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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz

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Das Eigene und das Fremde
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Zusammenfassung

Das Phänomen des Fremdverstehens nimmt, wie bereits erkenntlich wurde, innerhalb dieser Arbeit eine zentrale – wenn nicht: die zentrale – Rolle ein. Ein geeignetes theoretisches Fundament der Arbeit kann also nur eine Theorie darstellen, welche dieses Phänomen in ihr Zentrum stellt. Diesem Anspruch wird die von Alfred Schütz im Jahr 1932 in Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt ausgearbeitete Theorie des Fremdverstehens gerecht. Schütz gelingt es hier nämlich, den Prozess zu beschreiben, in welchem ein Mensch (= ego) das Erleben eines Mitmenschen (= alter ego) erfasst. Im Folgenden möchte ich die Grundzüge von Schütz’ Theorie darstellen und dabei die zentralen Begriffe und Unterscheidungen der Theorie durch Beispiele aus dem Kontext von Schule und Mathematikunterricht veranschaulichen.

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Notes

  1. 1.

    Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Schütz’ Begriff des Fremdverstehens in der mathematikdidaktischen Forschungsliteratur bereits bei Beck & Jungwirth (1999), Bikner-Ahsbahs (2003) und Jungwirth (2003) Verwendung findet. Eine ausführlichere Darstellung der gesamten Theorie des Fremdverstehens existiert meines Wissens in der Mathematikdidaktik jedoch bislang noch nicht.

  2. 2.

    Als Erlebnisstrom oder auch Strom des Erlebens ist die Gesamtheit aller bisherigen Erlebnisse eines Menschen zu verstehen, die sich dadurch auszeichnet, dass kontinuierlich neue Erlebnisse zu ihr hinzutreten. Dass das Erleben des Menschen ‚fließt wie ein Strom‘ steht als Sinnbild dafür, dass es ohne Unterbrechung verläuft, d. h., dass es zu keinem Zeitpunkt kein Erleben gibt. Vielmehr zeichnet sich das Erleben dadurch aus, dass sich zu jedem Zeitpunkt ein neues Erlebnis an ein vergangenes Erlebnis anschließt und alsbald selbst zum vergangenen Erlebnis wird, da sich wieder ein neues Erlebnis anschließt.

  3. 3.

    Es sind – nebenbei bemerkt – genau diese Selbstauslegungen eigener Erlebnisse, die alter ego in seinem Bewusstsein vollzieht, welche ego im Fremdverstehen zu erfassen versucht.

  4. 4.

    Der Begriff ‚Gegenstand‘ wird bei Schütz – in Anlehnung an Husserl – in einem sehr weiten Sinne verstanden. Husserl selbst führt zu seinem Begriffsverständnis aus: „Um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen, betone ich ausdrücklich, daß die Wörter Gegenständlichkeit, Gegenstand, Sache u. dgl. hier allzeit im weitesten Sinne, also in Harmonie mit dem von mir bevorzugten Sinn des Terminus Erkenntnis gebraucht werden. Ein Gegenstand (der Erkenntnis) kann ebensowohl ein Reales sein wie ein Ideales, ebensowohl ein Ding oder ein Vorgang wie eine Spezies oder eine mathematische Relation, ebensowohl ein Sein wie ein Seinsollen.“ (Husserl, 1900/1968, S. 228–229)

  5. 5.

