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Interaktive und organisierte Kommunikationsfreiheiten. Die Entstehung der LGBTI-Rechtsansprüche als Grund- und Menschenrechte innerhalb der funktionalen Differenzierung

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Das Recht auf sexuelle Mikrodiversität
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Zusammenfassung

Das vierte Kapitel untersucht zunächst die historische Ausbreitung des Strafrechts jenseits sexueller Handlungen, wie zum Beispiel durch die Zensur spezifischer Darstellungen der LGBTI-Sexualitäten, um die sexuelle Mikrodiversität einzuschränken oder sogar zu eliminieren. Zudem analysiert dieses Kapitel, wie sich diese Entwicklung auf andere Funktionssysteme ausgewirkt hat, insbesondere in Amerika und in Europa. Das Kapitel schließt mit der These, dass jegliche Äußerung von LGBTI-Rechtsansprüchen zunächst interaktive und organisierte Kommunikationsfreiheiten durch Grund-/Menschenrechte voraussetzt und die Erfolgsaussichten der Durchsetzung dieser Ansprüche genau hiervon abhängen.

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Notes

  1. 1.

    Für die Codierung der Moral als Achtung/Missachtung siehe Luhmann (1992/1993, 1996b, 2008a).

  2. 2.

    Rechtsordnungen, die immer noch die Sodomie, Verletzung der öffentlichen Moral oder funktional äquivalente Tatbestände kriminalisieren, und durch britische Gesetze geprägt sind, sind beispielsweise a) in Afrika: Botswana, Nigeria, Südsudan, Sudan, Tansania, Uganda, Namibia (carnal knowledge against order of nature; gross indecency); b) in der Karibik: Antigua und Barbuda, Barbados, Dominica, Guyana, Jamaica, Sankt Kitts und Nevis, Sankt Lucia, St. Vincent und die Grenadinen (buggery; act of serious indecency/ grossly indecent act) und Grenada (unnatural connexion/ grossly indecent act); c) in Asien: Malaysia (intercourse against the order of nature/ intercourse against the order of nature), Singapur (act of gross indecency), Sri Lanka (intercourse against the order of nature/ act of gross indecency); d) Ozeanien – Kiribati (buggery/ act of gross indecency), Papua Neu Guinea (unnatural offences against the order of nature/indecent practices between males), Salomonen (buggery/indecent practices between persons of the same sex), Tuvalu (unnatural offences/indecent practices between males), Cookinseln (sodomy/indecency between males) (Mendos 2019:198–202).

  3. 3.

    Die Sektion “Verletzung der öffentlichen Moral” [Attentats Aux Mœurs] des französischen Strafgesetzbuches von 1810 (§330) definiert den Tatbestand so: “Whoever shall commit any public outrage against modesty, shall be punished with an imprisonment of from three months to one year, and a fine of from 16 to 200 francs” [Toute personne qui aura commis un outrage public à la pudeur, sera punie d'un emprisonnement de trois mois à un an, et d'une amende de seize francs à deux cents francs]*. Im weiteren Verlauf geht der Text auf die Tatbestände der Vergewaltigung und der versuchten Vergewaltigung ein, ohne jedoch zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden (The Penal Code of France 1819:67). Michel Foucault hebt die Ungenauigkeit des Tatbestandes in einem polemischen Interview über Kindheit und Sexualität hervor (Foucault 1990:271–285).

  4. 4.

    Es handelt sich um die Artikel 785 (u. a. Veröffentlichung und Verkauf von Liedern, Schriftstücken, Gemälden, Zeichnungen), 786 (Bestrafung des Autors oder der Autorin des Materials), 787 und 788 (erschwerender Umstand, wenn ein Kind involviert ist) des Strafgesetzbuches von 1871 (Monsiváis 2013:51–52). Für unsere Fragestellung ist insbesondere der Artikel 787 relevant: “Se impondrá la pena de arresto mayor y multa de dos a quinientos cincuenta pesos, al que ultraje la moral pública o las buenas costumbres, ejecutando una acción impúdica en un lugar público, haya o no testigos, o en un lugar privado en que pueda verlo el público. Se tendrá como impúdica: toda acción que, en el concepto público esté calificada de contraria al pudor*. Meine Übersetzung: “Man wird eine Gefängnisstrafe von zwischen einem Monat und einem Tag und elf Monaten zusätzlich zu einer Geldstrafe von zwischen zwei Pesos bis zu fünfhundert Pesos für all diejenigen auferlegen, die die öffentliche Moral und die guten Sitten durch eine unsittliche Handlung in der Öffentlichkeit ohne oder mit Zeugen beschädigen, sowie an privaten Orten, welche die Öffentlichkeit beobachten kann. Es wird als unsittlich verstanden: alle Handlungen, welche in der öffentlichen Meinung [concepto público] als unsittlich gelten”*.

  5. 5.

    Das Originalzitat lautet: „En México el número 41 no tiene ninguna validez y es ofensivo para los mexicanos […] La influencia de esa tradición es tal que hasta en lo oficinal se pasa por alto el número 41. No hay en el ejército División, Regimiento o Batallón que lleve el número 41. Llegan hasta 40 y de allí se salta al 42. No hay nómina que tenga renglón 41. No hay en las nomenclaturas municipales casas que ostenten el número 41. […] No hay cuarto de hotel o de Sanatorio que tenga el número 41. Nadie cumple 41 años […] No hay automóvil que lleve placa 41, ni policía o agente que acepte ese guarismo.“

  6. 6.

    Die Art und Weise, wie Hirschfeld das Problem positioniert, ist ähnlich wie die von Garfinkel im Fall Agnes. Die individualisierte Selbstdarstellung als ‚echte Frau‘ oder ‚echter Mann‘ und die Kleidung als Symbol für diese Darstellung in der Öffentlichkeit bezeichnet für Hirschfeld den Kern des Transvestismus. Seine Forschung fokussierte sich daher nicht nur auf die interne Operation des Bewusstseins (Gefühle), sondern auch auf die beobachtete Person und ihr Passing durch verfügbare Medien. Vgl. dazu Stoller, Garfinkel & Rosen (1960) und Garfinkel (1967c, 1967e).

  7. 7.

