Die vorangegangenen Kapitel zu den Anlässen der Thematisierung von sexueller Gewalt waren durch den Inhalt der Diskussion, also durch die aufgeworfenen Themen selbst strukturiert. Damit war die immanente Sinnebene im Fokus der Interpretation und inhaltliche Themen wurden zum Tertium Comparationis, vor dessen Hintergrund die Orientierungen der Teams interpretiert wurden. Im nun folgenden Kapitel liegt der Fokus auf der Rekonstruktion der Art und Weise, wie gesprochen wird und damit auf dem konjunktiven Wissen. Wissenssoziologisch betrachtet geht es um das Wissen, das den Diskutant*innen nur schwer reflexiv zugänglich ist. Das Wissen ist stärker inkorporiert und damit handlungsleitend. Bereits im Kapitel 5, bei der Rekonstruktion des propositionalen Gehaltes des Stimulus und den Reaktionen darauf, war für die Analyse die Art und Weise maßgeblich, wie die Teams auf den Stimulus reagiert haben. Es konnte rekonstruiert werden, dass alle Teams sich von sexuellen Gewalttaten in der eigenen Institution distanzieren, um in der Folge als unbeteiligt an sexueller Gewalt an der Gruppendiskussion teilzunehmen zu können. In der Orientierung aller Teams sind die befragten pädagogischen Fachkräfte selbst kein Teil von Gewaltkonstellationen, sondern stehen außerhalb.

Obwohl sie mit Gewalttaten bislang nicht in Berührung gekommen sind, gibt es zahlreiche Anlässe außerhalb der Institution und im pädagogischen Handlungsalltag, die sexuelle Gewalt zum Thema werden lassen. Das haben die vorangegangenen Kapitel 610 gezeigt. Sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ist für die pädagogischen Fachkräfte sehr präsent. Die Medien haben sie selbst, ihren Träger und die Gesellschaft sensibilisiert. Die Institution der Heimerziehung bietet zahlreiche Anlässe, sowohl was ihre generelle organisationale und pädagogische Konstitution angeht als auch spezifische Bedingungen einzelner Konzepte. Situationen der körperlichen Nähe zum Stillen emotionaler Bedürfnisse von Kindern und auch für ihre Versorgung rufen das Thema sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene auf. Nicht zuletzt sind es reale Beschuldigungen von pädagogischen Fachkräften, die das Thema aufrufen. Trotz dieser bekannten Fälle bleibt die Orientierung vorherrschend, selbst kein Teil einer Gewaltkonstellation zu sein. Auch dann nicht, wenn es einzelne Gewalttaten geben hat. Die inkorporierte Orientierung steht in einem deutlichen Konflikt mit Adressierungen der Medien und zum Teil der Organisationen. Die pädagogischen Fachkräfte sehen sich gesellschaftlich und in einigen Fällen auch von der Organisation als potenzielle Täter*innen positioniert. Sie beschreiben einen Generalverdacht, mit dem sie alltäglich umgehen müssen. Dieses generalisierte Misstrauen passt nicht zu ihrer Selbstpositionierung als unbeteiligt. Es entsteht eine Inkongruenz zwischen der Selbst- und der Fremdpositionierung.

Die nun folgenden Ergebnisse schließen genau an diese Inkongruenz an. In den Blick genommen wird hierfür, wie in den Gruppendiskussionen gesprochen wird. Dabei finden sich abermals mehr Homologien als Unterschiede zwischen den Teams. Da die Homologien eine ungewöhnlich breite gemeinsame Orientierung über alle Teams hinweg beschreiben, sind sie besonders relevant. Vor diesem Hintergrund ist dieses Kapitel auch strukturiert. Es geht zunächst (11.1) um die Sprache, die Worte und Formulierungen, die im Diskursverlauf verwendet werden. Die leitende Frage dabei lautet: Wie wird über sexuelle Gewalt gesprochen? Im zweiten Teil des Kapitels (11.2) wird deutlich werden, dass die Distanzierung der Fachkräfte von sexueller Gewalt damit einhergeht, dass sie sich sexuelle Gewalt in ihrem konkreten Arbeitsalltag nicht oder nur sehr schwer vorstellen können.

11.1 Sprachliche Distanzierung von sexueller Gewalt

Auch wenn bislang die Art, wie über sexuelle Gewalt gesprochen wird, nicht im Fokus stand, ist bereits an einigen Stellen deutlich geworden, dass die pädagogischen Fachkräfte viele Umschreibungen, Euphemismen, Übertreibungen und Auslassungen nutzen, wenn sie über sexuelle Gewalt sprechen. Im Folgenden soll der Modus, in dem von sexueller Gewalt gesprochen wird, in den Blick genommen werden. Zu dem Zweck wurde exemplarisch eine Fokussierungsmetapher von Team 3 ausgewählt, die bereits zuvor mit dem Fokus auf die dort thematisierten Vorwürfe gegen eine pädagogische Fachkraft analysiert worden ist (vgl. 9.1). In dieser Analyseeinstellung wird nun gezeigt, wie hier sprachlich mit dem Thema sexueller Gewalt umgegangen wird und was sich in diesem Modus des Sprechens dokumentiert. Die Darstellung der Rekonstruktion erfolgt zur besseren Nachvollziehbarkeit in kleinen Sinneinheiten.

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Der Redebeitrag von Herrn Braun ist verschachtelt, stockend und dadurch schwer verständlich. Paraphrasiert ist die Aussage von Herrn Braun, dass er, seit er wieder in der Jugendhilfe arbeitet, sich immer wieder die Frage gestellt hat: Wie kann man sich gegen „entsprechende:: vorwürfe“ absichern? In der kontinuierlichen Selbstreflexion über die Fragen, ob man Türen auf oder zu lässt, oder mit Kindern allein ist, ist er in „indirekten“ Kontakt mit „dem Thema“ gekommen.