    In seinen Untersuchungen des Phänomens Intentionalität verweist der Philosoph John R. Searle (1991) übrigens darauf, dass Intentionalität keinesfalls mit Bewusstsein gleichzusetzen ist: „Viele bewußte Zustände sind nicht intentional (z. B. ein plötzliches Gefühl der Hochstimmung), und viele intentionale Zustände sind nicht bewußt (z. B. habe ich viele Überzeugungen, an die ich jetzt nicht denke und an die ich vielleicht noch nie gedacht habe). Beispielsweise glaube ich, daß mein Großvater väterlicherseits sein ganzes Leben auf dem Festland der Vereinigten Staaten verbracht hat, aber bis zu diesem Augenblick habe ich diese Überzeugung noch nie bewußt formuliert oder erwogen. Bei solchen unbewußten Überzeugungen braucht es sich übrigens nicht um Fälle von (Freudscher oder andersartiger) Verdrängungen zu handeln; es sind einfach Überzeugungen, die man hat, ohne normalerweise an sie zu denken. Zur Verteidigung der Ansicht, Bewußtsein und Intentionalität seien ein und dasselbe, wird manchmal gesagt, daß alles Bewußtsein Bewußtsein von etwas sei, daß es immer etwas gebe, dessen man sich bewußt sei, wenn Bewußtsein vorliegt. Aber diese Auffassung verwischt einen entscheidenden Unterschied: Wenn ich ein bewußtes Erlebnis der Unruhe habe, dann gibt es da ja wirklich etwas, wovon mein Erlebnis eines ist, und zwar die Unruhe. Aber dieser Sinn von ‚von‘ ist ein ganz anderer als der des ‚von‘ der Intentionalität, der beispielsweise in der Feststellung vorliegt, daß ich eine bewußte Erwartung von baldigem Mißgeschick habe. Denn im Falle der Unruhe sind das Erlebnis von Unruhe und die Unruhe ein und dasselbe; aber die Erwartung von baldigem Mißgeschick ist nicht dasselbe wie baldiges Mißgeschick. Es ist charakteristisch für intentionale Zustände, so wie ich den Begriff verwende, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Zustand einerseits und andererseits dem, worauf der Zustand gerichtet ist, wovon er handelt, worum es in ihm geht.“ (S. 16–17, Hervorhebung i. O.)

  6. 6.

    Hierauf verweist insbesondere die Formulierung ‚daß die Überzeugung von dem Sein der einen von ihm als Motiv […] erlebt wird für die Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen‘.

  7. 7.

    Der Begriff Kontingenz soll nach Niklas Luhmann (1991) wie folgt verstanden werden: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ (S. 152)

  8. 8.

    Luckmann (2017) untersucht in seinem Beitrag Wirklichkeiten: individuelle Konstitution und gesellschaftliche Konstruktion übrigens die Bewusstseinsleistung des Menschen, die dazu führt, dass der ‚Leib‘ eines alter ego überhaupt als solcher verstanden wird. Er geht davon aus, dass ego zunächst eine „Sinnübertragung der eigenen Leiblichkeit als Einheit von innen und außen auf alles, das [ihm] in der Welt begegnet“ (S. 21), vollzieht. Diese Projektion – Luckmann nennt sie ‚universale Projektion‘ (vgl. S. 22) – kann jedoch anschließend durch Eigenschaften des Gegenstandes, auf den sie projiziert wird, eingeschränkt werden. Anlass zu einer solchen Einschränkung der ‚universalen Projektion‘ geben laut Luckmann: 1. gleichbleibender Ausdruck des Gegenstandes, also ‚physiognomische Starre‘ (vgl. S. 24–25), 2. fehlende Beweglichkeit des Gegenstandes, d. h., sein Unvermögen, einen Standortwechsel zu vollziehen (vgl. S. 25) und 3. fehlendes Vermögen zu gegenseitiger Kommunikation (vgl. S. 26–27).

  9. 9.

    Für diese reflexive Zuwendung zu eigenen Bewusstseinserlebnissen gilt, was Bernhard Waldenfels (2018) in seinen phänomenologischen Untersuchungen des Leibes bzw. der Leiblichkeit beschreibt: Jedem Selbstbezug wohnt immer auch ein Moment des Selbstentzugs inne (vgl. S. 44). Konkret für den obigen Sachverhalt: Richtet sich ego in seinem Bewusstsein auf sein Bewusstsein (= Selbstbezug des Bewusstseins), so entzieht sich der Akt des ‚Sich-Richtens‘ auf das eigene Bewusstsein in seinem Vollzug egos Bewusstsein (= Selbstentzug des Bewusstseins). Ego wird sein Bewusstsein erst nach dem Aktvollzug darauf richten können, dann gewissermaßen auf das ‚Sich-Gerichtet-Haben‘. Hierbei wiederum besteht für ego dann erneut die prinzipielle Unmöglichkeit, sich auf den aktuell vollzogenen Akt des ‚Sich-Richtens‘ – also dann z. B. auf das ‚Sich-Richten‘ auf das ‚Sich-Gerichtet-Haben‘ – zu richten. Waldenfels (2018) schreibt, dass der prinzipielle Selbstentzug im Selbstbezug dazu beiträgt, dass ego sich selbst immer auch fremd ist (vgl. S. 44).

