Die Ansätze eines gouvernementalen Dispositivs und der Soziologie des individuellen Widerstands werden nun durch eine methologische Fundierung für die Analyse von akademischer Subjektivierung fruchtbar gemacht, denn bisher wurden nur erkenntnis-theoretische Grundlagen sowie begrifflich-theoretische Bestandteile der Forschungsperspektiven vorgestellt. Die methodologischen Vorgaben sowie die methodisch-praktischen Instrumente der skizzierten Perspektiven blieben bisher weitestgehend offen und werden im Folgenden beleuchtet (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 15 f.).

4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse

Zur Erschließung der Wissensordnung, Rationalität, diskursiven Praxis, Herrschaftstechnologien, Vergegenständlichungen und Subjektivierungsformen des NPM-Diskurses in der deutschen Hochschullandschaft bietet sich eine WDA in zweifacher Hinsicht an: Erstens wird mit einer WDA der zentralen Kritik am Konzept der Gouvernementalität – Wahrheit und Aussagesinn auf Macht zu reduzieren – in der empirischen Untersuchung der Arbeit berücksichtigt (vgl. Waldenfels 1991: 281). Und zweitens kann mit einer WDA die diskursive Konstruktion der sozialen Wirklichkeit durch NPM an deutschen Hochschulen rekonstruiert werden (vgl. Berger & Luckmann 2012: 49, 139). Grundsätzlich wird bei der sozialen Konstruktion einer objektiven Wirklichkeit davon ausgegangen, dass institutionalisiertes Wissen für Handelnde eine Welt der Routinegewissheit durch verlässliche, wiederkehrende Handlungsweisen und Subjektivierungsformen bereitstellt (vgl. Berger & Luckmann 2012: 61, 78 f.; Foucault 2015: 78). Dadurch können Diskurse typisierte Handlungsweisen und Regierungsweisen erzeugen, die „dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteh[en]“ (Berger & Luckmann 2012: 62), wohingegen eine subjektive Wirklichkeit durch Aneignungs-, (Um-)Deutungs- und Transformationsprozesse der objektiven Wirklichkeit entsteht und sich in (nicht-)typisierten Handlungsweisen und Subjektivierungsweisen einschreibt. Auch wenn sich beide Formen der Wirklichkeit gegenseitig beeinflussen, ist „die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit nicht vollkommen […]. Die beiden Wirklichkeiten entsprechen einander, ohne sich zu decken“ (ebd.: 144). Insofern nähert sich die Soziologie des individuellen Widerstands der sozialen Wirklichkeit in der deutschen Hochschullandschaft durch Reibungen und Brüche zwischen einer objektiven und subjektiven Wirklichkeit.

Darüber hinaus verbindet die WDA wissenssoziologische, gouvernementalitätstheoretische Grundannahmen mit der Forschungsperspektive einer Soziologie des individuellen Widerstands. Denn einerseits werden Diskursstrukturen als Wissensordnung und Regierungsweise rekonstruiert. Andererseits erschließt die WDA institutionalisierte Wissensordnungen handlungstheoretisch als „interaktiven Aufbau, […] gesellschaftliche Objektivierung und subjektive Aneignung von gesellschaftlichen Sinnordnungen“ (Keller 2008: 204). Das Forschungsprogramm der WDA bewegt sich damit zwischen wissenssoziologischen und poststrukturalistischen Paradigmen. Die unterschiedlichen Erklärungsmodelle werden wechselseitig aufeinander bezogen, indem sich die beiden Perspektiven jeweils von einer anderen Ebene aus Wissensordnungen und Regierungsweisen nähern. Die Vorteile des Forschungsstils der WDA liegen auf der Hand:

„Die Foucaultsche Diskurstheorie sensibilisiert für die Bedeutung von Macht und institutionellen (Vor-)Strukturierungen von Sprecherpositionen und legitimen Inhalten, d. h. für Diskurse als strukturierte und strukturierende Strukturen. Im Symbolischen Interaktionismus und der wissenssoziologischen Tradition von Berger/Luckmann rückt die interaktive Grundlage, dialektische Gestalt und Prozesshaftigkeit der ,gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeitʻ sowie deren Verankerung auch auf der Ebene gesellschaftlich-öffentlicher Definitionskonflikte in den Mittelpunkt“ (ebd.: 204 f.).

Damit bildet die WDA eine methodologische Grundlage für die Soziologie des individuellen Widerstands, die zur Erforschung der sozialen Wirklichkeit nicht etablierte Kräfteverhältnisse und subversive Verhaltensweisen berücksichtigt.

4.1.1 Konzeptionelle Werkzeuge und Untersuchungsgegenstand

Zur WDA von NPM in der deutschen Hochschullandschaft werden Kellers (2008: 208) Elemente zur Analyse von öffentlichen Diskursen herangezogen und erweitert. Ein öffentlicher Diskurs ist eine universell zugängliche Wissensordnung „mit allgemeiner Publikumsorientierung in der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit“ (Keller 2011: 235). Beim Managementdiskurs handelt es sich zwar vorrangig um keine massenmedial vermittelte Wirklichkeit, sondern um einen Interdiskurs, der eine gesellschaftlich anerkannte neoliberale Wissens- und Identitätspolitik auf die deutsche Hochschullandschaft und ihre Angehörigen überträgt (vgl. Link 2012: 58 f.; WR 2005: 73 f.). Jedoch erzeugt der NPM-Diskurs eine objektive Wirklichkeit aus Kennzahlen, die massenmedial in der Öffentlichkeit (re-)produziert wird. Weiterhin wird durch eine institutionalistische Diskursanalyse mit bibliometrischen Methoden ersichtlich, wie herrschende Subjekte des Managementdiskurses einen reintegrierenden Wissensbereich nutzen und sich NPM in der Gesellschaft etabliert (vgl. Vogel 2009: 372). Vor diesem Hintergrund orientiert sich die Öffentlichkeit an Ideen und Symbolen des Managementdiskurses, wodurch NPM eine Welt der Routinegewissheit erzeugt (vgl. Berger & Luckmann 2012: 61; FU Berlin 2019b; WR 2010b: 25 f.). Exemplarisch dafür kann die Beurteilung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts über eingeworbene Drittmittel genannt werden – so avancieren beispielsweise Drittmittel an der FU Berlin (2019b) zu einem Symbol des wissenschaftlichen Erfolgs. Anders als bei Kellers (2008: 213) Untersuchung über die öffentliche Auseinandersetzung um die richtige Müllpolitik werden in der vorliegenden Arbeit konzeptionelle Werkzeuge der WDA herangezogen, um akademische Subjektivierung in einem Dispositiv neoliberaler Gouvernementalität zu erforschen. Es soll also überprüft werden, ob unterschiedliche akademische Subjektivierungsformen und -weisen durch die Reibungen und Brüche zwischen einer objektiven Wirklichkeit des Managementdiskurses und einer subjektiven Wirklichkeit von Wissenschaftler*innen in der deutschen Hochschullandschaft entstehen.

Zur Analyse der formalen und inhaltlichen Strukturen des Managementdiskurses werden typisierte Deutungsmuster, die Phänomenstruktur sowie Narrative bzw. der rote Faden (story line, plot) untersucht – diese Elemente bilden das diskursspezifische Interpretationsrepertoire (vgl. Keller 2013: 32). Die Darstellung des textübergreifenden Interpretationsrepertoires ist eine wissenschaftliche Konstruktionsleistung, da einzelne Texte bzw. Diskursfragmente mehrere Diskurse repräsentieren können (vgl. Keller 2008: 211). Zunächst müssen die einzelnen Elemente des diskursspezifischen Interpretationsrepertoires definiert werden.

Mit der Phänomenstruktur wird die Art und Weise der diskursiven Sachverhaltskonstruktion bzw. die Problematisierung sichtbar gemacht. Dazu werden die „Art des Problems oder des Themas einer Aussageeinheit, die Benennung von Merkmalen, kausalen Zusammenhängen (Ursache-Wirkung) und ihre Verknüpfung mit Zuständigkeiten“ (ebd.: 248 f.) bestimmt. Aufgrund der analytischen Parallelen zwischen dem deutsch-französischen Müll-Diskurs und dem NPM-Diskurs in der deutschen Hochschullandschaft können die von Keller (2011: 250) entwickelten Dimensionen zur Erfassung der Phänomenstruktur in leicht veränderter Form auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit übertragen werden. Exemplarisch wird die Analyse der Phänomenstruktur des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft von 1993 bis 2019 mit der folgenden Tabelle dargestellt (vgl. Tabelle 4.1: Dimensionen und Fragen zur Analyse der Phänomenstruktur des NPM-Diskurses in der deutschen Hochschullandschaft von 1993 bis 2019).