Die Fokussierungsmetapher eröffnet Herr Braun, indem er Bezug auf das „thema“ nimmt. Mit dem bestimmten Artikel – „dem“ – zeigt Herr Braun an, dass er nicht über irgendein Thema spricht, sondern über eines, von dem er annimmt, dass es den anderen Anwesenden bekannt ist. Bereits im Stimulus wurde „das thema sexuelle gewalt durch Mitarbeiter*innen“ benannt und auch in der verkürzten Form als „das thema“ bezeichnet (vgl. Kap. 5). Der Zusatz „das thema“ war in der Stimulusfrage notwendig, um die Erwartung zu markieren, dass die Diskutierenden über einen für ihre Arbeit relevanten Themenkomplex sprechen, nicht notwendigerweise aber über einen konkreten Akt sexueller Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit. Die Formulierung von Herrn Braun nimmt diese Differenzierung auf. Während im Stimulus das Thema jedoch näher bestimmt und von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt gesprochen wurde, geschieht dies hier nicht. Was das Thema ist, wird nicht benannt.

Die nächsten Worte sind stockend gesprochen. Herr Braun sucht nach der richtigen Formulierung, das zuerst geäußerte „immer, wieder auch“ wird verworfen. Er kommentiert auf der Metaebene, dass er nicht genau weiß, wie er die Präsenz des Themas beschreiben soll und entscheidet sich dann für die Formulierung „indirekt (.) kontakt gehabt“. Im „indirekt“ dokumentiert sich die in Kapitel 5 rekonstruierte Figur der Distanzierung. Herr Braun war nicht selbst beteiligt, gleichwohl war sexuelle Gewalt als Thema relevant. Vor dem Wort „kontakt“ fällt eine kurze Pause im Sprechen, dann folgt ein sehr stockend gesprochenes ‚indem ich mir‘ („in dem, also in- in dem ich mir“), gefolgt von einer etwas längeren Pause. Der Satz wird nicht beendet. Das Stocken, die Pausen und der Abbruch zeigen, dass es Herrn Braun schwerfällt, auszudrücken, wie er selbst indirekt mit dem Thema sexueller Gewalt in Kontakt gekommen ist. Nach der unvollständigen, abstrakten Einleitung entscheidet Herr Braun sich dazu, seine konkrete Handlungspraxis zu beschreiben und daran zu erläutern, was er abstrakt nicht zu formulieren vermag.

Auch die Beschreibung beginnt holprig: „ich hab, mmh; also ich hab mit dem thema immer, wieder auch, ähm ja ich weiß nicht;“. Herr Braun braucht Zeit und überlegt, beginnt zu formulieren, bricht ab und versprachlicht mit „weiß nicht“, dass er nach Worten ringen muss. Konkret wird er dann bei der Initialisierung des Themas. Seit er in der Jugendhilfe arbeitet, ist das Thema für ihn relevant. Seine berufliche Praxis hat also dazu beigetragen, dass er indirekt mit sexueller Gewalt in Berührung gekommen ist. Kontinuierlich begleitet Herrn Braun seit dem Eintritt in die Jugendhilfe die Frage, wie er sich gegen „entsprechende: vorwürfe“ absichern kann. Mit dieser Konkretisierung wird deutlich, dass es beim Thema sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene vor allem zunächst um den Selbstschutz der professionellen Fachkraft geht. An dieser Stelle ist die Formulierung „entsprechende:: vorwürfe“ relevant. Zunächst zum „entsprechende::“: Etwas zu entsprechen bedeutet, ihm oder ihr ähnlich zu sein, aber auch, aus ihm entstanden oder mit ihr in Übereinstimmung zu sein. Das Adjektiv bestimmt hier die „vorwürfe“ näher und macht so deutlich, dass sie mit etwas in Zusammenhang stehen – das ist in diesem Fall „das Thema“. Es handelt sich hier also um Vorwürfe, die sich aus „dem Thema“ ergeben. Die Notwendigkeit zum Selbstschutz ist genuiner Bestandteil des Themas sexuelle Gewalt, welches für ihn immer Fragen und damit Handlungsunsicherheit mitbringt.

Die Handlungsunsicherheit bezieht sich vor allem auf räumliche Nähe und das Ermöglichen von Kontrolle über die eigenen Handlungen in körperlicher Nähe zum Kind. Das Öffnen von Räumen und die Möglichkeit von Kontrolle des eigenen Handelns durch die Anwesenheit anderer (nicht allein sein) ist mit dem Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verbunden. Damit werden Situationen, die im Handlungsalltag alltäglich sein müssen, zu potenziell gefährlichen Situationen. Dies alles lässt sich im Kontext der Gruppendiskussion rekonstruieren. Auf die Sprache fokussiert wird deutlich, dass auch sprachlich deutliche Distanz zu Sexualität und sexueller Gewalt eingenommen wird. Nur durch den Kontext ist es möglich, die Frage zur Handlungspraxis einzuordnen.

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Herr Braun ergänzt die erste Beschreibung durch eine weitere. Auch diese wird wieder stockend und im Ringen nach Worten eingeleitet. Während des Studiums hat Herr Braun in einem anderen Kinderheim gearbeitet und dort, ebenso wie in Einrichtung B, wurde „das“ manchmal angesprochen. Auch in dieser Aussage wird wieder nicht konkret benannt, worum es eigentlich geht. Es wird nicht deutlich, für was das Pronomen „das“ steht. Es bleibt offen, was genau in der Einrichtung benannt wurde. Aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass es um sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene geht. Dennoch bleibt sexuelle Gewalt begrifflich verschleiert und so auf Distanz. Das Thema sexuelle Gewalt wird in eine Anweisung an die pädagogischen Fachkräfte übersetzt, dass sie „möglichst transparent“ arbeiten sollen. Auch diese Anweisung zielt darauf, das eigene Handeln sichtbar und damit kontrollierbar zu machen. Die Verbindung bleibt hier indirekt.

