisierung und Redeverbot lange Zeit verdrängt werden.

(Bütow 2012: 829)

Wenn Vertrauen für die pädagogische Arbeit also notwendig ist, um diese gestalten zu können, ist sexuelle Gewalt nicht nur Macht-, sondern auch Vertrauensmissbrauch. Auf der zweiten Ebene „führen sexuelle Übergriffe in Institutionen der Jugendhilfe zu einem Misstrauen gegenüber (sozial-)pädagogischen Institutionen, den darin tätigen Professionellen und den zu Grunde liegenden Konzepten.“ (Bütow 2012: 833, Hervorh. i.O.). Auch wenn Vertrauen in Personen und Institutionen mit dieser Einordnung als risikovolle Bedingung erfolgt, so ist die Feststellung wichtig, dass Vertrauen in pädagogischen Beziehungen nicht durch Kontrolle ersetzt werden kann, da Vertrauen notwendig ist, um den Anderen als autonomes Wesen anzuerkennen (Mühlmann 2014).

Sexualität

Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben sexuelle Bedürfnisse, sie haben den Anspruch darauf, nicht nur ihre Lüste gut gebrauchen zu können, dies vor allem in einer Weise zu lernen, die der Würde des Menschen gerecht wird.“

(Winkler 2013: 94, Hervorh. i.O.)

Dieser Satz von Winkler ist so grundlegend, dass man meinen könnte, es müsse nicht an diese Tatsache erinnert werden. Und doch ist sie im Kontext der Heimerziehung oftmals nicht handlungsleitend. In seinem Kommentar zum Thema sexuelle Gewalt und den erziehungswissenschaftlichen sowie pädagogischen Umgang damit, problematisiert Winkler für pädagogische Institutionen, „dass Sexualität zum Tabu erklärt oder in eine Grauzone des Schmuddeligen verschoben wird.“ (Winkler 2013: 94). Auch wenn Winkler hier die aktuelle Debatte als Ausgangspunkt nimmt, so ist es nicht neu, dass stationäre Heimeinrichtungen ein problematisches Verhältnis zu Sexualität hatten und haben (vgl. 2.3.2). Sexuelle Verwahrlosung war im 20. Jahrhundert besonders für Mädchen ein sehr häufiger Grund für die Unterbringung in einem Heim. Dabei wurde nicht zwischen sexuell riskantem Verhalten und Gewalterfahrungen der Mädchen und Jungen differenziert (Kuhlmann 2008: 13).

Wie bereits ausführlich dargestellt, ist es in der Tat so, dass Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung relativ oft Gewalt und zum Teil auch sexuelle Gewalt erfahren haben und mit diesen traumatischen Erfahrungen in die Heimeinrichtung kommen (s. o.). Sexuelle Gewalterfahrungen allein sind aber heute nicht mehr der Grund für die Einleitung der Hilfe, sondern sie sind Teil der Gefährdung. Nur der Umstand, dass diese Gefährdung nicht anders bearbeitet werden kann, führt dann zu einer Unterbringung.

Die Sexualität der Kinder und Jugendlichen, so zeigt sich, ist für Heimeinrichtungen eine große Herausforderung. Pöter und Wazlawik stellen aufgrund ihres Reviews von Aufarbeitungsberichten fest, dass es in Heimeinrichtungen zu „Tabuisierung bzw. Verurteilung von körper- und sexualbezogenen Themen (z. B. Körper- und Sexualfunktionen, pubertätsbedingten Veränderungen) als widerwärtig oder schämenswert“ (Pöter/Wazlawik 2018: 39) kommt. Besonders deutlich zeigt sich das in katholischen Internaten (Keupp et al. 2017b, 2017a). Ebenso sehen Behnisch und Schäfer eine Tabuisierung und starke Reglementierung von Sexualität, die den Blick dominant auf problematische Aspekte der jugendlichen Sexualität lenkt (Behnisch/Schäfer 2018: 473). Elisabeth Tuider spricht auch für die gegenwärtige Pädagogik von einer Reduktion auf eine „Gefahrenabwehrpädagogik“ (Tuider 2015: 71). Sophie Domann und Kolleg*innen (Domann et al. 2015; Domann 2020) arbeiten aus der Perspektive der Jugendlichen heraus, dass diese ebenfalls eine Reduktion von Sexualität auf rigide Regeln und Verbote, sowie für sie beschämende Klatsch- und Sensationsgeschichten sehen. Auch Dominik Mantey (2017, 2019) zeigt, dass Jugendliche den Umgang mit Sexualität in Heimeinrichtungen kritisch sehen. Als weitere Punkte werden angeführt, dass das Fehlen von Räumen für Sexualität und die Weitergabe von Informationen innerhalb der Institution als problematisch angesehen werden. Die befragten Jugendlichen fühlen sich mit ihren Fragen und Bedürfnissen rund um Sexualität allein gelassen. Die dennoch stattfindende Sexualität wird verheimlicht. Das gilt auch für sexuelle Gewalt, die in diesem tabuisierenden Klima „unentdeckt, verschwiegen oder unbesprochen bleibt.“ (Behnisch/Schäfer 2018: 475). Die Tabuisierung, Normierung und Abwertung von Sexualität führen dazu,

„dass die Erfahrung sexualisierter Gewalt als paradoxer Bruch mit solchen Einrichtungsnormen schwer eingeordnet werden kann. Damit ist nicht nur der Widerstandsfähigkeit von Opfern eine Grundlage entzogen, sondern potenziell auch die Wahrscheinlichkeit verringert, dass Heranwachsende sich im Bewusstsein, Gewalt erlebt zu haben, hilfesuchend an Dritte wenden.“

(Pöter/Wazlawik 2018: 39).

Die Normverschiebung gilt sowohl für sexualfeindliche Einrichtungen als auch für Einrichtungen, die die sexuelle Sozialisation der Kinder und Jugendlichen explizit zum Thema machen. Am Beispiel der Odenwaldschule hat sich gezeigt, dass in einer Atmosphäre sexueller Liberalität eine parallele Existenz unterschiedlicher sexueller Moralvorstellungen unproblematisch nebeneinander existieren konnte. Auffassungen, wonach reife Männer Jungen in die Sexualität einführen konnten, dienten dazu, pädosexuelle Handlungen zu legitimieren (Brachmann 2019: 317).

Behnisch und Schäfer betonen die Verbindung zu struktureller Missachtung des asymmetrischen Machtverhältnisses:

„Es gibt keine selektive Kultur der Grenzachtung in sexueller Integrität, wenn ansonsten Übermächtigkeit geradezu notorisch erzeugt wird. Deshalb braucht gerade die Heimerziehung – als Institution mit einem hohen Grad an leiblicher und seelischer Abhängigkeit – eine Alltagskultur der Anerkennung, eine Reflexion ihrer Machtstrukturen und normativen Mustern.“

(Behnisch/Schäfer 2018: 475)

Der Hinweis auf den starken Zusammenhang zwischen Macht und Sexualität zeigt an dieser Stelle noch einmal, dass die Trennung der einzelnen Bedingungen künstlich ist und nur dazu dient, bestimmte Logiken zu verstehen. Sexualität ist ohne ein interpersonales und gesellschaftliches Machtverhältnis nicht denkbar. Dies ist gerade dann besonders wichtig, wenn über einen organisationalen Umgang mit Sexualität und sexueller Gewalt nachgedacht wird.

In der Heimerziehung wird ein Verständnis dafür benötigt, dass zum bestmöglichen Schutz vor sexueller Gewalt und zur Schaffung der Möglichkeit, erfahrene Gewalt ansprechen und zu bearbeiten zu können, einige Faktoren von essenzieller Wichtigkeit sind. Dazu gehören u. a. die Entwicklung eines subjektiven Konzeptes sexueller Integrität (Helfferich et al. 2019), das Kennen der eigenen Grenzen sowie die Möglichkeit, eine Sprache für den eigenen Körper und die eigene Sexualität zu haben und hierüber ohne Beschämung sprechen zu können (Helfferich/Kavemann 2016). Dabei sind sowohl die Organisationen als auch die einzelnen pädagogischen Fachkräfte in der Ausgestaltung der Organisationskultur sehr mächtig. Die aktuelle Forschungslage zeigt, dass es für diese Notwendigkeit oftmals bislang noch kein Verständnis gibt.

Gleichzeitig zeigt sich im wissenschaftlichen und disziplinären Diskurs– deren Teil die hier zitierten Autor*innen ja ebenfalls sind – dass die Notwendigkeit gesehen wird, insbesondere institutionell zu regieren. Es werden Ansätze zur sexuellen Bildung (weiter-) entwickelt (Schmidt/Sielert 2013; Voß/Krolzik-Matthei/Linke 2019), es gibt Hinweise auf die Notwendigkeit, Orte der Reflexion innerhalb der Einrichtungen zu schaffen (Günder/Nowacki 2020), die Forderung, eine Offenheit herzustellen, „die den Mädchen und Jungen ermöglicht, mit Erziehenden über sexuelle Erfahrungen zu sprechen, und eine alters- und zeitgemäße Information über Sexualität“ (Behnisch/Schäfer 2018: 474; Helfferich/Kavemann/Kindler 2016). Es gibt Kampagnen, um der Tabuisierung von Sexualität (Tuider 2012) und sexueller Gewalt (UBSKM o. J. b) entgegenzuwirken. Es gibt aber auch den Hinweis, dass ein zu hohes Maß an Sexualpädagogik überfordern kann und eine „selbst gesteuerte Sexualerziehung“ (Mantey 2019: 125) nötig ist. Organisationen sind durch die Politik dazu aufgefordert, umfassende Schutzkonzepte zu entwickeln (Bergmann 2012). Es wird viel Energie investiert, dass diese gut ausgestaltet werden (Domann/Oppermann/Rusack 2019; Oppermann et al. 2018; Pooch/Tremel 2016; Wolff/Schröer/Fegert 2017; Wazlawik et al. 2014).

„Gleichwohl muss klar sein, dass keine noch so elaborierte Form des instrumentellen Handelns das Risiko von Übergriffen ausschließen kann (Theißen 2011; Winkler 2013). Daher wäre eine Verengung auf funktionelle und instrumentelle Aspekte kontraindiziert, wenn sie eine naive Scheinsicherheit suggerieren würde (Bütow 2012, S. 832). Sie könnte sogar noch zu einem angstvoll tabuisierenden Umgang mit Sexualität im Alltag führen, der Körperlichkeit und Intimität pädagogisch zu entsorgen versucht und dadurch den Heranwachsenden keine Erfahrungswelten im Umgang mit den eigenen Intimitätsgrenzen und den Grenzen anderer ermöglicht. Mehr noch: Eine so erzeugte Entfremdung und Verdinglichung durch Distanz und formalisiertes Handeln riskiert ihrerseits unterdrückungsanfällig zu werden (Winkler 2013, S. 94).“

(Behnisch/Schäfer 2018: 472)

Im Anschluss an die hier vorgebrachte Position von Behnisch und Schäfer mit Rückgriff auf andere Autor*innen wäre die Frage zu stellen, ob die Etablierung von Schutzkonzepten, so sinnvoll sie in vielen Teilen auch ist, nicht den Impetus der Gefahrenabwehrpädagogik verdoppelt. Eine Antinomie, die nicht gelöst, jedoch pädagogisch bearbeitet werden muss.

2.4.3 Konzeptionelle Bedingungen

Institutionelle Bedingungen sexueller Gewalt in den Fokus rücken, stehen auch einige Konzepte in der Kritik, Bedingungen für sexuelle Gewalt an Schutzbefohlenen zu schaffen. In der medialen und fachwissenschaftlichen Öffentlichkeit waren und sind besonders reformpädagogische und katholische Institutionen im Fokus (siehe 2.1).Footnote 28Wichtige Aufarbeitungsstudien haben sich explizit mit den konzeptionellen bzw. ideologischen Bedingungen dieser zwei Institutionstypen befasstFootnote 29.

Ein weiterer Typ von Einrichtungen, über den in der letzten Dekade Gewaltverhältnisse öffentlich geworden sind, sind Einrichtungen mit fakultativ geschlossener Unterbringung und quasi geschlossene Heimeinrichtungen (Kutter 2016; Lorenz 2020; Kessl/Lorenz 2017). Die wohl bekanntesten Fälle sind hier die Haasenburg (Kutter 2018; taz 2013) und der Friesenhof (Kutter 2019). Auch wenn für diese Heime nicht sexuelle Gewalt im Zentrum der Kritik stand, so ist auch hier nachweisbar, dass Grenzen sexueller Integrität überschritten worden sind und es mindestens auch in einzelnen Fällen zu juristisch relevanten Formen sexueller Gewalt gekommen ist (Spiegel 2015).

Beeinflusst von der Diskussion um reformpädagogische Einrichtungen wurden auch familienanaloge Konzepte als risikovoll diskutiert. Neben einem Forschungsverbund, der grundlegend die Aspekte von Familialität in pädagogischen Institutionen in den Blick nahm (Kessl et al. 2012; Kessl et al. 2015b; Bittner/Wittfeld 2017; Wittfeld/Bittner 2019; Reh/Kessl 2018), gab es auch eine Aufarbeitungsstudie zu sexueller Gewalt in SOS-Kinderdörfern, deren primäres pädagogisches Kriterium die Adaption von Familie ist (Schreiber 2014). Auch die oben genannten Studien zur Odenwaldschule diskutieren die Risikohaftigkeit des für die Organisation konstitutiven Familienprinzips.

Im Folgenden werden nun diese vier Konzepte auf ihre Risikohaftigkeit untersucht. Deutlich wird, wie die Konzepte einzelne zuvor besprochene Bedingungen stärker betonen und andere eher negieren. Im Fall der Reformpädagogik erfolgt die Darstellung am Beispiel der Odenwaldschule, da diese am umfassendsten erforscht ist. Auch wenn weitere Gewaltkonstellationen in reformpädagogischen Einrichtungen bekannt sind (bspw. Harder 2010), gibt es hier bislang wenig systematische Zusammenführungen der Erkenntnisse. Für die anderen Konzepte werden stärker generalisierte Erkenntnisse in den Blick genommen.

Das Landerziehungsheim Odenwaldschule und risikovolle Bedingungen der Reformpädagogik

Dieser Abschnitt hat zum Ziel, am Beispiel der Odenwaldschule Risiken für das reformpädagogische Konzept aufzuzeigen. Dabei wird zunächst intensiv der Einzelfall betrachtet und dann von diesem abstrahiert. Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle, dass Risiken in keinem Fall gleichzusetzen sind mit Kausalitäten. Das Aufzeigen konzeptioneller Risiken bedeutet nicht, dass hier vorgeschlagen wird, das reformpädagogische Konzept generell zu verwerfen. Vielmehr soll auf Risiken aufmerksam gemacht werden, um mit ihnen pädagogisch informiert umgehen zu können.

Das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Oberhambach ist wohl die prominenteste, am meisten besprochene und am besten erforschte Einrichtung, in der es ein umfassendes System sexueller Gewalt gegeben hat. Sie ist auch in dieser Arbeit verschiedentlich schon thematisiert worden (vgl. 2.1 und 2.3). Unterschiedliche Studien haben gezeigt, dass es an dem 1910 von Paul und Edith Geheeb gegründeten Internat spätestens ab Ende der 1960er Jahre hundertfach schwere sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gegeben hat (Brachmann 2019; Burgsmüller/Tilmann 2019; Keupp et al. 2019; Brachmann 2015; Oelkers 2016). Zudem gibt es umfangreiche autobiografische und journalistische Berichte (Dehmers 2011; Jens 2011; Hentig 2016; Mehrick 2018; Füller 2011), zwei filmische Dokumentationen (Schilling/Schmid 2014; Röhl 2012) und einen an den Berichten orientierten Spielfilm (Röhl 2014), die die gewaltvolle Konstellation umfassend beschreiben.

Eine zentrale Figur in dieser Gewaltkonstellation ist der Theologe Gerold Becker, der offiziell von 1969 bis 1988 zunächst als Lehrer und wenige Jahre nach Dienstantritt als Schulleiter an der Odenwaldschule tätig war. Folgt man Brachmann, der die Person Gerold Becker umfassend analysiert hat, so handelt es sich bei ihm um einen „pädagogischen Dilettant[en]“ (Brachmann 2019: 246) der aufgrund persönlicher Seilschaften in die Position des Schulleiters an der Odenwaldschule gekommen ist. Besonders wichtige Steigbügelhalter waren hierbei sein späterer Lebenspartner Hartmut von Hentig und der Leiter des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung Helmut Becker, die ihn beide aus dem erziehungswissenschaftlichen Kontext an der Universität Göttingen kannten. Dabei war die Verbindung zu Lehrstuhlinhaber und Laborschulleiter Hartmut von Hentig für Becker besonders gewinnbringend, um sich als „außergewöhnlicher Pädagoge“ (Brachmann 2019: 246) darstellen zu können. Seine pädagogischen Ausführungen waren Ende der 1970er Jahre sogar so anerkannt, dass er die Laudatio zur Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ an Astrid Lindgren im Jahre 1978 halten durfte. Helmut Becker dahingegen war derjenige, der Gerold Becker an die Odenwaldschule holte, obwohl er sehr wahrscheinlich von seiner pädosexuellen Orientierung und den bereits damals gegen ihn bestehenden Vorwürfen bezüglich sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wusste (Brachmann 2019). Beide Erziehungswissenschaftler waren überaus einflussreich im Bildungsdiskurs ab den 1970er Jahren.