    Hill (2005) hat das Buch Hirschfelds aus der Foucaultschen Perspektive analysiert, um einen Fall aus der scientia sexualis zu problematisieren. Allerdings hat er weder ein Wort über die Transvestitenscheine verloren noch die Rolle von Hirschfeld in der ersten LGBTI sozialen Bewegung der Weltgeschichte erwähnt.

  8. 8.

    Seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1872 galt nur noch ein Strafgesetzbuch für das ganze Deutsche Reich. Die Königreiche Bayern (1813), Hannover (1839) und Württemberg (1840) hatten die Sodomie als Tatbestand aufgrund des französischen Einflusses zwar bereits aufgehoben – Preußen jedoch nicht. Durch das einheitliche Strafgesetzbuch trat der §175 StGB flächendeckend in Kraft. Dieser Paragraph bezeichnete bis 1933, als die Strafgesetzbuchsreform der Nationalsozialisten in Kraft trat: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Für die Analyse der Durchsetzung des Gesetzes gegen die Verletzung der öffentlichen Moral ist die Beziehung zwischen der Berliner Polizei und der LGBTI-Szene bemerkenswert. Anlässlich des Freitodes von Polizeidirektor Meerscheidt-Hüllessem im Jahr 1900 drückte ein gewisser Dr. G, wahrscheinlich ein von Hirschfeld (1902) gewählter Deckname, im Jahrbuch für Sexuelle Zwischenstufen seine Dankbarkeit gegenüber dem Polizeidirektor aus. Die damalige Berliner Polizei pflegte eine ‚Rosa Liste‘ von der ‚Szene‘ und bekämpfte sogar die sexualitätsbedingte Erpressung. Siehe dazu Dobler (1999, 2008).

  9. 9.

    Ich habe das Dokument auf Archive.org gefunden und kann nicht einhundertprozentig für seine Authentizität garantieren. Es liegt darüber bislang keine technisch-wissenschaftliche Analyse vor und ich bin der Erste, der das Dokument zitiert. Dennoch gibt es mindestens zwei Argumente, die seine Verwendung hier rechtfertigen können: a) Das Dokument ist die einzige Möglichkeit, um zu zeigen, wie die FBI-Akademie die Homosexualität beobachtete und b) die historische Verfolgung der LGBTI-Sexualitäten und der amerikanischen LGBTI sozialen Bewegung durch Polizei und FBI ist bekannt und bewiesen. Es reicht aus, sich daran zu erinnern, dass im Laufe des McCarthyismus durch das Lavander Scare und die Executive Order 10450 von Eisenhower im Jahr 1953 alle der Homosexualität Verdächtigen aus der staatlichen Verwaltung entlassen wurden – zirka fünftausend Beamte. Die Überwachung und Verfolgung von LGBTI-Individuen seitens staatlicher Organisationen, wie Polizei oder FBI, war Thema verschiedener juristischer Entscheidungen, sogar des Obersten Gerichtshofs. Siehe dazu (Johnson 2009; Charles 2010, 2012, 2015). Das Dokument der FIB-Akademie befindet sich auf: archive.org/details/FBIInfluenceOfHomosexuality Man kann auch die offiziellen Berichte des FBI über die Mattachine Society konsultieren, eine der wichtigsten Lobby-Organisationen der damaligen sogenannten Homosexual-Rights, in Archive.org zu finden unter: archive.org/details/MattachineSociety [abgerufen am 25.09.2019].

  10. 10.

    Die Penetratio – auf Spanisch acceso carnal, auf Englisch auch heute noch carnal access beschreibt die Penetration eines Minderjährigen –menor púber– (>14 aber <18) durch einen Erwachsenen (>18). Chile bestraft diese sexuelle Handlung immer noch als eine Straftat – Artikel 365 unter dem Tatbestand Sodomía, Sodomie. Zweimal entschied das Verfassungsgericht in den letzten zwanzig Jahren, dass der Tatbestand nicht gegen die verfassungsmäßigen Rechte verstößt (Bascuñan 2011; Pérez-Solari 2011; Fernández Cruz 2016).

  11. 11.

    Movimiento de Integración y Liberación Homosexual (MOVILH). Auf Deutsch: Bewegung zur Integration und Befreiung der Homosexuellen. Die chilenische Organisation hat die Struktur einer NGO und wurde im Jahr 1991 gegründet. Siehe dazu Robles (2008).

  12. 12.

    Der Paragraph ist in Chile bis heute in Kraft und hat eine ähnliche Struktur wie der schon genannte französische §330 aus dem napoleonischen Strafgesetzbuch: „Diejenigen, die in irgendeiner Weise die Schamhaftigkeit oder die guten Sitten durch Handlungen verletzen, die einen schweren Skandal oder eine Überschreitung darstellen und die nicht ausdrücklich in anderen Artikeln dieses Gesetzbuches aufgeführt sind, werden zu einer Mindest- bis mittleren Freiheitsstrafe verurteilt“* (d. h. zwischen 61 Tagen und bis zu 3 Jahre bestraft). Auf Spanisch: “Los que de cualquier modo ofendieren el pudor o las buenas costumbres con hechos de grave escándalo o trascendencia, no comprendidos expresamente en otros artículos de este Código, sufrirán la pena de reclusión menor en sus grados mínimo a medio“*.

  13. 13.

    Siehe dazu Beachy (2015) und die oben genannten Arbeiten von Dobler. Diese belegen die Ausdifferenzierung der Berliner Polizei, die eine Abteilung für Homosexualität und Abtreibung hatte. Dies war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der Berliner Polizei. Zwischen ca. 1850 und den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren spezifische Abteilungen für Sittlichkeit in zahlreichen Rechtsordnungen in Europa und Lateinamerika zu finden.

  14. 14.

    Ich konnte keine Forschung über diese Art von Handlungen zwischen Lesben in öffentlichen Toiletten finden.

  15. 15.

    Eine hilfreiche Erklärung der Funktion des Argot in Interaktionen findet man in einem Kurzfilm über Polari aus dem Jahr 2015 mit dem Titel Putting the Dish. Der Film spielt Anfang der 1960er Jahre, als sexuelle Handlungen zwischen Männern in England illegal waren. Nur wenige Schwule können heutzutage noch richtig Polari sprechen. Der Erfolg der LGBTI-Rechtsansprüche ermöglichte auch das allmähliche Verschwinden der sexualdiversen Viertel. Siehe dazu Eccleston & Fairbairn (2015) und Perez-Solari (2019a).