  10. 10.

    Es wird in beiden Fällen, also sowohl im Fall des Verstehens eines kommunikativen als auch im Fall des Verstehens eines nichtkommunikativen Handelns, vorausgesetzt, dass alter ego für das fremdverstehende ego „unmittelbar und leibhaftig“ (Schütz, 1932/2016, S. 151) anwesend ist. Diese Voraussetzung kann aber selbstverständlich auch ‚zurückgenommen‘ werden: „[Das ego] weiß nicht nur von seiner (ihn umgebenden) Umwelt, sondern auch von seiner (entfernteren) Mitwelt. […] [Es] hat ferner Erfahrungen von seiner geschichtlichen Vorwelt und den Menschen in dieser Mit- und Vorwelt. […] [Es] findet sich von Dingen umgeben, die auf eine Erzeugung durch Andere zurückweisen, von Artefakten im weitesten Sinn, einschließlich Zeichensystemen und anderen Kulturobjekten. Diese Artefakte interpretiert […] [es] zunächst durch Einordnung in seinen Erfahrungszusammenhang. […] [Es] vermag aber jederzeit nach den Erlebnisabläufen im Bewußtsein desjenigen weiter zu fragen, der diese Artefakte erzeugte, nach dem ‚Worumwillen‘ der Erzeugung, nach den phasenweisen Abläufen der Erzeugung und nach den Sinnzusammenhängen, in denen diese für das fremde Bewußtsein standen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 151) Das Fremdverstehen eines nicht unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego vollzieht sich also anhand von Artefakten, die auf eine Erzeugung durch dieses alter ego zurückverweisen. Es konnte zuvor bereits gezeigt werden, dass ein Fremdverstehen, in welchem ego Artefakte als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen, letztlich auch auf ein Fremdverstehen hinausläuft, in welchem ego das Verhalten oder Handeln von alter ego als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen. Und so wird schließlich auch ein abwesendes alter ego im Prozess des Fremdverstehens gewissermaßen zu einem (in Phantasie) anwesenden alter ego. Die Analyse des Fremdverstehens eines nicht unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego führt also letztlich auf eine Analyse des Fremdverstehens eines unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego hinaus. Und so stellt die von Schütz für seine Analyse gesetzte Voraussetzung, dass alter ego für das fremdverstehende ego unmittelbar und leibhaftig anwesend ist, keine inhaltliche Einschränkung für seine Analyse des echten Fremdverstehens dar.

  11. 11.

    In diesem Fall fand zwischen zwei Menschen und mit etwa 100 Jahren ‚Zeitverzug‘ folgender Fremdverstehensprozess statt: Ich (ego) deute den ausführlichen Paragraphen zum Zeichenbegriff (= Artefakt) als Anzeichen dafür, dass Alfred Schütz (alter ego) der Begriff des Zeichens für die Analyse des Verstehens eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht von besonderer Wichtigkeit war (= Erleben alter egos).

  12. 12.

