Das Forschungsinteresse dieser Dissertation wurde geweckt durch den 2010 begonnen, neuen Diskurs um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen. Angesichts zunehmender Kritik an institutionellen Konstellationen und der Infragestellung von pädagogischer Fachlichkeit durch die Medien stellte sich die Frage, vor welchen Herausforderungen pädagogische Fachkräfte in der Heimerziehung angesichts des neuen, öffentlichen Diskurses über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene stehen. Diese Forschungsarbeit ist genau dieser Frage für das Feld der Heimerziehung nachgegangen. Am Schluss der Analyse gilt es nun, eine Inventur durchzuführen. Welche zentralen Ergebnisse lassen sich für diese Studie identifizieren und wie kann die Forschungsfrage beantwortet werden? Das ist Ziel des ersten Teils dieses Kapitels (vgl. 13.1).

Weiter fragt dieses letzte Kapitel nach der Relevanz der Ergebnisse in Bezug auf den einleitend umfassend dargestellten Forschungsstand. Wo sind die Ergebnisse anschlussfähig? Wo stellen sie Fragen an vorherige theoretische und empirische Erkenntnisse? Und wo bleiben auch Fragen offen? (vgl. 13.2).

13.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

Ausgangspunkt der empirischen Analyse war die Frage, welche Rolle das Thema sexuelle Gewalt in Institutionen bei den Fachkräften spielt. Durch das Forschungsinteresse selbst und den Stimulus der Gruppendiskussion wurde die gesellschaftliche Thematisierung in das Untersuchungsfeld hineingetragen. Als bemerkenswert markiert wurde, dass die Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen durch die Forscherin zunächst eine Distanzierung aller Teams von Taten sexueller Gewalt hervorrief (Kap. 5). Es wurde gezeigt, dass die pädagogischen Fachkräfte unaufgefordert erklärten, in ihrer eigenen pädagogischen Arbeit bislang nicht mit sexuellen Gewalttaten durch direkte Kolleg*innen konfrontiert gewesen zu sein. Diese Aussage wurde im späteren Verlauf einiger Gruppendiskussionen durch Berichte von sexueller Gewalt innerhalb der Institution relativiert (Kap. 9). Die von den Teams als erwiesen angenommenen Fälle übergriffigen Verhaltens durch pädagogische Fachkräfte betrafen jedoch nicht die eigenen Teamkolleg*innen. Aufgrund der anfänglichen Distanzierung von sexueller Gewalt war es den Diskussionsteilnehmer*innen möglich, als Expert*innen der Heimerziehung zu sprechen und nicht als Personen, die Erfahrung in der Bewältigung von sexueller Gewalt in Institutionen haben. In den Distanzierungen zu Beginn der Gruppendiskussionen zeigt sich bereits das Bedürfnis der Fachkräfte, sich selbst und ihr Handeln zu legitimieren, sich als integer darzustellen. Diese kollektive Reaktion legt nahe, dass das Thema eine grundlegende Anfrage an die professionelle Identität stellt, die eine Legitimierung der eigenen Position notwendig macht. Bereits in dieser Anfangssequenz der Gruppendiskussionen scheint der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Thematisierung sexueller Gewalt und den Orientierungen und Handlungspraxen der pädagogischen Fachkräfte auf.

Im Weiteren zeigte sich, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen als Thema in vielfältiger Weise für die Teams präsent ist. Für das Präsentwerden des Themas wurden unterschiedliche Anlässe rekonstruiert: die Ausbildung, biografische Betroffenheit, mediale Berichterstattung, institutionelle Bedingungen, Tatverdacht und Gewalttat sowie kindliche Bedürfnisse nach Versorgung und Nähe (vgl. Kap 610). Vor allem in Kapitel 7, welches die mediale Berichterstattung als Anlass rekonstruiert, konnte der subjektive Eindruck der Teams herausgearbeitet werden, demzufolge in Zusammenhang mit der medialen Thematisierung ein gesellschaftlicher Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte entsteht. Es wurde deutlich, dass in der Orientierung der Fachkräfte die mediale Berichterstattung gleichzeitig als eine notwendige Aufarbeitung und als Auslöser für einen Generalverdacht wahrgenommen wird. Im Fokus dieses Generalverdachtes stehen, so die Deutungen der Diskutant*innen, am stärksten männliche Fachkräfte und katholische Institutionen. Mit dem Wissen um die Wahrnehmung eines Generalverdachtes im öffentlichen Diskurs wird die zuvor rekonstruierte Distanzierung umso verständlicher. Die Forscherin ist Teil der Öffentlichkeit und Teil des Diskurses. Dem Generalverdacht, den auch sie repräsentiert, wird eine Distanzierung gegenübergestellt, um aus einer neutralen Position an der Gruppendiskussion teilnehmen zu können.

Institutionelle Risikokonstellationen (Kap. 8), die auf strukturelle, pädagogische und konzeptionelle Bedingungen zurückzuführen sind, wurden in den Gruppendiskussionen diskutiert. In der Diskussion beziehen die Diskutant*innen die Möglichkeit, dass es zu sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte kommt, auf die eigene Einrichtung und erörtern das theoretische Risikopotential der eigenen Wohngruppe. Die identifizierten Risiken beziehen sich zum einen auf die Kinder und Jugendlichen, die in der Gefahr stehen, sexuelle Gewalt zu erfahren. Sie beziehen sich aber immer wieder auch auf die pädagogischen Fachkräfte, für die Situationen in ihrem Arbeitsalltag vor dem Hintergrund der Thematisierung von sexueller Gewalt risikovoll werden. Die Risiken für die Fachkräfte zeigen sich zugespitzt in Erzählungen über Verdachtsfälle gegen einzelne pädagogische Fachkräfte, die die Teams erlebt haben (Kap. 9). Hier erweist sich besonders der Umgang der Einrichtungsleitung mit dem Thema sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen als relevant. Von diesem Umgang hängt ab, ob die pädagogischen Fachkräfte eine Vorstellung davon haben, wie in einem Verdachtsfall gehandelt werden sollte. Zudem gibt es kontrastierende Einschätzungen dazu, wie unterstützend oder auch gefährdend eine organisationale Bearbeitung für die unter Verdacht stehende Fachkraft wäre. Hier gehen die Orientierungen der Teams stark auseinander: Einige empfinden es als unterstützend und entlastend, die Verantwortung für das weitere Vorgehen an die Organisation abgeben zu können. Anderen sind die organisationalen Verfahrensweisen unklar und es entsteht Handlungsunsicherheit. Wieder andere kennen die organisationalen Vorgaben, halten diese aber für unzulänglich, da sie kein Vertrauen in die Einrichtungsleitung haben. Sie befürchten, dass die Meldung eines Verdachtes an die Einrichtungsleitung mit einem sehr hohen Risiko für die verdächtigten Kolleg*innen einherginge. Gerade durch Team 6 werden die organisationalen Vorgaben abgelehnt und als risikovoll für sie selbst beschrieben. Immer wieder stellen die pädagogischen Fachkräfte Bezüge zwischen der Haltung und Begleitung der Organisation und der öffentlichen Thematisierung von sexueller Gewalt her. Der organisationale Umgang mit der gesellschaftlichen Thematisierung zeigt sich als wesentlich für die Herausforderungen, vor denen die einzelnen Fachkräfte stehen. Die Frage von Vertrauen in die eigene Organisation und das subjektiv wahrgenommene Vertrauen der Organisation in die eigene Person spielen hier eine entscheidende Rolle.