  16. 16.

    Schon Coke ([1644] 1747:59) argumentierte beispielsweise, dass die Sodomie nur zwischen Erwachsenen operiert, weil ein Minderjähriger keine Strafe verdienen könne: „[…] If the party buggered be within the age of discretion, it is no felony in him, but in the agent only“*. Für Coke war ein aktiver Minderjähriger in allen möglichen Welten unmöglich, inkl. der Unterscheidung passiv/aktiv, um die sexuelle Handlung zu unterscheiden.

  17. 17.

    Für eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Diskussion zur Pädophilie siehe Berlin (2011) und Seto (2011). Zur Debatte über das Schutzalter in Frankreich siehe Foucault ([1983] 1990, 1990).

  18. 18.

    Die einzige Rechtsordnung, die auch den einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr zwischen Frauen bestrafte, ist die von Österreich. Das Gesetz wurde im Jahr 1971 gestrichen, aber das ungleiche Schutzalter war bis 2002 in Kraft, dann wurde es in Folge einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgehoben. Vgl. mit Johnson (2014:127–128).

  19. 19.

    Für Goffman bezeichnet eine Backregion oder Backstage: „A back region or backstage may be defined as a place, relative to a given performance, where the impression fostered by the performance is knowingly contradicted as a matter of course. There are, of course, many characteristic functions of such places. It is here that the capacity of a performance to express something beyond itself may be painstakingly fabricated; it is here that illusions and impressions are openly constructed*.

  20. 20.

    Der Wolfenden Report beschreibt genau die Grenze zwischen Recht und Moral: „It is not, in our view, the function of the law to intervene in the private lives of citizens, or to seek to enforce any particular pattern of behavior, further than is necessary to carry out the purposes we have outlined. It follows that we do not believe it to be a function of the law to attempt to cover all the fields of sexual behavior. Certain forms of sexual behavior are regarded by many as sinful, morally wrong, or objectionable for reasons of conscience, or of religious or cultural tradition; and such actions may be reprobated on these grounds. But the criminal law does not cover all such actions at the present time; for instance, adultery and fornication are not offenses for which a person can be punished by the criminal law, Nor indeed is prostitution as such.“* (Wolfenden ([1957] 1963:23–24).

  21. 21.

    Für eine detaillierte Aktualisierung der polnischen LGBTI-Free-Zones (Karte) und Links zu offiziellen Dokumenten und Presse siehe Atlas Nienawiści (2021).

  22. 22.

    Vgl. von Foerster [1976] 2003a, [1979] 2013.

  23. 23.

    Für einen aktuellen Vergleich der Theorien des Schadensprinzips im Common Law und Rechtsgütern in Deutschland und Lateinamerika s. Solavagione (2019).

  24. 24.

    Zufälligerweise habe ich kürzlich erfahren, dass der eigentliche Name von Praetorius Eugène Wilhelm war. Wilhelm war bis 1908 Richter in Straßburg. Als seine Homosexualität bekannt wurde, verlor er seinen Posten wegen des Widerspruchs zwischen seiner Leistungsrolle als Richter und seiner Sexualorientierung – diskrepante Rolle. Régis Schlagdenhauffen entdeckte erst ca. 100 Jahre später Wilhelms Tagebücher, in welchen er auf mehreren tausend Seiten über seine Erlebnisse als Homosexueller berichtet (Schlagdenhauffen R. 2018). Für die vollständige Liste der Publikationen von Wilhelm siehe Walvarens (1984).

  25. 25.

    Es war unmöglich, sowohl das Zitat als auch den Autor zu identifizieren.

  26. 26.

    Man versteht den Begriff ‘Deviance’ und seine Rolle in der Soziologie seit dem Strukturfunktionalismus Erving Goffmans ([1963] 1986:140) besser: “It is remarkable that those who live around the social sciences have so quickly become comfortable in using the term deviant', as if those to whom the term is applied have enough in common so that significant things can be said about them as a whole. Just as there are iatrogenic disorders caused by the work that physicians do (which then gives them more work to do), so there are categories of persons who are created by students of society, and then studied by them.”*

  27. 27.

    Rawinwater war Humphreys Doktorvater.

  28. 28.

    Die Frauen sind statistisch gesehen keine Minderheit. Dies ist eindeutig, aber sie waren eine Minderheit in der Öffentlichkeit und der jeweiligen Leistungsrolle, sowie beim Genuss verschiedener Rechte, wie dem Recht auf Eigentum.

  29. 29.

    Für eine zeitgenössische filmische Dokumentation über das Magazin Der Kreis siehe Haupt (2014). Man findet alle Ausgaben in der Online-Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich: Menschenrecht: Blätter zur Aufklärung gegen Ächtung und Vorurteil (https://www.e-periodica.ch/digbib/volumes?UID=kre-002) und Der Kreis (https://www.e-periodica.ch/digbib/volumes?UID=kre-003).

  30. 30.

    Das Archiv America Lee hat alle Ausgaben des Magazins online veröffentlicht: http://americalee.cedinci.org/portfolio-items/somos/.

  31. 31.

    Es ist unmöglich, hier mit Genauigkeit die Entwicklung der Obszönitätsgesetze im Common Law und in den USA zu erklären. Dennoch kann man drei Variationen in den Entscheidungsprämissen des Obersten Gerichtshofs der USA ausmachen, die heutzutage für alle westeuropäischen und lateinamerikanischen Gerichtshöfe gelten. Die Obszönität wurde beobachtet: a) durch das Kriterium des Beamten und des Richteramts; b) durch das durchschnittliche Individuum und Gemeinschaftsstandards – wie in ONE und c) durch die ‘Werte’ für Wissenschaft, Kunst oder andere Funktionssysteme – wie im oben genannten Miller-Test. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung stellt der Richter des US-amerikanischen Obersten Gerichtshofs Potter Stewart dar, als er über die Obszönität des französischen Films ‚Les amants‘ urteilte: „I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description, and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that“. Siehe dazu Rembar (2015:31–120).