    Die Bezeichnungen ‚Zeichensetzung‘ und ‚Sinnsetzung‘ können synonym verwendet werden, denn alter ego setzt, wenn es ein Zeichen setzt, dieses immer auch in einen Sinnzusammenhang. Für die Deutung dessen, was alter ego als Zeichen setzt, gilt dies jedoch nicht: Ego kann, wenn es ein Zeichen deutet, auch den Sinnzusammenhang deuten, in welchem dieses Zeichen für alter ego steht; es muss dies aber nicht tun. Vielmehr stehen ego zwei ‚Deutungsdimensionen‘ offen: Es kann ein Zeichen zum einen in seiner Bedeutungsfunktion auffassen, also den objektiven Sinn eines gesetzten Zeichens deuten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176). Es kann ein Zeichen zum anderen aber auch in seiner Ausdrucksfunktion auffassen, also den subjektiven Sinn eines gesetzten Zeichens deuten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176). Nur im zweiten Fall deutet ego dann auch den Sinnzusammenhang, in welchem das Zeichen für alter ego steht, d. h., nur hier käme egos ‚Zeichendeutung‘ einer ‚Sinndeutung‘ gleich (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176).

  13. 13.

    Bezüglich der Adäquatheit der Resultate, zu denen das Deuten eines kommunikativen Handelns führt, gilt im Übrigen, was bereits für das Deuten eines nichtkommunikativen Handelns galt: Je mehr Vorwissen das fremdverstehende ego über alter ego besitzt, desto ‚adäquater‘ fallen im Allgemeinen die Resultate aus, die sein Fremdverstehen hervorbringt.

  14. 14.

    Nimmt man die Perspektive der Person ein, die das Zeichen setzt, ‚wird‘ nun eigentlich das bisherige alter ego zum ego und das bisherige ego zum alter ego. Das liegt daran, dass auch das Setzen eines Zeichens im Grunde ein Deutungsprozess ist, in welchem die Person, die das Zeichen setzt (bisher: alter ego), deutet, wie die Person, die das Zeichen empfängt (bisher: ego), dieses deuten wird. D. h., das bisherige alter ego vollzieht nun einen Prozess, der wiederum bisher ego zugeschrieben wurde und umgekehrt. Um diese Untersuchungen zur Sinnsetzung jedoch möglichst verständlich zu halten und um sie den Bezeichnungen der bisherigen Untersuchung anzupassen, möchte ich an die bisher verwendeten Bezeichnungen anknüpfen.

  15. 15.

    Es zeigt sich: Nicht nur beim Verstehen eines kommunikativen Handelns vollzieht sich Fremdverstehen, sondern auch beim kommunikativen Handeln, also beim Sinnsetzen, selbst.

  16. 16.

    Es gibt in diesem Kontext noch ein weiteres Verhältnis der Erfüllung oder Nichterfüllung, welches ich hier nur kurz benennen möchte: Auch der Akt des Sinnsetzens durch alter ego steht zum Entwurf des Sinnsetzens in einem derartigen Verhältnis (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 178). Der Entwurf des Sinnsetzens kann sich im Akt des Sinnsetzens erfüllen, er kann dies aber auch nicht tun: „[E]s bleibt für den Sinndeutenden […] ungewiß, ob die tatsächlich vollzogenen Setzungsakte den Entwurf des Sinnsetzenden, vom Deutenden adäquat verstanden zu werden, erfüllt haben oder nicht.“ (Schütz, 1932/2016, S. 178)

  17. 17.

    Die Ermittlung des Um-zu-Motivs von alter egos Sinnsetzen kann im Übrigen nicht nur das sinndeutende ego vollziehen, an welches alter egos Sinnsetzen adressiert ist. Auch beobachtende Personen aus der sozialen Umwelt des sinnsetzenden alter ego sind zu dieser Deutung befähigt (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 183).

  18. 18.