Tabelle 4.1 Dimensionen und Fragen zur Analyse der Phänomenstruktur des NPM-Diskurses in der deutschen Hochschullandschaft von 1993 bis 2019 (vgl. Keller 2011: 250)

Nach der Erschließung der Phänomenstruktur werden zentrale Narrative rekonstruiert, die verschiedene Elemente des Managementdiskurses durch einen roten Faden miteinander verbinden und eine sinnstiftende Wirklichkeit erzeugen (ebd.: 251). Denn Narrative sind ein diskursstrukturierendes Regelsystem, wodurch Subjekte „ihren Weltdeutungen und ihren sozialen Praktiken Kohärenz, Bedeutung und qua Wiederholung eine gewisse Regelmäßigkeit“ (Viehöver 2011: 194) verleihen. Im Zentrum der narrativen Struktur des NPM-Diskurses befinden sich themenspezifische Narrationen, die sowohl an Erzählungen eines traditionellen wissenschaftlichen Spezialdiskurses als auch an Narrationen eines neoliberalen Interdiskurses anknüpfen. Der Geltungsanspruch von themengebundenen Narrationen des Managementdiskurses hängt von der Anschlussfähigkeit an universell anerkannte Erzählungen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ab (ebd.: 200 f.). Es wird also davon ausgegangen, dass Narrative erlauben, „die Kriterien der Kompetenz der Gesellschaft, in der sie erzählt werden, zu definieren, sowie andererseits, mit diesen die Leistung zu bewerten, die in ihr vollbracht werden oder werden können“ (Lyotard 1994: 68). Damit äußern sich in Narrationen eines Diskurses Legitimationsbestrebungen (ebd.: 90). Gleichwohl reflektieren Narrative die Sinn- und Bedeutungsstrukturen eines Diskurses (vgl. Viehöver 2011: 206). Insofern kann durch die Analyse der narrativen Struktur die Plausibilisierungsstrategie des NPM-Diskurses erschlossen werden. Hier wird die Phänomenstruktur mit thematischen Narrativen verbunden. Dazu müssen folgende Fragen geklärt werden: Welche Symbole, Anekdoten, rhetorischen Mittel werden mit Problematisierungen, Lösungsvorschlägen, Selbst- und Fremdzuschreibungen, einer politischen Rationalität und Werten des Managementdiskurses verbunden? Und, werden durch die Narrative des NPM-Diskurses deutschen Hochschulen und ihren Angehörigen sinnstiftende Erzählungen für eine diskursive Lebenstotalität bereitgestellt (vgl. Viehöver 2011: 210)?

Darüber hinaus wird mit der Diskursanalyse die doppelte Perspektive auf NPM als reintegrierende Wissensordnung und als Teil einer Regierungsweise eingelöst, weil Definitionsfragen gleichzeitig als Machtfragen betrachtet werden. Denn wer festlegt, was wissenschaftliche Leistung ist und wie diese Leistung gemessen wird, entscheidet (indirekt) über die Ergebnisse, versucht akademische Verhaltensweisen zu kanalisieren und erzeugt Subjektivierungsformen (vgl. Bröckling 2007: 241; WR 2010b: 25 f.). Schlussendlich (re-)produzieren typisierte Deutungsmuster ein Diskursuniversum. Das Diskursuniversum wird durch wiederkehrende Deutungen von Diskursteilnehmer*innen erzeugt und verdichtet sich in einem sozialen Bedeutungssystem, das sich in typisierten Deutungsmustern eines Diskurses manifestiert. Diesbezüglich bildet das Diskursuniversum einen verlässlichen, kollektiven Deutungshorizont für Subjekte. Außerdem erzeugen die typisierten Deutungsmuster eines Diskurses kollektive Zeichen und Symbole sowie eine objektive Wirklichkeit, die sich je nach Reichweite einer Wissensordnung über verschiedene Felder bis über eine gesamte Gesellschaft erstreckt (vgl. Keller 2011: 196 ff.). Zudem stabilisieren und strukturieren typisierte Deutungsmuster die Phänomenstruktur und Narrative eines Diskurses. Mithilfe von typisierten Deutungsmustern kann der Einzelne das Wahre vom Unwahren trennen und leistet damit einen Beitrag zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. Foucault 2005b: 142 f.). Die typisierten Deutungsmuster zeichnen sich für Diskurse durch ihre Kontingenz und Strukturierungsleistung aus. Weiterhin entfalten Deutungsmuster eine performative Wirkung, weil durch die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit Subjektivierungsformen entstehen (vgl. Keller 2011: 246 f.). Schlussendlich tragen typisierte Deutungsmuster und Narrative zur Plausibilisierung der Phänomenstruktur eines Diskurses bei.

Des Weiteren ist der Kontext des NPM-Diskurses für eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes von Bedeutung (vgl. Keller 2008: 208). Auch wenn bereits vor 1990 in der BRD öffentliche Verwaltungsreformen unter NPM diskutiert wurden, kann erst in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts eine schleichende Institutionalisierung von managerialen Praktiken in öffentlichen Bereichen beobachtet werden (vgl. KGSt 1993; Vogel 2009: 372, 376; WR 2011a: 5, 16). Selbst zur Jahrtausendwende wird in der deutschen Hochschullandschaft noch eine Dominanz von traditionellen akademischen Steuerungsmodellen gegenüber managerialen Praktiken konstatiert und der Einfluss des Managementdiskurses weitestgehend auf das Sprechen über Reformen reduziert (vgl. Schimank 2002: 30). Der Managementdiskurs an deutschen Hochschulen kann also erst empirisch untersucht werden, wenn sich manageriale Verwaltungspraktiken flächendeckend institutionalisieren und diskursive Praktiken von NPM durch typisierte Handlungsweisen in regelmäßigen Abständen vollzogen werden (vgl. Vogel 2009: 371). Aus diesem Grund wird in der WDA der Zeitraum nach 2000 betont, denn vorher wurden deutsche Hochschulen und ihre Angehörigen weitestgehend durch traditionelle akademische Modelle gesteuert (vgl. Huber 2012: 244 ff.). Trotz der schleichenden Verbreitung des Managementdiskurses an deutschen Hochschulen werden einige grundlegende Texte aus der Zeitspanne von 1993 bis 2000 in der Diskursanalyse berücksichtigt, weil in diesem Zeitraum die Basis für eine neoliberale Reorganisation der deutschen Hochschullandschaft geschaffen wurde (vgl. Schimank 2002: 30).

Neben der zeitlichen Eingrenzung ist der räumliche Kontext des NPM-Diskurses für die WDA relevant (vgl. Keller 2008: 208). Zwar taucht der Managementdiskurs im gesamten wissenschaftlichen Feld auf, wird aber aufgrund des spezifischen historischen Entstehungskontextes und der unterschiedlichen Anforderungen an außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Hochschulen auf deutsche Universitäten eingegrenzt (vgl. WR 1993). Hier gilt es zu klären, inwieweit herrschende Subjekte des Managementdiskurses mit anderen Subjekten und Diskursen im (deutschen) universitären Feld um einen Geltungsanspruch und eine Deutungshoheit konkurrieren, gemeinsame Themen bearbeiteten, sich abgrenzen und Fragmente anderer Wissensordnungen als Vehikel für eigene Ideen nutzen (vgl. Keller 2008: 208).

4.1.2 Korpus und Datenauswertung

Grundlegend müssen verschiedene Datenformate und ihre Reichweite unterschieden werden, um in der Diskursanalyse keinen Apfel-Birnen-Vergleich zu bemühen (vgl. Keller 2008: 217 f.). Hier können sowohl textförmigeFootnote 1 und audiovisuelleFootnote 2 Daten als auch VergegenständlichungenFootnote 3 und PraktikenFootnote 4 voneinander abgegrenzt werden (vgl. Keller 2013: 51). Weiterhin muss zwischen verschiedenen Akteur*innen differenziert werden, weil beispielsweise die Empfehlung des WR eine andere Reichweite besitzt als die Pressemitteilung einer Hochschulleitung. Die unterschiedlichen Konstellationen von Akteur*innen und die Datenformate bilden in ihrer Gesamtheit die Infrastruktur eines Diskurses, d. h. die Art und Weise, wie eine Wissenspolitik geltendes Wissen über die Wirklichkeit (re-)produziert und damit Macht und Subjektivierungsformen erzeugt.

Als wichtigster diskursiver Zugang zum NPM-Diskurs in der deutschen Hochschullandschaft werden textförmige Daten angesehen, die im Zeitraum von 1993 bis 2019 an unterschiedlichen Orten von verschiedenen Akteur*innen eines unternehmerisch-managerialen Regimes generiert wurden. Das unternehmerisch-manageriale Regime ist ein Netzwerk zwischen (Wissenschafts-)Politik, Hochschulleitungen/ManagementFootnote 5, Think Tanks, Stiftungen, Beratungsunternehmen, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Die unterschiedlichen Akteur*innen des Netzwerks kritisieren „verkrustete Strukturen“ (Hornbostel 2011: 8) und „nicht länger sachgerechte Leitideen“ (WR 1993: 21) an Hochschulen, um eine Reorganisation der deutschen Hochschullandschaft durch eine von neoliberalen Ideen geprägte Verwaltungspraxis voranzutreiben (vgl. Müller-Böling 2000: 31 f.; Stifterverband 2019). In der folgenden Tabelle werden die Netzwerkgruppen und Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes aufgelistet (vgl. Tabelle 4.2: Netzwerkgruppen und Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes).