  32. 32.

    Man findet eine Online-Version des Gedichts auf Pinknews (2008).

  33. 33.

    Der Film produzierte damals eine lebhafte Debatte über die filmische Darstellung der Homosexualität, die ‚Aufklärungsfilme‘ und unterschiedliche Positionen bezüglich der Auslegung der Obszönitätsgesetze. Dies galt nicht nur für die Filmindustrie und die männliche Homosexualität, sondern tangierte auch andere Künste wie die Literatur oder das Theater, und alle LGBTI-Sexualitäten (Theis 1984; Senelick 2008). Der Art. 118 Abs. 2 der Weimarer Verfassung bezieht sich spezifisch auf die Lichtspiele und ihre möglichen verfassungsmäßigen Einschränkungen: „Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz andere Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.“ Für eine Zusammenfassung der Debatte und eine Auswahl einschlägiger Quellen siehe Belach & Jacobsen (2008). Als Gegenentwurf zu den deutschen Aufklärungsfilmen findet man das argentinische Theaterstück Los Invertidos (1914) des anarchistischen Regisseurs González Castillo ([1914] 1957), welches die Homosexualität als ein Laster der Oberschicht darstellt. Das Theaterstück wurde vom Bürgermeister von Buenos Aires zensiert. Für eine Zusammenfassung des Verhältnisses zwischen Oberschicht und Homosexualität siehe Dynes (1990:75–74).

  34. 34.

    Man findet auch vor Victim schon englischsprachige Filme, die Homosexualität oder andere LGBTI-Themen thematisierten, beispielsweise Michael von 1924. Jedoch stellt Victim die erste direkte filmische Kritik gegen das britische Gesetz und die Kriminalisierung des Geschlechtsverkehres unter Männern dar. Für eine detaillierte Analyse der LGBTI-Filmkunst siehe Russo (1981).

  35. 35.

    Wie ‚sind‘ die Sexualitäten als Zustand möglich? Können das Recht, die Medizin oder die Wissenschaft sie ändern?

  36. 36.

    Obwohl die Sodomie aufgrund der Änderungen im Zuge der ersten Welle der Entkriminalisierung in Bayern, Württemberg, Herzogtum Braunschweig und Hannover keine oder zumindest eine weniger gravierende Straftat mehr war, war Ulrichs aufgrund von Gerüchten über seine Homosexualität und der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens von seinem Job als Beamter in Hildesheim zurückgetreten (Kennedy 2002).

  37. 37.

    In einem Brief an Karl Marx aus dem Jahr 1869 kommentierte Friedrich Engels die Arbeit Ulrichs, wahrscheinlich mit Bezug auf dessen Werk Incubus, und das Verfahren gegen Carl von Zastrow wegen der Vergewaltigung eines Jungen. Der Brief verdeutlicht die Einstellung Engels bezüglich der ‚natürlichen Rechte der Urninge‘, die Ulrichs verteidigte. Es ist bemerkenswert, dass Engels hierbei das Wort ‚Päderast‘ und nicht ‚Sodomit‘ verwendet: „Das ist ja ein ganz kurioser ‚Urning‘, den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staat bilden. Nur die Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im geheimen zu bestehen. Und da sie ja in allen alten und selbst neuen Parteien, von [Johannes] Rösing bis Schweitzer, so bedeutende Männer zählen, kann ihnen der Sieg nicht ausbleiben. „Guerre aux cons, paix aus trous-de-cul“ [Krieg den Fotzen, Frieden den Arschlöchern], wird es jetzt heißen. Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge Generation! Übrigens auch nur in Deutschland möglich, daß so ein Bursche auftritt, die Schweinerei in eine Theorie umsetzt und einladet: introite usw. Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als „das“ zu bekennen, und muß noch immer coram publico „von vorn“, wenn auch nicht „von vorn hinein“, wie er aus Versehen einmal sagt, operieren. Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits du cul [Rechte des Arsches] anerkannt hat, da wird er ganz anders kommen. Uns armen Leuten von vorn, mit unsrer kindischen Neigung für die Weiber, wird es dann schlecht gehen. Wenn der Schweitzer zu etwas zu brauchen wäre, so wäre es, diesem sonderbaren Biedermann die Personalien über die hohen und höchsten Päderasten abzulocken, was ihm als Geistesverwandten gewiß nicht schwer wäre… Dein F. E.“* (Hergemöller 1999:140–141). Für eine detaillierte Analyse des Briefes und des Falls Zastrow siehe Kennedy (2002:157–176) und Gaido & Frerencia (2020).

  38. 38.

    Ulrichs beschreibt sein Erleben während des Juristentags in Gladius furens (1868), seinem achten Buch. Der Titel bedeutet: das wilde Schwert. Der Juristentag ist bis heute in Deutschland der wichtigste Kongress für Juristinnen und Juristen.

  39. 39.

    Er argumentierte auf einer ähnlichen Weise wie die oben genannten Pamphlete: “Das Menschenrecht beginnt aber doch jedenfalls mit dem Menschen selbst, und das Unmittelbarste des Menschen ist sein eigener Leib, mit dem er völlig frei beginnen und an dem er zu seinem Vorteil oder Nachteil verüben kann was ihm beliebt, sofern er nur dadurch die Rechte anderer – des Individuums, der Gesellschaft, oder des Staates nicht stört”* (Kartbeny [1869] 1905:14–15).

  40. 40.

    Kertbenys Berechnungen hatten ergeben, dass es im damaligen Berlin eine ‚Homosexualen‘-Minorität von ca. 10.000 Personen gebe ([1869] 1905:57).

  41. 41.