Während Verdachtsfälle im eigenen Team für die pädagogischen Fachkräfte außergewöhnlich sind und bislang nicht vorkamen, bzw. nicht wahrgenommen wurden, sind Situationen der Nähe zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern bzw. Jugendlichen als Anlass für das Thema sexuelle Gewalt alltäglich. Systematisch lassen sich hier zwei Arten von Nähesituationen unterscheiden. Zum einen Situationen, in denen auf das kindliche Bedürfnis nach körperlicher Versorgung eingegangen werden muss, zum anderen Situationen, in denen emotionale Bedürfnisse nach Körperlichkeit an die Fachkräfte herangetragen werden. Übereinstimmend werden mit Bezug auf das Thema sexuelle Gewalt von allen Teams Situationen der körperlichen Versorgung von Kindern als problematisch markiert (Kap. 10). Hier geraten kindliche Bedürfnisse nach Versorgung und Pflege mit den Bedürfnissen der Fachkräfte in Konflikt, sich selbst vor dem Verdacht sexueller Gewalttätigkeit zu schützen. Für die Fachkräfte sind diejenigen Situationen problematisch, in denen sie die nackten Körper der Kinder berühren oder ansehen müssen (z. B. Duschassistenz und Wickeln), weil sie befürchten, dass hier ihre pflegenden Handlungen als sexuelle Gewalt ausgelegt werden könnten. Gerade wenn Fachkräfte sich nicht durch die Organisation geschützt fühlen, werden diese Situationen für sie besonders prekär. Der Selbstschutz ist für alle Teams ein wesentlicher Teil der handlungsleitenden Orientierung. Für diejenigen, die kein Misstrauen gegenüber der Organisation haben, ist es ein Aspekt, der gegen andere abgewogen werden muss. Bei anderen Teams, die von ihrer Organisation bei Verdacht keinen Schutz erwarten, wird der Selbstschutz in der Orientierung handlungsleitend.

Neben den Situationen der körperlichen Versorgung ist auch körperliche Nähe aufgrund von emotionalen Bedürfnissen der Kinder für einige Teams problematisch. Hier zeigt sich eine deutliche Trennung zwischen den Teams, die familienanalog arbeiten und denjenigen, die dies explizit nicht tun. Die familienanalog arbeitenden Teams haben den Anspruch, auch körperlich emotionale Nähe zu geben, weil dies für sie Teil des pädagogischen Konzeptes ist. Sie sehen kindliche Bedürfnisse nach körperlicher Nähe und wollen diesen begegnen, nicht zuletzt, weil sie in ihrer Arbeit familiale Aufgaben übernehmen. Die nicht familienanalog arbeitenden Teams sehen nur eine marginale Notwendigkeit, aufgrund emotionaler Bedürfnisäußerungen der Kinder körperliche Nähe zu geben. Stärker noch, es gibt in den Erzählungen der Gruppendiskussionen keine Schilderungen von Situationen, in denen Kinder und Jugendliche aufgrund von emotionaler Bedürftigkeit körperliche Nähe einfordern würden.

Von den familienanalog arbeitenden Teams wird für diese Situationen der Nähe beschrieben, dass sie aufgrund der Angst, unter Verdacht gestellt zu werden, für die pädagogischen Fachkräfte problematisch sind. Auch hier wird befürchtet, dass Fachkräfte durch missverständliche Situationen unter Verdacht geraten, sexuelle Gewalt auszuüben. Deutlich wird, dass die Angst vor dem Verdacht und damit der Selbstschutz zentrales handlungsleitendes Motiv ist. Es deutet jedoch nichts auf eine Befürchtung der Fachkräfte hin, sie könnten in Situationen der Nähe die Grenzen der Kinder und Jugendlichen verletzen. Die Handlungsunsicherheit entsteht also nicht aus den Anforderungen, die die Situation selbst mit sich bringt. Die Fachkräfte sehen sich in der Lage, pädagogisch mit den Bedürfnissen nach Nähe umzugehen, diesen zu begegnen oder sie aus pädagogischen Gründen abzulehnen. Erst vor dem Hintergrund des Generalverdachts und der Sorge, selbst unter konkreten Verdacht gestellt zu werden, werden die Nähesituationen zu einer besonderen Bewältigungsaufgabe im pädagogischen Alltag.

An dieser Stelle zeigen sich die Interdependenzen zwischen den rekonstruierten Anlässen. Die organisationalen Haltungen der Träger, also der Grad des Ver- oder Misstrauens, sind eng verwoben mit den organisationalen Reaktionen auf den medialen Diskurs, wie sie beim Anlass der medialen Thematisierung beschrieben wurden. Eine starke Verunsicherung der Träger durch den medialen Diskurs äußert sich hier in einem organisationalen Misstrauen, das zu Selbstschutzreaktionen und damit zur Einschräkung von Nähe zu den Kindern und Jugendlichen führt.

Ein weiterer Aspekt, der in Bezug auf die Bewältigung von Nähesituationen beachtet werden muss, wurde in Kapitel 11 herausgearbeitet. Für fünf der sechs Teams liegt die Möglichkeit, eine*r ihrer Kolleg*innen könnte sexuelle Gewalt an einem in der Gruppe wohnenden Kind ausüben, nahezu oder vollständig jenseits des für sie Vorstellbaren. Diese Möglichkeit wird, so beschreiben es die Teams, im alltäglichen Handeln nicht mitgedacht. Hier wird durch die Reflexion in der Gruppendiskussion das konjunktive Wissen der pädagogischen Fachkräfte explizit und auch für diese zugänglich. Die Mehrheit der Teams problematisieren diese bei sich selbst festgestellte Orientierung explizit. Sie sehen die Gefahr, dass sie sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen als Möglichkeit ausblenden und so die Kinder und Jugendlichen weniger gut schützen und unterstützen könnten.