Tabelle 4.2 Netzwerkgruppen und Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes

Im Kontext der Tabelle 4.1 sowie der Forschungsfragen erfolgt die Erstellung des Korpus nach verschiedenen Auswahlkriterien (vgl. Keller 2008: 213 ff.): Erstens werden nur Dokumente berücksichtigt, die im Zeitraum von 1993 bis 2019 innerhalb des unternehmerisch-managerialen Regimes entstanden sind. Das unternehmerisch-manageriale Regime entsteht durch eine gemeinsame Wissens- und Identitätspolitik von verschiedenen Akteur*innengruppen und objektiviert sich in einer arbeitsteilig organisierten Transformation der deutschen Hochschullandschaft. Gleichzeitig können mithilfe unterschiedlich stark ausgeprägter Sichtbarkeiten von einzelnen Akteur*innen innerhalb des unternehmerisch-managerialen Regimes die Reichweite und Sprecher*innenposition im Managementdiskurs ausgelotet werden. Weiterhin findet eine räumliche Eingrenzung der Dokumente auf deutsche Hochschulen statt. Diese Auswahlentscheidung ergibt sich aus dem Umstand, dass sich der deutsche Managementdiskurs im wissenschaftlichen Feld vorrangig mit Problemen von Hochschulen in nationalen Krisen auseinandersetzt. Außerdem wurde bereits an anderer Stelle bemerkt, dass NPM zwar eine internationale Transformationsbewegung ist, aber sich der Geltungsanspruch von nationalen Netzwerkgruppen – bis auf wenige Ausnahmen – weitestgehend auf Deutschland beschränkt (vgl. Vogel 2009: 376). Folglich wird das Korpus durch Akteur*innengruppen eingegrenzt, um die spezifischen politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen der deutschen Hochschullandschaft zu berücksichtigen (vgl. Clark 1983). Die Reorganisation von deutschen Hochschulen wird vor allem von der (Wissenschafts-)Politik vorangetrieben (vgl. Huber 2012: 247 f.). Dieser organisationssoziologische Befund verweist auf eine neoliberale Wissenspolitik, da traditionelle nicht-ökonomische Teilbereiche durch eine aktivierende und aktive staatliche Politik ökonomisiert werden sollen, um in der Sozialen Marktwirtschaft keinen Widerstand zu erzeugen (vgl. Röpke 1997: 51 f.). In diesem Zusammenhang werden die von neoliberalen Ideen geprägten Hochschulreformen seit den 1990er-Jahren in der BRD vor allem von (wissenschafts-)politischen Akteur*innen wie dem Europäischen Forschungsrat, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), den Länderregierungen und dem Wissenschaftsrat (WR) zusammen mit anderen Akteur*innengruppen in Wissenschaft und Wirtschaft vorangetrieben. Mit einer ZitationszählungFootnote 6 und Analyse von AnrufungenFootnote 7 in Stellungnahmen, Empfehlungen und Thesenpapieren des WissenschaftsratesFootnote 8 zu den Themen Hochschulreformen, Steuerung, Management und Governance an deutschen Hochschulen im Zeitraum von 1993 bis 2019 konnten zentrale Akteur*innen wie die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Hochschulleitungen/Management und verschiedene Forschungseinrichtungen sowie Beratungsunternehmen, Think Tanks und Stiftungen identifiziert werden.

Exemplarisch wird die Ermittlung von Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes am Text „Thesen zur Forschung in den Hochschulen“ des WR (1996) erklärt. Die Anzahl der Zitationen anderer Akteur*innen beträgt 23. Das BMBF wurde siebenmal, das Statistische Bundesamt viermal, die DFG dreimal, die HRK zweimal, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zweimal, Akteur*innen aus Forschungsinstituten und Beratungsunternehmen zweimal, die Kultusministerkonferenz einmal sowie das National Center for Education Statistics und das Science Museum London jeweils einmal zitiert (ebd.). Was aus der Zitationszählung nicht hervorgeht, ist eine starke Adressierung der Hochschulleitung und des Managements. Dazu konstatiert der WR (1996: 4):

„In seinen 10 Thesen zur Hochschulpolitik hat der Wissenschaftsrat bereits festgelegt, daß die Hochschule in ihrer traditionellen Verfaßtheit die ,Aufgaben der Leistungsevaluation und der leistungsgesteuerten Ressourcenverteilung und der eigenverantwortlichen Anpassung an die Anforderungen der gesellschaftlichen Umwelt nicht wahrnehmen‘ kann. In der Vergangenheit hat der Wissenschaftsrat bereits empfohlen, die Hochschulen durch ein entscheidungsfähiges Hochschulmanagement handlungsfähiger zu machen. Dazu schlug er vor, die Position der Dekane zu stärken und die Befugnisse der Hochschulleitung auszuweiten.“

Im nächsten Schritt werden die Zitationen und Anrufungen in Stellungnahmen, Empfehlungen, Thesenpapieren, Berichten, Strategiepapieren, Leitbildern und -fäden, Entwicklungsplänen und Studien von anderen Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes untersucht, wodurch Adressierungen sichtbar werden. Mithilfe dieser Dokumente kann der Managementdiskurs in der deutschen Hochschullandschaft wissenssoziologisch analysiert werden, denn die textförmigen Daten des unternehmerisch-managerialen Regimes transportieren eine Wissens- und Identitätspolitik, die helfen soll, „den Arbeitsprozess in der Hochschule zielführend und effektiv zu gestalten“ (HRK 2006a: 8). Sichtbar werden die diskursiven Verbindungen zwischen Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes in der deutschen Hochschullandschaft mit der folgenden Abbildung (vgl. Abbildung 4.1: Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes in der deutschen Hochschullandschaft).

Abbildung 4.1
figure 1

Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes in der deutschen Hochschullandschaft

Der Untersuchungsrahmen in der Abbildung 4.1 wurde auf Grundlage der Auswahlkriterien und der soziologischen Erkenntnisse über NPM im (deutschen) universitären Feld gewählt (vgl. Clark 1983; Huber 2012: 247 f.). Im Zentrum der wissenssoziologischen Untersuchung steht u. a. der WR als relevanter wissenschaftspolitischer Akteur und Verbindung zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Gleichzeitig rücken direkte Adressat*innen des WR wie die HRK sowie die Hochschulleitung und das Management in den Fokus der WDA. Weiterhin werden auch textförmige Daten von Akteur*innengruppen berücksichtigt, die sich räumlich betrachtet in der Peripherie des unternehmerisch-managerialen Regimes befinden, aber durch ihr politisches und ökonomisches Kapital den Transformationsprozess an deutschen Hochschulen maßgeblich mitgestalten. Relevante Akteur*innen sind das BMBF, die DFG und der Europäische Forschungsrat, weil diese Organisationen zu den größten Drittmittelgeber*innen in der deutschen Hochschullandschaft zählen (vgl. Dohmen & Wrobel 2018: 119). Exemplarisch wird der starke Einfluss von öffentlichen Drittmittelgeber*innen auf die Hochschulfinanzierung und Forschungsthemen am Bericht des Präsidiums der FU Berlin (2014b: 85 f.) deutlich, denn hier wird festgestellt:

„Ein neuer Schwerpunkt wird in den sogenannten Digital Humanities entwickelt. Das Thema wird für neue Forschungsvorhaben immer bedeutender, da die wichtigsten Drittmittelgeber (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Europäische Union) die Entwicklung und Nutzung digitaler Infrastrukturen zunehmend in den Vordergrund stellen. Die Hochschulleitung hat in Aussicht gestellt, die Digitalisierung in der Forschung nachhaltig zu unterstützen, da auf diesem Sektor ein stark wachsender Bedarf erkennbar ist.“

Vor dem Hintergrund einer schwindenden Grundfinanzierung und steigender Drittmittelfinanzierung erhalten die Anrufungen von (wissenschafts-)politischen Akteur*innen für Hochschulen und ihre Angehörigen einen irreduziblen Geltungsanspruch in der sozialen Wirklichkeit. Diese Annahme wird durch den Befund gestützt, dass (wissenschafts-)politische Akteur*innen sowohl einen Großteil der (Dritt-)Mittel zur Hochschulfinanzierung bereitstellen als auch für die Allokation verantwortlich sind. Die Exzellenzinitiative/-strategie gilt als beispielhaft für die politische Inszenierung eines Wettbewerbs um knappe Ressourcen, Arbeitsplätze und Statusaufstieg im deutschen Hochschulsystem, denn die Mittel werden von Bund und Ländern bereitgestellt und durch den WR und die DFG verteilt (vgl. Dohmen & Wrobel 2018: 31). Aber auch der Europäische Forschungsrat – als transnationaler Akteur – erlangt durch seine Rolle als Finanzier in der deutschen Hochschullandschaft politischen Einfluss und ist an der Konstruktion einer objektiven Wirklichkeit unter dem Primat von NPM beteiligt (ebd.: 113). In Rekurs auf die Auswahlkriterien, die soziologischen Erkenntnisse, die Zitations- und Anrufungsanalyse sowie in Hinblick auf die Interviews mit Wissenschaftler*innen an der FU Berlin kann ein Korpus für die wissenssoziologische Untersuchung des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft erstellt werden. In der Diskursanalyse befinden sich textförmige Dokumente der Berlin University Alliance (n = 1), des BMBF (n = 1), der DFG (n = 3), des ERC (n = 1), der FU Berlin (n = 20), der HRK (n = 66), der Medien (n = 3), des Landes Berlin (n = 3), der SPD (n = 1) und des WR (n = 23). Damit umfasst das Korpus insgesamt 122 Dokumente, die von Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes in der deutschen Hochschullandschaft von 1993 bis 2019 produziert wurden.