Inhaltlich geht die Sequenz mit einem Redebeitrag von Herrn Leut weiter, der die Proposition von Herrn Braun aufgreift. Herr Leut schildert (GD 3, 492–499), dass es immer wieder vorkommt, dass Kinder weglaufen. Wenn diese dann stinkend wiedergebracht werden, gehen sie als erstes duschen, dabei ist eine pädagogische Fachkraft „natürlich“ (494) anwesend und durchsucht die Kleidung „und so weiter“ (495). Herr Leut hat sich „immer daran gehalten“ (496) die Duschbegleitung nicht alleine durchzuführen. Er hat entweder einen Jungen oder einen Kollegen dazu gestellt (497). Der Beschreibung über die Handlungspraxis fügt Herr Leut noch ein Argument hinzu, welches in der reflektierenden Interpretation ob der Art und Weise des Sprechens die Orientierung von Herrn Braun bestätigt:

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Der Einstieg in die Begründung ist sprachlich besonders interessant: „damit da einfach im nachhinein, nicht, was auch schon passiert is,“: In dieser Ellipse wird nicht ausgeführt, was im Nachhinein nicht passieren soll, ebenso wenig wird benannt, was schon einmal passiert ist. Sinnlogisch sind das, was in die Lücke gesetzt werden könnte, Beschuldigungen sexueller Gewalt. Diese scheinen aber als Gegenstand unaussprechlich und gleichzeitig Teil des konjunktiven Erfahrungsraumes, sodass es gegenüber den Mitdiskutant*innen keiner Explikation bedarf.

Dass es um Beschuldigungen geht, wird durch das elaborierende Beispiel bestätigt. Kinder haben ihren Eltern erzählt, Herr Leut hätte ihnen „wer weiß wohin gepackt“. Diese hyperbolische Formulierung wirkt theatralisch und erweckt den Eindruck, die Kinder hätten in ihrer Aussage übertrieben. Sie lässt die Aussage der Kinder abwegig erscheint. Durch die Formulierung bringt Herr Leut Distanz zwischen sich und das Thema sexuelle Gewalt, sprachlich entkräftet er den Vorwurf. Nach einer zehnsekündigen Pause konkludiert Herr Leut:

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Auch in diesem Redezug werden weder sexuelle Gewalt noch Beschuldigung o. ä. benannt. Stattdessen geht es wieder nur um „das“. Das stellvertretende Pronomen wird wiederholt. Was hier mit „das“ bezeichnet wird, ist von „den tatsächlichen dingen“ zu unterscheiden von denen, „wenn was passiert“. Mit dieser Sprechweise werden die Beschuldigungen sprachlich gegenstandslos, nicht tatsächlich. Aber auch die „tatsächlichen dinge[]“, vermutlich sind hier Gewalttaten gemeint, werden sprachlich weiter verhüllt.

Der Modus des Sprechens bestätigt sich auch in weiteren Redebeiträgen von Herrn Holt und Herrn Braun (GD3, 506 ff.), in denen Formulierungen wie „darüber“, „solche Sachen“ und „das“ genutzt werden. Es wiederholen sich die sprachlichen Formulierungen leicht abgewandelt. Dabei wird für Außenstehende zunehmend unklar, ob falsche Beschuldigungen sexueller Gewalt der umschriebene Gegenstand sind oder aber sexuelle Gewalttaten. Dies klärt sich erst später in einem Redebeitrag von Herrn Braun:

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In dieser Erzählung einer konkreten Situation aus einem Handlungsalltag verdeutlicht Herr Braun Beschuldigungen gegen ihn. Genau wie Herr Leut hat er diese Situation schon erlebt. Interessant ist in dieser Analyseeinstellung nun die Formulierung dessen, was Gegenstand der Beschuldigung war: „n bisschen zu oft und zu lange kinder auf dem schoß“ gehabt zu haben. Diese Formulierung ist ein Euphemismus, mit dem Herr Braun die Vorwürfe, die gegen ihn vorgebracht wurden, in unschuldige Worte kleidet. Ein Kind auf dem Schoß zu haben ist prinzipiell nicht strafbar und nicht per se grenzüberschreitend. Der Zusatz „zu oft und zu lang“ deutet darauf hin, dass es sich hier jedoch um ein ordnungswidriges Schoßsitzen handelt. Dies in Zusammenhang mit sexueller Gewalt zu bringen, erfordert eine Übertragungsleistung. Klare Aussagen, wie bspw. ‚mir wurden sexuelle Übergriffe unterstellt‘, werden auch an dieser Stelle von Herrn Braun nicht getroffen. Es kann sein, dass auch von der Leitung diese Vorwürfe nicht konkret benannt wurden. Dennoch übernimmt Herr Braun die verschleiernde Sprache.

Der Modus des Sprechens von Team 3 kann als distanziert bezeichnet werden. Die Sprache der Fachkräfte umgeht und verdeckt sexuelle Gewalt und die Beschuldigungen sexueller Gewalttätigkeit gegen sie. Sexuelle Gewalt dringt in diesem distanzierten Sprachmodus auch als Thema, Tat und Tatvorwurf mit großer Distanz zu ihnen durch. Dieser Modus bestätigt sich an weiteren Fokussierungsmetaphern der Gruppendiskussion von Team 3 und für alle weiteren Teams.