    Kertbeny verwandte schon damals die klassische ‚Rosa Liste‘, also eine Aufzählung berühmter Homosexueller, um damit Homosexualität zu rechtfertigen. Er merkte auch an, dass viele von ihnen nicht nur verheiratet, sondern auch Väter waren ([1869] 1905:47): „Von dem griechischen wie römischen Altertume ganz zu schweigen, und aus christlicher Ära auch nur die auffallendsten Namen zu zitieren, so seien von fürstlichen Personen erwähnt: Cosimo di Medici; Farnese; Charles IX., Henri III., Papst Julius II, James I., beide Condé, der Herzog von Vendôme, Louis XIII., dessen jüngerer Sohn Philippe d'Orleans I., William III. der Oranier, August Wilhelm von Wolfenbüttel, der Prinz de Conti, des vierzehnten Louis natürlicher Sohn, der Graf Vermandois, dann Charles II. Stuart, Peter der Große, Karl XII.; Corsicas abenteuerlicher König, Theodor Neuhoff, Schwedens Gustav III., Zar Paul I., sogar in gewisser Zeit Napoleon I., dann Louis XVIII., usw. Und welche Anschauung Friedrich der Große über diese Frage hat, findet man in seinen Werken! Von Sommitäten des Staatslebens, der Kunst, Wissenschaft und Poesie seien auch hier nur die allerbedeutendsten genannt: Gonsalvez de Cordova, A. Politiano, Machiavelli, Michel Angelo, Razzi, genannt ‚il Soddoma‘, Giulio Romano, Bonfadio, seinen Jugendgedichten nach Theodore de Buze, dann Mureto, E. Jodelli, William Shakespeare, Mazarin, F. Pallavicini, Moliere, der Marechal de Luxembourg, Lully, Bischof John Atherton, Erzbischof Tellier, Isaak Newton, Kardinal Bouillon, Earl of Rochefort, Count of Portland, Michel Baron, Graf Zinzendorf, der Abenteurer Bonneval, Parlamentspräsident Harley, Mylord Albermarle, J. J. Winckelmann, Marquis de Villete, Chevalier de Boufflers, Cagliostro, Johannes von Müller, Cambaceres, Reichskanzler des Kaisertums, E. Bridgewater, Canova, Iffland, A. W. v. Schlegel, Minister Kolowrat, Lord Byron, Erzbischof Sibous, Marquis de Custine, Komiker Wurm, August Graf Platen, Chevalier d' Appert, W. Kunst, F. M. L. Banus J ellachich, Eugene Sue, A. v. Sternberg, F. Ponsard usw., welche Aufzählung bis in die Tausende zu vermehren wäre.“

  42. 42.

    Ulrichs exkludierte die heutigen Lesben aus der Diskussion der Rechtsansprüche, weil der Lesbianismus mit Ausnahme Österreichts allgemein nicht kriminalisiert war. Man soll nicht vergessen, dass der einzige Rechtsanspruch (wessen?)die Derogation der Sodomie war.

  43. 43.

    Aus soziologischer Perspektive ist die Pathologie ein Programm der Medizin, um die Kommunikationen zwischen Patient*in/nicht-Patient*in zu codieren. Die Pathologie orientiert die Interaktion Arzt*in/Patient*in durch die Beobachtung von Symptomen, die u. a. eine Krankheit oder Störung beschreiben. Ihrerseits ist die Nosologie die Klassifizierung und Kategorisierung von u. a. Krankheiten und Störungen und ihrer charakteristischen Symptome. Die Unterscheidung Nosologie/Pathologie ist faktisch beobachtbar durch die technische Führung der Unterhaltung durch die Ärztin oder den Arzt und die Erzählung des oder der Patient*in (Profil/Inklusionsrolle). Die Soziologie hat noch keine systematische theoretische Arbeit über die Codierung und Programmierung der Kommunikationen durch die Unterscheidung Nosologie/Pathologie in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft, sowie der Inklusion durch die Unterscheidung Profil/Inklusionsrolle in der Medizin hervorgebracht. Ein praktisches und faktisches Beispiel findet man, wenn der Patient seine Symptome der Ärztin gegenüber kommuniziert – z. B. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Durst, usw., und dennoch nicht über die Party der letzten Nacht spricht. Dieselbe Methode haben Rosenhan (1973) und sein Team verfolgt, um die Blindheit der Psychiatrie und ihrer Nosologie/Pathologie zu belegen.

  44. 44.

    An dieser Stelle soll kurz auf die Repressionsthese Foucaults hingewiesen werden. Das Monopol der Psychiatrie bezüglich der wissenschaftlichen Fragen nach der Sexualität basierte für Foucault auf der Interaktion Arzt*in/Patient*in und der Analyse von Krankengeschichten. Dennoch ist es schwierig, mit diesen Methoden Handlungen, Darstellungen und Zustände zu differenzieren. Im Falle der LGBTI-Sexualitäten operiert die Repression Foucault zufolge durch alle sozialen Systeme, die im Besitz von Macht und Wissen sind. Er lässt hierbei allerdings eine Differenzierung zwischen Politik, Recht, Wissenschaft und Medizin und den daraus resultierenden Profilen und Inklusionsrollen außer Acht. Man liest bei Foucault beispielsweise über die Kategorisierung und Klassifizierung, die die Psychiatrie vornimmt, wenn sie von scientia sexualis spricht, aber nicht, wie das Recht oder andere Funktionssysteme – wie Massenmedien oder Kunst – dabei vorgehen. Letztlich kann man zwei Vermutungen aufstellen: a) dass die semantische Variation Sodomie>Päderastie in ihrer Wandlung von Sünde/Verbrechen>Handlung zu Päderastie>Päderast den Zustand eines Individuums begriff und b) dass der Nefandus als Tabu und undefinierte Moral des Rechts operierte. Für weitere relevante historiographische Kritikpunkte an Foucault siehe Payer (1985), Boswell (1987, 1992, 1994), Norton (2010) und Rolker (2014).

  45. 45.

    Das Ätiologiemodell Krafft-Ebings und die conträre Sexualempfindung kommentierte der britische Arzt und Sexualforscher Havelock Ellis ([1897] 1915:71) so: „This perverse sexuality appears spontaneously with the developing sexual life, without external causes, as the individual manifestation of an abnormal modification of the vita sexualis, and must then be regarded as congenital; or it develops as a result of special injurious influences working on a sexuality which had at first been normal, and must then be regarded as acquired. Careful investigation of these so-called acquired cases, however, Krafft-Ebing in the end finally believed, would indicate that the predisposition consists in a latent homosexuality, or at least bisexuality, which requires for its manifestation the operation of accidental causes. (In the last edition of his work [Psychopatia Sexualis] Krafft- Ebing was inclined to regard inversion as being not so much a Degeneration as a variation, a simple anomaly, and acknowledged that his opinion thus approximated to that which had long been held by inverts themselves*.