Zur Datenauswertung und Selektion von Fragmenten des NPM-Diskurses wird ein zweistufiges qualitatives Kodierverfahren angewendet. Im ersten Schritt findet eine thematische Kodierung der Dokumente statt, um wesentliche Problematisierungen, Inhalte, Zielsetzungen und Themen des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft zu erfassen (vgl. Strübing 2019: 535 f.). Gleichzeitig werden durch die thematische Kodierung die Oberflächenstruktur und relevante Fragmente des NPM-Diskurses erschlossen. Diese Diskursfragmente werden im zweiten Schritt der Datenauswertung zur Feinanalyse genutzt und durch eine Kodierung nach der Phänomenstruktur, Narrativen sowie typisierten Deutungsmustern zu einem diskursspezifischen Interpretationsrepertoire verdichtet (vgl. Keller 2013: 32). Grundsätzlich folgt das hier skizzierte Kodierverfahren einzelnen PrinzipienFootnote 9 aus Grounded Theory und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik (vgl. Glaser & Strauss 1967; Soeffner 1989). Insbesondere im ersten Schritt der Datenauswertung spiegelt sich das offene Kodieren einer Grounded Theory wider, denn hier werden die Dokumente nach inhaltlichen und thematischen SinneinheitenFootnote 10 kodiert, um aus den Texten über den Transformationsprozess an deutschen Hochschulen Problematisierungen, Inhalte, Zielsetzungen und Themen des Managementdiskurses zu erarbeiten und das Korpus durch wiederkehrende Sinneinheiten zu verdichten (vgl. Strübing 2019: 535 f.). Präsentiert werden die Ergebnisse des ersten Auswertungsschritts in Form eines historischen Abrisses. Anschließend werden erste Hypothesen zur Tiefenstruktur des NPM-Diskurses formuliert, die in der Feinanalyse aufgegriffen und durch eine gezielte Kodierung von relevanten Sequenzen zur Rekonstruktion des diskursspezifischen Interpretationsrepertoires herangezogen werden. Die vorläufigen Annahmen werden dazu rekursiv zum Material korrigiert, verworfen, verfeinert und schlussendlich zu Dimensionen der Phänomenstruktur, Narrativen und typisierten Deutungsmustern weiterentwickelt (vgl. Keller 2011: 250; Soeffner 1989: 67). An dieser Stelle der Datenauswertung verbinden sich Ansätze einer Grounded Theory mit denen einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, weil aus einzelnen Sequenzen verschiedene Hypothesen generiert werden, sodass ein Satz oder Textabschnitt mit verschiedenen Lesarten interpretiert werden kann (vgl. Soeffner 1989: 67). Die Interpretation von Sinneinheiten spiegelt sich auch in den ersten beiden Kapiteln der Arbeit wider, wo Neoliberalismus als Wissens- und Identitätspolitik sowie als Regierungsweise interpretiert wird. Vor diesem Hintergrund wird im zweiten Schritt der Datenauswertung geklärt, ob der NPM-Diskurs in der deutschen Hochschullandschaft eine neoliberale Regierungsweise und Subjektivierungsformen (re-)produziert. Mit dieser sequenzanalytischen Vorgehensweise wird zwar Vorwissen nicht vollkommen ausgeschlossen, aber einer kritischen Reflexion unterzogen, indem neoliberale Deutungsangebote anderen Lesarten des Managementdiskurses gegenübergestellt werden und damit NPM auch abseits einer neoliberalen Wissensordnung und Regierungsweise interpretiert werden kann (vgl. Kurt & Herbrik 2019: 555 f.).

Im Folgenden wird das Kodierverfahren beispielhaft an einem Textabschnitt aus der Erklärung „Zur aktuellen hochschulpolitischen Diskussion“ der HRK (2004a) erläutert:

„Wichtige Voraussetzung für den wissenschaftsadäquaten Wettbewerb ist ein deutlicher Rückzug des Staates aus der Detailsteuerung zu Gunsten der Entscheidungsspielräume von Leitungsorganen der Hochschulen. Dringlich zu behebende Wettbewerbshindernisse sind u. a. die Vorgaben des Dienst- und Tarifrechts, fehlende Budgethoheit, Bauherreneigenschaft und Dienstherreneigenschaft für das gesamte Personal, das Kapazitätsrecht und das Fehlen eines Auswahlrechts der Hochschulen für ihre Studierenden.“

Zentrale Themen bzw. Kodes in diesem Textabschnitt sind Wettbewerb, Autonomie, Steuerung, Verhältnis Staat/Hochschulen, Recht, Finanzierung und Personal. Insbesondere im ersten Satz des Textabschnitts wird (Hochschul-)Autonomie mit „Entscheidungsspielräumen von Leitungsorganen der Hochschulen“ (ebd.) verknüpft. Hier findet eine Problematisierung von staatlicher Detailsteuerung wie im Dienst- und Tarifrecht oder über Finanzen statt. Aus der Konstruktion eines problematischen Verhältnisses zwischen Staat und Hochschulleitung resultiert die Forderung nach dem „Rückzug des Staates“, um „Voraussetzungen für den wissenschaftsadäquaten Wettbewerb“ zu schaffen und „Wettbewerbshindernisse“ (ebd.) zu beseitigen. Offen bleibt, was unter einem „wissenschaftsadäquaten Wettbewerb“ verstanden wird und zwischen welchen Akteur*innen bzw. Organisationen „Wettbewerbshindernisse“ (ebd.) bestehen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Um wen oder was konkurrieren Hochschulen und ihre Angehörigen? Vor dem Hintergrund der Problematisierungen, Zielsetzungen und offenen Fragen können folgende Hypothesen formuliert werden, die im späteren Verlauf der Analyse dazu dienen, weitere Inhalte zu erschließen und erste Hinweise auf die Tiefenstruktur des NPM-Diskurses liefern:

H1::

Die Autonomie von Leitungsorganen der Hochschulen gegenüber dem Staat beseitigt Wettbewerbsnachteile zwischen Hochschulen und Wissenschaftler*innen.

H2::

Die Autonomie der Hochschulleitung schafft die Voraussetzungen für einen Wettbewerb zwischen Hochschulen und anderen Akteur*innen in der Wissenschaft.

H3::

Ein „wissenschaftsadäquater Wettbewerb“ (ebd.) ist ein Wettbewerb um Wissen, der zur Steigerung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts führt.

H4::

In einem „wissenschaftsadäquaten Wettbewerb“ (ebd.) konkurrieren Wissenschaftler*innen um Ressourcen, Arbeitsplätze und Statusaufstieg.

H5::

Die Chancengleichheit im Wettbewerb führt zu einer leistungsbasierten Mittelverteilung.

Um die Hypothesen mit unterschiedlichen Lesarten des Textabschnittes zu überprüfen, werden diese im nächsten Schritt mit anderen Fragmenten kontrastiert. Bei wiederkehrenden Deutungen in weiteren Dokumenten können einzelne Hypothesen verifiziert und typisierte Deutungsmuster gebildet werden. Weichen hingegen die Hypothesen von den Lesarten in anderen Dokumenten zu gleichen Themen ab, werden die Annahmen modifiziert oder verworfen (vgl. Kurt & Herbrik 2019: 557). Zur Dokumentation des exemplarisch dargestellten ersten Analyseschritts werden Memos zu jeder einzelnen Textsequenz in MAXQDA angelegt. Die analytischen Kommentare werden zur Verknüpfung einzelner Kodes und verschiedener Textstellen genutzt sowie, um in die Tiefenstruktur des NPM-Diskurses vorzudringen. Damit organisieren und verdichten Memos das Korpus der Diskursanalyse (vgl. Diaz-Bone & Schneider 2008: 506 f.). Die analytisch kommentierten Textabschnitte werden im nächsten Schritt der Datenauswertung hinsichtlich der Tiefenstruktur untersucht. Dazu werden Textsequenzen als Diskursfragmente betrachtet und nach Dimensionen der Phänomenstruktur, von Narrativen und typisierten Deutungsmustern kodiert.