11.2 Von der Schwierigkeit sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen zu denken

Mit der sprachlichen Distanzierung von sexueller Gewalt geht ein weiteres Phänomen einher: Eine große Schwierigkeit der pädagogischen Fachkräfte besteht darin, sich vorzustellen, dass eine*r ihrer Kolleg*innen sexuelle Gewalt gegen Kinder ihrer Wohngruppe verübt. Fünf Teams beschreiben innere Abwehrtendenzen für Situationen, in denen Kolleg*innen unter Verdacht geraten würden, sexuelle Gewalt angewendet zu haben. Diese sind für die fünf Teams unterschiedlich ausgeprägt. Die Rekonstruktion der unterschiedlichen Orientierungen bzw. Ausprägungen von Orientierungen, ist für die Analyse dieser Arbeit essenziell wichtig, da davon auszugehen ist, dass die Orientierungen der pädagogischen Fachkräfte für pädagogisches Handeln leitend sind. Dies gilt zum einen für den Umgang mit realen Verdachtsfällen gegen Kolleg*innnen sowie Situationen, in denen sexuelle Gewalt organisational tabuisiert wird. Dies gilt aber auch für den Umgang der pädagogischen Fachkräfte mit Situationen der Nähe, die, wie das Kapitel 10 gezeigt hat, für die pädagogischen Fachkräfte herausfordernd sind, weil sie nicht unter Verdacht geraten wollen, sexuelle Gewalt auszuüben. Die Bewältigungsstrategien eben dieser Nähesituationen ist Gegenstand des Kapitels 12. Die hier nun folgenden Ausführungen sind somit als Scharnier zu verstehen zwischen der teamseitigen Markierung von Nähesituationen als problematisch und deren alltagspraktischer Bearbeitung.

Zentral für die Rekonstruktion der Orientierungen sind Reaktionen der Teams auf den Stimulus II in den Gruppendiskussionen, da dieser die Teams explizit dazu auffordert, sich eine Situation vorzustellen, in der ein Kollege von ihnen sexuelle Gewalt ausübt. Zum besseren Verständnis sei hier noch einmal der Stimulus II abgebildet:

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Der Stimulus erzählt schematisch eine Abendsituation in der Wohngruppe. Die Formulierungen sind neutral gehalten, um den Diskutant*innen einen Interpretationsspielraum zu lassen.

Die Darstellung der Reaktionen der Teams erfolgt kontrastiv. Dabei wird zunächst die Orientierung von Team 6 der Orientierung von Team 3 gegenübergestellt. Vorab ist anzumerken, dass Team 6, wie alle anderen Teams ebenfalls, sich darüber im Klaren ist, dass es potenziell in allen pädagogischen Einrichtungen sexuelle Gewalt geben kann. So wird in der Gruppendiskussion von Team 6 formuliert: „übergriffigkeiten sind; is ja überall;“ (GD6, 1265). Gleichzeitig dokumentiert sich in der Reaktion des Teams auf den Stimulus II, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen in der konkreten Arbeit unvorstellbar ist:

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In der direkten Reaktion auf den Stimulus arbeiten die drei pädagogischen Fachkräfte heraus, dass eine wie im Stimulus geschilderte Situation aus ihrer Perspektive in ihrer Wohngruppe nicht eintreten kann. Zunächst stellt Herr Aman als Proposition in den Raum, dass das Kind auf jeden Fall reden würde und der nächsten Fachkraft, die in den Dienst käme, von dem Vorfall berichten würde. Hier bleibt Herr Aman zunächst im eingeführten Gedankenspiel. Nach einer Pause verschiebt er die Proposition jedoch. Er geht zurück zur geschilderten Situation und korrigiert, dass ein Kind aus der Gruppe sich die Grenzüberschreitung nicht gefallen lassen würde. Damit zieht er in Zweifel, dass die geschilderte Situation so stattfinden könnte. Auch wenn diese Zweifel zunächst noch dadurch eingeschränkt werden, indem festgehalten wird, dass die Kinder nicht alle gleich sind, tritt hier die grundlegende Orientierung auf, dass so eine Situation nicht eintreten könne: „kann ich mir gar nicht vorstellen; dat dat jemand von denen zulassen würde?“. Die Einschränkung, dass die Grenzüberschreitung nur „mit gewalt“ und „willen brechen“ stattfinden könnte, wird jedoch vorgenommen. Es bleibt offen, was hier genau gemeint ist. Eine Möglichkeit wäre, dass es um körperliche Gewalt geht, die eingesetzt werden müsste, um die Gegenwehr zu brechen. Herr Aman hält es für unmöglich, dass die Kinder nicht selbst aktiv werden würden, sich entweder in der Situation selbst wehren oder aber im direkten Nachgang bei Kolleg*innen oder aber bei anderen wichtigen Bezugspersonen Hilfe suchen würden. Frau Brand und Herr Deich bestätigen beide Teile der Orientierung. So eine Situation ist nicht vorstellbar, weil die Kinder sich wehren würden. Es bleibt aus der Perspektive der pädagogischen Fachkräfte auf jeden Fall unwahrscheinlich, dass die Kinder schweigen würden. Selbst mit hohen Belohnungen, wie einem 30fachen Besuch bei „mc drive“ von McDonald’s wäre dies wohl nicht möglich.