Die Teams zeigen sich in ihren Orientierungen fachlich prinzipiell handlungssicher. Sie wissen, wie sie unter pädagogischen Gesichtspunkten gut mit Nähesituationen umgehen können und dass diese nicht immer eindeutig lösbar sind. Sie sehen in den Situationen keine Gefahr für die Kinder und Jugendlichen. Die Situationen sind ausschließlich für sie selbst und die Kolleg*innen risikovoll, weil sie in Verbindung mit sexueller Gewalt stehen. In dieser Logik der Orientierung müssen nur die Fachkräfte geschützt werden. Die Konsequenz ist, dass oftmals pädagogisch sinnvolle, körperliche Nähe zugunsten des Selbstschutzes der Fachkräfte verwehrt wird. Dies bedeutet aus Sicht der familienanalog arbeitenden Teams eine Deprofessionalisierung der pädagogischen Arbeit (Kap. 10). Der Aufbau von Beziehungen, der auch körperliche Nähe miteinschließt, wird begrenzt.

Für die nicht familienanalog arbeitenden Teams gilt dies nicht in gleicher Weise. Konzeptionell wären körperlich nahe Beziehungen für sie unprofessionell. Sie arbeiten so bewusst nicht. In ihrer Orientierung entsteht so auch kein Konflikt, es gibt keine weiteren Begrenzungen des pädagogischen Handelns, weil das Handeln der Fachkräfte durch die konzeptionelle Ausrichtung bereits begrenzt ist. Dass eine ausgeprägte Distanz professionstheoretisch auch als unprofessionell eingeordnet wird, wird nicht problematisiert.

Eine weitere äußerst relevante Ebene der Rekonstruktion des Materials stellt das Kapitel 11 dar. Hier konnte gezeigt werden, dass sich in den Gruppendiskussionen ein distanzierter Modus des Sprechens zeigt. Die Sprache der Fachkräfte umgeht und verdeckt sexuelle Gewalt und die Beschuldigungen sexueller Gewalttätigkeit gegen sie. Der Modus des Sprechens verweist weiter auf große Schwierigkeiten der Fachkräfte, sich vorzustellen, dass sexuelle Gewalt durch ihre direkten Kolleg*innen verübt werden könnte. Die pädagogischen Fachkräfte antizipieren, dass ein Verdacht gegen ein*e Kolleg*in eine große Belastung für sie wäre und sie vermutlich mit Abwehr reagieren würden. Für ein Team ist dies nahezu unvorstellbar. Einige können im reflexiven Moment der Gruppendiskussion diskutieren, dass diese Vorstellung außerhalb ihres Referenzrahmens liegt und sie so Hinweise auf sexuelle Gewalt vermutlich nicht erkennen würden. Nur für ein Team zeigt sich, dass die Möglichkeit sexueller Gewalt durch Kolleg*innen Teil ihrer Orientierung ist.

Im Kapitel 12 wird die thematische Sortierung der Forschungsarbeit aufgebrochen, um über die Rekonstruktion von Fällen zu einer sinngenetischen Typenbildung zu kommen, in der übergreifende Muster identifiziert werden können. Als Tertium Comparationis der Typenbildung werden Nähesituationen im pädagogischen Alltag identifiziert. Diese bilden vor dem Hintergrund der öffentlichen Thematisierung sexueller Gewalt die zentrale Herausforderung für das pädagogische Handeln der Fachkräfte. Entlang von fünf Vergleichsdimensionen (Nähe, Organisation, mediale Sensibilisierung, Denkunmöglichkeit und Bewältigungsstrategien) werden für das Sample zwei Typen identifiziert: zum einen ein näheorientierter Typus und zum anderen ein distanzierter Typus.

Mit dieser Analyseeinstellung zeigt sich, dass der näheorientierte Typus, der sich in diesem Sample konzeptionell an Familialität orientiert, vor einem professionellen Dilemma steht: Vor dem Hintergrund von sexueller Gewalt wird körperliche Nähe zu den Kindern und Jugendlichen als professionelle Praxis infrage gestellt. Den näheorientierten Fachkräften stehen zwei Optionen offen – sie können, um sich selbst zu schützen, die Nähe limitieren, die sie aufgrund ihrer pädagogischen Überzeugung geben wollen. Oder sie handeln in ihrer Orientierung pädagogisch richtig, geben Nähe und laufen dabei Gefahr, dass die zuweilen notwendigerweise diffuse Interaktion von dritten als sexuelle Gewalt ausgelegt werden kann. Das Verhältnis zur Organisation als Instanz, die über das pädagogische Handeln wacht, ist in unterschiedlichem Maß von Misstrauen geprägt. Ausschlaggebend scheint hier zu sein, inwieweit der Reflexion gescheiterter Nähesituationen und notwendiger Grenzen Raum gegeben wird, die den Fachkräften nicht negativ ausgelegt werden. Weiter deutet das Material an, dass diese Reflexionsräume dafür ausschlaggebend sind, dass Fachkräfte in der Lage sind, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen vorzustellen.

Der distanzierte Typus steht nicht in gleicherweise vor einem Handlungsdilemma, da er Nähe nicht als pädagogisch wertvoll, sondern lediglich für die Versorgung als notwendig ansieht. In der Orientierung dieses Typus findet sich kein Bezug zu wechselseitigen Affekten, die als pädagogisch sinnvoll erachtet werden. Das daraus resultierende distanzierte Handeln lässt sich standardisieren und in ein Regelwerk zum Schutz vor sexueller Gewalt einpassen, wie es in einigen Präventionskonzepten im Diskurs gefordert wird. Es entsteht auch kein Konflikt mit der Organisation, weil Handlungsanleitungen als Entlastung wahrgenommen werden und nicht als Fallstrick. In der Orientierung des distanzierten Typus wird Sexualität in der Interaktion ausgeblendet, die es, folgt man der eingangs skizzierten Perspektive dieser Arbeit, aber notwendigerweise geben muss. Zudem werden, so die Einschätzung mit der gleichen Perspektive, elementare Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen negiert. Das ist zwar keine sexuelle Gewalt, müsste aber unter anderen Vorzeichen ebenso kritisch diskutiert werden. Die öffentlichen Diskurse um geschlossene Unterbringung und behavioristische Konzepte sind derzeit zwar weniger öffentlichkeitswirksam, zeigen jedoch ebenfalls eindrücklich, dass diese Konzepte Risiken bergen, gewaltvoll zu werden.

Beantwortung der Forschungsfrage

Vor welchen Herausforderungen stehen pädagogische Fachkräfte in der Heimerziehung angesichts des neuen, öffentlichen Diskurses über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene?