  46. 46.

    Hier liegt der grundlegende Fehler der Historiographie Foucaults, denn es gab sehr wohl verschiedene Ärzte/Wissenschaftler, die aufgrund der Grundrechte gegen eine Kriminialisierung des einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs im Privatraum waren.

  47. 47.

    Wie bereits erklärt, veröffentlichte Hirschfeld seine erste Arbeit unter dem Decknamen Dr. med. Th. Ramien (1895): Sappho und Sokrates, wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? und einem Motto, welches ‚Nietzsche‘ zugeschrieben wird, auf dem Deckblatt: Was natürlich ist, kann nicht unmoralisch sein.

  48. 48.

    August Bebel, Begründer der deutschen Sozialdemokratie, argumentierte beispielsweise 1898 im Reichstag für die Derogation des §175. Die Rede betonte die willkürliche Vollstreckung des Gesetzes, die unbegründete Exklusion der Frauen aus dem Tatbestand und die möglichen riesigen Skandale, falls die Berliner Polizei ernsthaft und umfassend die Straftat verfolgen würde (Bebel [1898] 2010). Unter den Unterzeichner*innen der ‚Petitionen‘, die Hirschfeld und das WhK an den Reichstag richteten und öffentlich publizierten, findet man u. a. folgende bekannte Persönlichkeiten: Richard von Krafft-Ebing, Albert Moll, Iwan Bloch, Ernst Cassirer, Otto Hildebrandt, Karl Jaspers, Ernst Bloch, Kurt Hiller, Paul Lobe, Franz Oppenheimer, Lou Andreas-Salome, Paul Cassirer, Alfred Döblin, Herman Hesse, Käthe Kollwitz, Stefan Zweig, Albert Einstein, Thomas Mann, Max Planck, Max Spohr und Adolf Brand [Schiller-Gedicht], sogar G. Michelsen, der ‚Consul d. Republik Colombien‘ war. Des Weiteren findet man Juristen, Priester, Professoren, Ärzte, Theologen und weitere einflussreiche Berufsgruppen (Hirschfeld 1898, 1899, 1925a, 1925b).

  49. 49.

    Für eine detaillierte Beschreibung der psychoanalytischen Perspektive nach Freud siehe dazu Ruse (1988:21–84), Marmor (1998) und Rosario (2002:50–71).

  50. 50.

    Vgl. Lindsey (1910:581) und seinen Bericht über den ersten Internationalen Kongress für Kriminalanthropologie: „Lombroso, in defence of his theory of the born criminal, drew an ingenious parallel between the homosexual individual and the criminal. Specialists, he said, distinguished the occasional and the insane homosexual, and, finally, those born inverted, who, from their earliest years experience an attraction toward persons of the same sex and often exhibit special characteristics.“*

  51. 51.

    Für eine allgemeine Beschreibung der Zwangshandlung in Großbritannien sowie die Ausbreitung der sogenannten ‚Konversionstherapien‘, die auch ‚Reparativtherapien‘ genannt wurden, siehe Smith, Bartlett & King (2004) und Dickinson (2012).

  52. 52.

    Man findet eine systematisierte Quellensammlung der NS-Verfolgungspolitik in Grau (2013).

  53. 53.

    Die Stellungnahmen gegen die ‚Therapien‘ betonen oft ihre medizinische Nutzlosigkeit, die Abwesenheit wissenschaftlicher Belege und/oder die Verletzung der Menschenreche beziehungsweise der Rechte der Patientinnen und Patienten. Unter vielen anderen siehe dazu die American Psychiatric Association (2000), die WHO/PAHO (2012), die American Psychological Association (2009) und Bartlett, Smith & King (2009). Für Stellungnahmen verschiedener einflussreicher Vereinigungen siehe HRC (2019). Obwohl diese Stellungnahmen große Akzeptanz genießen, findet man immer noch ‚wissenschaftliche‘ Artikel zur Möglichkeit, die sexuelle Orientierung zu ändern. Siehe dazu beispielsweise Serovich et al. (2008) und Beckstead (2012).

  54. 54.

    Das DSM-I besagt (1952:38–39): “This diagnosis is reserved for deviant sexuality which is not symptomatic of more extensive syndromes, such as schizophrenic and obsessional reactions. The term includes most of the cases formerly classed as ‘psychopathic personality with pathologic sexuality.’ The diagnosis will specify the type of the pathologic behavior, such as homosexuality, transvestism, pedophilia, fetishism and sexual sadism (including rape, sexual assault, mutilation).”*

  55. 55.

    Das DSM-5 enthält noch die Kategorisierungen und Klassifizierungen „Other Specified Sexual Dysfunction“ und „Unspecified Sexual Dysfunction“.

  56. 56.

    Es gibt noch keine präzise historisch-soziologische Periodisierung der unterschiedlichen Phasen der LGBTI-sozialen Bewegung. Dennoch kann man eine semantische Entwicklung von der Homophilen-Bewegung (1945–1969) hin zur Befreiungsbewegung (1969–1990) ausmachen. Die Homophilen-Bewegung fokussierte sich auf eine ‚normale‘ Selbstdarstellung von Frauen und Männern, während die Befreiungsbewegung die Mikrodiversität aller möglichen ‚nicht-heterosexuellen‘ Sexualitäten durch spezifische sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten betonte. Außerdem wurde die Befreiungsbewegung zur ersten weltweiten organisierten sozialen Bewegung.

  57. 57.

    Die damaligen Rechtsordnungen in 45 von 50 Staaten der Vereinigten Staaten von Amerika schlossen Frauen in den Sodomiegesetzen oder ihren funktionalen Äquivalenten mit ein (Kinsey et al. 1952:484).

  58. 58.