Ein weiter Aspekt der hier aufgeworfenen Unvorstellbarkeit wird an einer anderen Sequenz deutlich, worin Herr Aman selbst gedankenexperimentell die Gruppe mit einer fiktiven Situation konfrontiert, in der eine Jugendliche einem Kollegen unterstellt, sie nackt beobachtet zu haben. Herr Aman sagt dazu weiter:

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Herr Aman fokussiert sich in der Reaktion auf die beschuldigende Aussage gegen seinen Kollegen hier vor allem auf die Beschreibung seiner Gefühle. Der Umstand, dass der Kollege beschuldigt wird, löst in ihm Ablehnung gegen die Situation aus. Er möchte sich dieser entziehen, weil er weiß, dass er nun nach den Leitlinien der Organisation die Bereichsleitung einschalten und eine Überprüfung in Gang bringen müsste. Frau Brand reagiert hierauf wiederum mit der Position, dass sie der Beschuldigung keinen Glauben schenken würde. Diese Unvorstellbarkeit ist mutmaßlich auch der Grund dafür, dass für Herrn Aman der vorgeschriebene organisationale Umgang nahezu unerträglich ist. Die Richtlinien fordern ihn dazu auf, gegen seine Überzeugung zu handeln und den Verdacht gegen seinen Kollegen an die Leitung der Einrichtung weiterzugeben. Die Annahme des Teams 6, dass eine solche Verdachtsäußerung unabhängig von der Klärung des Falls für die unter Verdacht stehenden pädagogischen Fachkräfte weitreichende negative Konsequenzen hätte, wurde in Kapitel 9 beschrieben.

In starkem Kontrast zur Orientierung von Team 6 steht die von Team 3. Das Team 3 diskutiert zunächst nach dem zweiten Stimulus, wie sich der Junge wohl verhalten würde. Nachdem mehrere Szenarien besprochen wurden, folgt nachstehende Textstelle. Zur besseren Übersichtlichkeit ist die Darstellung in Sinnabschnitte gegliedert.

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Herr Leut eröffnet die Sequenz damit, dass er sich die im Stimulus geschilderte Situation ganz konkret vor Augen führt. Dabei beschreibt er die Spannung zwischen dem Wissen, wie er formal handeln müsste, auf der einen Seite und den eigenen Gefühlen der Ablehnung, die eine Beschuldigung eines*r Kolleg*in bei ihm auslösen würde. Diese anfängliche Proposition ähnelt der des Teams 6. Auch hier gibt es ein Wissen um organisationale Leitlinien, die mit den eigenen Gefühlen in Konflikt stehen. Herr Leut macht jedoch im Kontrast zu Team 6 deutlich, dass er sich an die Leitlinien halten („und ich würde auch so umgehen“) und nicht seinen Gefühlen folgen würde. Im Unterschied zu der zuvor dargestellten Orientierung geht es hier nicht darum, dass sexuelle Gewalt unvorstellbar ist, sondern dass der Verdacht auch für die pädagogische Fachkraft, die damit umgehen muss, unangenehm ist und negative Gefühle auslöst. Nicht nach den Richtlinien zu handeln, würde für Herrn Leut bedeuten, sich die Situation „schön [zu] lügen“. Hier markiert er deutlich, dass es seiner Deutung nach falsch wäre, dem Abwehrimpuls nachzugeben. Sein Kollege, Herr Holt, bestätigt zunächst die Gefühle, die Herr Leut beschrieben hat:

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Herr Holt spricht zunächst stockend und dann überaus betont. Hier zeigen sich starke Gefühle im Sprechen. Er würde den Verdacht „nicht klären wollen“. Der Umstand, dass es um einen Kollegen und ein Kind geht und er zu beiden „beziehung“ hat, macht es zu einer schrecklichen Vorstellung, dass es zu sexueller Gewalt gekommen sein könnte. Es macht ihn regelrecht sprachlos: „boah nee entschuldigung;“.

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Herr Leut antwortet auf die Sprachlosigkeit und die Äußerung, dass Herr Holt nicht klären will, dass er auch gar nicht klären muss sondern die Situation nach „außen“ abzugeben hat. Das wäre seine Aufgabe. Nach einem kurzen Einschub durch Herrn Braun geht Herr Holt weiter auf die Probleme ein, die sich für ihn aus dem Verdacht und der daraus resultierenden Handlungsanforderung an ihn ergeben. Er ist in der Situation nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, seine „urteilskraft“ (1364) wäre durch seine eigene Verwobenheit in die Beziehungen zu den Beteiligten zu sehr getrübt. Herr Leut konkludiert daran anschließend:

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Nach dem interaktiv sehr dichten Diskurs endet diese Fokussierungsmetapher mit einer abgeklärten Systematisierung von Herrn Leut, in der die Orientierung sehr pointiert zusammengefasst wird. Sollte es innerhalb der eigenen Wohngruppe zu einem Verdacht von sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommen, wäre das eine „extreme belastungssituation“, in der eine Bearbeitung durch das Team selbst überfordernd wäre. Die „einzige aufgabe“ des Teams ist es, in diesem Fall für „transparenz“ zu sorgen und nicht zu verschweigen, was passiert ist. Herr Leut bezeichnet diese Maxime sogar als das“ gesetz der transparenz und offenheit“. Im Kontrast zur Orientierung von Team 6 übernimmt Team 3 die Orientierung der Einrichtung und empfindet diese als entlastend. Es zeigt sich für Team 3 nicht das Phänomen der Denkunmöglichkeit, wie es sich für Team 6 dokumentiert. Stattdessen werden Abwehrimpulse antizipiert, die jedoch durch die organisationalen Regelungen kontrolliert werden können.

Zwischen diesen beiden maximal kontrastiven Fällen stehen die Orientierungen der anderen Teams, die nun nachfolgend dargestellt werden sollen. Zunächst werden die Rekonstruktionen zu den Teams 4 und 2 dargestellt, in denen sich dokumentiert, dass diese beiden Teams sich sexuelle Gewalt durch Kollegen ebenfalls nicht vorstellen können.