So lautet die eingangsgestellte Forschungsfrage dieser Dissertation. Die Frage wird auf drei Ebenen beantwortet.

(1) Die Teams beschreiben, dass Fachkräfte der Heimerziehung durch den medialen Diskurs um sexuelle Gewalt in Institutionen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind, hier teilen sie einengemeinsamen konjuktiven Erfahrungsraum der ihr Handeln in der Praxis verändert hat. In ihrer Wahrnehmung kommt es zu einem Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte, insbesondere gegen Männer und katholische Institutionen. Dieser Generalverdacht wird als bedrohlich für die eigene Person wahrgenommen. Gleichzeitig werden Aufarbeitung und Prävention von sexueller Gewalt nicht generell abgelehnt. Einige Teams begrüßen diese explizit.

Zudem hat der Generalverdacht in der Orientierung der Teams Einfluss auf die Einrichtungen, in denen die Teams beschäftigt sind. Einige Einrichtungen werden als kompetent im Umgang mit der Thematik wahrgenommen und ihre Arbeit wirkt schützend hinsichtlich des Generalverdachtes. Andere Teams beschreiben, dass ihre Einrichtungen aktionistisch auf die öffentliche Thematisierung reagieren und einen Generalverdacht gegen Fachkräfte übernehmen. Die Teams beantworten diesen Eindruck mit einem Misstrauen ihrerseits gegenüber der Organisation. Das Risiko, unter Verdacht zu kommen, bleibt für diese Teams individualisiert, sie gehen davon aus, dass ihre Einrichtung sie nicht schützen würde.

(2) Handlungspraktisch bedeutet der Generalverdacht, dass Nähesituationen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern bzw. Jugendlichen risikovoller werden. Vor dem Hintergrund des Themas sexueller Gewalt stellen die Nähebedürfnisse der Kinder und Jugendlichen die Fachkräfte vor neue Herausforderungen, die bewältigt werden müssen. Dabei lassen sich zwei Arten von Nähesituationen unterscheiden. (A) Situationen, in denen körperliche Bedürfnisse nach Versorgung befriedigt werden müssen. Vornehmlich geht es hier um Körperpflege, also Duschen und Wickeln, sowie medizinische Anwendungen, wie die Behandlung von Vorhautverengungen. Diese Situationen werden von allen Teams als risikovoll wahrgenommen und erfordern Bewältigungsstrategien. Vornehmlich geht es um die Abwägung, ob die in der Situation geforderte Nähe gegeben werden kann oder nicht. Einige Situationen, wie bspw. Wickeln, können nicht aufgeschoben werden und werden dann auch unmittelbar erledigt. Andere, wie das Eincremen des Penis bei einer Vorhautverengung, werden hingegen abgelehnt. Stattdessen sollen die Kinder, z. T. gegen den ärztlichen Rat, selbst cremen. Weiter gibt es in allen Teams die Bewältigungsstrategie, in körperlich besonders nahen Situationen Öffentlichkeit herzustellen, damit das eigene Handeln kontrolliert werden kann bzw. könnte. Bei dem Herstellen von Öffentlichkeit lassen sich zwei unterschiedliche Intensitäten unterscheiden. Einige Teams benennen vornehmlich Praktiken, die sich als symbolische Gesten zusammenfassen lassen. Andere Teams nutzen Praktiken der tatsächlichen Kontrolle des eigenen Handelns. Sie sorgen dafür, dass es Zeugen gibt, die sie beobachten, ihr Handeln dokumentiert wird und/oder sie durch enge Kommunikation die Deutungsmacht über die Situation erlangen. (B) Zum zweiten gibt es Nähesituationen, die auf den emotionalen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen nach körperlicher Nähe beruhen. Diese werden jedoch nicht von allen Teams wahrgenommen und beantwortet.

An dieser Stelle zeigen sich im Sample zwei Typen. Zum einen ein distanzierter Typus, für den es keine emotionalen Bedürfnisse nach Nähe gibt, die er beantworten muss. Zum anderen ein näheorientierter Typus, welcher die Bedürfnisse wahrnimmt und konzeptionell den Anspruch hat, auf diese einzugehen. Die konzeptionelle Begründung ist in diesem Sample die pädagogische Orientierung an Familie und der Anspruch, familiale Aufgaben umfänglich zu substituieren. Dazu gehört auch das Geben emotionaler Nähe. Aber auch für diese Form der Nähe stellt sich die Beantwortung vor dem Hintergrund sexueller Gewalt in Institutionen problematisch da. Es entsteht eine Spannung zwischen der Nähe, die die näheorientierten Teams als pädagogisch sinnvoll erachten, und der Nähe, die die pädagogischen Fachkräfte zulassen können, ohne dass ihrer Einschätzung nach das Risiko für sie selbst zu groß werden würde. Die Balance von Nähe und Distanz im pädagogischen Handeln wird durch das Thema sexuelle Gewalt gestört. Die pädagogischen Fachkräfte bedauern, dass sie die Nähe, die sie für pädagogisch sinnvoll halten, nicht vollumfänglich geben können, ohne sich selbst zu gefährden. Die Präsenz des Themas sexuelle Gewalt führt dazu, dass sie die Nähe, die sie geben, einschränken. Weiter begleitet die Arbeit die Angst, dass sich aus Situationen, in denen wohl Nähe gegeben wird, ein Verdacht gegen die Fachkräfte ergeben könnte. Das Sample gibt Hinweise darauf, dass je stärker das Misstrauen der pädagogischen Fachkräfte gegenüber der eigenen Organisation ist, die Angst größer und das Handeln stärker eingeschränkt wird.

(3) Die letzte Ebene, auf der die Forschungsfrage beantwortet werden soll, ist die Herausforderung an die Fachkräfte, sich vorzustellen, dass sexuelle Gewalt durch ihre unmittelbaren Teamkolleg*innen verübt werden könnte. Diese Herausforderung wird durch die Gruppendiskussion an die pädagogischen Fachkräfte herangetragen, aber auch durch Nachfragen von Bekannten und hausinternen Schulungen. In den Orientierungen der Fachkräfte zeigt sich, dass die Vorstellung für sie sehr belastend ist und zu inneren Abwehrreaktionen führt. Für die alltägliche Arbeit beschreiben die meisten, dass die Möglichkeit, dass es zu sexueller Gewalt kommt, außerhalb ihres Denkhorizontes liegt. Ohne eine Reflexion, wie in der Gruppendiskussion, ist es für einige schwer vorstellbar, für andere denkunmöglich. Diese Orientierung hat Konsequenzen: Zugespitzt formuliert können die Fachkräfte theoretisch zwar über sexuelle Gewalt denken und lehnen diese auch ab. Für die eigene Handlungspraxis wird jedoch unterbewusst ausgeschlossen, dass es zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommen kann. In der Folge gibt es in der eigenen Wohngruppe auch kein Risiko für die Kinder und Jugendlichen und diese müssen in den Nähesituationen nicht geschützt werden. Wenn die Möglichkeit für sexuelle Gewalt ausgeschlossen wird, bleibt nur das Risiko für die Fachkräfte, unter falschen Verdacht gestellt zu werden. Sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte ist dann nicht mit Blick auf den Kinderschutz relevant, sondern nur für den Selbstschutz der pädagogischen Fachkräfte.Im Sample deutet sich an, dass auch die Möglichkeit, sexuelle Gewalt für die eigene Handlungspraxis zu denken, mit dem Verhältnis in Zusammenhang steht, das ein Team zur eigenen Organisation hat. Wenn ein Team die Organisation als schützend und entlastend, zumindest nicht als bedrohlich wahrnimmt, wird sexuelle Gewalt eher vorstellbar.