    Es ist bemerkenswert, dass Hooker der Mattachine Society eine Ethik zurechnete: „The project would not have been possible without the invaluable assistance of the Mattachine Society, an organization which has as its stated purpose the development of a homosexual ethic in order to better integrate the homosexual into society”* (Hooker 1957:19). Außerdem erklärte sie nach der Veröffentlichung des Artikels, dass nicht alle Mitglieder der Society Männer waren (Humphreys 1978:196). Damals entstanden auch verschiedene Organisationen für die Lesben- und Schwulenrechte, die nicht-institutionalisierte Darstellungen ihrer Sexualität verbreiteten.

  59. 59.

    Hooker wurde selbst von Polizei und FBI überwacht und führte die Interviews zu Hause durch, um ihre Informationen zu schützen (Hooker 1993).

  60. 60.

    Garfinkel bedankte sich bei Evelyn Hooker in seinen Studies in Ethnomethodology. Man liest in Goffmans Buch Stigma ([1963] 1986:104): „He who passes finds unanticipated needs to disclose discrediting information about himself, as when a wife of a mental patient tries to collect her husband's unemployment insurance or a ‚married‘ homosexual tries to insure his house and finds he must try to explain his peculiar choice of beneficiary. […] Suggested by Evelyn Hooker in conversation*. Es ist unverständlich, weshalb Hookers soziologische Forschung in den gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Theorien der Sexualität wie der Queer-Theorie gänzlich unbeachtet bleibt.

  61. 61.

    Für eine auch heute noch relevante methodologische Kritik der Ätiologiemodelle der Psychoanalyse und der Familie als Ursache siehe Hooker (1965b; 1969).

  62. 62.

    Szasz war berühmt für seine logischen und rhetorischen Fähigkeiten und dafür, stets den Unterschied zwischen Moral und Wissenschaft zu betonen. Beispiele hierfür findet man u. a. in zwei Debatten über Psychiatrie und Strafrecht beziehungsweise über Psychiatrie und Zwangsbehandlung/Zwangshospitalisierung, die der United States Public Health Service (USPHS 1969, 1970) im Fernsehen übertrug. Für eine Zusammenfassung seiner These der Geisteskrankheit als Gründungsmythos, die in historiographischer und soziologischer Perspektive auch heute noch relevant ist, siehe Szasz (2011). Man denke auch an die Diskussion bezüglich des oben genannten Rosenhan-Experiments (1973).

  63. 63.

    Man findet in dem Buch auch verschiedene Forschungsergebnisse einflussreicher Psychiater. Zum Beispiel problematisierte Robert Stoller (1924–1991) die Begriffe Geschlechtsidentität und ‚passing‘. Des Weiteren umfasste das Buch einen Artikel von Erving Bieber (1909–1991), der die Homosexualität als Krankheit bezeichnete und zusammen mit Charles Socarides (1922–2005) die ‚Pathologisierungs-Perspektive‘ vertrat.

  64. 64.

    Er zitiert beispielsweise den Wolfenden Report und Gesetzessammlungen verschiedener europäischer Länder, vor allem Frankreich und dessen Strafgesetzbuch von 1810.

  65. 65.

    Er kritisiert hiermit implizit die oben genannte Exklusion der Lesben und Homosexuellen aus der Beamtenschaft, wie sie in der McCarthy-Ära üblich war. Diese wurde dadurch begründet, dass ‚die Kommunisten‘ sie erpressen könnten, um geheime Information zu erhalten. Siehe dazu Johnson (2009) und Charles (2012, 2015).

  66. 66.

    Die Distinktion Natur/Kultur und Tiere/Menschen in Bezug auf Sexualität und Homosexualität war eine klassische Methodologie der alteuropäischen stratifizierten Gesellschaften. Normalerweise erklärten diese Annäherungen nicht näher, was sie unter ‚Natur‘ verstanden. Siehe dazu Boswell (1980; 1994).

  67. 67.

    Es existiert eine unüberschaubare Fülle an Literatur über die damaligen sozialen Bewegungen, und das Thema überschreitet den hier untersuchten Forschungsgegenstand – die Analyse von Sexualität als Zustand und Moral. Dennoch kann man die Hyphotese aufstellen, dass dieser Kontext in gewisser Weise ein funktionales Äquivalent der Französischen Revolution ist: Verschiedene Kollektive kommunizieren und fordern partikularistische Rechtsansprüche unter einem universalistischen Begriff von Grund- oder Menschenrechten. Anders gesagt: Rechte, die selbstverständlich und unveräußerlich sind. Es sollen hier nur zwei Beispiele genannt werden, die diese Hypothese stützen: Zum einen die Homosexual Bill of Rights, die die US-amerikanische Homophilen Bewegungen im Jahr 1968 verfasst hatte, darunter u. a. One Inc., die Mattachine Society und die Daughters of Bilitis, zum anderen die Problematisierung des Wahlrechts und der Vollinklusion von Afroamerikaner*innen bei Malcolm X in The Ballot or the Bullet (1964). Siehe dazu ONE (1961) und X (1964).

  68. 68.

    Die Gay-Pa ‚outete‘ sich nach der Entpathologisierung der Homosexualität im Jahr 1973 als „Caucus of Gay, Lesbian, and Bisexual Members of the American Psychiatric Association“. Im Jahr 1985 institutionalisierte sie sich als „Association of Gay and Lesbian Psychiatrists“ (AGLP). Im Jahr 2015 wechselte die Organisation nochmals den Namen als „Association of LGBTQ Psychiatrists“, behielt jedoch dasselbe Akronym (AGLP 2020). Eine Weiterentwicklung des Namens findet man auch bei anderen Organisationen für LGBTI-Rechtansprüche, wie bei der ILGA (2019), was die Sexualität als ein Kommunikationsmedium beweist.

  69. 69.

    Dr. Anonymous' Fotografie wurde aufgrund der Unmöglichkeit einer Copyright-Autorisierung gelöscht. Ich bitte Sie, das Foto für eine Minute sorgfältig zu analysieren: https://digitalcollections.nypl.org/items/510d47e3-8315-a3d9-e040-e00a18064a99.

  70. 70.

    Man erinnere sich an dieser Stelle an das oben zitierte FBI-Academy Dokument: “Many psychiatrists [!] feel that the smell of urine and excrement seems to have a particularly stimulating effect upon the male homosexual“.

  71. 71.

    Die Erklärung Bayers (1987:115–154) ist nach wie vor die detaillierteste historiographische Erklärung des Entscheidungsprozesses in der APA.