Das folgende Zitat ist die Reaktion des Teams 4 auf den Stimulus:

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Der Vortrag des Stimulus durch die Diskussionsleiterin führt zunächst zu Sprachlosigkeit auf Seiten des Teams 4. Zehn Sekunden wird geschwiegen, nur unterbrochen durch ein leises „puh“ von Ruth. Es scheint herausfordernd zu sein, auf den Stimulus zu reagieren. Ruth beginnt damit, dass sie, unterstützt von Jan, die Schilderung der Situation noch einmal Revue passieren lässt. Dabei benennt sie zunächst die Handlungen des fiktiven Kollegen, welche für sie bekannt und legitim erscheinen: Sich im Zimmer der Kinder aufhalten, das Gute-Nacht-Sagen und auch das Streicheln werden von einem „übergriff“ abgegrenzt. Ab welchem Zeitpunkt die Handlung in ihrer Beurteilung zum Übergriff wird, ob bei der Berührung der Schultern, des Bauchs oder des Genitals, wird nicht klar; die Aufzählung bricht vorher ab. Das, was jenseits der Grenze der Legitimität des Körperkontaktes ist, bleibt zunächst unbenannt und somit vage. Die Nichtbenennung dessen, was als Übergriff eingeordnet wird, ist, wie zuvor gezeigt, typisch für die sprachliche Distanzierung der pädagogischen Fachkräfte von sexueller Gewalt in ihrer konkreten Alltagspraxis. Ruth wiederholt anschließend die Frage aus dem Stimulus, was Daniel tun würde. Jan antwortet:

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Zunächst stellt Jan fest, dass es ein „riesen spektrum“ gibt, es also nicht klar ist, wie der Junge sich verhalten würde, sondern seine Reaktionen sehr unterschiedlich ausfallen könnten und davon abhängig wären, welches „verhältnis“ Daniel zu dem Erzieher hätte.

Den Einfluss der Beziehung erläutert er durch die Vermutung, dass der Junge im Falle einer qualitativ guten Beziehung und vorheriger Gewalterfahrungen durch eine Bezugsperson einen „schutzmechanismus“ entwickeln würde, der ihn den Übergriff nicht ansprechen ließe. Dies wäre eine mögliche Reaktion. Eine zweite wäre, dass der Junge in der Folge auffällige Verhaltensweisen entwickeln, den Vorfall selbst aber nicht benennen würde. Die dritte mögliche Reaktion wäre, dass er sich jemandem anvertrauen würde. Diese letzte Möglichkeit beurteilt der Mitarbeiter als am „unwahrscheinlichsten“, da es jemanden geben muss, der den Jungen „ernst nimmt“. Das zweifelt er an. Somit geht Jan davon aus, dass die Gewalttat zunächst von den anderen Fachkräften unentdeckt bleiben würde und sie nur durch das Wahrnehmen der auffälligen Verhaltensweisen und deren richtige Interpretation erkennen könnten, was dem Jugendlichen widerfahren ist.

Am Ende der langen Passage reflektieren die pädagogischen Fachkräfte noch einmal die Diskrepanz zwischen der Möglichkeit, dass sexuelle Gewalt durch Fachkräfte potenziell überall geschehen kann, und ihrer Einschätzung, dass sie dieses Wissen aber nicht von selbst auf die eigene Situation beziehen würden:

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Ruth beginnt ihren Redebeitrag mit der Macht der Vertuschung, die sie bei denjenigen sieht, die sexuelle Gewalt ausüben. Sie verweist darauf, dass potenzielle Täter*innen mächtig sind, sich der Schamgrenzen bedienen und den Kindern drohen, dass etwas passiert, sollten sie reden. Hierin sieht sie den Grund, warum so ein Übergriff, wie er im Stimulus beschrieben wurde, vermutlich nicht öffentlich werden würde. Ruths weitere Ausführung ist für das Phänomen der Denkschwierigkeit von besonderer Bedeutung. Sie sagt: „ich glaube das gib = s immer und überall“. Mit dieser Aussage räumt sie ein, dass auch in ihrer Gruppe, durch ihre Kolleg*innen sexuelle Gewalt ausgeübt werden könnte. Gleichzeitig gilt für sie aber auch: „man denkt das nicht, man will das auch nicht denken, bei UNS hier […] gibts = s das nicht“. Hier drückt sich aus, dass es bei der Übertragung der allgemeinen Annahme auf die eigene Situation einen inneren Widerstand gibt. Es gibt eine innere Weigerung, sich vorzustellen, dass es in der eigenen Wohngruppe zu sexueller Gewalt durch Kolleg*innen kommt. In dieser Reflexion vergegenwärtigt sich Ruth, dass sie einerseits davon überzeugt ist, dass es nicht zu Gewalt kommt und sie es gleichzeitig nicht wissen, also keine Sicherheit darüber haben kann. Diese Diskrepanz wird als problematisch markiert. In einer anderen Passage (GD4, 1800–1818) vergleicht Ruth die Situation, mit einem Verdacht gegen einen Kollegen konfrontiert zu werden, mit dem Ignorieren der Möglichkeit, eine tödliche Krankheit zu haben. In dieser Metapher wird die Reichweite deutlich, die hier von Ruth antizipiert wird. Die Konfrontation mit einem Verdacht gegen eine*n Kolleg*in wäre evtl. tödlich.

Dieser Widerstand, sexuelle Gewalt in der eigenen Wohngruppe zu denken, hat weitreichende Konsequenzen. Er führt dazu, dass es für die pädagogischen Fachkräfte nicht möglich ist, das antizipierte, auffällige Verhalten des Kindes auf die Möglichkeit zurückzuführen, dass es durch eine in der Wohngruppe arbeitende Fachkraft sexuelle Gewalt erfahren hätte. Die Signale würden zwar wahrgenommen werden, aber aufgrund des fehlenden Referenzrahmens, der miteinschließt, dass es tatsächlich zu sexueller Gewalt kommen kann, könnte ihre Bedeutung nicht gedacht werden.