Die Studie zeigt, dass das Thema sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen handlungspraktisch in Situationen der Nähe für die pädagogischen Fachkräfte relevant wird. Sowohl ein von den Teams wahrgenommener Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte, als auch die konzeptionelle Ausrichtung im Hinblick auf den Anspruch Nähe zu geben und nicht zuletzt die Möglichkeit sich vorzustellen, dass es zu sexueller Gewalt durch die eigenen Kollegen kommen kann sind Herausforderungen für die pädagogische Praxis. Sie führen dazu, dass die kindlichen Bedürfnisse nach Nähe mit dem Bedürfnissen der Fachkräfte, sich selbst zu schützen, konkurrieren.

13.2 Zur Relevanz der Ergebnisse

Mit der Antwort auf die Forschungsfrage sind drei Herausforderungen identifiziert worden, die nun den Ausgangpunkt für die Einbettung der Ergebnisse in den Forschungsstand bilden sollen: (1) ein Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte, (2) die Bewältigung von Nähesituationen und (3) die Denkunmöglichkeit sexueller Gewalt.

Zum Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte in den Medien und seinen Auswirkungen auf die Handlungspraxis

Seit der neuen Präsenz von „Sexueller Gewalt in Institutionen“ (Hoffmann 2015) im medialen Diskurs geraten pädagogische Fachkräfte als mögliche Täter*innen und pädagogische Institutionen als risikovolle Orte in den Blick. Medial kritisiert werden u. a. ein übersteigerter Vertrauensvorschuss für Pädagog*innen, Machtakkumulation bei einzelnen Personen und Verfügungsgewalt über Kinder, pathologische Nähe- und Distanzverhältnisse wie das Konstrukt des pädagogischen Eros, sowie katholische Moralvorstellungen (Hoffmann 2015: 42 ff.). Mit dieser kritischen Inblicknahme, gerade mit der Infragestellung des Vertrauensvorschusses und der Kritik an konzeptionellen Ausrichtungen, werden Grundpfeiler der pädagogischen Arbeit infrage gestellt. Bei der Bestimmung des Forschungsgegenstandes ist Vertrauen in Personen und Institutionen als pädagogische Bedingung diskutiert worden, die in ihrem Risikopotential beachtet werden muss. Gleichzeitig wurde auch dort markiert, dass Vertrauen in pädagogischen Beziehungen nicht durch Kontrolle ersetzt werden kann, da Vertrauen notwendig ist, um den Anderen als autonomes Wesen anzuerkennen (Mühlmann 2014; vgl. 2.4.2). Diese Studie zeigt, dass Vertrauen sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf organisationaler Ebene notwendig ist, um (1) professionelle Nähesituationen bewältigen zu können, (2) sexuelle Gewalt für den eigenen Arbeitsalltag zu denken und (3) Unsicherheiten und Fehler hinsichtlich Grenzüberschreitungen besprechen zu können.

Gleichzeitig zeigen die hohen Prävalenzzahlen für Heimeinrichtungen auch, dass Wachsamkeit und Aufmerksamkeit ebenso vonnöten sind, sowie der Mut, Auffälligkeiten zu begegnen. Die Gleichzeitigkeit beider Anforderungen ist herausfordernd.

Diskursanalytisch zeigt sich ein „Generalverdacht gegen Männer [als pädagogische Fachkräfte]“ (Behnisch/Rose 2011b: 32). Weiter wird Homosexualität unzulässig mit Pädosexualität verbunden. Behnisch/Rose gehen davon aus, dass es durch die mediale Berichterstattung zu einem umfassenden Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte kommen kann (ebd.). Diskursanalytisch deutet sich an, dass der Generalverdacht „innerinstitutionelle[ ] Auswirkungen“ (Hoffmann 2015: 48) hat und somit die Handlungspraxis wesentlich beeinflusst. Weitere systematische Einschätzungen des medialen und gesellschaftlichen Diskurses bestätigen, dass „der pädagogischen Profession als solcher die Vertrauensfrage gestellt [wird]“ (Wazlawik/Christmann 2018: 534; vgl. auch Abrahamczik et al. 2013; Böllert 2014; Helming/Mayer 2012).

Die Ergebnisse dieser Arbeit bekräftigen diese Einschätzungen. Die Fachkräfte nehmen einen Generalverdacht wahr, der sich verstärkt gegen Männer, besonders homosexuelle Männer und katholische Einrichtungen richtet. Hier sind die Ergebnisse der vorliegenden Studie vergleichbar mit den Befunden der Studien im Bereich der Kindertagesstätten (Rohrmann 2014; Cremers/Krabel 2012; Buschmeyer 2013; Diewald 2018). Deutlich wird aber auch für die hier analysierten Teams, dass alle pädagogischen Fachkräfte – auch die weiblichen – ihr Handeln aufgrund des Themas sexueller Gewalt in Institutionen anpassen. Über alle Teams hinweg kann eine Angst rekonstruiert werden, sich der Ausübung sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene verdächtig zu machen. Dies zeigt sich handlungspraktisch in Nähesituationen zwischen Fachkräften und Kindern bzw. Jugendlichen. Der folgende Abschnitt wird näher auf diese Herausforderung eingehen.