Die Diskrepanz zwischen der geringen pädagogischen Qualifikation, die sich auch im alltäglichen Handeln in der Schule zeigte, und der gesellschaftlichen Anerkennung Beckers ist programmatisch. In den oben zitierten Studien und Berichten wird er immer wieder als besonders charismatisch, überzeugend und für sich einnehmend dargestellt. Brachmann schreibt dazu:

Dass dieser Mann nur im Geringsten zu etwas Anderem als zu achtungsvoller pädagogischer Liebe zu den ihm anvertrauten Kindern und Jugendlichen fähig sein könnte, dass er unschuldig Heranwachsenden Leid antäte, ihnen Schmerz bereitete, war schlicht denkunmöglich.

(Brachmann 2019: 253)

Diese Denk-Unmöglichkeit, die Brachmann hier konstatiert, bezieht er auf die besondere Position und Person von Gerold Becker. Gleichwohl wird diese Studie zeigen, dass das Phänomen der Denk-Unmöglichkeit weitaus umfassender ist, als sich aus dieser Stelle ableiten lässt.

Die breite öffentliche Reputation Gerold Beckers führte dazu, dass er auch in Ober-Hambach jenseits aller Kritik stand (Brachmann 2019: 246). Die Forschergruppen um Brachmann und Keupp (Keupp et al. 2019) zeigen eindrücklich, wie Gerold Becker eine sukzessive Umstrukturierung der Odenwaldschule gelang, die ihm freien Zugriff auf Jungen ermöglichte und ihn gleichzeitig gegen Kritik immunisierte. „[E]in wesentliches Moment der Begünstigung dieser Verbrechen [ist] die Entstehung eines Tätersystems“ (Brachmann 2019: 244). Dieses Tätersystem bezieht sich sowohl auf externe als auch interne Unterstützer. Zwei Gönner und Protegés von außen wurden bereits genannt, weiter hatte Becker u. a. gute Verbindungen zu anderen Landerziehungsheimen, der West-Berliner Jugendhilfe und dem Senat und auch in das hessische Kultusministerium sowie zu bedeutenden Politikern, z. B. dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Nach innen gelang es Becker, neue Kolleg*innen zu rekrutieren und Kritiker*innen auszuschalten (Brachmann 2019: 208 ff). Dabei holte er gezielt pädagogisch gering oder nicht qualifiziertes Personal an die Schule, was auf den ersten Blick zu dem freizügigen, Regeln infrage stellenden Image der Schule passte. Gleichzeitig waren die geringqualifizierten Lehrkräfte aber in einem hohen Maße abhängig, weil die Wahrscheinlichkeit klein war, dass sie an anderen Schulen eingestellt worden wären. Zudem gibt es bezüglich einiger als weitere Haupttäter identifizierter Personen zumindest Indizien, dass die ähnlich alten und aus einem bündischen Kontext stammenden Täter von ihren Neigungen wussten und das System gegenseitig stabilisierten. Die Auswahl des Personals und die (Nicht-)Qualifizierung des Personals ist bei den organisationalen Bedingungen bereits angesprochen worden. An der Odenwaldschule wurden diese gezielt genutzt, um ein Tätersystem zu erschaffen. Hier handelt es sich nicht um einen Risikofaktor, der für die Reformpädagogik steht, sondern der vor allem von wenig Aufsicht zeugt. Dass die Schule jedoch so wenig unter Aufsicht stand und ihr so viel Vertrauen entgegengebracht wurde, liegt an der ideologisierten Positionierung des als außergewöhnlich markierten Projektes. Es kam also zu einer Überhöhung der Institution, weil angenommen wurde, dass die ideologische Ausrichtung zwingend positiv für die Kinder und Jugendlichen sein musste. Der explizit formulierte reformpädagogische Anspruch wurde so zum Schutzmantel, unter dem Taten verrichtet werden konnten, die mit konzeptionellen Ansprüchen unvereinbar sind.

Als weiteres Risiko beschreibt Brachmann die gezielte Zentralisierung der Macht durch Becker auf seine Funktion als Schulleiter, der die so prominent hervorgestellten demokratischen Prozesse an der Odenwaldschule faktisch aussetzten konnte.

Die Odenwaldschule war bereits vor der Ära Becker bundesweit bekannt für ihre reformpädagogische Orientierung, die in den 1950er und 1960er Jahren mit der Entwicklung einer neuen gymnasialen Oberstufe und neuen Konzepten für den Unterricht wegweisend war (Keupp et al. 2019). Gerade dieses innovative pädagogische Potential und die strikte und konsequente Ablehnung von faschistischem Denken prägte die Schule nach dem Krieg und führte zu einer hohen Affinität für die Bildungsreformen der 1970er Jahre. Diese starke gesellschaftliche Stellung führte aber auch dazu, dass das Bild nach außen möglichst wenig beschädigt werden sollte und es ist belegt, dass bereits vor der Einstellung Beckers mindestens zwei sexuelle Gewalt-Konstellationen nicht, bzw. nicht hinreichend aufgearbeitet wurden (Brachmann 2019: 27 ff).

Der Status der Odenwaldschule als „Leuchtturm“ (Keupp et al. 2019) färbte auf seine Bewohner*innen ab. Sie wurden durch die Mitgliedschaft in der Institution gewissermaßen zur Elite, zu den Auserwählten, die Teil dieses bedeutenden pädagogischen Projektes sein durften. Die Aufdeckung der Gewaltkonstellationen hätte bedeutet, dass die Reputation der Mitglieder dieses Systems ebenfalls angegriffen worden wäre. Das „institutionelle Elitebewusstsein und [der] Überlegenheitsanspruch des Landerziehungsheims [erschwerte] eine distanzierte Selbstreflexion der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ (Langenfeld in Brachmann 2019: 325). Dieser Mechanismus führt über lange Zeit zu einem Verschweigen und Wegsehen:

„ein elitäreres Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl sowie drohende gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse erzeugten bei allen Beteiligten (Kindern, Jugendlichen, Eltern, Pädagogen) immer auch ein hohes Maß an „adaptiver Akzeptanz“ bzw. eine „Kultur des Zweifelns“ – quasi als Grundlage für eine institutionelle Tabuisierungsmentalität, nach der es Mitgliedern einer Organisation in der Regel schwer fällt, aus Angst vor falschen Beschuldigungen oder sogar aus Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit von Betroffenen Anschuldigungen in Bezug auf sexualisierte Gewalt ernst zu nehmen; ein solches fragiles Orientierungsmuster hinsichtlich der eigenen und der organisationalen Verantwortung im Umgang mit Verdachtsfällen rückt vor allem Fragen des Selbst- und Institutionenschutzes in den Vordergrund, während die Frage nach Kindeswohlgefährdung sekundär erscheint.“

(Brachmann 2019: 442–443)

Dieser Aspekt ist eng verbunden mit These der Denk-Unmöglichkeit. Die vorliegenden Studien in Bezug auf die Odenwaldschule werfen die Frage auf, wie aktive Handlungen, wie (Ver-)Schweigen und Wegsehen, zu dem Phänomen der Denk-Unmöglichkeit im Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis unabhängig von der reformpädagogischen Konzeption näher zu betrachten, wird Teil der empirischen Untersuchung sein (vgl. Kap. 11).

Die bislang angeführten Bedingungen der Gewaltkonstellation sind in den individuellen Personen und ihrem Handeln sowie der ideologischen Überhöhung der Institution begründet. Diese Punkte sind weithin unstrittig. Jedoch wird über die fachwissenschaftlichen Publikationen hinweg diskutiert, ob die Reformpädagogik an sich sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene befördert. Dafür argumentiert besonders Oelkers (2011, 2016, 2014), dagegen bspw. Keupp et al. (2019: 410), die Position von Andresen (2014) ist dahingegen eher ambivalent.

Im Folgenden wird nun kurz auf institutionelle Bedingungen eingegangen, die der reformpädagogischen Prägung des Landerziehungsheims zugeordnet werden können. Wie einleitend bereits erwähnt, geht es dabei um immanente Risiken und nicht um kausale Bedingungen, die automatisch zu Gewaltkonstellationen führen. Keupp et al. (2019) benennen fünf typische widersprüchliche Realitäten der Odenwaldschule, die für ihr pädagogisches Konzept kennzeichnend waren und gleichzeitig für sexuelle Gewalt ausgenutzt wurden. Die folgende Darstellung übernimmt diese Systematik und ergänzt sie an einigen Stellen.

  1. (1)

    „Eine naturbezogene Idylle und zugleich ein Ort der unkontrollierbaren Gefahren“ (Keupp et al. 2019: 261 ff)

Die zuvor bereits problematisierte Geschlossenheit und Abgeschiedenheit von pädagogischen Institutionen ist eine reformpädagogische Maxime. Für die Odenwaldschule manifestierte sich diese in der abgeschiedenen Lage, außerhalb eines Dorfes, weitab vieler Einflüsse und der Erreichbarkeit von für die Schüler*innen möglicherweise wichtigen Personen. Auch innerhalb des Landerziehungsheimes gab es räumliche Isolation, die durch die einzelnen Gebäude, bzw. deutlich abgetrennte Wohnungen hervorgerufen wurden. Hier wohnten die Schüler*innen in Gruppen mit jeweils einem*einer Lehrer*in als sogenanntem Familienoberhaupt. Diese Privaträume der sogenannten OSO-FamilienFootnote 30 waren relativ geschlossen und die Ausgestaltung der Offenheit oblag den Familienoberhäuptern. Dieser mitten in der Natur gelegene Ort war im reformpädagogischen Konzept als Schutzraum angelegt, der den Schüler*innen zur Entfaltung dienen sollte. Von vielen Alt-Schüler*innen wird dieser besondere Charakter bis heute weiterhin wertgeschätzt und als gewinnbringend beschrieben.

Diese Abgeschiedenheit und Isolation trug jedoch zu einer großen Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen bei, die nicht oder nicht hinreichend kontrolliert wurde und so für Grenzverletzungen und sexuelle Gewalt ausgenutzt werden konnten. Die räumlichen Gegebenheiten wurden bewusst bespielt. So waren z. B. die beiden langjährigen Täter Gerord Becker und Wolfgang Held mit ihren OSO-Familien gemeinsam in einem Haus untergebracht.

  1. (2)

    „Ein alternativer Lernort mit demokratischer Lernkultur und unkontrollierter Macht“ (Keupp et al. 2019: 263 ff)

Die Studien über die Odenwaldschule zeigen, dass die Umgestaltung der Machtstrukturen in der Odenwaldschule maßgeblich von Gerold Becker vorangetrieben wurde. Dabei bezog sich dieser in seiner Argumentation auf reformpädagogische Grundsätze, die Mitbestimmung zentral stellten. Auf der Vorderbühne wurde scheinbar reflektiert auf die Machtasymmetrie zwischen Kindern und Lehrer*innen eingegangen (s. o.). Es handelte sich jedoch um eine pseudo-demokratische Haltung, denn:

„Mit dem Rückenwind einer antiautoritären Bewegung, die von den Hochschulen ausging und auch die Schulen erreichte, löste er zunehmend die innere Ordnungsbalance des Systems Odenwaldschule auf und vermochte es, einen großen Teil der Schüler*innen populistisch auf seine Seite zu ziehen. Es war kein Abgesang demokratischer Mitwirkung, teilweise sogar ein expliziter Bezug auf basisdemokratische Verfahren, aber es war zugleich die Demontage differenzierter Mitwirkungsformen durch eine personalisierte Machtkonzentration im Gewande eines liberalen und toleranten Schulleiters.“

(Keupp et al. 2019: 270)

Auch in diesem Fall wurde eine konzeptionell gewollte Bedingung, die demokratische Organisation, ausgenutzt, um ein Gewaltsystem zu etablieren.

  1. (3)

    „Orientierung am Subjektstatus von Kindern und seiner gleichzeitigen Missachtung“ (Keupp et al. 2019: 272 ff)

Der Leitsatz der Odenwaldschule „Werde, der Du bist“ macht die grundlegende Subjektorientierung der Institution deutlich (vgl. bspw. Schwitalski 2015). Auch Betroffene sexueller Gewalt an der Odenwaldschule berichten, dass sie dort als ganze Person gesehen wurden und bringen die erfahrene Gewalt nur schwer in einen Zusammenhang mit dieser Haltung. Für Gerold Becker, aber auch für andere Täter*innen zeigen Brachmann et al., dass sie die Anerkennung des Subjektstatus auch zur Legitimierung der Gewalt benutzten. Zum einen betonten sie das Sexuelle als Teil des Subjektes und argumentierten für eine Erziehung zur sexuellen Freiheit durch die Erwachsenen. Hier wird auch immer wieder Bezug genommen auf die Figur des pädagogischen Eros (vgl. auch Oelkers 2011). Die starke Betonung des Subjektes wurde aber auch genutzt, um eine Begegnung auf Augenhöhe – auch im Sexuellen – zu begründen und so sexuelle Handlungen als einvernehmlich darzustellen (Keupp et al. 2019: 289 ff). Auch Kappeler (2011: 208) und Bütow (2012: 831) bewerten das Konzept des pädagogischen Eros kritisch und gehen davon aus, dass es als Legitimation sexueller Gewalt an Schutzbefohlenen dient. In Bezug auf die oben dargestellten Bedingungen geht es hier zum einen um die Vulnerabilität der Kinder, die auf eine perfide Art ausgenutzt wird, und unmittelbar damit verbunden um die Verschleierung der Machtverhältnisse, die eine notwendige, unüberwindbare Machtasymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen negiert.

  1. (4)

    „Die ‚sexuelle Revolution‘ erreicht die Odenwaldschule und erleichtert pädokriminelle Zugriffsmöglichkeiten“ (Keupp et al. 2019: 274 ff)

Keupp et al. ordnen die sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene auch in den bereits bestehenden gesellschaftlichen Kontext ein, in dem die sexuelle Revolution auch im gesellschaftlichen Kontext Fragen nach Grenzen zwischen der Sexualität von Erwachsenen und Kindern aufwarf (Baader 2012, 2018; BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2016). „In der Odenwaldschule dominierte eine radikal-libertäre Auffassung von Sexualität das Verständnis von Erziehung und Entwicklung. Hier wurde sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Zeichen von Freiheit und Gleichheit und nichtautoritärer Erziehung verübt.“ (Kappeler 2014: 13). Kappeler betont hierzu, dass nicht Becker allein für die Gewalt verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass auch der Trägerverein der Schule und der Verband der reformpädagogischen Landerziehungsheime in der Verantwortung stehen, diese grenzverletzende Atmosphäre zugelassen zu haben. Brachmann et al. arbeiteten ebenfalls heraus, dass es Verbindungen Beckers in das Berliner Jugendamt gab, das unter Helmut Kentler Pflegekinder an bekannte Pädosexuelle vermittelte (Baader et al. 2020). Oelkers (2011) geht davon aus, dass es reformpädagogische Traditionen der sexuellen Gewalt gegen Schutzbefohlene gibt, die sich bereits in den Gründungsjahren belegen lassen. In diesem Punkt wird der gesellschaftliche Kontext als Teil der Gewaltkonstellation explizit. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dienen als Legitimationsfolie für pädosexuelle Handlungen. Zudem wird an den Verbindungen zum Jugendamt, aber auch in die hessische Politik deutlich, wie Schul- und Heimaufsicht in Bezug auf die Odenwaldschule versagt haben.

  1. (5)

    „Gemeinschaft und (Ersatz-)Familie, aber auch ‚familialer Missbrauchsort‘“ (Keupp et al. 2019: 280 ff)

Ein wesentliches organisatorisches Kennzeichen der Odenwaldschule war die Strukturierung des Landerziehungsheimes in kleine Wohngruppen, sogenannte „Familien“ mit einem*r Lehrer*in als Familienoberhaupt. Dass die Strukturierung einer stationären Unterbringung mit dem Bezug auf Familie ambivalent ist, wird weiter unten in Bezug auf Familienanalogie als Konzept dargestellt. Darüber hinaus war für das Familienprinzip an der Odenwaldschule besonders kennzeichnend, dass die Familienoberhäupter keiner sozialpädagogischen Qualifikation bedurften, um eine OSO-Familie zu leiten. Zudem mussten sie zugleich volle Lehrstellen ausfüllen und hatten für bis zu 13 Kinder und Jugendliche allein die Verantwortung. Ergänzendes pädagogisches Personal, wie es bspw. auch zu dieser Zeit in Kinderdörfern üblich war, gab es nicht. Insgesamt lässt sich die Arbeitssituation für viele Lehrkräfte als überfordernd einstufen.

Besonders kennzeichnend war auch, dass die Gestaltung der OSO-Familien vollkommen in den Händen der Familienoberhäupter lag. Es gab nahezu keine organisationale Rahmung, die das Leben in den OSO-Familien strukturiert hätte. In Bezug auf die Leitung der OSO-Familien war die Organisation also sehr unstrukturiert und in Bezug auf die Mitbestimmung innerhalb der ganzen Organisation hatte sie autoritär-rigide Züge. Diese Kombination eröffnete letztlich einen Freiraum für die Normalisierung sexueller Gewalt.