Auch für das Team 2 zeigt sich in der Orientierung die Denkunmöglichkeit in der Passage nach dem Stimulus II. In der im Folgenden dargestellten Konklusion zeigt sich die Orientierung in ihrer Deutlichkeit:

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Auch in dieser Passage wird deutlich, dass sexuelle Gewalt für die pädagogischen Fachkräfte außerhalb ihres Referenzrahmens liegt. Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt im Schutzraum der Wohngruppe passiert, ist für die Fachkräfte jenseits des für sie Vorstellbaren, der Widerspruch so groß, dass sie sich nicht in der Lage sehen, das auffällige Verhalten der Kinder und Jugendlichen auf sexuelle Gewalt durch eine Kollegin oder einen Kollegen zurückführen zu können. Auch hier wird die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Wissen um sexuelle Gewalt („auch wenn man weiß das es, (.) des gibt?“), dem eigenen Unvermögen gegenübergestellt, sich sexuelle Gewalt vorzustellen. Sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen wird zu einem „unding“, etwas, was nicht sein darf und in der Folge verdrängt wird.

Anders als in Team 6, welches für sich die Möglichkeit von sexueller Gewalt nahezu ausschließt, können die Teams 2 und 4 in der Gruppendiskussion reflektieren, dass die Unfähigkeit der Fachkräfte, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen vorzustellen, durchaus problematisch ist. Insofern wird in diesem Moment der Reflexion das Undenkbare gebrochen und gedacht. Der Stimulus führt dazu, dass eine Situation sexueller Gewalt durch Kolleg*innen öffentlich imaginiert wird. Ebenfalls in Differenz zu den Orientierungen von Team 6 und 3 ist der Umstand, dass der organisationale Umgang bei einem Verdachtsfall nicht thematisiert wird. Stehen bei Team 6 und 3 dieser Umgang des Trägers in direktem Zusammenhang mit den subjektiven Empfindungen bei einem Verdachtsfall, gilt dies für die Teams 2 und 4 nicht. Es ist auffällig, dass gerade auch das Team 4 ein Misstrauen des Trägers in Bezug auf die sexuelle Orientierung des innewohnenden Mitarbeiters problematisiert hat (siehe Kap. 8).

In der Analyse ergeben sich nun mehrere Vergleichshorizonte: (1) Verdachtsfälle gegenüber Kolleg*innen lösen subjektive Gefühle der Abwehr und Vermeidung der Situation aus, (2) sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen ist denkbar oder undenkbar und (3) die Positionierung des Teams zum organisationalen Umgang mit Verdachtsfällen. Diese drei Vergleichshorizonte sollen nun für die Analyse von Team 1 mitgeführt werden. In der Gruppendiskussion von Team 1 wurde der Stimulus II noch nicht verwendet. Es wurde jedoch in der zweiten Hälfte der Diskussion von der Diskussionsleiterin nach der Einschätzung der Mitarbeiter*innen gefragt, an wen sich Kinder wenden könnten, wenn sie sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte erfahren hätten. Der Jahrespraktikant John geht in diesem Zusammenhang auch auf seine Gefühle ein, wenn Kinder äußern würden, sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen erfahren zu haben.

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John bringt hier die Proposition ein, dass er sich sexuelle Gewalt durch seine Kolleg*innen nicht vorstellen kann. So wäre dann eine Situation, in der von Kindern eine dahingehende Aussage gemacht wird, für ihn alarmierend und würde ihn „baff“ machen. Tessa reagiert darauf mit Zweifel, ob die Kinder etwas erzählen würden. John erweitert daraufhin seine Aussage auch auf den Umstand, dass er auf andere Weise etwas mitbekommen könnte. Dann reagieren Doro, Lilian und Franz gemeinsam auf Johns Aussage, dass er sich das nicht vorstellen könne. Die Aussage wird als problematisch markiert und Doro stellt entgegen: „man hat schon pferde, wie sagt man pferde kotzen sehen“. So, wie sich Pferde naturgemäß eigentlich nicht übergeben können, kann auch eine Wohngruppe zum Ort der Gewalt werden, obwohl von ihr erwartet wird, dass die dort verantwortlichen Fachkräfte am Wohl der Kinder interessiert sind und sich in diesem Sinne verhalten. Die bekannte Metapher zeigt die Möglichkeit auf, dass das Unmögliche möglich werden kann. Lilian bekräftigt ihre Meinung mit einer weiteren Redewendung: „du schaust den leuten auch nur vor den kopf“. Sie untermauert damit die Orientierung, dass sich Fachkräfte keinesfalls sicher sein können, dass Kolleg*innen nicht sexuelle Gewalt ausüben. Die Sequenz endet mit einer Synthese der beiden aufgeworfenen Orientierungen:

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In der Konklusion werden nun beide Perspektiven miteinander vereint. Es wird bestätigt, dass für das Team der Verdacht gegen einen Kollegen emotional sehr schwierig wäre. Es wäre ein „richtiger schock“. Dennoch darf die Möglichkeit nicht per se ausgeschlossen werden.

In Bezug auf die Vergleichsdimensionen lässt sich für das Team 1 feststellen, dass es homolog zu den vorangegangenen Orientierungen die Situation, dass ein*e Kollege*in unter Verdacht stünde, emotional sehr belastend empfände. Der Schock würde vermutlich die anderen Fachkräfte zunächst lähmen. Es fehlt Handlungssicherheit. Eine so starke Abwehr, wie in den anderen Teams ist hier jedoch nicht zu finden. In Bezug auf die Undenkbarkeit bestätigt sich die Orientierung eingeschränkt. John spricht ganz explizit an, dass er sich ein*e Kolleg*in als Täter*in nicht vorstellen kann. Und auch in dem Sprichwort der kotzenden Pferde wird deutlich, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen eigentlich als ein Ding der Unmöglichkeit empfunden wird. Im Kontrast zu Team 2 und 4 wird die Orientierung jedoch nicht erst in der Gruppendiskussion reflektiert. Zumindest Doro und Franz haben sich auch zuvor schon Gedanken hierzu gemacht. Ihre Haltung, sich das Undenkbare vorstellen zu müssen, wird in der Konklusion zur Synthese. Ähnlich wie bei Team 2 und 4 wird der organisationale Umgang durch das Team 1 in Zusammenhang mit der Schwierigkeit, mit einem Verdachtsfall umzugehen, nicht thematisiert.