Anhand des vorliegenden Textabschnittes lassen sich erste Annahmen über einzelne Dimensionen der Phänomenstruktur des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft formulieren, denn durch die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Staat und Hochschulen wird (möglicherweise) ein Notstand artikuliert, über den Akteur*innen angerufen werden, Probleme mit bereitgestellten Handlungsoptionen des NPM-Diskurses zu lösen (vgl. HRK 2004a). Weiterhin wird den Leitungsorganen von Hochschulen eine (Selbst-)Verantwortung erteilt, um für einen „wissenschaftsadäquaten Wettbewerb“ (HRK 2004a) zu sorgen, während dem Staat die Verantwortung für die (Detail-)Steuerung von Hochschulen aberkannt wird. Gleichzeitig kann die Beseitigung von „Wettbewerbshindernissen“ (ebd.) auch im neoliberalen Sinn einer aktivierenden Politik gelesen werden, womit dem Staat die Aufgabe erteilt wird, auf die sozialen Rahmenbedingungen – etwa mit einem Drittmittelwettbewerb – so einzuwirken, dass sich eine soziale Wettbewerbsordnung ungehindert entfalten kann. Die zahlreichen Lesarten des exemplarisch analysierten Textabschnittes begründen die enorme Datenmenge des Korpus, denn ohne eine Kontrastierung mit unterschiedlichen Texten von Akteur*innen des unternehmerisch-managerialen Regimes können die zahlreichen Annahmen und Deutungsangebote nicht zu einem diskursspezifischen Interpretationsrepertoire zusammengefasst werden.

4.2 Methodologie einer Soziologie des individuellen Widerstands

Um die diskursive Konstruktion der sozialen Wirklichkeit an deutschen Hochschulen unter dem Primat des Managementdiskurses einer kritischen Reflexion zu unterziehen, werden Subjektivierungsformen mit Aneignungen und DeutungsmusternFootnote 11 von Wissenschaftler*innen verglichen. Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Arbeit die Soziologie des individuellen Widerstands entfaltet. Mit dieser Forschungsperspektive wird (akademische) Subjektivierung vom persönlichen WiderstandFootnote 12 handelnder Menschen aus untersucht, weshalb sich die Soziologie des individuellen Widerstands zur Umsetzung des hier skizzierten qualitativ-empirischen Forschungsvorhabens anbietet. Die Soziologie des individuellen Widerstands bezieht sich nicht auf ein klassisches Verständnis der Protest- und Bewegungsforschung, nach dem Widerstand weitestgehend auf die sichtbare und organisierte Verweigerung des Gehorsams und politischen Protest reduziert wird (vgl. Rucht 2016; Teune 2008). Vielmehr untersucht die von wissenssoziologischen und gouvernementalitätstheoretischen Paradigmen inspirierte Soziologie des individuellen Widerstands ein Spannungsverhältnis zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit, wodurch Ambivalenzen und Brüche von Diskursen, Regierungsweisen und Subjektivierungsformen aus der Subjekt-Akteurs-Perspektive beschrieben werden (vgl. Berger & Luckmann 2012: 49, 139; Foucault 2015: 78).

Die Soziologie des individuellen Widerstands wirft damit die folgenden Fragen auf: Führt die Konfrontation von sozialen Gruppen und Akteur*innen mit Diskursen, Regierungsweisen und normativen Selbstbildern zu (individuellem) Widerstand? Und, welche Strukturen ermöglichen und verhindern (individuellen) Widerstand von Akteur*innen in einem Regime von Wissen, Macht und Subjektivierung? Mit diesen grundlegenden Fragen kann individueller Widerstand erforscht werden, bevor sich soziale Spannungen durch Protestaktionen im öffentlichen Raum entladen, bzw. erklärt werden, warum individueller Widerstand nicht zwangsweise zu einem politischen Aufbegehren gegen die bestehende Sozialordnung führt (vgl. Lenk 2022: 156).

Um ein Schlaglicht auf akademische Subjektivierung in einem unternehmerisch-managerialen Regime zu werfen, wird Foucaults (1987: 116) Anregung – Macht vom Widerstand aus zu untersuchen – berücksichtigt und auf die deutsche Hochschullandschaft übertragen. In diesem Kontext kann angenommen werden, dass ein Dispositiv neoliberaler Gouvernementalität durch Aneignungs-, Umdeutungs- und Transformationsprozesse von Wissenschaftler*innen erodiert (vgl. Foucault 2005b: 273). Oder anders formuliert: Die Soziologie des individuellen Widerstands nähert sich Wissen, Macht und Subjektivierung von den Bruchstellen in einem Subjektivierungsregime (vgl. Deleuze 1991: 155 f.). Dahingehend erweist sich die Unterscheidung zwischen Subjektivierungsformen und -weisen – entgegen den Einwänden Bröcklings und Peters (2017: 288) – als fruchtbare Heuristik, weil dadurch der Widerstand zwischen subjektiven Soll-Zuständen und persönlichen Ist-Zuständen empirisch greifbar wird (vgl. Bührmann 2012: 146). In diesem Zusammenhang ist auch eine Differenzierung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken relevant, um Handlungsweisen und Deutungmuster von Wissenschaftler*innen innerhalb einer diskursiv konstruierten Wirklichkeit zu verorten (vgl. Keller 2011: 228, 256). Nicht-diskursive Praktiken sind „Praktiken, die außerhalb der jeweiligen diskursiven Praxis stattfinden“ (Pfahl & Traue 2013: 429). Nichtsdestotrotz stehen nicht-diskursive und diskursive Praktiken in Bezug zueinander (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 47). Das Erkenntnisinteresse der Soziologie des individuellen Widerstands besteht also darin, das Spannungsverhältnis zwischen diskusiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie zwischen Subjektivierungsformen und -weisen auszuloten.

Weiterhin erscheint es sinnvoll, die diskursive Position von Subjekten zu untersuchen, da Diskurse subjektivierend und subjektiviert strukturiert sind (vgl. Link 2012: 60). Insofern kann zwischen Subjekten unterschieden werden, über die geherrscht wird und solche, die über andere herrschen, weil letztere eine exklusive Sprecher*innenposition besitzen und damit Macht über andere Subjekte ausüben können (vgl. Link 2007: 221; Maeße 2017). Insbesondere wenn der Einfluss von Wissenschaftsmanager*innen auf akademische Subjekte in den Fokus der kontrastierenden Analyse rückt, wird es relevant, zwischen beherrschten und herrschenden Subjekten zu unterscheiden, weil die grundlegende Anrufung der managerialen Subjektivierungsform darin besteht, andere Subjekte über Anreizsysteme zu mobilisieren, ihre persönlichen Ressourcen im Wertschöpfungsprozess vollständig auszunutzen (vgl. FU Berlin 2019d; 2019f; WR 2014: 54). Durch dieses Herrschaftsverständnis wird das Arrangement von Akteur*innen mit dem Spannungsverhältnis zwischen Subjektivierungsformen und -weisen sowohl zum konzeptionellen Werkzeug als auch zum Haupterkenntnisinteresse der Soziologie des individuellen Widerstands. Die wissenssoziologisch-interpretative Perspektive der Soziologie des individuellen Widerstands wird letztendlich genutzt, um das (widersprüchliche) Verhältnis zwischen der Sozialstruktur und dem Einzelnen zu untersuchen.

Mit der Wechselwirkung zwischen individuellen Denk- und Handlungsweisen und Gesellschaftsstrukturen werden ebenfalls Grundnahmen einer wissenssoziologischen Subjektivierungsforschung geteilt, da weder von einem „Pippi-Langstrumpf-Universum [ausgegangen wird], in dem sich jede und jeder nach eigenem Belieben seine Welt selbst erschaffen kann“ (Bosančić 2019: 47), noch von einer „Totalität des Regierens“ (Geimer & Amling 2019: 22). Vielmehr findet ein Bezug auf vorstrukturierte soziale Wirklichkeiten statt, die „den Menschen als objektive Wahrheiten gegenübertreten, die zudem über die unterschiedlichsten und machtvollen Legitimations- und Sanktionsmechanismen abgesichert sind“ (Bosančić 2019: 47). Deutlich wird die Wechselwirkung zwischen einer objektiven und subjektiven Wirklichkeit am Verhältnis von Beherrschten und Herrschenden innerhalb eines Diskurses (vgl. Berger & Luckmann 2012: 62). Denn Subjekte mit einer exklusiven Sprecher*innenposition herrschen zwar über andere Menschen, jedoch nicht über einen Diskurs, der ihre Herrschaft zu einer legitimen Form der Machtausübung werden lässt (vgl. Link 2007: 221). Ohne diese diskursive Basis würde Herrschaft ihre Legitimation verlieren. Trotz der strukturierenden Wirkung von Wissensordnungen sind Akteur*innen in der Lage, die soziale Wirklichkeit mit kreativen, eigenwilligen Aneignungs-, Umdeutungs- und Transformationsprozessen zu verändern. Prädestiniert für einen Wandel von Wissensordnungen sind Diskursguerillas, weil sie über etablierte Kommunikationsformen, Handlungsweisen, Symbole und Selbstbilder in Wissensordnungen eindringen und diese mit einer Umdeutung der Sinnstruktur verändern (vgl. Schölzel 2013: 41). Exemplarisch für die gezielte Sabotage einer diskursiv konstruierten Wirklichkeit können Guerillaaktionen wie der „Klingelstreich beim Kapitalismus“Footnote 13 oder „10.000 Euro Steuergelder an Antifa-Gruppen“Footnote 14 des Peng!-Kollektivs (2020a,b) genannt werden. Diese subversiven Verhaltensweisen erzeugen einen individuellen Widerstand in einem Regime aus Wissen, Macht, Subjektivierung.