Bezüglich des Generalverdachts ist weiter festzuhalten, dass dieser sich empirisch nicht in der konkreten Bezugnahme auf mediale Berichte äußert. Es ist viel mehr ein diffuses Gefühl von Unsicherheit und Misstrauen. Zudem wird durch Ausbildung und Einrichtungsleitung mindestens für einige Teams auf ein individuelles Risiko der Fachkräfte verwiesen. Dieses Gefühl reicht vom Jahrespraktikanten, der berichtet „im rahmen der ausbildung haben wir (.) so durch die blume, eigentlich auch schon vermittel gekriegt, ja mit einem beim steht ihr als männer immer im knast“ (GD1, 557f) bis zur dienstältesten Fachkraft, die berichtet, im Verdachtsfall zwar theoretisch zu wissen was er tun müsse, selbst aber vollkommen ungeschützt zu sein: „ich krieg keinen schutz, ich steh ich steh ganz alleine da“ (GD6, 1922). Hier zeigt sich, dass Einrichtungen der sozialen Arbeit aktiv daran mitbeteiligt sind, den Generalverdacht weiterzugeben und das Risiko für die Fachkräfte zu individualisieren. Im Sample dieser Untersuchung gingen lediglich die zwei Teams der Einrichtung B davon aus, dass die eigene Einrichtung mit ihrem Regelwerk sie im Falle eines Verdachts fair behandeln würde.

Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit zeigen, dass nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Fachkräfte sichere Orte nötig sind. Andernfalls sind die Grundbedingungen nicht vorhanden, die sie für ein professionell reflektiertes pädagogisches Handeln brauchen. Dörr bringt dies wie folgt auf den Punkt:

Insofern kann jenes, was sich zwischen Pädagogin und Adressat_in zuträgt, in seiner möglichen Konflikthaftigkeit nur hinreichend ausbalanciert werden, wenn zugleich der Soziale Ort, die institutionellen Ordnungsmuster, konfliktoffen und tragfähig sind. Und das bedeutet, sozialpädagogische Orte müssen sich auch für die Mitarbeiterinnen durch Schutz, Versorgung, Fehlerfreundlichkeit, Gemeinschaft, Offenheit und Lernerfahrungen auszeichnen.

(Dörr 2019: 138)

Es ist Aufgabe der Disziplin, diese Vertrauensfrage professionstheoretisch zu beantworten und dabei die Notwendigkeit und gleichzeitig die Risikohaftgkeit von Nähe zu erläutern. Aufgabe der pädagogischen Institutionen ist es, einen Rahmen zu bieten, in dem fachlich sicher Nähe gestaltet werden kann.

Über die Bewältigung von Nähesituationen in der Heimerziehung angesichts des Generalverdachts

Körperliche Nähe zu Kindern und Jugendlichen ist die zentrale Herausforderung, die sich im pädagogischen Alltag der Fachkräfte identifizieren lässt. Eine Balance zwischen Nähe und Distanz ist ohnehin bereits pädagogisch herausfordernd und begleitet die Theoriebildung der (Sozial)Pädagogik von Beginn an. Dörr beschreibt professionelles Handels als ein „Oszillieren zwischen Nähe und Distanz“ (Dörr 2017a: 205). Dazu benötigen die Fachkräfte die Fähigkeit, die Übertragungen der Kinder und Jugendlichen auf die eigenen Affekte zu verstehen und distanziert hierauf zu reagieren, ohne die Affekte der Kinder und Jugendlichen abzuwerten. Aber auch das Scheitern an diesem Ideal und die Reflexion dessen gehören zum professionellen Handeln. Hier braucht es die von Dörr beschriebene Sicherheit und Reflexionsräume, um das professionelle Handeln intersubjektiv zu korrigieren.

Eine weitere genuine Herausforderung stellt sich für Nähe in der Heimerziehung: die Grenzen des Aufwachsens in einer Institution. Die pädagogischen Fachkräfte sind Professionelle und die Nähe, die sie geben, wird in einem professionellen Umfeld gegeben. Dies führt immer wieder zu Kränkungen und Verletzungen der Kinder (Niederberger/Bühler-Niederberger 1988). Kappeler stellt hier den Anspruch an pädagogische Fachkräfte

Grenze ziehen zu können, ohne das Kind/den Jugendlichen zu kränken, seine Gefühle zu entwerten und es/ihn zu demütigen. Um das zu können, benötigen die Erziehenden eine Sprache, mit der sie dem Mädchen/dem Jungen vermitteln können: „Aus meiner Verantwortung für Dich, für Deine Integrität und Entwicklung, aber auch aus Verantwortung für mich selbst, darf und kann ich Dich nicht lieben in dem Sinne, wie Du Dir das wünschst. Aber Du interessierst mich und ich mag Dich.

(Kappeler 2017: 59)

Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit zeigen, dass die näheorientiert arbeitenden Fachkräfte sich prinzipiell in der Lage sehen, die Herausforderung zu bearbeiten, die Nähesituationen an sie stellen. Es zeigt sich aber auch, dass mit dem Thema sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte sich die Herausforderung neu stellt. Es geht nicht mehr nur darum, den Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden und sich selbst in achtsame Distanz zu begeben. Ein weiteres Moment kommt in den Nähesituationen hinzu. Diese werden als Möglichkeiten markiert, in denen pädagogische Fachkräfte sexuelle Gewalt ausüben könnten. Gleichzeitig werden Nähesituationen auch zu Momenten, die dazu führen können, dass pädagogische Fachkräfte unter Verdacht gestellt oder falschbeschuldigt werden. In der Folge kommt es zu einer Spannung zwischen den kindlichen Bedürfnissen nach körperlicher Nähe und dem Bedürfnis der pädagogischen Fachkräfte nach Schutz vor falschem Verdacht.

Auch andere Forschungen, wie die von Domann et al. (2015: 515), zeigen einen Zusammenhang zwischen der medialen Skandalisierung sexueller Gewalt in Institutionen und der Reduktion von körperlichen Berührungen. Dabei verweisen sie darauf, dass sowohl das Handeln der Fachkräfte eingeschränkt wird, als auch das der Kinder und Jugendlichen. Ähnliches gilt für die Ergebnisse von Hess/Retkowski, die ebenfalls zeigen, dass Pädagog*innen, in diesem Fall Lehrer*innen, von „generalisierten Berührungs- und Kontaktverboten zu den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen“ (Hess/Retkowski 2019: 236) berichten.

Den empirischen Ergebnissen dieser beiden Studien und der hier vorliegenden Studie ist gemein, dass Nähesituationen unter den Vorzeichen sexueller Gewalt als Risiko problematisiert werden. Nähe wird zu etwas, das bewältigt werden muss. Dies gilt vollumfänglich für den distanzierten Typus. Ein Minimum an körperlicher Nähe wird hier als professionell angesehen. Die pädagogische Orientierung ist im Einklang mit dem Selbstschutz. Der näheorientierte Typus hingegen reduziert die Nähe zwar aufgrund des Selbstschutzes, sieht in seinem Handeln jedoch gleichzeitig eine Deprofessionalisierung und Einschränkungen für die Kinder und Jugendlichen. Die pädagogische Orientierung steht im Konflikt mit dem Selbstschutz. Diese Arbeit hat gezeigt, dass sich hier ein Handlungsdilemma ergibt. Das fachlich angezeigte Geben von Nähe wird zum Risiko. Je nach zugeschriebenem Geschlecht, sexueller Orientierung und Vertrauen in und durch die Organisation ist das Sich-einlassen auf Nähe mehr oder weniger riskant für die pädagogischen Fachkräfte.