Weiter machte das Familiensystem an der Odenwaldschule aus, dass die Zugehörigkeit zu einer Wohngruppe extrem prekär war. Die latente Drohung, die Gruppe wieder verlassen zu müssen, findet sich auch als Machtmittel in anderen stationären Einrichtungen. Das kindliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit konnte damit vor dem Hintergrund diffuser Beziehungsverstrickungen ausgenutzt werden. Sexuelle Gewalt war demzufolge eine Währung, mit der Zugehörigkeit und Zuneigung erkauft werden konnte (Keupp et al. 2019: 307). Während das Familienprinzip nicht unbedingt typisch für reformpädagogische Institutionen ist und sich hier bereits Hinweise auf Risiken von Familialität zeigen, so weist dieser Punkt dennoch auf die Beziehung zwischen Pädagog*in und Schüler*in als wesentlichen Teil der reformpädagogischen Ausrichtung hin: Eine gute, wertschätzende, innige, aber auch diffuse Beziehung, die pädagogisch wertvoll sein soll, aber eben auch Abhängigkeiten schafft.

Vor den hier kurz zusammenfassend dargestellten Ergebnissen der umfangreichen Studien zur Odenwaldschule kann konstatiert werden, dass die Reformpädagogik, auf die sich die Odenwaldschule bezog, risikovolle Bedingungen für sexuelle Gewalt an Schutzbefohlenen aufweist. Alle hier genannten Punkte wurden als organisationale und pädagogische Bedingungen bereits behandelt. Sie sind kein Alleinstellungsmerkmal für die Reformpädagogik und finden sich auch in pädagogisch anders orientierten Einrichtungen, wenn auch nicht in genau derselben Ausprägung. Was als besonders risikovoll zu markieren ist, liegt nicht in der Reformpädagogik, sondern in einem System, das so sehr auf den Glanz von Gerold Becker und der Institution Odenwaldschule ausgerichtet war, dass Risiken nicht gesehen und kontrolliert wurden.Footnote 31

Katholische Klosterinternate Footnote 32

Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat zwei bedeutende Einzelfallstudien an katholischen Klosterinternaten durchgeführt. Zum einen im Benediktinerkloster Ettal (Keupp et al. 2017b) und zum anderen in Kremsmünster (Keupp et al. 2017a). Übergreifend über diese beiden Studien beschreiben die Auto*rinnen „drei Dimensionen“ des „Gefährdungskomplex[es]“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 658):

  1. (1)

    Das „Problem der strikten Geschlechtshomogenität“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 658)

  2. (2)

    Charakteristika von Personen [, die] unter spezifischen Kontextbedingungen zu Risikoeigenschaften werden“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 659) und

  3. (3)

    eine „rigide raum-zeitliche Alltagsorganisation“.Footnote 33

Die erste Dimension hat als Grundvoraussetzung, dass in den Klosterinternaten „Jungen von Männern erzogen“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 659) wurden. Dabei war die Erziehung darauf ausgerichtet, die Jungen im Sinne einer traditionellen Männlichkeit abzuhärten. Hilflosigkeit und Schwäche galten als unmännlich und das Überwinden von Zumutungen als männlich. In diesem Sinne wurde implizit und explizit erwartet, dass Gewalt erduldet wurde. Emotionale Zuwendung war nicht vorgesehen. In Bezug auf sexuelle Gewalt stellen die Autor*innen fest, dass sie sich als „nicht integrierbar in das dominierende normative System [erweist]. Das Erleiden dieser Gewaltform geht vielmehr mit der Bedrohung einher, aus der Gruppe der Männer insgesamt ausgeschlossen zu werden (Schlingmann, 2010)“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 660). Diese Denkfigur ist auch über den katholischen Kontext hinaus bekannt (Mosser/Lenz 2014).

Insgesamt wird festgestellt, dass sich in den Internaten eine „körper-, lust- und frauenfeindliche Sexualmoral“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 665) etabliert hat, wie sie sich in der Entwicklung des männlichen Priesteramtes der katholischen Kirche begründen ließ. Sexualität und das Verlangen danach galten somit als Sünde. Die Ausübung von Sexualität hatte schwere Strafen zur Folge und konnte zu Ausschluss führen. Auch für die Patres galt das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit (Zölibat), was zu einem unreflektierten, unreifen Umgang mit Sexualität und körperlichem Verlangen führte und von den Autor*innen auch als Risikofaktor für sexuelle Gewalt beschrieben wird (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 665 f). Die Tabuisierung von Sexualität findet sich nicht nur in katholischen Organisationen, hier ist jedoch die Intensität oftmals weitaus größer. Zudem kommt noch ein Spezifikum hinzu: Übergreifend für alle katholischen Einrichtungen gilt, dass die katholische Kirche bei der Weitergabe von Hinweisen auf sexuelle Gewalt „Whistleblowern“ mit Exkommunikation droht. So verhindert sie aktiv Aufarbeitung und schützt Täter (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 667). Zudem führt die Ächtung jeglicher Sexualität von Menschen im Zölibat als Sünde dazu, dass Grenzen zwischen einvernehmlicher Sexualität und sexueller Gewalt nicht deutlich wahrgenommen werden. So wird alle Sexualität, auch die weltlich positiv konnotierte zur Sünde und sexuelle Gewalt mit der Übertretung von Glaubensregeln auf eine Stufe gestellt (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 667).

Bei der zweiten Dimension geht es darum, „dass auf Selektion und Ausgrenzung beruhende pädagogische Haltungen in Kombination mit institutionellen Bedingungen dazu führen, dass sich Charakteristika von Schülern in Risikoeigenschaften verwandeln.“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 660). Dabei betonen die Forscher*innen, dass nicht die Charakteristika der Kinder das Problem sind, sondern die institutionellen Konstellationen, die die Gelegenheit zur sexuellen Gewalt geben. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Kindern sind die institutionellen Risiken jedoch ungleich verteilt und können kumulieren. In Bezug auf diese Dimension bleiben die Autor*innen vage, vermutlich bewusst, um nicht einzelne Charakteristika aufzurufen, die dann wiederum als risikovoll stigmatisiert werden könnten. An dieser Stelle kann es jedoch hilfreich sein, die Bedingung der Vulnerabilität mit einzubringen, die die ungleiche Verteilung von Verletzlichkeit betont und gleichzeitig die Bearbeitung dieser innerhalb der Institution verortet.

Als dritte Dimension sind für die klösterlichen Internate die ‚Regime der zeitlichen Ordnung‘ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 661) charakteristisch, die unumstößliche Taktung des Tagesablaufs, die mit Gewalt durch die Patres durchgesetzt wurde. „Indem sie [die Zeit, M.W.] sich mit dem allgegenwärtigen Modus der Bedrohung (z. B. Demütigungen, körperliche Gewalt oder sexualisierte Grenzverletzungen erleiden zu müssen) verbindet, wird die Zeit zu einem permanenten Erziehungs- und Machtmittel“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 661). Neben der Zeit ist auch der Raum ein Mittel zur Machtausübung. Hier wird die beeindruckende Architektur genannt und die räumliche Kollektivierung der Schüler*innen, die nahezu ohne Privatsphäre leben mussten. Das allein würde aus einer anderen konzeptionellen Perspektive bereits als Grenzüberschreitung betrachtet werden. Während in diesen kollektiven Räumen subtile, grenzverschiebende und desensibilisierende sexuelle Gewalt verübt wurde, gab es ein weiteres, zweites „räumliches Arrangement“. „Der massive sexuelle Missbrauch“ fand „hinter verschlossenen Türen statt“ (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 662), zu denen nur die Patres Zugang hatten. Diese Totalität der Institution verweist unweigerlich auf das Goffmansche Konzept und ist so heute für die Jugendhilfe nur in der Geschlossenen Unterbringung zu finden, auf deren Konzept im nächsten Abschnitt eingegangen wird.

Als weitere Risikofaktoren für die katholischen Internate benennen Keupp et al., dass die Patres nahezu ausschließlich aus der Schülerschaft des Internates gewonnen wurden. So wurde sichergestellt, dass sie die Traditionen des Klosters konservierten, dazu gehörte auch die Anwendung von Schwarzer Pädagogik, die Tabuisierung von Sexualität und die Dethematisierung von sexueller Gewalt. Die Patres mit Erziehungsaufgaben waren schlecht bis nicht ausgebildet für diese Aufgaben. Es gab eine Erwartungshaltung, dass die Patres zur Herstellung ihrer Autorität Gewalt anwendeten (Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016: 664).

Nicht beachtet wurden Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, sowohl bei den Patres als auch bei den Schüler*innen. Diese Bedürftigkeit auf beiden Seiten kann ebenfalls als Risikofaktor beschrieben werden. Das Bedürfnis nach Nähe machte die Kinder und Jugendlichen vulnerabel und ließ sie auch sexuelle Gewalt erdulden.

Geschlossene Unterbringung und verhaltenstherapeutische Konzepte

Dass relative Geschlossenheit charakteristisch für alle Settings der stationären Kinder- und Jugendhilfe ist, wurde bereits in Bezug auf die organisationale Bedingung der räumlichen Gestaltung ausgeführt. Der Grad an Geschlossenheit von Wohngruppen innerhalb der stationären Kinder- und Jugendhilfe variiert jedoch sehr stark und für einige Einrichtungen ist Geschlossenheit ein wesentlicher Bestandteil des Konzeptes. Historisch war Geschlossenheit im Sinne Goffmans totaler Institution (s. o.) sowohl für die Mehrheit der konfessionellen und staatlichen Kinderheime als auch für reformpädagogische Internate und Heimeinrichtungen gewollt. Kinder und Jugendliche sollten aus ihrem sozialen Umfeld isoliert und vor schlechten Einflüssen geschützt werden. Kontakt zu Eltern und anderen wichtigen Personen außerhalb wurde stark reguliert. Dass diese Isolation die Kinder schutzlos machte, zeigen die oben dargestellten Ergebnisse und weitere Berichte ehemaliger Heimkinder und Internatsschüler*innen (Wensierski 2006; AGJ 2010; Kappeler 2009; Obermayer/Stadler 2011; Schreiber 2014).

Geschlossene Unterbringung (GU) ist heute eine „freiheitsentziehende Maßnahme innerhalb der erzieherischen Jugendhilfe“ (Lindenberg 2018: 746) und muss vom Familiengericht angeordnet werden, um akute Selbst- und Fremdgefährdung abzuwenden.

Seit 2010 sind zahlreiche Fälle gewaltförmiger Übergriffe gegen Bewohner*innen von GU bekannt geworden (Lorenz 2020: 56 ff) die sich in „eine historische Kontinuitätslinie“ (Kessl et al. 2015a: 48) mit gewaltvollen Konstellationen seit den 1950er Jahren lesen lassen. Als Teil der bereits im Hinblick auf die Geschlossenheit ausführlich besprochenen Totalität der Institution kommt hier hinzu, dass sich alle Einrichtungen an einem idealen Verhaltensmodell orientieren (Kessl et al. 2015a). Auch dies ist Teil von totalen Institutionen, wie Goffman sie beschreibt (Goffman 1986). Ein ideales Verhaltensmodell wird in der Praxis oftmals mittels verhaltenstherapeutisch begründeter Stufen- oder Verstärkerpläne pauschal für alle Bewohner*innen umgesetzt. Die Durchsetzung dieses Modells wird zur Maxime der pädagogischen Arbeit. Dies beinhaltet vor allem das Belohnen und Bestraften erwünschten bzw. unerwünschten Verhaltens mit dem Ziel einer Verhaltensänderung. Die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen wird wenig bis nicht beachtet.

„Orientierung des alltäglichen Tuns an idealen Verhaltensmodellen […] kann dazu (ver)führen, die gegebene Asymmetrie, das heißt, das Machtungleichgewicht zwischen erwachsenen Mitarbeiter_innen und den Kindern und Jugendlichen als Bewohner_innen, zu zementieren oder weiter zu vertiefen […].“

(Kessl et al. 2015a).

Die Deutungshoheit liegt allein bei den erwachsenen pädagogischen Fachkräften, die ihr Handeln mittels konzeptionell fixierter Regelkataloge begründen. So werden Leibesvisitationen, Entzug von Nähe, Isolation, körperliche Fixierung und Übergriffe, kurzum: Zwang, mit Programmen wie IntraActPlus (Lorenz 2020; Lorenz/Kessl 2014; Kessl/Lorenz 2017; Jansen/Streit 2015) oder dem Anti-Aggressions-Training (Müller/Schwabe 2009) legitimiert.

Familienanaloge Konzepte

Familialität als pädagogisches Konzept ist bereits ausführlich diskutiert worden (siehe 2.3.3). An dieser Stelle sollen noch einmal die Ambivalenzen dieses Konzeptes aufgerufen werden. Die erste Ambivalenz liegt in der gesellschaftlichen Orientierung am bürgerlichen Kleinfamilienideal. Die Setzung dieses Arrangements als Norm wertet viele andere Familienformen, wie es sie historisch und gegenwärtig gegeben hat bzw. gibt, ab. Die emotional positive Aufladung der Familie als Ort der Liebe, der Kontinuität von Bindung und Solidarität setzt zudem Ansprüche, an denen Familien immer wieder scheitern müssen. Entmythologisiert man dieses vorherrschende Leitbild, kann man festhalten, dass Familie dreierlei bedeutet: (1) machtvolle Generations- und Geschlechterverhältnisse, (2) einen Raum der Privatheit und (3) einen Raum der Intimität. (Kessl/Koch/Wittfeld 2015; Kessl et al. 2016).

Der Aspekt der Gewalt in Familien muss vor dem Hintergrund der Risikobedingungen beachtet werden: Familie ist keinesfalls normativ positiv, sondern muss auf die Konflikte in ihren Machtverhältnissen befragt werden. Familien sind der Ort, an denen Menschen die meiste Gewalt erfahren (Sutterlüty 2020). Mindestens 20 % aller Kinder hatten um die Jahrtausendwende mindestens einmal schwere körperliche Gewalt in ihren Familien erfahren (Bussmann 2007). Zwar zeigt sich hier ein „deutlicher Rückgang der angewendeten bzw. als angebracht empfundenen Körperstrafen in den letzten 20 Jahren.“ (Clemens et al. 2020: 12), besonders die Befürwortung schwerer Körperstrafen ist zurückgegangen. Dennoch befürworten auch zwanzig Jahre nach der Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung ca. die Hälfte aller Eltern leichte Körperstrafen. Auch für sexuelle Gewalt ist die Familie der Ort, an dem Kinder die meiste Gewalt erfahren (Demant/Andresen 2020; 2023; UKASK 2019). Zudem korrelieren die Erfahrungen von Gewaltarten zu einem hohen Maß miteinander. Kinder die in Familien körperliche und/oder seelische Gewalt erfahren haben, haben auch ein höheres Risiko, sexuelle Gewalt zu erfahren.Footnote 34

‚Das Potential für Gewalttätigkeit ist die Kehrseite des Potentials für Liebe und Intimität‘, so formuliert Michael Sebastian Honig (1992: 87) die Paradoxie, die die bestehenden familialen Sozialisations- und Sorgearrangements kennzeichnet. Die Familie in ihrer bürgerlichen Konzeption ist nicht nur normativ aufgeladen, sondern eröffnet zugleich sowohl die Möglichkeit der Privatheit und einer damit verbundenen Intimität als auch die Möglichkeit der Grenzüberschreitung, weil die Grenze der Privatheit auch eine Grenze der sozialen, moralischen und formal-institutionellen Kontrolle darstellt.

(Kessl et al. 2016: 42 f)

Gewalt wird in Familien funktional genutzt, um familiale Machtverhältnisse herzustellen bzw. zu erhalten (Honig 1992: 268 ff). Der private Raum der Familie ist dabei gesetzlich geschützt (§6 GG). Ferdinand Sutterlüty spricht für Deutschland von einer „No-Exit-Abhängigkeit des Kindes[, die] durch den Familialismus des Rechts noch verstärkt [wird]“ (Sutterlüty 2020: 6). „Das staatliche Wächteramt setzt nur dann ein, wenn das Kindeswohl – ein unbestimmter Rechtsbegriff – gefährdet ist.“ (Demant/Andresen 2020: 4). Und auch gesellschaftlich gibt es eine Einstellung, nach der man sich aus dem Privaten der Familie heraushält (Demant/Andresen 2020: 5). Die Familie ist also ein Raum, in dem sich spezifische Machtverhältnisse mit sehr wenig öffentlichem Zugriff ausbilden können. In Familien, in denen Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt sind, werden die Kinder oftmals von der Öffentlichkeit isoliert. Zudem sind die Beziehungen, wie Michael-Sebastian Honig (1992) es beschreibt, in Familien nicht eindeutig. Kinder erfahren nicht ausschließlich Gewalt, sondern vielfach auch Anerkennung und Zuneigung, sie sind existentiell abhängig von ihren primären Bezugspersonen.

Die zweite Ambivalenz familienanaloger Konzepte liegt in der Adaption des Leitbildes der bürgerlichen Kleinfamilie für die pädagogische Praxis. Die oben beschriebenen Studien haben herausgestellt, dass es von Seiten der untergebrachten Kinder eine Sehnsucht nach emotionaler Nähe, Verbundenheit und Zugehörigkeit gibt, der mit einem familienanalogen Konzept begegnet werden soll. Jedoch:

Die Strukturmomente familialer Arrangements – ein spezifisches Generationen- und Geschlechterverhältnis, Privatheit und Intimität – sind leider nur in der Widersprüchlichkeit zu haben: Sie können für den Beziehungsaufbau, für die Etablierung von Vertrauen und Solidarität und die emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr förderlich sein, zugleich bergen sie aber auch ein Herrschaftspotenzial, das sich in Übergriffen auf die Kinder und Jugendlichen zuspitzen kann.