Das einzige Team, das sich von der Vorstellung eines Verdachts von sexueller Gewalt durch Kolleg*innen nicht in ähnlicher Art und Weise emotional berühren lässt, ist das Team 5. Hier verläuft die Reaktion auf den Stimulus different:

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Anders als bei den anderen Gruppendiskussionen entsteht hier keine Pause; Frau März kann direkt reagieren. Sie beginnt lachend, dass sie „immer“ hofft, dass das Kind schon in der Situation „laut werden könnte;“. Diese Hoffnung scheint angesichts des Lachens jedoch nicht realistisch zu sein. Stattdessen zeigt die Erfahrung von Frau März, dass sich viele Kinder eher zurückziehen würden. Dieser Einstieg steht im starken Kontrast zu dem des Teams 6, in dessen Orientierung die Kinder sich sehr sicher gewehrt hätten. Mit der Annahme des Rückzugs zeigt das Team 5 auch, dass sie die Möglichkeit eines solchen Übergriffs in ihrer Gruppe in Betracht ziehen. So ist für das Team in der Proposition sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen denkbar.

Frau Siepen erweitert die propositionale Annahme des Rückzugs noch um die Möglichkeit, dass betroffene Kinder sexualisiertes Verhalten zeigen könnten. Auch Frau Siepens Antwort ist im Vergleich zu den Beiträgen der anderen Gruppendiskussionen sehr unaufgeregt. Die Möglichkeiten werden ruhig diskutiert. Auch das Gespräch, das sich anschließt, wird in einem ähnlichen Ton weitergeführt. Die pädagogischen Fachkräfte berichten von sexuell auffälligem Verhalten von Kindern und Jugendlichen und wie sie pädagogisch damit umgehen. Erst später kommen sie, aufgefordert von der Diskussionsleiterin, auf die Situation des Stimulus II zurück.

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Frau März antwortet hier auf die nochmalige Nachfrage mit einer faktenbasierten Antwort. Weil sie um das große Ausmaß von sexueller Gewalt gegen Kinder im häuslichen Kontext weiß, generalisiert sie die Annahme auch für die Wohngruppe. Auch hier ist die Argumentation sehr sachlich und emotional distanziert. In einer Zwischenkonklusion betont Frau März noch einmal, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen „nie“ auszuschließen ist. Das nie wird doppelt betont und unterstreicht so, dass eine Möglichkeit gedacht werden muss. Diese Möglichkeit zu denken ist wichtig, um „sensibel“ für das Thema zu sein.

An diese Zwischenkonklusion schließt sich noch eine Passage an, in der die pädagogischen Fachkräfte darüber sprechen, wie sie sich bei einem Verdachtsfall im Team Hilfe innerhalb der eigenen Organisation suchen würden, um die Situation zu reflektieren und begleiten zu lassen. Hier sind die Schritte nicht starr. Stattdessen besprechen die Fachkräfte mehrere Möglichkeiten. Alle aufgeworfenen Optionen werden dabei in einem Modus diskutiert, der zeigt, dass die etwas weiter außenstehenden Personen als sehr hilfreich antizipiert werden. Hier sind starke Analogien zu Team 2 und ein starker Kontrast zu Team 6 sichtbar.

Exemplarisch wurde in diesem Kapitel gezeigt, dass sich die Teams sprachlich von sexueller Gewalt distanzieren, Auslassungen und Substitute verwenden. Hier gibt es hohe Analogien zur Distanzierung von der Tat sexueller Gewalt im Kapitel 5, die dort als Voraussetzung zum Sprechen markiert wurde. Die Distanzierung setzt sich für einen Teil der Teams weiter fort. Im zweiten Teil des Kapitels konnte gezeigt werden, dass für fünf der sechs Teams die Vorstellung, ein*e Kolleg*in von ihnen würde sexueller Gewalt verdächtigt, mit einer starken Belastung für sie selbst einhergehen würde. Dies führt die pädagogischen Fachkräfte zu der Einschätzung, dass sie in dieser Situation Gefühle der Abwehr entwickeln würden. Ob und wie diese Abwehrtendenzen kontrolliert werden können, hängt für das vorliegende Sample stark davon ab, inwieweit die pädagogischen Fachkräfte über Leitlinien der Organisation für so einen Fall informiert sind und ob sie Vertrauen haben, dass der Träger achtsam und unterstützend mit dieser Situation umgehen würde.

Zudem konnte für die Hälfte der Teams gezeigt werden, dass sexuelle Gewalt durch direkte Kolleg*innen außerhalb des für sie Vorstellbaren liegt und es für zwei andere Teams zumindest Schwierigkeiten bei der Vorstellung gibt. Mit Ausnahme des Teams 6 problematisieren alle Teams die Schwierigkeiten, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen vorzustellen. In der handlungsentlasteten Situation der Gruppendiskussion reflektieren sie, dass sie vermutlich Signale von Kindern nicht richtig einordnen könnten, die sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen erfahren hätten. Dies führen sie darauf zurück, dass sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen außerhalb ihres Referenzrahmens liegt. Dieser Befund ist überaus wichtig, da sich die Fachkräfte auf einer abstrakten Ebene sehr wohl damit auseinandergesetzt haben, dass es auch in pädagogischen Institutionen zu sexueller Gewalt kommen kann. Es scheint jedoch eine emotionale Barriere zu geben, die sie davon abhält, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen vorstellen zu können.