Zur Bewältigungsstrategie Herstellen von Öffentlichkeit

Die Herstellung von Öffentlichkeit zeigt sich als dominante Bewältigungsstrategie, um den Selbstschutz der Fachkräfte herzustellen: Es werden Türen von Räumen geöffnet, die sonst ein Zuviel an Privatheit und Intimität erzeugen würden; Es werden Zeug*innen zu prekären Situationen hinzugezogen, um das eigene Handeln legitimieren zu können; Situationen werden dokumentiert und gegenüber Vorgesetzten berichtet. Es lassen sich zwei Modi der Herstellung von Öffentlichkeit identifizieren: Zum einen symbolische Gesten, die zwar Transparenz möglich machen, die aber nicht die Absicherung der Fachkräfte sicherstellen können, da keine tatsächliche Kontrolle sichergestellt wird. Eine offene Tür wird erst dann zum tatsächlichen Kontrollinstrument, wenn sichergestellt ist, dass ein Dritter durch den Türspalt in die Situation schaut. Der zweite Modus der Herstellung von Öffentlichkeit sind tatsächliche Kontrollen. Die Mehrheit berichtet von Kolleg*innen und Kindern und Jugendlichen, die zu Situationen hinzugezogen werden, um die Privatheit aufzubrechen und im Zweifel über die Situation berichten zu können. Das Motiv, Öffentlichkeit herzustellen, ist einzig der Selbstschutz der Fachkräfte. Es wird zwar in der Situation auf die körperlichen Bedürfnisse nach Versorgung und/ oder Nähe eingegangen. Dass aber die Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz für die Kinder und Jugendlichen evtl. Schamgrenzen verletzt und pädagogische Nähe verhindern könnte, wird nicht diskutiert.

Was hier als Herstellung von Öffentlichkeit gefasst wird, findet sich bei Diewald (2018) für den Bereich der Kindertagesstätten als „Zwang zur Sichtbarmachung“ (Diewald 2018: 213). Sie weist darauf hin, dass dieser Zwang zwar ein doppelter Schutz hinsichtlich sexueller Gewalt ist – also sowohl für die Kinder als auch für die Fachkräfte. Gleichzeitig ist er aber auch eine doppelte Gefahr. Mit dem eigenen Handeln manifestieren die Fachkräfte den Generalverdacht. Sie kommen der Anrufung nach und nehmen ihn in gewisser Weise dadurch an, dass sie danach Handeln. Gleichzeitig führt die Sichtbarmachung dazu, dass Kinder keine fürsorgliche Nähe durch die Erzieher*innen erhalten.

Auf einer theoretischen Ebene definieren Kowalski et al. (2018) Transparenz als eine von drei Handlungsdimensionen pädagogischer Intimität. Sie gehen davon aus, dass pädagogisches Handeln sich daran messen lassen muss, wie Dritte eine Situation sehen und verstehen können. In diesem Sinne wäre die Herstellung von Öffentlichkeit eine hochprofessionelle Praxis. Mit den Hinweisen von Diewald, aber auch mit dem Intimitätsverständnis von Dörr (siehe 2.5.1) braucht Intimität notwendigerweise einen eigenen abgeschlossenen Bereich. Vollständige Transparenz ist jedoch in hohem Maße problematisch. Die Herausforderung an Situationen der Nähe ist, dass sie immer diffus sind und Pädagog*innen hier in Ungewissheit handeln müssen (Dörr 2019: 133). Dass pädagogisches Handeln nur durch Beobachtung eindeutig sein muss, ohne die verbale Erläuterung von Entscheidungen, ist ein Anspruch, der notwendigerweise zu mehr Distanz führt. Situationen, die ohne weiteres erklärt werden könnten, wie bspw. die ärztlich verfügte Berührung des Penis beim eincremen, werden so unmöglich und als unprofessionell abqualifiziert. Dazu Böllert:

Die mancherorts veranlasste „räumliche Trennung“ von Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten als Symbolisierung einer unabdingbaren Distanz entzieht dem pädagogischen Handeln nicht nur eine elementare Voraussetzung des Beziehungsaufbaus, sie signalisiert auch eine Pseudosicherheit, die es angesichts der Besonderheiten pädagogischen Handelns als Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen gar nicht geben kann.

(Böllert 2014: 148–149)

Die durch die Herstellung von Öffentlichkeit erreichte Distanzierung wird zu einem Feigenblatt, das Sicherheit suggeriert, ohne sie tatsächlich geben zu können und gleichzeitig pädagogische Beziehungen als Grundlage pädagogischen Handelns erschwert. Es wird suggeriert, dass das Bannen diffuser körperlicher Nähe sexuelle Gewalt verhindert. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigen die Aufarbeitungsstudien zu rigiden, kalten Institutionen (Bundschuh 2010; Obermayer/Stadler 2011; Baums-Stammberger/Hafeneger/Morgenstern-Einenkel 2019). Durch die Tabuisierung von Nähe verschwindet das Nähebedürfnis nicht. Es entsteht jedoch ein neues Risiko, nämlich, dass das Nähebedürfnis von Kindern und Jugendlichen durch Täter*innen ausgenutzt werden kann. Mit der Tabuisierung der Nähe wird dann auch das grenzüberschreitende Verhalten tabuisiert und es kann dazu kommen, dass Täter*innen Kindern und Jugendlichen die Schuld an der Gewalt zuschieben, da diese die Nähe ja eingefordert hätten (Domann et al. 2015).

Ein professionelles Verständnis ist nötig, das die Ambivalenzen von Nähe in den Blick nehmen kann. Wie bereits in Kapitel 2 gezeigt setzt Böllert der Maxime der Transparenz „Wissen, Umgang mit Nähe und Distanz, Reflexion und Haltungen“ als Kernelemente professionellen Handelns entgegen. (Böllert 2014: 149). Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass die Ausbildung und Anleitung pädagogischer Fachkräfte diese Elemente umsetzen muss, ohne dabei den Generalverdacht als individuelles Risiko weiterzugeben. Gleichzeitig muss aber auch zur Kenntnis genommen werden, dass es in den Institutionen zu sexueller Gewalt kommen kann. Es braucht also ein gewisses Misstrauen bzw. eine Kontrolle, die auf Anzeichen sexueller Gewalt reagieren könnte.