(Kessl/Koch/Wittfeld 2015: 70)

Metaphorisch mit Honig gesprochen kaufen sich Organisationen mit der Adaption von Familialität beide Seiten der Medaille ein, sowohl tiefere Vertrautheit und Intimität als auch das Potential für Gewalt.

Weiter leidet die Adaption immer darunter, dass es sich weiterhin nicht um Familien, sondern um Organisationen handelt, die spezifischen Bedingungen unterliegen und eben nur bedingt Kontinuität bieten können, und auch keine unumstößliche Liebe, keine vollkommene Privatheit. Die Kinder und Jugendlichen diesbezüglich nicht zu täuschen und den organisationalen Charakter transparent zu machen, gleichzeitig eben auch emotionale Näheangebote zu machen, ist nach Wolf (2002) und Winkler (2002) die pädagogische Herausforderung.

Wie bei der Betrachtung der Familie muss nun auch bei der Familialität als pädagogisches Konzept das Potential für Gewalt in den Blick genommen werden. Der Austausch im wissenschaftlichen Feld hat die Notwendigkeit gezeigt, deutlich zu machen, dass nicht wie bei der GU das Konzept an sich als gewaltvoll bestimmt wird. Vielmehr geht es darum, das zuvor als pädagogisch durchaus sinnvoll markierte Konzept auf seine Risiken hin zu befragen. Zunächst ist festzuhalten, dass Familialisierung von pädagogischen Institutionen

„Grenzverschiebungen in der institutionellen Ordnung [bedeutet]. Die Auseinandersetzung mit und Verhandlung von Grenzen eröffnen dabei zugleich immer einen Raum. Dieser Raum ist konstitutiv widersprüchlich; er kann Freiräume erschließen und eröffnen, z. B. Freiräume der Vergemeinschaftung – zur Ausbildung von Nähe, Vertrauen, Intimität – oder den Raum für pädagogische Beziehung, in dem Kinder und Jugendliche von und mit Erwachsenen lernen können. Er kann aber auch die Ausgestaltung von Machtverhältnissen begünstigen. Freiräume umfassen dabei jedoch auch ein Risikopotenzial, sodass sich durch die Beobachtung von Grenzverschiebungen innerhalb institutionalisierter pädagogischer Praktiken auf mögliche Potenziale von (sexueller) Gewalt hinweisen lässt.“

(Wittfeld/Bittner 2019: 51)

Grenzverschiebungen finden vor allem in Hinblick auf Intimität statt. Familial ausgestaltete Beziehungen sind notwendigerweise emotional verstrickt und diffus. Gerade dieser pädagogisch intendierte Prozess bringt jedoch auch mit sich, dass alle Beteiligten viel verletzlicher werden und Räume entstehen, die für sexuelle Gewalt genutzt werden können.

Auch das „Spannungsfeld zwischen Familienorientierung und administrativen Logiken“ (Kessl et al. 2016: 34 f) birgt in seiner Konflikthaftigkeit ein Risikopotential. Im ethnografischen Forschungsprojekt IRiK konnten in den alltäglichen Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften und den Kindern die Aufforderung rekonstruiert werden,

den Austausch von Mitarbeiter*innen selbstverständlich hinzunehmen und von vielen unterschiedlichen Personen Sorge zu akzeptieren[. Dies] bringt Kinder und Jugendliche immer wieder an ihre Grenzen, z.B. wenn das Bedürfnis nach stabilen Beziehungen durch administrativ notwendige bzw. nicht abwendbare Wechsel der Mitarbeiter*innen gebrochen wird. Immer wieder neue Bezugspersonen und damit neue Beziehungen zu akzeptieren, kann es Kindern und Jugendlichen schwer machen, die eigenen Grenzen zu wahren.

(Kessl et al. 2016: 34)

Die Odenwaldschule arbeitete seit ihrer Gründung konzeptionell nach dem Familienprinzip. Dies beinhaltete die Unterbringung von Gruppen von Schüler*innen in alters- und meist auch geschlechtsheterogenen Wohngruppen. Familienoberhaupt war meist ein*e Lehrer*in evtl. mit Familie. Weiter gab es auch sogenannte Kameradenfamilien, in denen ältere Schüler*innen für jüngere die Verantwortung übernahmen. Jede dieser in der Odenwaldschule als Familie bezeichneten Gruppen wohnte in einer eigenen, in sich abgeschlossen Wohneinheit. Nur jüngere Schüler*innen im Grundschulalter waren gemeinsam in einem Haus untergebracht, zu dem nicht nur ein Familienoberhaupt gehörte.

„Speziell die Familien der Odenwaldschule entwickelten sich als Herrschaftsräume der Familienoberhäupter. Es gab keine verbindliche Familienkonzeption und keine Kontrolle (oder Supervision) der Familienarbeit. Im Gesamtbild entwickelten sich dadurch höchst unterschiedliche und voneinander isolierte Subwelten, in denen die Familienoberhäupter ihre eigenen Erziehungsvorstellungen umsetzen konnten. So bildete sich u. a. neben einer konstruktiven Familienarbeit, in der die Schüler*innen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert wurden, ein Laissez-faire-Stil, bei dem die Schüler sich selbst überlassen wurden. Die ungeklärte und unreflektierte Nähe-Distanz-Regulation wurde so auch ein Element der Missbrauchssysteme. Aufgrund des Fehlens einer verbindlichen pädagogischen Konzeption sahen sich die Lehrkräfte bzw. Familienoberhäupter bei der Interpretation ihrer erzieherischen Arbeit auf ihr eigenes Gutdünken zurückgeworfen.“

(Keupp et al. 2019: 405)

Es gab keine Einarbeitung für neue Familienoberhäupter und eine theoretische Reflexion oder einheitliche Gestaltung darüber, wie die Familien der Odenwaldschule geleitet werden sollten, gab es auch nicht (Langfeld in Brachmann 2019: 321–322). Besonders der von Brachmann und Keupp et al. betonte Wildwuchs, die Isolation der Familien mit ihren eigenen Regeln und die absolute Macht der Familienoberhäupter müssen als wirkmächtiger Teil der konzeptionellen Risiken für sexuelle Gewalt gesehen werden.

Ein Beispiel für die Geschlossenheit ist die Familie des Musiklehrers Held. Ein ehemaliger Schüler beschreibt die Familie, als „eine hermetisch nach außen abgeschirmte Zelle“ (Brachmann 2019: 78), in der der pädagogische Eros als Normalität suggeriert wurde. Es war ein Raum der Exklusivität und Abgeschlossenheit, in dem der erwachsene Lehrer vorgab, seine Schüler in die Sexualität einzuführen. Anhand der Odenwaldschule wird deutlich, dass „Strategien der Normalisierung umso nachhaltiger funktionieren, je abgeschlossener der jeweilige soziale Raum ist.“ (Keupp et al. 2019: 291). Was hier als Geschlossenheit und Isolation benannt wird, kann mit familialen Kategorien als privat benannt werden. Familialität wurde so weit adaptiert, dass ein Eingreifen der Organisation Odenwaldschule und auch anderer übergeordneter öffentlicher Aufsichtsbehörden als illegitim erschien. Die Risikohaftigkeit gestaltete sich hier analog zu der in Familien.

Beschreibungen der Familie von Held liefern eine weitere risikovolle Bedingung.

Damit können die Binnenstruktur und die Umgangskultur der H.-Familie zunächst als fundamentale Faktoren der Ermöglichung der vom Musiklehrer verübten Grenzverletzungen angesehen werden. Entscheidend dabei ist, dass es H. gelungen ist, das Vertrauen der emotional i. d. R. übermäßig bedürftigen Schüler zu gewinnen, die von ihm verübten Grenzüberschreitungen in Rituale einzubetten bzw. symbolisch zu überhöhen, die von ihm geführte Heimfamilie von der Schulgemeinschaft sozial abzukoppeln und so die Wahrnehmung wie das Verhalten seiner Opfer subtil und auf indoktrinierende Weise zu steuern.

(Brachmann 2019: 84)

Was hier angesprochen ist, ist eine „Verstrickung“ von Schüler*innen in Beziehungen.

Diese Verstrickungen geschahen häufig in weitgehend autonom organisierten familienähnlichen Intimräumen. Erwachsene, denen die Jungen und Mädchen zur Erziehung anvertraut wurden, instrumentalisierten dabei die Bindungs- und Zugehörigkeitswünsche dieser Minderjährigen, indem sie diese bevorzugten und ihnen eine anscheinend exklusive Zuwendung entgegenbrachten, um sie letztlich emotional und sexuell auszubeuten. Dabei unterstellten sie den betroffenen Schüler*innen Einvernehmlichkeit, was umso schwerer wog, als diesen Kindern und Jugendlichen kein Regulativ zur Verfügung stand, das ihnen dabei geholfen hätte, den verbrecherischen Charakter der Missbrauchsverstrickung zu entlarven.

(Keupp et al. 2019: 406)

Hier wird deutlich, wie eng die Geschlossenheit des Raumes Familie verwoben ist mit der Macht der Familienoberhäupter, der Abhängigkeit und Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen und der internen Normalitätsverschiebung. Dabei wurde die Macht gezielt unsichtbar gemacht, indem in bestimmten Bereichen – wie der Sexualität – Generationengrenzen missachtet wurden (Brachmann 2019: 443).

Als weitere risikovolle Bedingung gilt die Zuteilung der Schüler*innen, die stark durch die Täter*innen gesteuert wurde, um diesen neue Opfer zuzuführen (Keupp et al. 2019: 175 ff). Im Hinblick auf die Familialität handelt es sich hier um einen Bruch, denn die Kontinuität der Zugehörigkeit als Charakteristikum von Familie war in der Odenwaldschule nicht gegeben. Viele Schüler wechselten nach einem Schuljahr die Familie bzw. wurden neu zugeteilt, andere verblieben über Jahre in derselben Familie. Hier wurden andere Mechanismen der Beziehungsverstrickung zu Räumen der Möglichkeit für sexuelle Gewalt (s. o.).

Resümierend benennt Andreas Langfeld die OSO-Familien als „gefährliche Hinterbühnen der Institution,“ die konstitutiv waren, um das Missbrauchssystem zu ermöglichen (Langfeld in Brachmann 2019: 324). Dennoch zeigt sich selbst in dieser belasteten für so viele Schüler*innen gewaltvollen Konstellation, dass das Prinzip der Familialität von ehemaligen Schüler*innen ambivalent bewertet wurde. Auch die Schule hielt an ihnen bis kurz vor ihrer Schließung fest. Ein ehemaliger Schüler sagt über das Familienprinzip im Interview, wissend um das Gewaltsystem: „Klar, missbrauchs-technisch superblöd, aber wenn’s positiv läuft, ist dieses Set-up, also für mich, die Wucht in Tüten.“ (Keupp et al. 2019: 221). So schreibt Brachmann dann auch:

Die Internatsfamilien lassen sich vor allem in ihrer ambivalenten Bedeutung als Orte positiver Gemeinschaftserfahrungen und zugleich illegitimer Abhängigkeitsverhältnisse charakterisieren. Die Täterinnen und Täter konnten diese intimen emotionalen Arenen strategisch für ihre Verbrechen nutzen.

(Brachmann 2019: 443)

Keupp et al. ziehen in Zweifel, ob das System der Odenwaldschule mit dem Etikett Familie wohl treffend beschrieben wird. Es ist

[ ] angesichts der pädagogischen Realität in der Odenwaldschule wie eine Anmaßung oder wie ein gewolltes Missverständnis. Er [der Begriff der Familie, M.W.] erscheint nur insofern adäquat, weil es auch in biologischen Familien zu erzieherischen Verfehlungen, Vernachlässigung und Gewalt kommt. Dennoch eignet sich der Familienbegriff für eine Suggestion von „heiler Welt“, sodass mit ihm Attribute wie Schutz, Geborgenheit, nährende Bindungen und Zuverlässigkeit assoziiert werden können. Es ist nicht zu bestreiten, dass es in diesem Sinne familienanaloge Gruppen an der Odenwaldschule gab, die den Heranwachsenden positive Sozialisationsbedingungen ermöglichten.

(Keupp et al. 2019: 299)

Resümierend lässt sich hier also festhalten, dass sich von der Odenwaldschule zwar viel darüber lernen lässt, wie eine Adaption von Familialität zur Ausübung sexueller Gewalt missbraucht werden kann. Die Umsetzung an der Odenwaldschule entbehrt jedoch jeglicher professionstheoretischen Standards.

In diesem Unterkapitel sind umfassend institutionelle Bedingungen dargestellt worden, die sich in organisationalen Strukturen, pädagogischen Grundkategorien, pädagogischen Konzepten und Ideologien finden lassen. Mit dem Erstarken des Diskurses um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen hat sich das Bewusstsein eingestellt, dass Gewaltkonstellationen in ihrer Komplexität in den Blick genommen werden müssen. Dies manifestiert sich in der politisch und administrativen Aufforderung, Risikoeinschätzungen im Kontext der institutionellen Schutzkonzepte für jede Einrichtung vorzunehmen (BMJ/ BMFSFJ/ BMBF 2012). Die Thematisierung eines institutionellen Risikos aller pädagogischen Institutionen und ihre Auswirkungen auf die sozialpädagogische Handlungspraxis ist Gegenstand dieser Arbeit. Im Folgenden wird nun gefragt, wie sich das Wissen um institutionelle Risiken in der Handlungspraxis der beforschten Organisationen zeigt.

2.5 Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen als professionelle Herausforderung

Die intensive wissenschaftliche und sozialpolitische Beschäftigung mit der Ausübung bzw. dem Erleiden von sexualisierter Gewalt unter dem Dach von Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung hat nicht allein Kritik an deren Strukturmerkmalen hinsichtlich der Verwirklichung und Gewährleistung der Unversehrtheit ihrer Adressat_innen hervorgebracht, darüber hinaus wurde der pädagogischen Profession als solcher die Vertrauensfrage gestellt.

(Wazlawik/Christmann 2018: 534)

Im Abschlussbericht des Runden Tisches (BMJ/ BMFSFJ/ BMBF 2012; Böllert 2014) werden prominent Leitlinien zur Prävention und Intervention formuliert, die institutionelle Strukturen und professionelles Handeln in den Fokus von Präventionsmaßnahmen stellen. Die in den Leitlinien beschriebenen Präventionsmaßnahmen beziehen sich zu einem hohen Maß auf das pädagogische Handeln von Fachkräften. Es sollen Verhaltenskodizes, Handlungsleitlinien und ethische Codes etabliert werden. Neue Verfahren zur Beteiligung und Qualifizierung des Personals und erweitere Führungszeugnisse werden genauso gefordert wie neue arbeitsrechtliche Regelungen und Handlungspläne zur Intervention bei Verdacht (Böllert 2014: 141). Alle Maßnahmen sollen die pädagogischen Institutionen und das pädagogische Handeln verbessern und/oder kontrollieren.

War sexuelle Gewalt vor 2010 noch ein Thema, das eher marginal in der Ausbildung und in der Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften thematisiert worden ist, so gibt es zunehmend mehr Fort- und Weiterbildungsinitiativen, die sich einer Qualifizierung zum Thema sexuelle Gewalt verschrieben haben (für einen Überblick: Retkowski 2018). Dass es so viele neue Fortbildungsinitiativen gab und gibt, lässt sich auch als eine Kritik an der bisherigen Qualifikation pädagogischer Fachkräfte deuten. Es wird suggeriert, dass unzureichend fortgebildete Fachkräfte nicht adäquat auf sexuelle Gewalt reagieren können. Eine grundlegende Kritik, die, betrachtet man das Ausmaß institutioneller Gewaltkonstellationen, berechtigt erscheint.

Um den Herausforderungen zu begegnen, die angesichts sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen bestehen, benennt Böllert vier „Kernpunkte“ (Böllert 2014: 144 ff) für pädagogische Professionalität: (1) Wissen, (2) eine Balance von Nähe und Distanz, (3) Orte der Reflexion und (4) Haltung. Dabei beschreiben die beiden Kernpunkte Wissen und Haltung pädagogische Fähigkeiten, welche eine Voraussetzung sind, um adäquat pädagogisch handeln zu können. Auch wenn die (Weiter-)Qualifikation und berufliche Reflexion idealerweise Teil jeder beruflichen Tätigkeit ist, so sind Orte der Reflexion (3) notwendig, die explizit von der Handlungspraxis entlastet sind. In Super- und Intervision und/oder in Fortbildungen wird der pädagogische Alltag mit Distanz betrachtet. Der Kernpunkt 2, der sich auf die Interaktion mit den Kindern und Jugendlichen bezieht, ist eine gelungene Balance von Nähe und Distanz, die in dieser Logik der Maßstab für gute pädagogische Professionalität ist. Gerade die Anforderung an Professionelle, eine gelungene Balance zwischen Nähe und Distanz herzustellen, zeigt sich vor dem Hintergrund sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen als besondere Herausforderung.