    Es sollte nicht fälschlicherweise davon ausgegangen werden, Um-zu-Motive könnten immer anhand ihrer sprachlichen Gestalt erkannt werden. Vielmehr können sie nämlich auch in Gestalt ‚unechter Weil-Motive‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 120) auftreten. Obige Um-zu-Motive könnten beispielsweise wie folgt zu einem logischen Äquivalent umformuliert werden, ohne ihre sprachliche Korrektheit einzubüßen: ‚Die Schülerin, die mit der Gruppenzuteilung durch ihre Lehrerin unzufrieden ist, rollt mit den Augen, weil sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen möchte.‘ Oder auch: ‚Der Schüler, der sich meldet und dabei mit den Fingern schnipst, könnte dies tun, weil er darauf aufmerksam machen möchte, dass er dringend etwas mitteilen möchte.‘ Unechte Weil-Motive erkennt man also daran, dass man sie in Um-zu-Formulierungen überführen kann, ohne den Inhalt der Aussage zu verändern (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 120). Bei echten Weil-Motiven ist dies nicht der Fall.

  19. 19.

    In einem gewissen Sinne kann die Frage nach dem Um-zu-Motiv als ‚vorwärtsgerichtet‘ gelten, da sie das Ziel des Handelns in den Blick nimmt; die Frage nach dem Weil-Motiv hingegen kann eher als ‚rückwärtsgerichtet‘ gelten, da sie die Gründe des Handelns in den Blick nimmt.

  20. 20.

    Schütz’ Herangehensweise an die Untersuchung des Fremdverstehens ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen eine ‚kontrafaktische‘: Obgleich er es als unmöglich anerkennt, fremde Bewusstseinserlebnisse zu erfassen, untersucht er dennoch, wie dies geschehen kann (vgl. Schnettler, 2018, S. 104). Vielleicht könnte sogar formuliert werden: Gerade weil Fremdverstehen trotz wesensmäßiger Unzugänglichkeit des fremden Bewusstseins ein so erfolgreiches alltagsweltliches Phänomen darstellt, untersucht Schütz es. Er strebt in seinen Untersuchungen gewissermaßen nach einer Erklärung, wie das eigentlich Unmögliche (Fremdverstehen) tagtäglich möglich werden kann.

  21. 21.

    An dieser Stelle möchte ich auch auf das Buchkapitel Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen verweisen, in welchem der Philosoph Charles Taylor eine gelungene Interpretation, also z. B. auch das Resultat eines ‚gelungenen‘ Fremdverstehensprozesses, wie folgt definiert: „Eine gelungene Interpretation ist eine solche, welche die ursprünglich in verworrener, fragmentarischer, unklarer Form vorhandene Bedeutung klärt“ (Taylor, 1978, S. 171). Zur Möglichkeit der Überprüfung der Adäquatheit einer Interpretation schreibt Taylor: „Aber woher weiß man, daß diese Interpretation richtig ist? Vermutlich, weil sie den ursprünglichen Text verständlich macht: was an ihm seltsam, rätselhaft, verwirrend, widersprüchlich ist, ist dies nun nicht mehr, ist erklärt“ (Taylor, 1978, S. 172). Weiter untersucht Taylor – und hier zeigt sich dann auch der Bezug zur obigen Textstelle, welcher diese Fußnote als Erläuterung dienen soll –, welche Möglichkeit für Interpretierende besteht, wenn jemand die Adäquatheit ihrer Interpretation nicht akzeptiert: „Wir versuchen ihm zu zeigen, wie sie [die Interpretation, CSG] den ursprünglichen Un- oder Teilsinn verständlich macht. Aber um uns zu folgen, muß er die ursprüngliche Sprache so lesen, wie wir es tun, er muß diese Ausdrücke als irgendwie verwirrend erkennen und daher nach einer Lösung für unser Problem suchen. Tut er dies nicht, was können wir dann tun? Die Antwort lautet offenbar: in gleicher Weise fortfahren. Wir müssen ihm anhand der Lesart anderer Ausdrücke zeigen, warum dieser eine Ausdruck in der von uns vorgeschlagenen Weise gelesen werden muß. Aber damit dies gelingt, ist es erforderlich, daß er uns bei diesen anderen Lesarten folgt, und so weiter – offenbar ad infinitum.“ (Taylor, 1978, S. 172)

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Günther, CS. (2023). Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz. In: Das Eigene und das Fremde. Springer Spektrum, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_2

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