Vor dem Hintergrund handlungsleitender Gesellschaftsstrukturen und einer sozialen Wirklichkeit, die durch eigenwillige Aneignungsprozesse und kreative Umdeutungen entsteht, bietet sich ein doppeltes Menschenverständnis zur Untersuchung von akademischer Subjektivierung an. Einerseits wird entgegen einer klassischen SubjektphilosophieFootnote 15, die einen erkennenden, autonomen Menschen konstituiert, mit Bezug auf Foucault (2005a: 245) dem Subjekt eine Doppelrolle zugeschrieben: Erstens befindet sich das Subjekt in einem Abhängigkeitsverhältnis und unterwirft sich der Herrschaft eines anderen. Und zweitens sind das Bewusstsein und die Selbsterkenntnis an eine Identität gebunden. „In beiden Fällen suggeriert das Wort [Subjekt] eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft“ (ebd.). Andererseits plädiert die wissenssoziologische Erweiterung dieses poststrukturalistischen Subjektverständnisses für eine Unterscheidung zwischen Subjekten und Akteur*innen, „die bestehende Wahrheitsordnungen in machtvollen Auseinandersetzungen bestätigten und stabilisieren, modifizieren, erweitern oder gänzlich transformieren“ (Bosančić 2019: 48). Um mit der Subjekt-Akteurs-Perspektive akademische Subjektwerdungsprozesse zu erforschen, werden Wissenschaftler*innen an der FU Berlin interviewt.

4.2.1 Sampling und Datenauswertung

Im ersten Schritt der Befragtenauswahl wird deduktiv vorgegangen, d. h. es erfolgt ein selektives Sampling nach theoretischen Vorüberlegungen und ersten empirischen Befunden der WDA (vgl. Schatzman & Strauss 1973: 38 ff.). In dem selective sampling wird vor der Datenerhebung festgelegt, welche Merkmale bei der Befagtenauswahl berücksichtigt werden und welche Fallzahl das qualitative Sample aufweisen soll (vgl. Kelle & Kluge 2010: 47). Zunächst werden in der Fallstudie an der FU Berlin nur einige Merkmale bestimmt, die sowohl zur Klärung der Forschungsfragen und Hypothesen beitragen als auch einen systematischen Feldzugang ermöglichen. Zu den relevanten Merkmalen zählen unterschiedliche akademische Statusgruppen (Doktorand*innen, Postdoktorand*innen, Privatdozent*innen, (Junior-)Professor*innen), Disziplin, Arbeitsverhältnisse/-bedingungen und Drittmittelabhängigkeit. Mithilfe einer Drittmittelabhängigkeit der Befragten soll herausgefunden werden, welchen Einfluss Drittmittel und eine neoliberale Identittätspolitik auf Wissenschaftler*innen haben. Ferner geht es bei der Abhängigkeit von Drittmitteln um eine Rekonstruktion der Seinsverbundenheit des Wissens, wodurch die Vorstrukturierung von persönlichen Handlungsweisen und Deutungsmustern berücksichtigt wird (vgl. Bosančić 2019: 47; Mannheim 1985 [1929]: 229-238). In diesem Kontext wird die persönliche Drittmittelabhängigkeit mit einem online-Kurzfragebogen ermittelt, in dem die Studienteilnehmer*innen gebeten werden, Angaben zur Finanzierungsart ihres Arbeitsplatzes zu machen. Außerdem werden mit dem Fragebogen vor dem Interview die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen der befragten Wissenschaftler*innen erfasst. Hier erhalten die Befragungsteilnehmer*innen die Möglichkeit, Angaben zur Art ihres Arbeitsvertrages und dessen Laufzeit zu machen. Weiterhin wird die vertraglich festgelegte und tatsächlich geleistete Arbeitszeit der Interviewten erfragt, um erste Hinweise auf Selbsttechnologien in Form von Selbstausbeutung zu erhalten, die möglicherweise bei der Rekonstruktion von Deutungsmustern relevant sind. Zusätzlich wird der Umgang der Befragten mit der Seinsverbundenheit des Wissens über soziodemografische Informationen wie Geschlecht, Alter und Kinderanzahl ermittelt. Die Ergebnisse der quantitativen Kurzbefragung sind für die Interpretation des Interviewmaterials relevant, weil sie sich als Kontextwissen eignen (vgl. Ullrich 2020: 125 f.). Berücksichtigt werden die Befragungsergebnisse, wenn Kontextualisierungshinweise im Interview auftauchen, d. h. wenn sich die Befragten auf das theoretisch angenommene Kontextwissen beziehen, besitzt es einen Geltungsanspruch in der sozialen Wirklichkeit und wird in die Analyse einbezogen (ebd.: 145 f.). Der Grund für die voraussetzungsvollen Annahmen von spezifischem Kontextwissen liegt auch an den Hypothesen der WDA, welche mit der Interviewanalyse eine kritische Reflexion erfahren. Außerdem wird mit den empirischen Befunden der Interviewauswertung der gouvernementalitätstheoretisch-diskursanalytische Rahmen der Dispositivanalyse in Frage gestellt.

Ein zentraler Bestandteil der Analyse von akademischer Subjektivierung sind Deutungsmuster (ebd.: 5 f.). Zur Rekonstruktion dieser kollektiven Wissensbestände ist es wichtig, dass das Datenmaterial eine hohe Varianz aufweist, weil die Heterogenität der Befragten die Anzahl der individuellen Begründungen von Denk- und Handlungsweisen steigert (ebd.: 73). Aus diesem Grund werden verschiedene Disziplinen und Statusgruppen berücksichtigt. Mithilfe der Statusgruppe werden auch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse und Subjektpositionen im Sinne von herrschenden und beherrschten Subjekten rekonstruiert und gegebenenfalls als Kontextwissen in der kontrastierenden Subjektivierungsanalyse berücksichtigt. Durch dieses Kontextwissen lässt sich ebenfalls die Bedeutung von persönlichen und kollektiven Sinnstrukturen einer Aussage und Textpassage erschließen (ebd.: 125 f.). Schließlich werden die selektiven Merkmale der Disziplin und der Statusgruppe genutzt, um potenzielle Interviewpartner*innen über die Internetpräsenz der FU Berlin zu suchen und via E-Mail um ein Interview zu beten. Demnach erfolgt der Feldzugang über eine systematische Variation der Untersuchungsobjekte.

Im zweiten Schritt des Auswahlverfahrens werden drei Interviews mit Wissenschaftler*innen geführt, die eine hohe Merkmalsvarianz besitzen. Bevor dann eine Auswahl weiterer Wissenschaftler*innen für die Studie erfolgt, werden die ersten drei Interviews mit Ansätzen der Grounded Theory ausgewertet (vgl. Glaser & Strauss 1967). Zur Datenauswertung wird das Interviewmaterial transkribiertFootnote 16 und offen nach inhaltlichen sowie thematischen Sinneinheiten kodiert. Dieser erste Auswertungsschritt dient vorrangig dazu, Erkenntnisse aus dem Forschungsprozess für die Auswahl weiterer Interviewpartner*innen zu nutzen und neue Merkmale aus dem Interviewmaterial für das Sampling zu gewinnen (vgl. Ullrich 2020: 76). Veranschaulichen lässt sich die Samplingstratigie wie folgt (vgl. Abbildung 4.2: Samplingstrategie).

Abbildung 4.2
figure 2

Samplingstrategie

Der Abbildung 4.2 zufolge wird die Anzahl der Befragten durch ein theoretical sampling bestimmt (vgl. Glaser & Strauss 1967: 45 ff.). Auf diese Weise werden immer neue Interviewteilnehmer*innen ausgewählt, bis eine theoretische Sättigung eintritt (vgl. Fuhrin 2013: 72). Oder anders formuliert: „Es werden so lange Untersuchungseinheiten weiter ausgewählt, wie dies für die Beantwortung der Fragestellung notwendig ist“ (Ullrich 2020: 80). Allerdings sind diesen forschungstheoretischen Überlegungen durch die Seinsverbundenheit des Forschenden gewisse Grenzen gesetzt. Da die vorliegende Arbeit im Rahmen eines Promotionsstipendiums verfasst wird und somit die zur Verfügung stehende Zeit begrenzt ist, wird aus forschungsökonomischen Gründen eine Maximalzahl von 25 Interviewteilnehmer*innen festgelegt und der Erhebungszeitraum auf sechs Monate beschränkt.

Des Weiteren wird ein Interviewleitfaden konzipiert, durch den die Datengewinnung strukturiert und intersubjektiv nachvollziehbar wird sowie ein Mindestmaß an thematischer Vergleichbarkeit erhält (ebd.: 81 ff.). Insbesondere die Vergleichbarkeit der Gesprächsverläufe wird durch leitfadengestützte Interviews gewährleistet, da ansonsten persönliche Begründungen in den einzelnen Interviews schwer plausibel kontrastiert werden können (ebd.: 83). Gleichzeitig ermöglichen Leitfadeninterviews dem Forschenden flexibel auf neue Themen und Aspekte während der Interviewsituation zu reagieren, indem individuelle (Nach-)Fragen gestellt werden. Aus diesem Grund werden leitfadengestützte Interviews in der qualitativen Sozialforschung auch als teil- bzw. halbstandardisierte Interviews verstanden (Loosen 2016: 143).