Um dieser Herausforderung empirisch nachzugehen, ist eine theoretische Vergewisserung vonnöten, was mit dem in der pädagogischen Alltagssprache viel bemühten Begriffspaar denn gemeint ist. Im Folgenden wird diesbezüglich zunächst eine professionstheoretische Einordnung im Anschluss an Magret Dörr vorgenommen (2.5.1). Anschließend werden aktuelle empirische Ergebnisse aus dem Forschungsstand zu sexueller Gewalt in Institutionen diskutiert, welche die Balance von Nähe und Distanz als Herausforderung empirisch untersuchen (2.5.2).

Besonders die empirischen Ergebnisse zeigen auf, dass die Fachkräfte in pädagogischen Institutionen mit einem generalisierten Misstrauen konfrontiert werden. Weiterführende Studien, die dieses Misstrauen explizit in den Blick nehmen, gibt es für den Bereich der Kindertagesstätten (2.5.3). Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen und einem Generalverdacht. Die Einblicke in einzelne Forschungsprojekte und angrenzende Forschungsfelder (Schule und Kita) weisen darauf hin, dass dieses Phänomen auch in der Heimerziehung äußerst relevant sein könnte. Der Forschungsstand wird abgeschlossen mit einer Thematisierung realer Verdachtsfälle und ihrer Konsequenzen, auch, um die späteren empirischen Ergebnisse besser einordnen zu können (2.5.4).Footnote 35

Die Forschungserkenntnisse zu Herausforderungen für die pädagogische Praxis sind eng mit der Forschungsfrage dieser Arbeit verbunden. Sie richten explizit den Fokus auf die Auswirkungen der medialen und gesellschaftlichen Debatte um sexuelle Gewalt auf pädagogische Institutionen und die Handlungspraxis der Professionellen in Einrichtungen der Heimerziehung.

2.5.1 Sexuelle Gewalt in Institutionen als professionelle Herausforderung – Eine professionstheoretische Einordnung

Bereits so prominente Pädagogen wie Pestalozzi, Nohl und Wichern haben über Nähebeziehungen zwischen einer generational älteren, sorgenden oder lehrenden Person und einer jüngeren, noch unfertigen, lernenden Person geschrieben. In dieser Arbeit sind diese Beziehungen bislang unter dem konzeptionellen Bezug auf Familialität in der Heimerziehung diskutiert worden (vgl. 2.3).

An dieser Stelle soll es nun um eine professionstheoretische Positionierung dieser Arbeit gehen, die über den Bezug der Familialität hinausreicht. Anschlussmöglichkeiten bieten hierfür bspw. Werner Helsper, der Nähe und Distanz als pädagogische Antinomie beschreibt (2006), in der eine „rollenförmige vergleichgültigte Distanz“ und eine „familistisch-intimisierte ‚Elternposition‘“ (Helsper 2006: 26) einander als zwei unprofessionelle Pole gegenübergestellt werden. Helsper geht davon aus, dass Pädagog*innen „[v]on einer begrenzten professionellen Haltung aus […] Nähe ermöglichen.“ (Helsper 2006: 26). Diese Nähe ist eine der pädagogischen Antinomien, die er beschreibt. Gemeinsam mit Sabine Reh bezieht Helsper seine professionstheoretischen Überlegungen auf sexuelle Gewalt (Helsper/ Reh 2012) und beschreibt, dass professionelles Handeln strukturell für diffuse Verstrickungen und entgrenzende Übergriffe anfällig ist.

Ulrich Oevermann (1996) spricht von Widersprüchen, die das professionelle Handeln konstituieren und nennt hier auch die Spannung zwischen Nähe und Distanz. Er thematisiert diese jedoch in seinen professionstheoretischen Ausführungen eher marginal (Thieme 2013: 57). In einer Publikation, in der er sich explizit auf sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen bezieht, sieht Oevermann vornehmlich eine unzureichende ödipale Sozialisation als ursächlich für sexuelle Gewalt und lehnt grundlegende Ideologiekritik an konzeptionellen Ausrichtungen von Institutionen ab (Oevermann 2010). Mit dem starken Bezug auf psychologische Begründungen für sexuelle Gewalt und dem Zweifel an institutionellen Bedingungen sexueller Gewalt ist die diesbezügliche Position Oevermanns keine geeignete für diese Forschungsarbeit.

Im Anschluss an Helspers und Oevermanns professionstheoretische Ansätze sehen Dörr und Müller für die Balance von Nähe und Distanz die „Bewältigung von Ungewissheit [als] zentrale[] Aufgabe professionellen Handelns.“ (Dörr/Müller 2019: 16). Die professionstheoretischen Überlegungen zu Nähe und Distanz, welche DörrFootnote 36 auch im Hinblick auf sexuelle Gewalt in Institutionen formuliert hat, sind grundlegend für das Verständnis von Nähe und Distanz in dieser Arbeit. Ihre professionstheoretischen Ausführungen schaffen es, Nähe und Distanz in ein Verhältnis mit Sexualität zu bringen, das sich als theoretische Hintergrundfolie für diese Arbeit eignet.

Für das Verständnis von Dörrs Arbeit ist grundlegend, dass sie Nähe und Distanz nicht als „Gegensatzpaar“ begreift, sondern als eine gleichzeitige „Doppelorientierung“ von „Bindung“ (Nähe), „achtsamer Abgrenzung“ (Distanz) und „reflexiver Rationalität“ (der beiden) (Dörr 2017a: 202). Sie argumentiert, dass Nähe und Distanz zunächst anthropologische Grundkategorien sind, bei denen es um die Subjektwerdung durch Abgrenzung (Distanz) und „Anerkennung von Abhängigkeiten“(Nähe) (ebd.) geht. Das Begriffspaar „verweist genuin auf den Leib“ (Dörr 2017a: 203), mittels dessen Nähe und Distanz als angenehm oder unangenehm wahrgenommen werden. Diesen schützenswerten Leib fasst sie mit Alf Gerlach (2008) als intimen Bereich. „Mit Intimität bezeichnen wir einen Ort, eine Sphäre, des gefühlsbestimmten, unmittelbaren, vertrauten Umgangs“ (Dörr 2017a: 203) sowohl mit sich selbst als auch mit „nahestehenden Menschen“. „Der erzwungene oder versehentlich gewährte Eintritt [in die eigene Intimität] kann uns zutiefst verletzen“ (Dörr 2017a: 204). Was bedeuten diese grundlegenden Bestimmungen nun für ein professionelles Handeln?

In professionellen sozialpädagogischen Beziehungen, gerade auch in der stationären Heimunterbringung, ist es so, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrer Intimität verletzt worden sind, da sie Gewalt oder andere Formen der Kindeswohlgefährdung erfahren haben. Diese Verletzungen bringen die Kinder und Jugendlichen, so argumentiert Dörr aus ihrer psychoanalytischen Perspektive, mit in die Interaktionen und den Alltag in der Wohngruppe. Dieser Umstand fordert die Professionellen heraus, „zu den eigenen in Interaktionen affizierten Gefühlen in Kontakt zu bleiben und dennoch auf Distanz gehen zu können“ (Dörr 2017a: 204). Dabei ist die Verbundenheit im Affekt hier durchaus als gewollte Nähe zu begreifen und die Reflexion dessen, was mit dem eigenen Leib geschieht, die notwendige professionelle Distanzierung. Dörr fasst diesen Modus des professionellen Handels als „Oszillieren zwischen Nähe und Distanz“ (Dörr 2017a: 205). Professionelles Handeln begreift sie als die Fähigkeit, die Übertragungen der Kinder und Jugendlichen auf die eigenen Affekte zu verstehen und distanziert hierauf zu reagieren, ohne die Affekte der Kinder und Jugendlichen abzuwerten. Problematisch sind unbewusste Affektregulationen der Fachkräfte, die durch Überforderung hervorgerufen werden können:

Unbewusste Affektregulation setzt gerade dann ein, wenn die Professionellen mit für sie zu befremdlichen, beängstigenden und/oder selbst abgewehrten Beziehungsmustern der Kinder und Jugendlichen konfrontiert werden, insbesondere, wenn die Kinder ihre diffusen Gefühlsbeziehungen aus der Vergangenheit im Verhältnis zu den sozialpädagogischen Fachkräften wiederholen.

(Dörr 2017a: 205)

Ruft man sich nun die hohen Prävalenzzahlen für sexuelle Gewalt ins Gedächtnis (vgl. 2.4.1), so muss konstatiert werden, dass viele Kinder und Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Gewalterfahrungen mitbringen, die für pädagogische Fachkräfte sehr herausfordernd sein können. Hieraus ergeben sich herausfordernden Nähesituationen die ohne professionelle Reflexion zu Gegenübertragungen führen und, die sich in realen Konflikten manifestieren,

„in der beide Parteien sich in hilflose Macht-Ohnmacht-Spiralen verstricken. Reale Konflikte, die verwoben sind mit Gefühlen von Angst, Chaos, Leere, Ekel, Wut, Hass, Aggression, Verachtung, Leid, Schuld und Scham, bedrohen, bleiben sie unverdaut, weil unverstanden, das Selbst und Fremderleben beider Beziehungspartner. Diese Gefühle wahrzunehmen, auszuhalten (Nähe) und mittels Symbolbildung (Distanz) hinreichend gut zu verkosten, das heißt zu bewältigen, wäre eine grundlegende Bedingung, dem professionellen Anspruch nahe zu kommen, für die Kinder und Jugendlichen zu einer emotional orientierten Dialogpartnerin zu werden“

(Dörr 2017a: 206)

Durch Reflexion in Distanz zu treten, um gleichzeitig emotional verstehende Nähe anbieten zu können, ist eine große Anforderung an Professionelle. Das konstatiert auch Dörr und beschreibt weiter, dass ein Scheitern nicht ungewöhnlich ist, sondern menschlich. Die Folgen der unbewältigten Nähe sind Ablehnung und Aggressionen auf beiden Seiten, die Verletzungen zur Folge haben (ebd.). Da es zwangsläufig immer wieder zu Krisen in der Interaktion kommt, verweist Dörr darauf, dass es „institutionelle[] Rahmungen“ (Dörr 2017a: 207) braucht, „in welche solche Beziehungen eingebettet sind“ (ebd.). Im Anschluss an Thomas Klatetzki (2012) verweist Dörr auf die Notwendigkeit von professionellen Arbeitsbeziehungen und -bündnissen sowie die Notwendigkeit, Räume der Reflexion zu eröffnen, um angeleitet in Distanz treten und Machtverhältnisse reflektieren zu können (Dörr 2017a: 208).

Weiter positioniert sich Dörr zur Verwendung des Begriffspaars Nähe und Distanz und seinem vielfältigen Gebrauch im gesellschaftlichen und disziplinären Diskurs um sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte (Dörr 2017b). Sie kritisiert hier drei Punkte:

Zunächst geht es um „die Chiffre von ‚Nähe und Distanz‘“ (Dörr 2017b: 613) die in ihrer mannigfaltigen, antinomischen Verwendung zur „Verschleierung jener strukturellen, interpersonalen und intrapsychischen Konfliktinhalte pädagogischer Praxis dienlich ist“ (ebd.), die soeben vorgestellt wurden. Dörr kritisiert, dass es in Präventionskonzepten unter der Chiffre Nähe-Distanz-Regulation zu räumlichen Ge- und Verboten in Bezug auf Nähe bzw. Distanz zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern kommt. Diese Nähe limitierenden Präventionskonzepte ignorierten das Wissen um pädagogisch notwendige Intimität in pädagogischen Interaktionen, wie sie oben dargestellt wurden.

Ihr zweiter Kritikpunkt ist, dass „[i]n der Rede von Nähe und Distanz […] jene innere Welt der Spannung von Lust und Unlust, die wir Sexualität nennen, zum Verschwinden gebracht [wird].“ (Dörr 2017b: 615). Sexualität gerät im Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen nur als Gefahr in den Blick, die eliminiert werden muss (Dörr 2019). Nähe wird entleiblicht und zum gefährlichen Gegenpol von Distanz. „Denn die Rationalisierung einer triebbereinigten und damit lieb- und leblosen Beziehung lässt sich bequem als Professionalität ausgeben und macht die Pädagoginnen wie die Wissenschaftler unangreifbar.“ (Dörr 2017b: 615). Damit wird jedoch die Leiblichkeit, die sexuell-sinnliche Erfahrung, „eine Bedingung der Möglichkeit der Menschwerdung“ (Dörr 2017b: 615) ignoriert. Um Sexualität zu verstehen ist es jedoch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sie „in einem psychosozialen Prozess als Antwort des Kindes auf das vorgängige Begehrtwerden durch die frühen Bezugspersonen“ (Dörr 2019: 131) entsteht. Dörr versteht Sexualität dann im Anschluss an Alfred Lorenzer als,

„alle Lustempfindungen und Lustbestrebungen, die mit dem Körper verbunden sind. Als leibliche Wesen können wir weder unserem eigenen Begehren noch dem des/der Anderen entrinnen. Dies gilt auch für asymmetrische Beziehungen, wie die zwischen Pädagoginnen und Kindern bzw. Jugendlichen.“

(Dörr 2017b: 616)

Zu einem professionellen Umgang gehört, auch die eigenen Affekte, die eigene Sexualität zu reflektieren.

Als Drittes kritisiert Dörr, dass die Dimension der Macht im Generationenverhältnis unterbelichtet bleibt (Dörr 2017b: 616 ff). Dass Macht als wesentliche Dimension im Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen eine Rolle spielt und gerade die Machtverhältnisse auch reflektiert werden müssen, wurde im vorangegangen Unterkapitel gezeigt. Dennoch bringt Dörr hier einen neuen Aspekt ein. Sie erinnert daran, dass in modernen Gesellschaften nicht nur die Familie Sorgeleistungen übernimmt, sondern diese auch auf professionelle Berufe übertragen werden. In der Folge sieht sie eben auch Pädagog*innen in der Verantwortung, emotionale Beziehungen mit den Kindern und Jugendliche einzugehen.

Die kindliche Entwicklung leibgebundener Intimität und mit ihr die psychische Strukturbildung sind darauf angewiesen, dass sie zuverlässige und verbindliche Erwachsene und professionell gestaltete Beziehungen in pädagogischen Institutionen erfahren. Für sie sind die Pädagoginnen und Pädagogen als elternähnliche Identifikationsfiguren wichtig, sie werden zu generational bedeutsamen Anderen.

(Dörr 2017b: 617)

Pädagogische Fachkräfte, die mindestens in Teilen die generationale Rolle von Eltern übernehmen, müssen sich, um diese Aufgabe zu erfüllen, auch von den Kindern verwenden lassen. Das bedeutet auch, dass sie sich aus psychoanalytischer Sicht mit dem Inzesttabu auseinandersetzen müssen.

Dieses kulturelle Gebot [des Inzesttabus, M.W.] zu unterstützen ist Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte, indem sie als Vertreter des Realitätsprinzips, die symbolisch-kulturelle (Vater-)Funktion als Beschützer des Gesetzes (Lacan) übernehmen und dafür Sorge tragen, dass die Generationenschranke nicht verwischt wird durch beiderseitig verführende, erotisch-sexuelle Unklarheit der generationalen Ordnungsstruktur.

(Dörr 2017b: 617)

Mit dieser Aufgabe bleiben die pädagogischen Fachkräfte als generational Ältere verantwortlich, sexuelle Gewalt zu verhindern. Sexuelle Befriedigung zwischen den Generationen ist klar untersagt. Das Inzesttabu stellt

„eine [ethische] Konstante dar, sie ist nicht relativierbar und steht nicht zur Disposition. (...) Eine begriffliche Vermengung des Verbots sexueller Gewalt mit der Rede einer professionellen Gestaltung von Nähe und Distanz führt dazu (…), dass der ethisch begründete normative Gültigkeitsanspruch des Verbots sexueller Gewalt an nötiger Schärfe verliert, während die professionelle Haltung einer hinreichend gekonnten Nähe-Distanz-Regulierung im Kontext aktueller (Entwicklungs-)Aufgaben mit der Dimension ethischer Normverletzung überfrachtet wird“

(Dörr 2019: 137).

Damit benennt Dörr für die verallgemeinernde Rede von Nähe und Distanz eine doppelte Gefahr: Dadurch, dass Sexualität und Begehren ausgeblendet wird, gerät auch die generationale Schranke des Inzesttabus aus dem Blick. Dabei bietet gerade diese die deutliche Begründung dafür, warum sexuelle Handlungen zwischen den Generationen als Gewalt angesehen werden müssen.

Durch die vereinfachte Verbindung von Nähe-Distanz-Regulation mit dem Thema sexuelle Gewalt in Institutionen wird Nähe allein sexualisiert und zu etwas Gefährlichem. Distanz hingegen scheint jeder Sexualität entleert und wird zur notwendigen Handlungsoption, um der Gefahr entgegenzutreten. Dass dabei grundlegende Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ignoriert werden und pädagogische Fachkräfte vor eine Herausforderung gestellt werden, an der sie scheitern müssen, wird ignoriert.

