Der Artikel „Das Schweigen muss gebrochen werden“ (Anker/Behrendt 2010) am 28. Januar 2010 in der Berliner Morgenpost berichtete über sexuelle Gewalt am Berliner Jesuiteninternat Canisius-Kolleg. Diese Veröffentlichung wird weithin als eine Zäsur in der medialen Thematisierung sexueller Gewalt in Institutionen in Deutschland angesehen (exempl. Fegert/Wolff 2015; Wazlawik et al. 2019a). In den Folgemonaten des Jahres 2010 lag der Fokus reger medialer Berichterstattung auf weiteren Fällen sexueller Gewalt an renommierten Internaten, reformpädagogischen Schulen (Autor*innenkollektiv „Die Fünf“ 2011) und der katholischen Kirche (ZEIT ONLINE 2010).

Mechtild Wolff, eine der wenigen Akteur*innen, die bereits vor 2010 das Thema wissenschaftliche bearbeitet hat, schrieb dazu:

Seit Monaten bewegt ein Thema die Medien, Politik und Fachwelt, das lange verschwiegen und nicht ernst genommen wurde. Berichte über Missbrauch in der Kirche, Internaten, Heimen, Schulen und anderen Institutionen der Erziehung, Bildung und psychosozialen Versorgung scheinen nicht abzubrechen.

(Wolff 2010: 460)

Zeitnah erstellte Diskursanalysen bestätigten den Anstieg der Thematisierung in den Medien und wiesen darauf hin, dass die vermehrte Thematisierung von sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in pädagogischen Institutionen die pädagogischen Fachkräfte vor neue Herausforderungen stellte (Hoffmann 2011; Behnisch/Rose 2011b; Görgen/Fangerau 2018). Es zeichnete sich ab, dass das medial so viel besprochene Thema eine starke Verunsicherung bei den pädagogischen Institutionen und den pädagogischen Fachkräften auslöste (Abrahamczik et al. 2013; Hartmann 2011b). Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Kindertagesstätten in Deutschland (Cremers/Krabel 2012; Buschmeyer 2013; Rohrmann 2014; Diewald 2018) und der Heimerziehung in England (Horwath 2000) stützen die Vermutung und zeigen auf, dass die Verunsicherung zu einer Veränderung im pädagogischen Handeln führt. Vor dem Hintergrund der Präsenz des Themas sexueller Gewalt in Institutionen scheinen neue handlungsleitende Rahmenbedingungen für pädagogisches Handeln auf. Diese führten zu folgender Forschungsfrage, die diese Arbeit leitet:

Vor welchen Herausforderungen stehen pädagogische Fachkräfte der Heimerziehung angesichts des neuen, öffentlichen Diskurses über sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene?

Die Arbeit wird zeigen, dass die Bewältigung von Situationen der Nähe, die für den pädagogischen Alltag konstitutiv sind, von den Fachkräften als zentrale Herausforderung markiert wird. Aufgaben der körperlichen Versorgung und emotionale Bedürfnisse von Kindern nach körperlicher Nähe werden für pädagogische Fachkräfte vor dem Hintergrund des Themas sexueller Gewalt zu riskanter Nähe.

Das Feld der stationären Heimerziehung ist für den Zusammenhang von medialer Thematisierung sexueller Gewalt und Auswirkungen auf die pädagogische Praxis aus zwei Gründen von besonderer Relevanz: Zum Ersten zeichnete sich bereits 2010 ab, dass es in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe in besonders hohem Maß zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kommt (Helming et al. 2011a). Zum Zweiten zeigten erste systematische Überlegungen, dass die Heimerziehung konstitutiv besondere Bedingungen aufweist, die vor dem Hintergrund von sexualisierter Gewalt eine spezifische Herausforderung für pädagogische Fachkräfte bedeuten (Wolff 2010; Thiersch 2010; Burgsmüller/Tilmann 2010; Bundschuh 2010).

Diese Studie zeichnet einen Zusammenhang zwischen pädagogischer Praxis und einem gesellschaftlich-medialen Diskurs, der hier als gesellschaftlicher Rahmen dient. Auch dieser ist zentral in dieser Arbeit und gerade die Relationierung der subjektiven Deutungen der Fachkräfte, der Risikokonstellationen der Heimerziehung und des medialen Diskurses haben sich für diese Forschung als überaus gewinnbringend gezeigt. Um diese Verbindung in den Blick zu nehmen, wurde eine qualitativ-rekonstruktive Perspektive gewählt. Methodologisch zielt die Arbeit auf die Analyse der „Relation zwischen Habitus und gesellschaftlichen Strukturen“ (Nohl 2017: 5). Es wird davon ausgegangen, dass der gesellschaftliche Diskurs einen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1964) bildet, der von den befragten pädagogischen Fachkräften der Heimerziehung geteilt wird. Gruppendiskussionen (Loos/Schäffer 2001a; Lamnek 2005; Przyborski 2004) als Erhebungsmethode sowie die Dokumentarische Methode als Auswertungsstrategie (Loos/Schäffer 2001a; Bohnsack 2014) waren passgenau, um diese Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.

Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in 13 Kapitel. Zunächst wird im Kapitel 2 der Forschungsgegenstand näher bestimmt. Begonnen wird in der Logik der Forschung mit der medialen Thematisierung sexueller Gewalt seit dem Jahr 2010 (2.1). Hier werden Linien nachgezeichnet, die diese Thematisierung möglich gemacht haben. Weiter wird ein Eindruck der Auswirkungen der medialen Berichte vermittelt. Hieran schließen sich Definitionen, Bestimmungen und Prävalenzen zu sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene in Institutionen an (2.2). Die umfassende Bestimmung des Phänomens macht das soziale Problem greifbarer und grenzt es für diese Arbeit ein. Im Abschnitt 2.3 geht es dann um das Forschungsfeld Heimerziehung. Besondere Berücksichtigung finden dabei zum einen eine historische Perspektive auf Gewalt in der Heimerziehung und zum anderen Familialität als konzeptionell prägendes Moment. Die zwei weiteren Unterkapitel der Gegenstandbestimmung geben einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu sexueller Gewalt in Institutionen. Dabei wird zunächst auf institutionelle Risikokonstellationen eingegangen (2.4), anschließend auf Forschungsergebnisse zu professionellen Herausforderungen (2.5). Besondere Berücksichtigung finden hier Arbeiten zu pädagogischer Nähe und einem durch den medialen Diskurs um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen ausgelösten Generalverdacht gegen pädagogische Fachkräfte. Die Gegenstandsbestimmung der Arbeit wird abgeschlossen mit der Markierung des Forschungsdesiderates und der Formulierung der Forschungsfrage (2.6).

In Kapitel 3 wird die Anlage des Forschungsprojekts vorgestellt sowie Grundzüge der rekonstruktiven Sozialforschung und der Wissenssoziologie benannt (3.1). Weiter wird ausgehend vom Gegenstandes der Arbeit in das Gruppendiskussionsverfahren eingeführt (3.2) und die Auswertung mit der dokumentarischen Methode vorgestellt (3.3). Abschnitt 3.4 erläutert die Entscheidung, zunächst die empirischen Rekonstruktionen entlang von Themen darzustellen und erst abschließend Falldarstellungen und die Andeutung einer Typenbildung aufzuzeigen.

Mit Kapitel 4 beginnt die Rekonstruktion der Ergebnisse dieser Arbeit. Schon bei der Erhebung wurde deutlich, dass es Unterschiede zwischen familienanalog und nicht familienanalog arbeitenden Teams gab. So bildet diese Differenzlinie eine erste Sortierung in der Vorstellung der sechs Teams des Samples. Das Kapitel 5 rekonstruiert und reflektiert den propositionalen Gehalt des Stimulus der Gruppendiskussion. Dem emotional aufgeladenen Thema Rechnung tragend wird aufgezeigt, dass es für die pädagogischen Fachkräfte notwendig war, sich von sexueller Gewalt zu distanzieren, um in der Folge an der Gruppendiskussion teilzunehmen.

Die Anlässe, die sexuelle Gewalt für die pädagogischen Fachkräfte relevant werden lassen, werden in den Kapiteln 6 bis 10 vorgestellt. Dabei führt Kapitel 6 in diesen Schwerpunkt ein und greift Erfahrungen aus der Ausbildung und biografische Berichte der Gruppendiskussionsteilnehmer*innen auf. Kapitel 7 geht auf die mediale Berichterstattung und deren Konsequenzen ein. Es folgen institutionelle Bedingungen, die als Rahmen für die Arbeit der Professionellen gegeben sind (Kap. 8). Hier finden sich viele Bedingungen wieder, die bereits in anderen Forschungen deutlich geworden sind (2.4). Kapitel 9 geht auf den Tatverdacht und die Gewalttat als Anlässe der Thematisierung sexueller Gewalt ein. In diesem Kapitel zeigt sich am stärksten, wie risikovoll das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte für die einzelnen Personen ist. In der Gegenüberstellung der einzelnen Teams werden die Differenzlinien zwischen den Teams in diesem thematischen Schwerpunkt deutlicher. Weiter kristallisieren sich für die handlungspraktische Ebene Situationen der Nähe als die vornehmliche Herausforderung für das alltägliche professionelle Handeln heraus. Diese Situationen der Nähe sind Gegenstand des Kapitels 10, wobei es hier zunächst zentral um die thematische Sortierung der Situationen selbst geht sowie die Rekonstruktion dessen, was als risikovoll markiert wird.

Das Kapitel 11 entstand vor dem Hintergrund der Gesamtschau der Rekonstruktionen. Es zeigt, wie die Teams sich sprachlich immer wieder von sexueller Gewalt distanzieren. Dieser Befund schließt unmittelbar an die in Kapitel 5 dargestellten Distanzierungen an. Das Kapitel 11 geht noch einen Schritt weiter und rekonstruiert, dass es für die pädagogischen Fachkräfte nur sehr schwer möglich ist, sich sexuelle Gewalt durch Kolleg*innen in ihrer konkreten Handlungspraxis vorzustellen. Für die meisten Teams ist diese Möglichkeit nicht Teil ihrer handlungsleitenden Orientierung.

Einen anderen Blick auf die Ergebnisse nimmt Kapitel 12 vor. In kurzen Falldarstellungen werden die zuvor thematisch sortierten Befunde noch einmal kontrastiert. Mit diesem neuen Blick werden die spezifischen Eigenheiten der Fälle sowie verbindende Muster zwischen den Fällen deutlich. Dies erweist sich als sehr gewinnbringend, um übergreifende strukturelle Unterschiede zwischen den Teams nachzeichnen zu können. Abschließend kann so eine sinngenetische Typenbildung angedeutet werden, die zwei Typen Teams unterscheidet: einen näheorientierten und einen distanzierten Typus. Anhand von fünf Vergleichsdimensionen (Nähe, Organisation, mediale Sensibilisierung, Denkunmöglichkeit und Bewältigungsstrategien), werden die Unterschiede zwischen den beiden Typen herausgearbeitet.

Die Dissertation wird abgerundet durch ein Fazit, in dem die wichtigsten Ergebnisse der Rekonstruktionen zusammengefasst und die Forschungsfrage beantwortet werden. Abschließend werden die Ergebnisse zum Forschungsstand in Bezug gesetzt.