Der Leitfaden für die Fallstudie an der FU Berlin wird nach bestimmten Fragen- und Stimulustypen konzipiert, weil davon ausgegangen wird, dass Begründungen für Deutungsmuster in einem interaktiven Prozess zwischen Interviewer*innen und Befragten hervorgelockt werden (Ullrich 2020: 37 f.). Mitunter lässt sich auch von einer AktivierungFootnote 17 der Interviewteilnehmer*innen durch die Interviewer*innen sprechen, da der Leitfaden und die Gesprächsführung auf einen Prozess des Hervorlockens von Begründungen ausgelegt sind (ebd.: 52 ff.). Demnach können die Einwände gegen die Erforschung von akademischer Subjektivierung über Interviews entkräftet werden, weil die hier angewendete Erhebungsmethode ein Antwortverhalten der sozialen Erwünschtheit sogar nutzt, um herauszufinden, welche Deutungen als (un-)sagbar betrachtet werden (vgl. Hamann 2017: 89 f.; Ullrich 2020: 41). Dazu

„macht sich das Diskursive Interview nun die grundlegende Kommunikations- und Validierungsfunktion sozialer Deutungsmuster zunutze, indem es darauf ausgerichtet ist, Begründungen eigener Handlungen und Beurteilungen zu generieren. Die Kernstrategie des Diskursiven Interviews besteht dabei darin, ein Instrumentarium zur Generierung von Antworten […] bereitzustellen, die sich in besonderer Weise zur Rekonstruktion von Deutungsmustern eignen“ (ebd.: 40).

Dieses Instrumentarium besteht hauptsächlich aus Fragen der Konfrontation, Polarisierung, Zusammenfassung sowie aus Suggestivfragen, Unterstellungen, Konstruktionen hypothetischer Situationen und Erzählaufforderungen (ebd.: 100). Narrationsaufforderungen bieten sich für das hier vorgestellte Verfahren der Datengenerierung in mehrfacher Hinsicht an: Einerseits bilden Erzählungen den Einstieg in die Interviewinteraktion und in unterschiedliche Themengebiete. Andererseits ist eine Narration die Basis für die Rekonstruktion von Deutungsmustern, denn „erst wenn hinreichend ‚Erzählmaterial‘ vorhanden ist, können, darauf bezogen, auf Begründungen zielende Stimulusformen eingesetzt werden“ (ebd.: 90).

Als Einstieg in die Interviews der Fallstudie wird eine Erzählaufforderung nach dem wissenschaftlichen Werdegang gewählt. In diesem Zusammenhang werden die Wissenschaftler*innen von der FU Berlin gefragt: „Warum haben Sie sich für eine wissenschaftliche Laufbahn an einer Hochschule entschieden? Erzählen Sie doch mal über ihren Einstieg in die Wissenschaft“ (vgl. Electronic Supplementary Material). Mit dieser Narrationsaufforderung erhalten die Befragten die Möglichkeit, über ihren Werdegang zu sprechen und selbstständig Themenschwerpunkte zu setzen, an denen mit gezielten Stimulusfragen angeknüpft werden kann. Ein weiterer Reiz zur Hervorlockung von persönlichen Begründungen entsteht durch hypothetische Fragen. Bei dieser Frageform werden die Interviewten gebeten, sich in eine andere persönliche Situation hineinzuversetzen und zu überlegen, welche Entscheidungen sie in dieser Situation treffen und wie sie diese beurteilen würden (Ullrich 2020: 97). Im Kontext der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit lautet eine Frage zur Konstruktion einer hypothetischen Situation wie folgt: „Stellen Sie sich vor, Sie wären nicht mehr auf Drittmittel angewiesen, würden Sie dann anders forschen als jetzt? Wie würden Sie Ihre Situation dann beurteilen?“ (vgl. Electronic Supplementary Material). Wohingegen Wissenschaftler*innen, die angeben, weitestgehend unabhängig von Drittmitteln zu sein, mit der folgenden hypothetischen Frage konfrontiert werden: „Stellen Sie sich vor, Sie wären auf Drittmittel angewiesen, würden Sie dann anders forschen als jetzt? Wie würden Sie Ihre Situation dann beurteilen?“ (vgl. Electronic Supplementary Material). Außerdem werden in dem Interviewleitfaden bewusste Suggestivfragen und Unterstellungen verwendet, um den Befragten ihre persönlichen Begründungen zu entlocken. Informierte SuggestivfragenFootnote 18 und gezielte Unterstellungen versetzen die Befragten in ein persönliches Spannungsverhältnis, damit sie Erklärungen und Begründungen für Denk- und Handlungsweisen nennen (vgl. Ullrich 2020: 96 f.). Zudem lässt sich mit Suggestivfragen und Unterstellungen überprüfen, ob die Befragten verstanden wurden, weil sie aktiviert werden, Einwände und Korrekturen zu formulieren. In Bezug auf eine persönliche Drittmittelabhängigkeit kann folgende Suggestivfrage gestellt werden: „Meinen Sie nicht, dass Sie, ohne Drittmittelanträge stellen zu müssen, mehr Zeit für Forschung und Lehre hätten?“ (vgl. Electronic Supplementary Material). Bei diesen Frageformen ist jedoch Vorsicht geboten, da „die Bereitschaft der Befragten zu Explikationen begrenzt ist und die Fähigkeit zum Umgang mit Suggestivfragen individuell stark variieren kann“ (Ullrich 2020: 97). Deswegen wurden im Leitfaden die einzelnen Fragetypen gekennzeichnet, um in der Interviewsituation flexibel auf die (Ver-)Stimmung der Befragten zu reagieren. So wird bei einer abnehmenden Teilnahmebereitschaft auf mögliche Konfrontationsfragen verzichtet bzw. werden die Interviewten erst am Ende mit heiklen Fragen konfrontiert (ebd.: 86). Weiterhin bilden Zusammenfassungen bzw. Spiegelungen von Aussagen der Befragten sowie Konklusionen ein Mittel, um persönliche Begründungen von Denk- und Handlungsweisen hervorzulocken (ebd.: 96). Hierbei werden Begründungen und Erzählungen paraphrasiert, indem den Befragten überspitzte Interpretationsangebote ihrer Aussagen während der Interviews unterbreitet werden. Die vereinfachenden und zugespitzten Konklusionen sollen die Befragten zur Erläuterung und Offenlegung ihrer Begründungen und ihres Selbstverständnisses anregen (ebd.). Da diese Frageform abhängig von den Antworten der Befragten ist, wird über ihre Anwendung kontextabhängig in der Interviewsituation entschieden. Schlussendlich werden Konfrontations- und Polarisierungsfragen genutzt, um Äußerungen zu provozieren, in denen deutlich wird, wie sich Wissenschaftler*innen Deutungsmuster aneignen. Grundsätzlich werden die Befragten mit Konfrontationsfragen auf Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten ihrer Aussagen hingewiesen (interne Konfrontation) sowie mit alternativen Sichtweisen konfrontiert (externe Konfrontation) (ebd.: 94). Bei den Polarisierungen werden die Interviewten gebeten, sich zu konträren Sichtweisen eines Sachverhalts zu äußern. Im Kontext des Forschungsvorhabens erscheint es sinnvoll, die Befragten mit den Perspektiven von herrschenden Subjekten des wissenschaftlichen Spezialdiskurses und des NPM-Diskurses zu konfrontieren. Demnach drängt sich in Rekurs auf Lehre und Forschung die Frage auf: „Ist es sinnvoll, die Einheit von Lehre und Forschung aufrechtzuerhalten, oder sollte man Lehre und Forschung zugunsten einer Effizienzsteigerung trennen?“ (vgl. Electronic Supplementary Material).

Thematisch wird der Leitfaden vorerst durch sieben Blöcke strukturiert, bestehend aus dem wissenschaftlichen Werdegang und Selbstverständnis, Drittmitteln, Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnissen, Steuerungsinstrumenten und Anreizstrukturen, Lehre und Forschung, Publikationen sowie Zukunftsperspektiven und persönlichen Wünschen (ebd.). Diese Befragungsschwerpunkte ergeben sich aus den theoretischen Vorüberlegungen und empirischen Erkenntnissen der WDA. Im Verlauf der Datenerhebung und Interviewauswertung behält sich der Forschende jedoch vor, die Themen und Fragen gemäß der Vorgehensweise eines theoretical sampling anzupassen und zu verfeinern (vgl. Glaser & Strauss 1967: 45 ff.). Nachdem alle Interviews geführt wurden, erfolgt eine Transkription und Auswertung der einzelnen Interviews, die sich an der Vorgehensweise der Deutungsmusteranalyse nach Ullrich (2020) orientiert.