Was schlägt Dörr nun aber vor? Was wäre in dieser Perspektive ein professioneller Umgang mit Situationen der Nähe? Folgt man Dörr haben pädagogische Fachkräfte die Aufgabe, die Affekte, die entstehen und die auf sie übertragen werden, wahrzunehmen und als generational-ältere, sorgende Personen zu beantworten. Dies lässt sich dies nicht mittels „technokratischer Schutzkonzepte“ bewerkstelligen, die räumliche und körperliche Nähe zwischen den Akteur*innen kontrollieren (Dörr 2017b: 615). Stattdessen plädiert Dörr für „institutionelle Ordnungsmuster, die konfliktoffen und tragfähig sind“ (Dörr 2019: 140). Die Institutionen sind in der Verantwortung, Rahmenbedingungen herzustellen, die um die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz genauso wie um Sexualität und Intimität wissen; die beachten, dass eine dauerhafte Balance von Nähe und Distanz eine Utopie ist und dass im pädagogischen Handeln immer wieder Fehler gemacht werden, aus denen gelernt werden kann (Dörr 2019).

2.5.2 Nähe im pädagogischen Alltag als Herausforderung – empirische Erkenntnisse:

Ziel dieses Unterkapitels ist es, die pädagogisch-professionelle Handlungspraxis in Situationen der Nähe empirisch in den Blick zu nehmen und einen Überblick über den diesbezüglichen Forschungsstand zu geben. Hierzu werden im Folgenden Ergebnisse einzelner Forschungsprojekte vorgestellt und jeweils daraufhin befragt, welche Erkenntnisse sie für die hier vorliegende Studie beitragen können.

Erste explorative empirische Ergebnisse zu einer Verunsicherung von Professionellen in ihrer Handlungspraxis zeigt eine Erhebung des „Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V“ (Abrahamczik et al. 2013). Die Autor*innen beschreiben auf Grundlage eines Workshops mit Fach- und Leitungskräften aus der Kinder- und Jugendhilfe (2011) und ihren eigenen Erfahrungen als Leitungskräfte, dass sich der „pädagogische Alltag in den Einrichtungen […] zum Teil nachhaltig verändert.“ (Abrahamczik et al. 2013: 8). „Die Angst vor ungerechtfertigten Beschuldigungen lässt Fachkräfte vor körperlichem Kontakt zurückschrecken.“ (Abrahamczik et al. 2013: 7). Sie beschreiben ausführlich, wie die von ihnen befragten Fach- und Leitungskräfte durch den Diskurs um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen Nähe vermeiden und in ihrem Handeln verunsichert sind. Die Autor*innen ordnen die Ergebnisse sehr kritisch ein und argumentieren mit Bezug zur Bindungstheorie, dass körperliche Nähe pädagogisch zwingend notwendig ist und individuell auf die Bedürfnisse des Kindes angepasst werden muss, nicht aber standardisiert und entzogen werden sollte. Mit der Studie lassen sich zwei problematische Bereiche identifizieren, die Fragen auch für die hier vorliegende Untersuchung aufwerfen: Zunächst ist da die Handlungspraxis selbst, die Interaktionen zwischen den Fachkräften, die neu justiert werden müssen und die, folgt man Abrahamczik et al., vor allem hinsichtlich Situationen und Konstellationen der Nähe herausfordernd sind. Welche Herausforderungen sehen pädagogische Fachkräfte hier genau? Ändern sich Handlungspraxen durch die politischen und organisationalen Maßnahmen? Verschieben sie sich? Werden sie limitiert?

Zum anderen ist da das durch die pädagogischen Fachkräfte empfundene Misstrauen. Wie genau zeigt sich dieses? Gilt dies für alle Fachkräfte gleichermaßen, oder gibt es hier Unterschiede z. B. in Abhängigkeit von Qualifikation, Träger, zugeschriebenem Geschlecht? Führt diese Verunsicherung zu Änderungen in der Handlungspraxis?

Ein weiteres Forschungsprojekt, welches das Verhältnis von Nähe und Distanz beleuchtet, ist der interdisziplinäre Forschungsverbund „Kindeswohl als kollektives Orientierungsmuster?“ (Kadera/Fuchs/Tippelt 2018). Auch hier wurden Gruppendiskussionen u. a. mit pädagogischen Fachkräften und Leitungskräften durchgeführt. Die Forscher*innen stellen ebenfalls fest, dass eine Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Handlungskompetenzen in Bezug auf die pädagogische Antinomie von Nähe und Distanz besteht, die die Fach- und Leitungskräfte dazu bringt, hier einen Fortbildungsbedarf zu formulieren (Kadera/Fuchs/Tippelt 2018: 674). Problematisiert werden u. a. unbewusste Grenzüberschreitungen, die ein Zuviel an Nähe produzieren. Im Anschluss an Dörr und Müller (2012) stellen die Autor*innen heraus, dass professionelles Handeln sich durch „eine bewusste Wahrnehmung und Gestaltung des Spannungsbereichs von Nähe und Distanz sowie dem Anspruch, diese den Adressaten zu vermitteln.“ (Kadera/Fuchs/Tippelt 2018: 675) auszeichne. Die Autor*innen fordern dann in Anlehnung an Enders et al. (2010), „Grenzverletzungen als Folge fachlicher Defizite, grenzverletzende[r] Umgangsweisen und Zärtlichkeiten (…)“ (Kadera/Fuchs/Tippelt 2018: 676) wahrzunehmen. Dies ist die Ausgangslage, vor deren Hintergrund ein Fortbildungsbedarf festgestellt wird. Während Abrahamczik et al. gerade die Verregelung von Nähesituationen kritisieren, kommen Kadera et al. also zu anderen Schlussfolgerungen, die eher an die politischen Forderungen nach mehr Qualifikation und Schutzkonzepte anschließen. Mit Dörr, auf die sich die Autor*innen ja auch selbst beziehen, ist diese Schlussfolgerung kritisch einzuordnen. Denn wenn Grenzverletzungen als fachliche Defizite ausgelegt sind, so wird ignoriert, dass pädagogische Fachkräfte in der Interaktion notwendigerweise immer wieder scheitern müssen (s. o.). Zudem wird übergangen, dass sexuelle Gewalt eine intentionale Überschreitung von Grenzen ist, mit dem Ziel, eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Mit der Schlussfolgerung dieser Studie wird jede Fachkraft potenziell zum*zur Täter*in, da sie in einem Moment der Unreflektiertheit, oder sogar des Unwissens, Grenzen überschreiten kann. Neben der empirischen Bestätigung der Verunsicherung der Fach- und Leistungskräfte ist die Studie dahingehend aufschlussreich, dass sie verdeutlicht, dass auch wissenschaftliche Studien Teil des Diskurses sind und in die Anforderungen verstrickt, die an Fachkräfte gestellt werden.

Die Ausgangsprämisse des Verbundprojektes „Pädagogische Intimität – Studie zur Untersuchung von Mustern der Gestaltung pädagogischer Beziehungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern“ (PISUM) der Universität Kassel und der FH Frankfurt lautet:

Pädagogische Nähebeziehungen und die Herstellung von Intimität stellen damit nicht an sich ein größeres Risiko für sexualisierte Grenzüberschreitungen dar: Die Gestaltung von „guter Nähe“ kann Vertrauen, Offenbarungsprozesse und Enttabuisierungen in Bezug auf Sexualität und Vulnerabilität ermöglichen. Das Erleben von Intimität in sozialen und pädagogischen Räumen stützt und fördert die Entfaltung kindlicher Subjektivität, stellt einen Schutzfaktor vor sexualisierter Gewalt dar und schafft erst die Bedingungen, die unter anderem förderlich sind, um Formen sexualisierter Gewalt zu kommunizieren, also zu offenbaren.

Gleichwohl birgt Intimität in pädagogischen und sozialen Beziehungen ein Risiko für Verletzungen der Autonomie und Integrität von Kindern und Jugendlichen, das heißt auch für sexualisierte Grenzüberschreitungen und Gewalt.

(Kowalski et al. 2018: 189 f)

Das Projekt erforscht Intimität in pädagogischen Nähebeziehungen hinsichtlich ihrer Gleichzeitigkeit als Schutz und Risiko anhand dreier ethnografischer Fallbeispiele (Reiterhof, Schule und sozialpädagogische Wohngruppe).Footnote 37 Zunächst ist interessant, wie pädagogische Intimität im Projekt definiert wird: „Pädagogische Intimität ist durch Vulnerabilität und wechselseitige Affektivität gekennzeichnet und bleibt dabei zugleich thematisierungsfähig, transparent für Dritte und grundsätzlich generalisierbar.“ (Schäfer/Hildebrand/Marks 2019). Mit dieser Definition schließt pädagogische Intimität beide Seiten dessen ein, was Dörr als Doppelaufgabe in der Nähe-Distanz-Regulation bezeichnet hat, also um die Aufgabe von Pädagog*innen, sich affizieren zu lassen und dadurch verletzlich zu werden und zum anderen um die Aufgabe, in regulierende, beobachtende Distanz zu treten. Im Forschungsprojekt wird pädagogische Intimität jedoch durchgehend als positiv gesetzt. Sie ist „gute Nähe“ (Schäfer/Hildebrand/Marks 2019). Kritisch anzumerken ist hier, dass pädagogische Intimität so zu einer Handlungsmaxime wird, die den paradoxen Charakter von Nähe nicht berücksichtigt und außenvorlässt, dass, folgt man Dörr, Pädagog*innen notwendigerweise an ihr scheitern müssen.

Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis, dass sich pädagogische Integrität in drei Handlungsdimensionen ausprägen soll: (1) Integrität, hier verknüpft mit der Vulnerabilität der Akteur*innen und dem Wahren von Grenzen, (2) Transparenz, definiert durch die Möglichkeit, dass Dritte die Situation sehen und verstehen können und (3) Gerechtigkeit im Sinne von Austauschbarkeit der Interaktionspartner*innen. In den Analysen der ethnografischen Protokolle werden Interaktionen auf diese Gütekriterien hin befragt. Dabei werden hinsichtlich der Integrität (1) Grenzen pädagogischer Situationen relevant, die sich je nach Konstellation verschieben. Offen bleibt, woran sich diese Verschiebungen festmachen, warum eine Umarmung in der einen Konstellation grenzüberschreitend ist und in der anderen pädagogisch sinnvoll. Der Anspruch an Transparenz (2) des pädagogischen Handels ist vor dem Hintergrund sexueller Gewalt nachvollziehbar. Folgt man Dörrs Auffassung, Intimität sei ein eigener, notwendigerweise abgeschlossener Bereich, so ist vollständige Transparenz jedoch in hohem Maße problematisch. Der Anspruch an pädagogisches Handeln, vollständige Transparenz herzustellen, ist nicht einzulösen. Zudem zeugt die Forderung nach Transparenz von einem grundlegenden Misstrauen in pädagogisches Handeln, dem eine totale Kontrollierbarkeit entgegengestellt werden soll. Diese Arbeit wird zeigen, dass das fehlende Vertrauen, gepaart mit einem nicht einzulösenden Anspruch an pädagogisches Handeln, zu einer großen Verunsicherung der Fachkräfte führt. Sie müssen ständig befürchten, bei intransparentem Handeln der Ausübung sexueller Gewalt verdächtigt zu werden.

Das dritte Gütekriterium, die Gerechtigkeit (3), wird als Austauschbarkeit der Interaktionspartner*innen übersetzt. Damit wird hier von einer Gleichheit von Beziehungen ausgegangen, die die Leiblichkeit der einzelnen Personen ignoriert. Auch, wenn es sich um ein Aufwachsen in Institutionen handelt, sind die Erwachsenen und die Kinder doch Subjekte mit eigenen Leibern, die individuell je nach Person und Konstellation anderer Nähe und Intimität bedürfen. Dass gerade die Kündbarkeit der Beziehungen in Institutionen immer wieder verletzt, haben Josef Martin Niederberger und Doris Bühler-Niederberger (1988) gezeigt.Footnote 38 Die hier formulierte Kritik an der aufgestellten Heuristik zu pädagogischer Intimität sagt nichts über die empirischen Ergebnisse aus, deren Diskussion noch aussteht. Gerade der positive Fokus auf pädagogische Intimität kann eine Bereicherung für den Diskurs sein.

Ein weiteres Forschungsprojekt, das Nähe-Distanz-Regulation diskutiert, wurde ebenfalls von Forscher*innen aus Kassel (heute Cottbus) durchgeführt (Hess/Retkowski 2019). Das Forschungsprojekt denkt pädagogisches Handeln als „generationales und institutionelles Machtgefüge“ (Hess/Retkowski 2019: 232), das „Sexualität und Macht [als] zwei miteinander vermittelte, relationale Phänomene“ (ebd.) bestimmt, welche in allen „Sozialbeziehungen, also auch im pädagogischen Handeln wirksam werden“ (ebd.). Es wurden berufsbiografische Interviews mit Pädagog*innen aus der Schule und der Sozialen Arbeit geführt. Hier soll auf drei für diese Studie zentrale Ergebnisse eingegangen werden: (1) „Konstruktionen von Sexualität in pädagogischen Generationenverhältnissen“, (2) „Heteronormative Wahrnehmungsmuster“ und (3) „Fragile Selbstentwürfe beim Berufseinstieg und individualisierte Professionalisierungspfade“ (Hess/Retkowski 2019).

Zunächst zu den Konstruktionen von Sexualität (1). Es wird herausgearbeitet, dass die interviewten Pädagog*innen „kindlich-sexuelle Aktivitäten“ immer im Generationenverhältnis thematisieren und damit die normative Generationenschranke stets wahren (Hess/Retkowski 2019: 234). In der Konstruktion von Sexualität unterscheiden die Pädagog*innen weiter zwischen kindlicher und jugendlicher Sexualität. Für die kindliche Sexualität wurden drei Konstruktionen festgestellt „kindliche Asexualität“ (ebd.) in Bezug auf die Erwachsenensexualität, Kinder sind „besonders vulnerabel“ (ebd.) in ihrer Sexualität in Bezug auf Erwachsene und eine aktive selbstbestimmte Sexualität. Mit der letzten Konstruktion ist „eine Verunsicherung der eigenen Position als Erwachsener verknüpft (…). [k]indliche Wünsche nach Zärtlichkeit, sexueller Exploration und Nähe [rufen] emotionale Reaktionen auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte [hervor].“ (ebd.). Dadurch, dass diese Studie emotionale Bedürfnisse von Kindern in ihrer sexuellen Konnotation denkt, zeigt sie eine weitere Dimension für Situationen der Nähe auf, die im Anschluss an Dörr konstitutiv ist: Die in den Situationen eingeschlossene Sexualität ruft eine Verunsicherung der Fachkräfte hervor.

Die Ergebnisse der Studie die sich auf Jugendliche beziehen zeigen weiter, dass in der Konstruktion der jugendlichen Sexualität die Generationendifferenz in den Hintergrund tritt. Stattdessen wird das Geschlecht der Jugendlichen stärker relevant. Die Sexualität wird stärker wahrgenommen und anerkannt.

Eine Vergeschlechtlichung der pädagogischen Beziehung wird auch im Hinblick auf die Thematik der sexualisierten Gewalt relevant gemacht. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Umgang mit Jugendlichen von der Sorge um einen ‚falschen Verdacht‘ gekennzeichnet ist, was besonders häufig von männlichen Pädagogen bezüglich der Beziehungsgestaltung mit weiblichen Jugendlichen geäußert wird (…). Es zeigt sich, dass die Vergeschlechtlichung der pädagogischen Beziehung die Notwendigkeit einer eindeutigen Grenzziehung im Generationenverhältnis verstärkt. Die Grenzziehungen werden dabei nicht vorwiegend mit der vulnerablen Position des Gegenübers, sondern auch durch die eigene (potenzielle) Verletzbarkeit der pädagogischen Fachkraft begründet. Die Perspektive und Verletzbarkeit der Kinder und Jugendlichen wird dabei teilweise ausgeblendet.

(Hess/Retkowski 2019: 235 f)

Durch die Inblicknahme von Sexualität in Interaktionen kommt für die pädagogischen Fachkräfte Sorge über einen möglichen falschen Verdacht auf. Vulnerabel sind in diesem Zusammenhang vor allem die männlichen Fachkräfte. Während bei den zuvor dargestellten Forschungsergebnissen Grenzverletzungen von Fachkräften im Blick waren und die Kinder und Jugendlichen als vulnerabel konstruiert wurden, zeigen Hess und Retkowski, dass vor dem Hintergrund der Thematisierung sexueller Gewalt Pädagog*innen vulnerabel werden.

Als weiteres Ergebnis ist das „[h]eteronormative Wahrnehmungsmuster“ (2) (Hess/Retkowski 2019: 236 f) relevant das zeigt das nur heterosexuelle Orientieren gedacht werden (Hess/Retkowski 2019: 237). Männliche Personen gelten in dieser Logik eher als potenzielle Täter und werden in der Folge mit „generalisierten Berührungs- und Kontaktverboten zu den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen“ (ebd.) belegt. Die Gestaltungsmöglichkeiten für männliche und weibliche Personen sind in der Folge stark different. Weibliche Personen erfahren in Interaktionen einen weiteren Handlungsspielraum, da sie als potenziell ungefährlich(er) gelten (ebd.).

Als letztes Ergebnis (3) werden „fragile Selbstentwürfe beim Berufseinstieg und in individualisierte Professionalisierungspfade“ (Hess/Retkowski 2019: 238 f) dargestellt. Es zeigt sich, dass es für die pädagogischen Fachkräfte herausfordernd ist, wenn sie erotische Gefühle und Affekte innerhalb der pädagogischen Generationenbeziehung erfahren. Die biografischen Erzählungen zeigen, dass Orte der Reflexion, in denen diese Gefühle thematisiert und eingeordnet werden können, ohne abgestraft zu werden, grundlegend sind. Andernfalls entsteht ein Konflikt, der die Gefühle als unprofessionell abwertet. Die Folge sind dann Einschränkungen im pädagogischen Handeln. Situationen der körperlichen und/oder emotionalen Nähe werden in der Folge gemieden.