Mühlmann weist daraufhin, dass Kontrolle und Vertrauen jedoch voneinander unabhängig sind und gleichzeitig existieren können.

Wichtig ist jedoch, dass alle Kontrollformen durch den Kontrollierten als angemessen wahrgenommen werden, denn dann führen sie eher zu einem Anstieg des gegenseitigen Vertrauens (vgl. Das/ Teng 1998, S. 501, 508). Zu diesem Zweck sollte Misstrauen „entindividualisiert“ und institutionalisiert werden.

(Mühlmann 2014: 214)

Dies ist eine Herausforderung für die Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften und für die Umsetzung von Schutzkonzepten, die weiterer Konkretisierung bedarf.

Konzeptionell arbeiten die näheorientierten Teams des Samples alle familienanalog. Familialität ist eng sowohl mit Nähe bzw. Intimität, als auch mit Privatheit verbunden (Kessl/Koch/Wittfeld 2015). Wenn nun die familienanalog konzipierten Wohngruppen als Bewältigungsstrategie Öffentlichkeit herstellen, dann müssen sie im Umkehrschluss einen Teil ihrer Familialität aufgeben. Ein Teil der Privatheit muss gegen den Schutz der Fachkräfte eingetauscht werden. Dies muss konzeptionelle Konsequenzen haben, die weiter reflektiert werden müssen.

Zur Denkunmöglichkeit sexueller Gewalt durch Kolleg*innen

Die Ergebnisse dieser Studie haben gezeigt, dass für alle Fachkräfte – unabhängig von konzeptioneller Ausrichtung und organisationalem Schutz –die Vorstellung, dass eine*r ihrer Kolleg*innen sexuelle Gewalttaten verübt, mindestens herausfordernd ist. Für die Mehrheit lässt sich rekonstruieren, dass die Möglichkeit kein Teil ihrer handlungsleitenden Orientierung ist.

In der Prävention von sexueller Gewalt findet dieses Phänomen bislang wenig Berücksichtigung, ist aber nicht gänzlich unbekannt. Thematisiert wird es bspw. in einem Fortbildungsvideo von Zartbitter e. V. (Enders 2020), in dem „Wahrnehmungsblockaden“ angesprochen werden. Gerade Aufarbeitungstudien belegen, dass eine Denkunmöglichkeit jedoch ein breites Problem bei der Bekämpfung sexueller Gewalt ist. So schreibt bspw. Brachmann über Gerold Becker, einen Haupttäter an der Odenwaldschule:

Dass dieser Mann nur im Geringsten zu etwas anderem als zu achtungsvoller pädagogischer Liebe zu den ihm anvertrauten Kindern und Jugendlichen fähig sein könnte, dass er unschuldig Heranwachsenden Leid antäte, ihnen Schmerz bereitete, war schlicht denkunmöglich.

(Brachmann 2019: 253)

Brachmann zeigt, dass es „auch während der Tatzeiten immer wieder hinreichend viele Anhaltspunkte für Grenzverletzungen gegeben [hat] […]. Der Wirklichkeitshorizont und die diskursive Praxis der 1970er- und 1980er-Jahre […] [eröffneten] allerdings keinerlei Rahmen“ (Brachmann 2019: 254), diesen nachzugehen (vgl. auch Keupp/Mosser/Hackenschmied 2016). Im Fachdiskurs wird der fehlende Wahrnehmungshorizont bzw. die Denkunmöglichkeit wenig diskutiert. Vielmehr wird gefordert, das Schweigen zu brechen oder Hinzuschauen (vgl. Kap. 2). Nimmt man die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie ernst, dann wäre ein Hinschauen jedoch erfolglos. Es würden vielleicht Anzeichen gesehen, sie könnten aber nicht gedeutet werden. Sexuelle Gewalt wird dann zu dem Anderen, „das in der eigenen Umgebung, in der eigenen Familie, der vertrauten Schule oder dem Sportverein gar nicht vorhanden sein kann.“ (Andresen/Demant 2017: 41).

Worum handelt es sich also bei der Denkunmöglichkeit? Eine mögliche Antwort hierauf findet sich bei Jan Assmanns Einführung über das Schweigen (Assmann 2013). Assmann unterscheidet hier heuristisch zwischen dem Kommunizierbaren und dem Artikulierbaren. Beides bezeichnen Grenzen unserer Kommunikation. Der wesentliche Unterschied ist, dass die

Grenze des Kommunizierbaren bestimmt [wird] durch soziale Konventionen und Konstruktionen, die Grenze des Artikulierbaren dagegen durch die menschliche Natur. Darüber ‚muss‘ man nicht schweigen, weil die Möglichkeit, davon zu reden, kategorisch ausgeschlossen ist.

(Assmann 2013: 10)

Es stellt sich also die Frage, ob sexuelle Gewalt durch ihre direkten Kolleg*innen kommunizierbar, also sprachlich zugänglich ist oder nicht. Liegt sexuelle Gewalt hinter der Grenze des Artikulierbaren, so gibt es keine Worte, keine Bezeichnungen für das, was jenseits der Grenze liegt. Folglich hat die Person gar nicht die Möglichkeit, das hinter der Grenze liegende zu benennen. Für das Artikulierbare gilt weiter: „Wenn er schweigt über das, wovon er nicht reden kann, dann ist dieses Schweigen nicht strategisch, sondern strukturell, es ist durch die Grenzen seines Weltbildes bedingt.“ (Assmann 2013: 11). Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen deutlich, dass die pädagogischen Fachkräfte Schwierigkeiten haben, sexuelle Gewalt zu bezeichnen. Im Anschluss an Lorenz (2020) kann hier davon gesprochen werden, dass die Fachkräfte im Gerede über sexuelle Gewalt schweigen. Eine Möglichkeit wäre nun, dass es sich um einen Bereich zwischen dem Artikulierbaren und dem Kommunizierbaren handelt, den Assmann als „Reich des Geheimnisses“ (2013: 11) bezeichnet. Eine gesellschaftliche Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen trägt dazu bei, Risiken öffentlich zu machen und damit aus dem Reich des Geheimnisses in den Bereich des Artikulierbaren zu holen. Diese Arbeit hat gezeigt, dass Skandalisierungen von Gewaltkonstellationen, neuen Regeln und Qualifizierungsmaßnahmen dazu nicht ausreichen. Genauso wie diese Maßnahmen der Kontrolle wird Vertrauen in die Fachkräfte gebraucht, sowie ein Rahmen, in dem sie fachlich begründet auf die körperlichen und emotionalen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingehen können.