Die Interpretation von Deutungsmustern und Analyse von Subjektivierungsweisen der Befragten besteht aus drei Phasen. In der ersten Auswertungsphase wird das transkribierte Interviewmaterial kodiert. Beim Kodieren der Interviewsequenzen soll möglichst jede Aussage mit mindestens einem Kode versehen werden (ebd.: 134 f.). In diesem Zusammenhang wird das Kodieren der Interviewpassagen zur Vorbereitung der kontrastierenden Deutungsmuster- und Subjektivierungsanalyse genutzt. Gleichzeitig dient das Kodieren nach Ansätzen der Grounded Theory zur Generierung empirisch begründeter Theorien, wodurch das Zuordnen von Kodes selbst zu einem Teil des Interpretationsprozesses wird (ebd.: 135). Um Interviewsequenzen für die vergleichende Analyse auszuwählen, wird ein doppeltes Kodierverfahren angewendet. Im ersten Schritt wird das Interviewmaterial weitestgehend offen nach inhaltlichen und thematischen Sinneinheiten kodiert. Im zweiten Schritt werden alle gleich kodierten Interviewpassagen mit theoriegeleiteten Kodes angereichert und verglichen. Damit nutzt der Forschende das „Cut and paste“-Prinzip, bei dem Textpassagen zum Interpretieren aus dem ursprünglichen Interviewkontext gelöst werden (ebd.: 129).

Hiermit beginnt die zweite Phase der Auswertung – die kontrastierende Interpretation der individuellen Wahrnehmung, Erzählung und Begründung von BezugsproblemenFootnote 19. Zum einen ergeben sich die Bezugsprobleme durch die Themen und Fragen des Interviewleitfadens (ebd.: 133). Zum anderen eröffnen insbesondere narrative Fragen den interviewten Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, andere Gegenstandsbereiche ihrer Lebens- und Arbeitswelt zu thematisieren sowie diese mit einer handlungsleitenden Deutung zu versehen. Im Zentrum des Vergleichs stehen jedoch nicht nur ähnliche persönliche Begründungen, sondern auch nicht-diskursive Praktiken und subversive individuelle Deutungsangebote von Bezugsproblemen, wodurch der individuelle Widerstand von Wissenschaftler*innen in einem managerial-unternehmerischen Subjektivierungsregime sichtbar wird. Auf diese Weise macht sich die vorliegende Analyse die „Abfallprodukte“ der Deutungsmusteranalyse zunutze, indem persönliche Umdeutungen und abweichende individuelle DeutungenFootnote 20 berücksichtigt werden. Die Befragten werden mit der hier skizzierten Deutungsmusteranalyse als Träger*innen von sozialen Deutungsmustern sowie als Transformateur*innen dieser kollektiven Wissensbestände betrachtet (vgl. Bosančić 2019: 44; Ullrich 2020: 40). Letztendlich soll mit dieser doppelten Perspektive der Widerspruch zwischen einer diskursiv konstruierten Wirklichkeit des NPM-Diskurses und der Deutung dieser objektiven Wirklichkeit durch Wissenschaftler*innen rekonstruiert werden. Zur Rekunstruktion dieses Spannungsverhältnisses werden die Ergebnisse der WDA mit den Deutungsmustern der befragten Wissenschaftler*innen verglichen.

Vor diesem Hintergrund werden in der dritten Phase der Datenauswertung ähnliche persönliche Erzählungen und Begründungen der befragten Wissenschaftler*innen zu einem Bezugsproblem in Form von (nicht-)diskursiven Praktiken und Deutungsmustern zusammengefasst. Die Verdichtung von persönlichen Begründungen und Interaktionen zu kollektiven Wissensbeständen und Handlungsweisen der Befragten ist ein interpretativer Prozess, d. h. eine Rekonstruktionsleistung des Forschenden. Oder anders formuliert:

„Dieser interpretative Kernprozess ist letztendlich ein kreativer Akt, der nicht lernbar ist oder per To-do-Liste abgearbeitet werden kann. Auch qualitativ-sozialwissenschaftliche Interpretationen sind immer auch auf Intuition angewiesen und bleiben daher bis zu einem gewissen Grad subjektiv“ (Ullrich 2020: 137).

Darüber hinaus wird in der dritten Phase ein Realtyp gebildet. Ein Realtyp wird im Unterschied zum Idealtyp durch eine empirisch nachweisbare Gruppierung der Befragten anhand gemeinsamer Merkmale generiert. Entscheidend für den Realtyp ist jedoch nicht das Clustern, sondern eine gemeinsame, grundlegende (Sinn-)Struktur der gebildeten Gruppe bzw. Fälle (ebd.: 147). Zusammenfassen lassen sich die drei Analyseschritte der Deutungsmusteranalyse mit der folgenden Abbildung (vgl. Abbildung 4.3: Die Datenauswertung des Interviewmaterials in drei Phasen).

Abbildung 4.3
figure 3

Die Datenauswertung des Interviewmaterials in drei Phasen

4.2.2 Kritische Reflexion als Forscher und Diskursteilnehmer im universitären Feld

Bevor die skizzierte Analyse durchgeführt wird, ist eine kritische Selbstreflexion angebracht, um mögliche subjektive Verzerrungseffekte zu kontrollieren (vgl. Luhmann 1987: 210 f.). Im Kontext des Forschungsvorhabens bietet es sich an, sich selbst mit der Frage nach der Abhängigkeit von Mittelgeber*innen zu konfrontieren. Immerhin wird in der Arbeit davon ausgegangen, dass Drittmittelgeber*innen das Forschungsinteresse beeinflussen – also warum sollte das bei dem Forschenden anders sein? Nur weil sich der Forschende mit Subjektivierungsregimen auseinandersetzt, bedeutet das nicht, dass er sich diesen vollkommen entziehen kann. Insofern kann Bosančić (2019: 47) zugestimmt werden, dass man die Verhältnisse, in denen man lebt und arbeitet, zwar ver-, aber nicht wegwünschen kann. Demnach ist der Forschende wie jede*r andere*r Stipendiat*in auch an eine Frist gebunden, die (negative) Auswirkungen auf das eigene wissenschaftliche Handeln hat, wie bereits bei der Festlegung einer Maximalteilnehmer*innenzahl für die Interviews deutlich wurde.

Ferner schwingt mit der Förderung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine linke Wissens- und Identitätspolitik mit, welche für die wissenschaftliche Arbeit zum Problem werden kann. Denn wenn politische Leitbilder, welche über Anrufungen und Praktiken von Stiftungen auf ihre Stipendiat*innen übertragen werden, das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse beeinflussen, sind Werturteilsfreiheit und Voraussetzungslosigkeit gefährdet (vgl. Weber 2002 [1894-1922]: 498-506). Es wäre jedoch ein Trugschluss, anzunehmen, man müsse seine politische Haltung als Wissenschaftler*in aufgeben, um wissenschaftlich zu arbeiten.

Gewissermaßen stellt das Unterfangen – sich zwischen Politik und Wissenschaft zu bewegen, ohne jedoch von einer der beiden Sphären vereinnahmt zu werden – den Versuch einer Ent-Subjektivierung dar (vgl. Foucault 1996: 27). Wie bereits aufgefallen sein mag, schwingt in der vorliegenden Arbeit eine linke Wissenspolitik mit. Daher wird versucht, das Konfliktpotenzial zwischen Wissenschaft und Politik mit einer kritischen Selbstreflexion zu entschärfen. Das bedeutet auch, Forschungsergebnisse zu akzeptieren, die politisch betrachtet, unangenehm sind. Demnach darf die wissenschaftliche Analyse auch nicht durch politische Feindbilder wie den Neoliberalismus determiniert werden, um die Offenheit der Untersuchung zu gewährleisten und neue Erkenntnisse zu generieren. Ebenso gilt es, traditionelle akademische Normative zu hinterfragen, die davon abhalten, aus den empirischen Erkenntnissen politische Forderungen zu formulieren (vgl. Weber 2002 [1894-1922]: 498-506). Der Ent-Subjektivierungsprozess scheint also im konkreten Fall im Vollzug von politischen und wissenschaftlichen Praktiken zu bestehen, ohne sich jedoch an eine Identität zu binden, die einen unterwirft (vgl. Foucault 2005a: 245). Ent-Subjektivierung zielt also darauf ab, normative Selbstbilder kritisch zu hinterfragen und sich von ihnen zu lösen, indem man nicht zulässt, dass Anrufungen und Subjektivierungsformen die Persönlichkeit vereinnahmen und handlungsleitend werden (vgl. Foucault 1996: 27). Gleichwohl kann sich der Forschende nur von Anrufungen und Subjektivierungsformen emanzipieren, wenn in Diskursen Gelegenheitsstrukturen zur Selbstbefreiung vorhanden sind. In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Förderung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Autonomie auf Zeit, welche es ermöglicht, sich temporär dem Zugriff von Anrufungen im universitären Feld zu entziehen. Ferner sieht der Forschende in seiner prekären Berufsperspektive als Wissenschaftler ein Hindernis zur Ent-Subjektivierung, da eine unsichere berufliche Zukunft nicht dazu beiträgt, sich von Subjektivierungsformen zu befreien. Vorerst kann die Theorie der Ent-Subjektivierung also nur zu einer kritischen (Selbst-)Reflexion herangezogen werden, um mögliche subjektive Verzerrungseffekte in der folgenden Analyse zu kontrollieren.