Insgesamt sind die Ergebnisse der Studie von Hess und Retkowski zentral für die hier vorliegende Arbeit. Die berufsbiografische Perspektive macht deutlich, dass die Konstruktionen von Sexualität das Handeln der pädagogischen Fachkräfte unmittelbar beeinflussen. Gerade auch die Erkenntnis, dass zumindest für Teile der pädagogischen Fachkräfte die kindliche und insbesondere die jugendliche Sexualität als potenziell gefährdend ausgemacht wird, sowie die Angst vor einem falschen Verdacht korrespondiert zu einem hohen Maß mit den nachfolgenden Ergebnissen dieser Studie.

Abschließend soll noch eine weitere Studie in den Blick genommen werden, deren Ergebnisse ebenfalls Herausforderungen in der pädagogischen Praxis vor dem Hintergrund der Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen thematisieren. Helming und Mayer (2012) haben im quantitativen Teil der Studie „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ des DJIFootnote 39 Fokusgruppen u. a. auch mit Leitungskräften und Vertreter*innen der Wohlfahrtsverbände durchgeführt. Auch hier zeigt sich in Berichten von Fachkräften, dass das Geben von körperlicher, emotionaler Nähe zum Einschlafen zwar pädagogisch gut legitimiert werden kann, vor dem Hintergrund des Diskurses um sexuelle Gewalt aber zu einer hohen Herausforderung werden kann, die einen „Unterstellungscharakter“ (Helming/Mayer 2012: 57) hat. In der Studie wird weiter herausgearbeitet, dass „das Nähe-Distanz-Problem den Kindern zugeschrieben wird – und nicht den Fachkräften“. Kindliche Bedürfnisse nach Nähe werden hier als herausfordernd dargestellt (ebd.). Situationen der emotionalen und körperlichen Nähe werden zur Gefahr für die Fachkräfte. Helming und Mayer beschreiben, dass die Art der Thematisierung von sexueller Gewalt zu einem „Generalverdacht“ (Helming/Mayer 2012: 57) führt:

Es steht eine Art grundsätzliches Misstrauen auf der Tagesordnung, das wenig hilfreich ist – und vermutlich bald wieder vergessen wird, weil es im Alltag schwer aufrechtzuerhalten ist: ‚Wenn wir nämlich anfangen, diesen Generalverdacht erstmal in so eine Kultur einzuspielen, […] so ein Grundmisstrauen in die Mitarbeiterschaft und dann kann man auch aufhören. Also das ist ein Spannungsfeld, das ist ganz schwierig, finde ich‘ (Einrichtungsleitungen).

(Helming/Mayer 2012: 57)

Ein etablierter Generalverdacht wird hier von einer interviewten Einrichtungsleitung mit einer Verunmöglichung der Arbeit verbunden. Interessant sind hier auch die von Einrichtungsleitungen und den Verbänden beschriebenen Widerstände, die ihnen von den pädagogischen Fachkräften entgegengebracht werden. Diese gehen soweit, dass sich die pädagogischen Fachkräfte durch die Maßnahmen so angegriffen fühlten, dass sie die Arbeit komplett oder aber bestimmte Aufgaben verweigerten (Helming/Mayer 2012: 58). Weiter arbeiten Helming und Meyer heraus, dass es von den Einrichtungsleitungen selbst ein „generalisiertes Misstrauen“ (Helming/Mayer 2012: 58) gegen bestimmte Personengruppen und Situationen gab. Genannt wurden hier „homosexuell orientierte Männer“ und „katholische Priester“.

In der Gesamtschau der hier vorgestellten Forschungsergebnisse fallen folgende Punkte auf, welche für diese Studie zentral sind:

  • Alle hier vorgestellten Ergebnisse zeigen eine Verunsicherung von pädagogischen Fachkräften in pädagogisch alltäglichen Situationen der Nähe vor dem Hintergrund der Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen. Diese Omnipräsenz verweist auf die einleitend erwähnte Vertrauensfrage an die Profession und die Professionellen, die auch als Generalverdacht gefasst werden kann (vgl. auch Wittfeld 2017; Dörr 2019; Böllert 2014). Offen bleibt an dieser Stelle, ob sich das subjektiv empfundene Misstrauen für alle Fachkräfte in gleichem Maß zeigt, oder ob es hier Unterschiede gibt. Die vorliegenden empirischen Ergebnisse deuten an, dass die Möglichkeit, über Verunsicherungen und Grenzen zu sprechen, zum Abbau der Verunsicherung beiträgt.

  • Es gibt Hinweise darauf, dass pädagogische Fachkräfte ihr Handeln in Nähesituationen anpassen und sich entscheiden, tendenziell eher weniger Nähe zu geben. Offen bleibt an dieser Stelle, wie Situationen der Nähe bewältigt werden, die in Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe zwangsläufig aufkommen.

  • So einig, wie die Studien sich darin sind, neue Herausforderungen für die pädagogische Praxis zu formulieren, so unterschiedlich sind sie in den Konsequenzen, die sie für die professionelle Praxis ableiten. Auf der einen Seite steht der Ruf nach Qualifikation und Grenzwahrung, auf der anderen die Notwendigkeit für Fehlertoleranz und Räume der Reflexion. Es ist davon auszugehen, dass die Forschungsergebnisse den Diskurs mit prägen. Aus dem Grund müssen diese sich auch auf ihre Implikationen hin befragen lassen. Dies gilt auch für die Ergebnisse dieser Studie.

  • Sowohl die Kritik Dörrs an der Chiffre Nähe und Distanz, die Sexualität tendenziell als Gefahr belegt und ausblendet als auch die Ergebnisse von Retkowski und Hess verweisen darauf, dass Sexualität in pädagogischen Nähebeziehungen, vielfach nicht mitgedacht wird.

  • Hess und Retkowski zeigen das Pädagog*innen vor dem Hintergrund der Thematisierung sexueller Gewalt vulnerabel werden und eigene affektive Verstrickungen nur schwerlich angesprochen werden können.

Insgesamt zeigt sich, dass Vertrauen und Misstrauen sich sowohl für die öffentliche Thematisierung wie für die pädagogische Praxis als zentral erweisen. Das Stichwort des Generalverdachtes wurde bereits aufgeworfen. Im Abschnitt 2.1, das die mediale Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen beschrieben hat, wurden ausführlich die Ergebnisse der beiden Diskursanalysen von Behnisch und Rose (2011b) sowie Hoffmann (2015) dargestellt. Beide zeigen eine starke Verkoppelung der Debatten um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen mit einem Generalverdacht gegen pädagogische Institutionen und ihre männlichen Fachkräfte. Weitere sehr aufschlussreiche Forschungsergebnisse gibt es zu generalisiertem Misstrauen gegen männliche Erzieher in Kitas. Ein Blick in dieses Arbeitsfeld lohnt, denn es ist kein Zufall, dass bereits vor der öffentlichen Skandalisierung sexueller Gewalt in Institutionen in diesem Handlungsfeld über einen Generalverdacht gegen männliche Fachkräfte geforscht wurde.

2.5.3 Exkurs: Zum Generalverdacht gegen männliche Fachkräfte in der Kita

Für den Bereich der Kindertageseinrichtungen liegen zentrale Ergebnisse vor, die hohe Analogien zu den später dargestellten Ergebnissen aufweisen. Beiden pädagogischen Institutionen ist gemein, dass sie nicht nur einen Bildungsauftrag haben, sondern darüber hinaus auch elterliche Sorgeaufgaben übernehmen – viel stärker, als das andere pädagogische Institutionen tun. In beiden Institutionen sind die Fachkräfte für die Pflege der Körper zuständig, die Kinder schlafen in den Einrichtungen, es besteht ein Anspruch, dass dort sexuelle Bildung geleistet wird. Die pädagogische Beziehung benötigt für ein gelingendes Verhältnis Nähe, die Fachkräfte sind durch lange (Nacht-)Dienste ebenfalls mit ihren körperlichen Bedürfnissen präsent. Nicht zuletzt arbeiten in beiden Institutionen vornehmlich Personen, die eine Ausbildung zur*m Erzieher*in abgeschlossen haben. Auch berufsbiografisch gibt es hier also Verbindungen zwischen den Fachkräften.

Im Folgenden soll zunächst auf zwei Studien eingegangen werden, die männliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen in den Blick nehmen. Zum einen ist das die österreichische Studie „Elementar“ (Aigner/Rohrmann 2012), zum anderen die deutsche Studie „Männliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen“ (Cremers/Krabel/Calmbach 2010). Beide multimethodalen Studien haben ihre Ergebnisse bereits vor 2010 erhoben. Der mediale Aufruhr von 2010 hatte insofern noch keinen Einfluss auf die Ergebnisse und dennoch deutet sich hier bereits ein Zusammenhang zwischen sexueller Gewalt als Thema, einem Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte und auch medialer Berichterstattung an.

Die deutsche Studie zeigt, dass knapp die Hälfte der befragten Personen (Leitungen, Erzieher*innen und Eltern) folgender Frage ganz oder eher zugestimmt hat: „Auch wenn man vielen Männern damit Unrecht tut, habe ich schon einmal an die Gefahr eines möglichen Missbrauchs durch männliche Erzieher gedacht.“ (Cremers/Krabel/Calmbach 2010: 62). Die Autor*innen leiten daraus ab, dass davon ausgegangen werden kann, dass männliche Erzieher gedanklich mit dem Thema sexuelle Gewalt verbunden werden. Die Autor*innen gehen davon aus, dass dies dazu führt, dass der Beruf oftmals nicht gewählt wird und dass sich zudem für die Personen, die in der pädagogischen Praxis tätig sind, Handlungsschwierigkeiten ergeben (Cremers/Krabel/Calmbach 2010: 63). Michael Cremers u. a. beschreiben, dass sie in ihren qualitativen Daten unterschiedliche Arten und Weisen gefunden haben, wie männliche Erzieher ihre pädagogische Arbeit einschränken

[u]m sich vor Verdachtsmomenten zu schützen halten sich männliche Erzieher und Auszubildende immer wieder demonstrativ in der Arbeit insbesondere mit Mädchen zurück. Die Männer trauen sich beispielsweise nicht, Kinder auf den Schoß zu nehmen, sie auf die Wange zu küssen oder verzichten auf Umarmungen und körpernahe Turnübungen. Einige der befragten Männer sind auch explizit von ihren Vorgesetzten oder Kolleginnen darauf hingewiesen worden, zum Beispiel beim Wickeln die Tür aufzulassen oder im Schlafraum nicht allein auf die Kinder aufzupassen.

(Cremers/Krabel/Calmbach 2010: 63)

Ganz ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei Tim Rohrmann (2014), der eine tiefe, grundlegende Verwurzelung eines Generalverdachtes gegen und in der Folge eine tiefe Verunsicherung bei den männlichen Fachkräften konstatiert. Auch er weist darauf hin, dass die Sorge, als „potentiell pädophil bzw. ‚Missbraucher‘“ (Rohrmann 2014: 74) stigmatisiert zu werden, junge Männer davon abhält, den Beruf zu ergreifen und diejenigen, die dies tun, stark in ihrem Verhalten reguliert (Rohrmann 2014: 75). Rohrmann geht dann noch weiter und beschreibt zwei „[s]ubjektive Bewältigungsstrategien“ (Rohrmann 2014: 76): „Neutralisierung“ und „Re-Souveränisierung“ (ebd.). Bei beiden geht es um einen Umgang mit dem eigenen Geschlecht. Bei der „Neutralisierung geht es darum, dass Geschlecht im Zuge der Maxime der Gleichbehandlung dethematisiert wird. Im Falle der „Re-Souveränisierung“ werden gerade das Geschlecht und geschlechtsbezogene Fähigkeiten und Aktivitäten betont (ebd, S. 76 f). Der von den Medien, aber auch den Kolleg*innen entgegengebrachte Verdacht führt zu einer Verunsicherung der Fachkräfte in Bezug auf die Art und Weise, wie sie ihre Geschlechtsidentität ausgestalten wollen. So hat die öffentliche Debatte eine enorme Auswirkung auf ihr pädagogisches Handeln in Bezug auf emotionale Intimität und versorgende Nähe. Dies betonen die Autor*innen noch stärker in Bezug auf den Diskurs um sexuelle Gewalt ab 2010 (Cremers/Krabel 2012: 270 ff; auch Falkenhagen 2012).

Einen weiteren wichtigen Beitrag zu diesem Diskurs liefert Anna Buschmeyer (2013) mit ihrer Studie „Zwischen Vorbild und Verdacht“. Sie untersuchte wie männliche Erzieher in Kindertagesstätten Männlichkeit konstruieren. In ihrer soziologischen geschlechtertheoretischen Arbeit zeichnet Buschmeyer theoretisch und empirisch eindrucksvoll nach, wie Erzieher durch ihre Berufswahl und das weiblich dominierte Arbeitsfeld der Kindertagesstätte unmittelbar auf ihr Geschlecht zurückgeworfen werden. Allein dadurch, dass sie in diesem weiblich dominierten Feld arbeiten (wollen), werden sie mit ihrer Männlichkeit präsent und sind gezwungen, sich zu dieser zu verhalten.

Die unterschiedlichen Zuschreibungen spiegeln die Ambivalenz, denen sich die Erzieher häufig gegenübersehen: Einerseits ist ihr Handeln – außerhalb der Einrichtung – mit Weiblichkeit verknüpft, und sie laufen ‚Gefahr‘, als nichtmännlich zu gelten, weil sie einen sogenannten ‚Frauenberuf‘ ausüben. Auf der anderen Seite sollen sie – innerhalb der Einrichtung – all das verkörpern, was gemeinhin unter ‚männlich‘ verstanden wird.

(Buschmeyer 2013: 19)

Buschmeyer geht explizit auf den Zusammenhang von Männlichkeit und sexueller Gewalt ein und spitzt diesen auf den „Generalverdacht der Pädophilie“ (ebd.: 113 f) zu. Als wichtige Rahmung ihrer Erhebung markiert die Autorin, dass sie die Interviews und Beobachtungen im Sommer/Herbst 2010 durchgeführt hat. Sie nimmt aufgrund der medialen Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt in Institutionen in dem Jahr eine gesteigerte Sensibilisierung der Interviewpartner*innen an (ebd.). Gleichzeitig sieht sie die mediale Debatte nicht als allein ausschlaggebend für den Generalverdacht gegen männliche Fachkräfte. Als konstitutiv für den Generalverdacht der Pädophilie sieht sie zwei Punkte (ebd.: 119 f): Zum Ersten verweist sie auf die Evidenz, dass Männer statistisch gesehen wahrscheinlicher Tätern*innen werden als Frauen. Diese Begründung beleuchtet sie nuanciert und weist darauf hin, dass das gesellschaftliche und wissenschaftlich fundierte Wissen um Frauen als Täter*innen derzeit unzureichend ist und vielfach ausgeblendet wird. Aber auch wenn diese Blindstelle berücksichtig wird, sind mehr Männer Täter sexueller Gewalt. Zum Zweiten markiert sie die starke Thematisierung von Männlichkeit als außergewöhnlich für pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten:

Es ist in einer von männlicher Hegemonie geprägten Gesellschaft sehr ungewöhnlich, dass ein Mann den Erzieherberuf mit seinem schlechten gesellschaftlichen Ansehen und der niedrigen Bezahlung wählt. Dies schließt den Erzieherberuf für Männer mit bestimmten Männlichkeitsvorstellungen (Alleinverdienermodell, Leistungs- und Karrieredenken, Wettbewerbsinteressen, s. o.) scheinbar aus. Diejenigen Männer, die sich dennoch für den Beruf entscheiden, müssen sich häufig fragen lassen, wieso sie einen so ungewöhnlichen Beruf wählen und hier entsteht das Misstrauen: Nicht nur die Eltern der betreuten Kinder, sondern auch Kolleginnen, Freundinnen und Verwandte scheinen den (in den seltensten Fällen ausgesprochenen) Verdacht zu hegen, dass sich hinter der Berufswahl möglicherweise auch ein sexuelles Interesse an Kindern verbirgt. Wie sonst wäre zu erklären, dass sich ein Mann in ein solches Berufsfeld begibt und dort womöglich auch noch zufrieden ist? Diesem Generalverdacht sehen sich viele der befragten Erzieher ausgesetzt.