  72. 72.

    Vgl. mit United Nations High Commissioner for Human Rights (2011). Der Bericht analysiert und veurteilt durch das internationale Menschenrechtsgesetz verschiedene Exklusionen, Diskriminierungen bis hin zu physischer Gewalt auf der Basis von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Siehe dazu auch Ki-moon (2010), OHCHR (2014), United Nations (2015), Martínez-Soliman (2015) und United Nations High Commissioner for Human Rights (2019).

  73. 73.

    Das Dokument schließt andere undefinierte Begriffe ohne Erläuterung ein, wie etwa den ‚Ausdruck sexueller Orientierung‘ – sexual orientation expression – oder gleichgeschlechtliche Sexualverhalten und weist viele Widersprüche und Paradoxien auf. Dies stärkt die These von der Selbstorganisation der Mikrodiversität durch Profil/Inklusionsrollen im Kontext der funktionalen Differenzierung.

  74. 74.

    Zur Erläuterung des Verhältnisses zwischen Vollinklusionsprinzip und Menschen-/Grundrechten s. das zweite Kapitel dieser Untersuchung.

  75. 75.

    Die Definition von „Sexual dysfunctions“ lautet: „Sexual Dysfunctions are syndromes that comprise the various ways in which adult people may have difficulty experiencing personally satisfying, non-coercive sexual activities. Sexual response is a complex interaction of psychological, interpersonal, social, cultural and physiological processes and one or more of these factors may affect any stage of the sexual response. In order to be considered a sexual dysfunction, the dysfunction must: 1) occur frequently, although it may be absent on some occasions; 2) have been present for at least several months; and 3) be associated with clinically significant distress* (WHO 2019).

  76. 76.

    Für die gegenwärtige Diskussion eines Gesetzes zum Schutz vor Konversionsbehandlungen in Deutschland siehe Bundesministerium für Gesundheit (2020).

  77. 77.

    Passing und Transitioning sind aus meiner Perspektive äquivalente Begriffe, aber ich wähle den Begriff Passing wegen seiner präzisen soziologischen und ethnomethodologischen Bedeutung. Vgl. Garfinkel (1967c), West & Zimmerman (1988) und Butler (1990 [2007], 1990).

  78. 78.

    Ich bedanke mich herzlich bei meiner Frau für die Abbildung. Ich konnte das Passing nach Stunden und unzähligen lächerlichen Versuchen gar nicht bildlich repräsentieren.

  79. 79.

    Man denke etwa an die bereits zitierte deutsche Zeitschrift für Transvestiten, welche ‚Transvestiten‘ – Transgender/Transsexuelle – und ‚Hermaproditen‘ – Intersexuelle – zusammen dargestellt hat.

  80. 80.

    Für die Unterscheidung Geschlecht/Alter und die damaligen normativen gesellschaftlichen Erwartungen beider Geschlechter siehe Parsons ([1942] 1954). Normalerweise bezeichnet die medizinische Literatur als Geschlechtsrolle die sozialen Erwartungen im Hinblick auf das Verhalten von Frauen und Männern, sowie die historische Leistungsrolle in der Familie.

  81. 81.

    Ich komme auf dieses Problem im nächsten Kapitel zurück.

  82. 82.

    Für die Änderung der Diagnosemethode und die praktische Lösung der Selbstdarstellung insbesondere als trans-Frau siehe Benjamin (1966). Benjamin, selbst Deutscher, studierte bei Magnus Hirschfeld am Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Die erste wichtige Debatte über das Thema Transsexualität sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in der Medizin löste der Fall Christine Jorgensens aus, die sich im Jahr 1952 in Dänemark erfolgreich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog (Reay 2014).

  83. 83.

    Erickson finanzierte bis in die 1980er Jahre sowohl die Lesben- und Schwulen-Bewegung, vor allem One Inc., als auch verschiedene universitäre Krankenhäuser, die im Bereich Transsexualität tätig waren, mit erheblichen Summen. Siehe dazu Davor und Matte (2004).

  84. 84.

    Die Information der Tabelle stammt von der Working Group on the Classification of Sexual Disorders and Sexual Health für das neue ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (Drescher, Cohen-Kettenis & Winter 2012). Das Dokument enthält zwei Fehler: Erstens wird behauptet, dass Magnus Hirschfeld Psychiater war – er war in Wirklichkeit Allgemeinmediziner (banal). Zweitens wird behauptet, dass es im DSM-I keine Kategorisierung und Diagnose gab, was nicht zutrifft (fundamental).

  85. 85.

    Anmerkung: „but not all“ stellt eine widersprüchliche Angabe dar – diese Individuen wären laut voranstehender Definition eigentlich Transgender. Eine solche Ungenauigkeit wäre bei Spitzer, s. oben, unmöglich gewesen (Erste Ordnung Beobachtung der Psychiatrie). Dies zeigt die Indexikalität, die mit einem Profil einhergeht, sowie die Probleme für das Sexualitätsmedium, die Sexualitäten zu unterscheiden und zu differenzieren.

  86. 86.

    Hergemöller (1999:132–135) übersetzt einen Sodomieprozess aus dem Jahr 1354 in Venedig, in dem verhandelt wurde, was heute unter Transsexualität und Transgender fiele: Rolandinus übernahm als angeborener Mann „[…] das Amt der Frau […] und [wollte] als Frau angesehen werden […]“, sowie sexuelle Handlungen mit Männern ausüben. Man sollte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass für den oben gannanten Edward Coke (1152–1634) die heutigen Intersexuellen die gleichen Rechte wie andere natürliche Personen hatten.

  87. 87.

    Man findet heute noch immer Forschungsbeiträge, die die Sexualität durch die Gehirnentwicklung zu verstehen versuchen, insbesondere bei Transsexualität und Intersexualität (Meyer-Bahlburg 2011; Smith et al. 2015).

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Ranke, F. (2023). Interaktive und organisierte Kommunikationsfreiheiten. Die Entstehung der LGBTI-Rechtsansprüche als Grund- und Menschenrechte innerhalb der funktionalen Differenzierung. In: Das Recht auf sexuelle Mikrodiversität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43039-9_4

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