(Buschmeyer 2013: 119–120)

Empirisch weist Buschmeyer deutlich nach, dass eine pädosexuelle Neigung als Erklärungsmuster für die Wahl des Berufs des Erziehers zumindest von vielen in Erwägung gezogen wird. Alle zehn befragten Erzieher berichten in ihrer Berufsbiografie mit offenen und verdeckten Verdächtigungen, allein aufgrund ihres Geschlechtes, konfrontiert gewesen zu sein. Es zeigt sich, dass durch einen gesellschaftlichen Diskurs die Kombination aus (zugeschriebenem) männlichen Geschlecht und Interesse für Pädagogik verdächtig ist. Buschmeyer rekonstruiert weiter, dass der Generalverdacht der Pädophilie sich auf pädagogische Interaktionen mit körpernahem Handeln auswirkt (Buschmeyer 2013: 238 ff). Unter Bezug auf Connell (Connell 2015, 2008) unterscheidet Buschmeyer die Erzieher aufgrund der von ihnen vorgenommen Männlichkeitskonstruktion. Besonders Erzieher, die sich an einem traditionellen bzw. hegemonialen Bild von Männlichkeit orientieren (Typus komplizenhafte Männlichkeit) sind bezüglich körpernaher Interaktion gehemmt:

Besonders die Erzieher, die der komplizenhaften Männlichkeit zugeordnet wurden und bei denen bereits festgestellt werden konnte, dass sie die Zuschreibung als potenzieller Täter deutlich wahrnehmen, zeigt sich eine Unsicherheit im Umgang mit körperlicher Nähe zu den Kindern. Die Erzieher des komplizenhaften Männlichkeitstypus sind deutlich verunsicherter durch die möglichen Zuschreibungen von außen und versuchen daher ‚verdächtige‘ Situationen zu vermeiden. Der Vertrauensaufbau wird zum Beispiel durch Kolleginnen unterstützt oder auch durch institutionalisierte Maßnahmen, wie etwa, dass alle (auch die Kolleginnen) beim Wickeln die Tür offenstehen lassen, gefördert. Auf den Schoß nehmen oder durch Streicheln zu trösten, wird von diesen Erziehern eher vermieden oder durch die Darstellung der eigenen Person als väterlich-fürsorglich legitimiert.

(Buschmeyer 2013: 271–272)

Körperliche Distanz wird von dieser Gruppe Männer als männliche Attribution gesehen. Nähe in Verbindung mit Männlichkeit hat eher eine sexuelle Konnotation, nicht wie bei weiblichen Fachkräften eher eine versorgend liebevolle. Strukturell wird die Einschränkung der Nähe oftmals dadurch gelöst, dass es zu einer Aufgabenteilung innerhalb des Teams kommt, in der die Männer weniger versorgende und körperlich nahe Tätigkeiten ausüben.

Irmgard Diewald hat in ihrer Studie eine länderübergreifende Diskursanalyse (Deutschland/Schweden) vorgelegt, in der sie folgende Frage untersucht: „Welche (vergeschlechtlichten) Wahrheiten werden im Geschlechterdiskurs in der Debatte ›Männer in Kitas/män i förskolan‹ produziert?“Footnote 40 (Diewald 2018: 12). Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist, wie bei Buschmeyer auch, die Beobachtung des politischen Diskurses um mehr Männer in Kitas. Auch Diewald zeichnet eine ambivalente Anrufung von männlichen Fachkräften in Kindertagesstätten nach:

„Männlichkeitskonstruktionen bewegen sich […] in der Debatte ‚Männer in Kitas‘ zwischen einer gesellschaftlich und sozial erwünschten neuen, bzw. alternativen Care-Männlichkeit und einer potentiell missbrauchenden Männlichkeit. Männer in elementarpädagogischen Einrichtungen sind nicht nur Helden oder Retter der vermeintlich benachteiligten Jungen, sondern auch potentielle Gewalttäter.“ (vgl. Buschmeyer 2013; Kimmerle 2012; Rohrmann 2014).“

(Diewald 2019: 166)

Männer sind in der Folge dieser Männlichkeitskonstruktion mit einem „Generalverdacht“ (Diewald 2018: 211) konfrontiert, welcher ihr Handeln bestimmt. Situationen, in denen sie Kindern nahe kommen oder kommen könnten, werden als problematisch konstruiert und in der Folge sind sie gezwungen, ihr Handeln „als etwas Offenes und Einsehbares“ (Diewald 2018: 211) zu gestalten. Der Erzieher muss permanent sichtbar sein, um zu zeigen, dass er nicht missbraucht. Diewald benennt „Strategien der Absicherung“ (Diewald 2018: 211), bzw. „Schutzmechanismen“ (Diewald 2018: 211), die eben diese Sichtbarkeit herstellen sollen. Situationen der räumlichen und körperlichen Nähe werden dadurch kontrolliert, dass z. B. Glasscheiben in Türen von Schlaf- und Wickelräumen angebracht werden, oder aber Verbote ausgesprochen werden, z. B. allein mit Kindern in einem Raum zu sein. „Durch diese Maßnahmen werden die Handlungen aus dem Graubereich des Generalverdachts gehoben. Es entsteht ein (vermeintlicher) Schutzraum sowohl für die Kinder als auch für die männlichen Erzieher.“ (Diewald 2018: 211). Diewald bringt in folgendem Zitat den Dualismus des Generalverdachtes auf den Punkt:

Der Generalverdacht fungiert als imaginäre vergeschlechtlichte Grenzsetzung, der eine doppelte Besonderung von männlichen Erziehern eingeschrieben ist. Einerseits werden diese als potenziell missbrauchende Personen hervorgebracht. Andererseits wird eine Positionierung als Opfer des Generalverdachts und damit einhergehenden fälschlich vorgebrachten Anschuldigungen hergestellt. Die Subjektpositionierung des männlichen Erziehers verortet sich damit zwischen einer Täter- und Opferposition.

(Diewald 2018: 211–212)

Damit befinden die männlichen Erzieher sich in einem Dilemma. Es ist für sie zwingend notwendig, Strategien der Absicherung zu verfolgen. „Andererseits zementieren diese die Positionierung der Erzieher als potenziell missbrauchend. Mit der permanenten Aufforderung zur öffentlichen Sichtbarmachung von bestimmten Handlungen werden Erzieher zu einer Selbstpositionierung als potenziell missbrauchend gezwungen.“ (Diewald 2018: 213). Damit sind der „Zwang zur Sichtbarmachung“ (Diewald 2018: 213) nicht nur ein doppelter Schutz, sondern auch eine doppelte Gefahr. Er manifestiert den Generalverdacht und führt dazu, dass Kinder keine fürsorgliche Nähe durch den Erzieher erhalten. Diewald macht weiter deutlich, dass sich

„der Generalverdacht gegenüber männlichen Erziehern nicht nur innerhalb des elementarpädagogischen Bereichs findet. Vielmehr lassen sich mit Trägern, Erzieherinnen, Eltern und Freund_innen, divergierende Sprecher_innenpositionen erkennen, von denen aus Verdachtsmomente geäußert werden. Der Generalverdacht wird zu einem gesellschaftsübergreifenden und gleichzeitig gesellschaftsstrukturierenden Moment. Erkennen lässt sich eine Aushandlung vergeschlechtlichter, gesellschaftlicher Positionierungen über die Frage nach sexualisierter Gewalt. Dies führt zu einer negativ konnotierten Besonderung von Männern in feminisierten Berufsfeldern qua biologischem Geschlecht.“

(Diewald 2019: 177).

Mit diesem Ergebnis weist Diewald darauf hin, dass der Generalverdacht nicht exklusiv für den Bereich der Kita gültig ist, sondern vielmehr für alle Arbeitsfelder, in denen Erzieher arbeiten.

Die vier Studien zu Männern, bzw. Männlichkeit in Kitas fokussieren die Vergeschlechtlichung des Generalverdachtes im elementarpädagogischen Bereich. Sie beschreiben, dass hier Männern per se mit Misstrauen begegnet wird, weil das Ergreifen des Berufs des Kita-Erziehers nicht zum gesellschaftlichen Bild passt. In der Folge wird die Männlichkeit der Fachkräfte hinterfragt und es kommt zu Verdächtigungen in Bezug auf Pädosexualität. Der Generalverdacht gegen Männer und die implizite und explizite Aufforderung an sie, transparent zu arbeiten, hat Auswirkungen auf das pädagogische Handeln der Erzieher. Sie begrenzen Nähe und fürsorgliche Situationen, um dem Generalverdacht entgegenzuwirken. Für die vorliegende Studie stellen sich im Anschluss zwei Fragen: (1) Findet sich für die Heimerziehung ein ähnlicher Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Erzieher*innen? (2) Wird dem Misstrauen, das den Fachkräften entgegengebracht wird, ebenfalls mit Transparenz und Kontrolle begegnet?

2.5.4 Auswirkungen von Verdächtigungen gegen pädagogische Fachkräfte

Abschließend soll noch ein Blick darauf gerichtet werden, welche Auswirkungen ein öffentlich geäußerter Verdacht sexueller Gewalt gegen eine pädagogische Fachkraft haben kann. Auch hier liefert wiederum die Studie des DJI zu sexueller Gewalt in Institutionen wichtige Informationen, wenngleich die Stichprobe hier nur sehr gering war. Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung zeigen, dass 33,3 % der erhobenen Verdachtsfälle dienst- bzw. arbeitsrechtliche und 6,1 % strafrechtliche Konsequenzen hatten (Helming et al. 2011a: 86). Für 21,2 % der Fälle wurde angegeben: „Der Verdacht hat sich nicht bestätigt, aber hatte dennoch erhebliche Konsequenzen für die in der Einrichtung tätige Person.“. Weiter konnten 24,2 % der Verdachtsfälle nicht geklärt werden (Helming et al. 2011a: 86) oder waren zur Erhebung der Untersuchung weiter schwebend.

Retkowski und Angelika Treibel konkludieren im Anschluss an Hans-Ludwig Kröber (2013): „Der Vorwurf, sexuelle Nötigung oder gar sexuellen Kindesmissbrauch begangen zu haben, stellt einen potenziell vernichtenden Vorwurf dar und bedeutet nicht selten den Ruin der sozialen und beruflichen Existenz.“ (Retkowski/Treibel 2018: 757). In der Praxis kommen Falschbeschuldigungen äußerst selten vor (Retkowski/Treibel 2018: 760). Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Fall in der Praxis nicht auch dahingehend geprüft werden muss, wie glaubhaft der Verdacht ist. Rektowski und Treibel weisen auf die Schwierigkeiten hin, wenn ein Verdacht sich auf eine*n Kolleg*in bezieht.

Wird eine pädagogische Fachkraft mit einem Verdachtsfall konfrontiert, dann hat sie nicht mehr die Wahl, mit dieser Information ‚nichts‘ zu tun. Die Mitteilung wird in jedem Fall Gedanken und Gefühle auslösen. Eine besondere Herausforderung ergibt sich, wenn die ‚beschuldigte‘ Person der pädagogischen Fachkraft bekannt ist oder ihr nahesteht. Dies kann sehr starke Ambivalenz und Verunsicherung auslösen, schlimmstenfalls führt die innere Abwehr des Konflikts dazu, passiv zu bleiben oder den Verdachtsfall nicht als solchen zu bewerten, so dass auch die Leitlinien der Einrichtung zum Umgang mit Verdachtsfällen als nicht relevant erachtet und notwendige Schritte nicht unternommen werden.

(Retkowski/Treibel 2018: 761)

Eine Thematisierung von Verdachtsfällen birgt für Kolleg*innen immer das Risiko, dass sich eine Vermutung nicht bestätigt. Nicht tätig zu werden ist jedoch auch fahrlässig und kann arbeitsrechtliche Konsequenzen haben (ebd.). Zudem ist ein Handeln und eine organisationale Aufarbeitung von Verdachtsfällen immer wichtig, weil aus pädagogischer Sicht auch Falschbeschuldigungen durch Kinder und Jugendliche oft einen Sinn haben, der pädagogisch bearbeitet werden muss, bspw. dann, wenn Kinder und Jugendliche die Reaktionen einer Einrichtung testen wollen.

Festzuhalten ist, dass in der pädagogischen Praxis Verdachtsfälle sexueller Gewalt herausfordernd sind. Für die Beschuldigten, für die Kolleg*innen und die Organisation kann ein Verdacht potenziell gefährlich sein, und/oder den arbeitsrechtlichen und oder sozialen Exitus bedeuten.

2.6 Forschungsfrage

Das Kapitel 2 dieser Arbeit hat den Kontext der Forschung dargestellt. Es hat gezeigt, dass sexuelle Gewalt in Institutionen ein gesellschaftlich relevantes Feld ist, das seit dem Jahr 2010 verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Die medialen Thematisierungen, zuweilen auch Skandalisierungen des Phänomens haben politische, juristische und disziplinäre Konsequenzen. Diese waren nur möglich, weil bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen erfüllt waren: (1) eine gestiegene Aufmerksamkeit für Kinderschutz, (2) eine Delegitimierung von sexueller Gewalt und (3) eine veränderte Einordnung von sexueller Gewalt.

Die vorgestellten Diskursanalysen haben auf die Ambivalenzen des medialen Ereignisses hingewiesen. Zum einen entwickelte sich aus der Öffentlichkeit des Themas ein großes Potential für Prävention, Intervention und längst überfällige Aufarbeitung. Die pädagogische Fachpraxis wird jedoch vor Herausforderungen gestellt. Bereits in den Diskursanalysen wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die öffentliche Thematisierung einen gesellschaftlichen Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte schafft, der insbesondere männliche Fachkräfte unter Verdacht stellt, ihre Position für Gewalt gegen Schutzbefohlene zu nutzen.

Bei der Begriffsbestimmung ist deutlich geworden, dass es sich bei sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in pädagogischen Institutionen um ein besonderes Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen handelt. Juristisch werden Personen der Erziehung, Ausbildung und Betreuung ähnlich wie biologische, juristische oder soziale Eltern behandelt. Die für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe konstitutive Übernahme von Sorge- und Erziehungsaufgaben führt dazu, dass pädagogische Fachkräfte zumindest einige Teile von sozialer Elternschaft übernehmen. Im Kontext sexueller Gewalt wird durch diese Positionierung das Inzesttabu berührt: Sexuelle Handlungen zwischen den Generationen sind normativ tabuisiert.

Wie die empirische Forschung zur Prävalenz in Deutschland und auch international gezeigt hat, ist sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ein beachtliches soziales Problem und gerade Mädchen und Jungen in Heimen haben ein sehr stark erhöhtes Risiko, sexuelle Gewalt zu erfahren. In dieser Feststellung begründet sich die Wahl des Forschungsfeldes. Die genaue Betrachtung des pädagogischen Feldes – der stationären Heimerziehung – mit seinen konstitutiv angelegten Ambivalenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und seiner Geschichte haben deutlich gemacht, dass die Heimerziehung nicht genuin ein guter Ort des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche ist, sondern eine gewaltvolle Geschichte hat und auch heute immer wieder gewaltvolle Konstellationen hervorbringt.

Der Forschungsstand zu institutionellen Risikobedingungen für sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene hat gezeigt, dass es organisationale und pädagogische Bedingungen gibt, die gleichzeitig konstitutiv und risikovoll für das Handlungsfeld der stationären Kinder- und Jugendhilfe sind. Sowohl die organisationalen als auch die pädagogischen Bedingungen sind dabei immer konstitutiv. Weiter gibt es bestimmte pädagogische und ideologische Konzepte, die spezifische Risiken mit sich bringen, aber vor allem auch organisationale und pädagogische Bedingungen auf eine Art betonen, die in dieser Ausgestaltung das Risiko verstärken. Ob sich eine gewaltvolle Konstellation ausprägen kann, hängt stark vom Umgang der Einrichtung mit diesen Gegebenheiten ab.

In der Forschung zu besonderen pädagogischen Herausforderungen vor dem Hintergrund sexueller Gewalt hat sich gezeigt, dass die Sexualität der Beteiligten sowie Situationen der Nähe sich als besonders herausfordernd für die Handlungspraxis zeigen. Die in den Diskursanalysen antizipierte Verunsicherung der Fachkräfte zeigt sich auch in ersten Studien, besonders deutlich ausgearbeitet für den Bereich der Kindertagesstätten. In Bezug auf Situationen der Nähe geht es besonders um Aufgaben der körperlichen wie emotionalen Sorge der pädagogischen Fachkräfte für Kinder und Jugendliche.

Diese Forschungsarbeit wendet sich nun genau dieser pädagogischen Handlungspraxis zu. Sie will untersuchen, wie pädagogische Fachkräfte der stationären Kinder- und Jugendhilfe das Thema sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene wahrnehmen. Zentral ist dabei der vermutete Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Problematisierung sexueller Gewalt in Institutionen und der pädagogische Handlungspraxis. Ziel ist es, Herausforderungen, die sich für pädagogische Fachkräfte ergeben, zu rekonstruieren. Daraus wird die eingangs schon benannte Forschungsfrage abgeleitet:

Vor welchen Herausforderungen stehen pädagogische Fachkräfte in der Heimerziehung angesichts des neuen, öffentlichen Diskurses über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene?

Für die Beantwortung dieser Forschungsfrage wird zunächst untersucht, ob und wie das Thema sexuelle Gewalt in Institutionen für die pädagogischen Fachkräfte relevant wird. Ziel ist es dabei, den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Thematisierung und dem pädagogischen Handeln genauer auszuleuchten. Gerade zu diesem Zusammenhang gibt es bislang nur wenig empirische Ergebnisse.

Weiter haben sich in der Gegenstandsbestimmung als relevante Kategorien bislang vor allem pädagogische Nähe sowie Ver- bzw. Misstrauen identifizieren lassen. Diese beiden Kategorien werden als sensibilisierende Konzepte in der Arbeit mitgeführt. Die Rekonstruktion von kollektiven Orientierungen mittels der dokumentarischen Methode zielt darauf ab, Zugang zu handlungsleitendem Wissen zu bekommen und damit auch zu den Bewältigungsstrategien, die sich für die zuvor rekonstruierten Herausforderungen finden lassen.