„Ich verstehe unter ,Gouvernementalität‘ die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“ (Foucault 2004a: 162).

Gouvernementalität (frz. gouvernementalité) wird vom Adjektiv „gouvernemental“, d. h. „die Regierung betreffend“ (Lemke 2014: 260), abgeleitet und beschreibt einen Machttypus moderner Regierungsweisen. Regierungsweisen lassen sich anhand von verschiedenen Wissensordnungen, Rationalitäten, Technologien und Apparaten unterscheiden, die zur Ausübung von (politischer) Souveränität entwickelt werden (ebd.). Bei Gouvernementalitätsanalysen werden weniger spezifische Herrschaftstechnologien im Brennglas betrachtet, sondern Regierungweisen als Rationalisierung der Regierungspraxis erschlossen und die (sozialen) Effekte der Regierungsweisen beleuchtet (vgl. Foucault 2004b: 14).

Mit dem gouvernementalitätstheoretischen Deutungsrahmen verändert sich auch die Lesart des Neoliberalismus von einem reintegrierenden, transformierenden Diskurs zu einer modernen Regierungsweise (Foucault 2004a: 162). Außerdem werden mit dem Konzept der Gouvernementalität verschiedene Regierungsweisen und Herrschaftstechnologien nicht entlang von klassischen Begriffen wie Souverän, Staat und bürgerlicher Gesellschaft analysiert (vgl. Foucault 2004b: 15). Vielmehr werden die klassischen Begriffe als Operatoren der Gouvernementalität betrachtet, um spezifische Regierungsweisen einer historischen Epoche zu beschreiben (ebd.). Exemplarisch für dieses operative Regierungsverständnis kann Freiheit genannt werden. Denn mithilfe von Freiheit kann zu verschiedenen Zeitpunkten ein anderes Verhältnis zwischen Subjekten und Regierungsweisen bestimmt werden (ebd.: 97). Im Allgemeinen beschreibt Gouvernementalität „die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert“ (ebd.: 261). Im engeren Sinn bildet das Konzept der Gouvernementalität einen Analyserahmen für Herrschaftsverhältnisse, die sich in einer spezifischen Konfiguration von Wissen, Macht und Subjektivierung (re-)produzieren (vgl. Foucault 2004a: 162). „Es geht um die Definition dessen, was man unter Regierung des Staates zu verstehen hat und was wir, wenn Sie so wollen, die Regierung in ihrer politischen Form nennen“ (Foucault 2015: 42). Im Unterschied zur Analyse der Disziplinargesellschaft verschiebt sich mit einer Genealogie des modernen Staates das Paradigma der Macht hin zur Regierung (vgl. Foucault 2004b; 2008). Oder anders formuliert:

„Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist Regierung also auf zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen“ (Lemke, Krasmann & Bröckling 2015: 10).

Technologien des Selbst bzw. Selbsttechnologien ermöglichen Subjekten

„mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen“ (Foucault 1984: 35 f.).

Wohingegen Herrschaftstechnologien bzw. Technologien der Fremdführung als Mittel und Methoden verstanden werden, mit denen Verhaltensweisen kanalisiert, reglementiert, angereizt, verhindert und gesteuert werden. Demnach hat „der Begriff der Macht selbst […] keine andere Funktion, als einen [Bereich] von Beziehungen zu bezeichnen, die alle analysiert werden sollen“ (Foucault 2004b: 261). Mit dem Analyseraster der Gouvernementalität werden also verschiedene (historische) Regierungsweisen erforscht.

Als treibendende Kraft eines gouvernementalen Wandels konstatiert Foucault (2004b: 112 ff.) Problematisierungen von Regierungsweisen, die Widerstand jeglicher Couleur erzeugen. Daran anknüpfend wird Subjekten eine Doppelrolle zugeschrieben: Einerseits befindet sich das Subjekt in einem Abhängigkeitsverhältnis und unterwirft sich der Herrschaft eines anderen. Dadurch sind das Bewusstsein und die Selbsterkenntnis an eine subjektive Identität gebunden (vgl. Foucault 2005a: 245). Andererseits wird die „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976) durch die Annahme erweitert, dass Menschen nicht nur die Kontaktfläche von Wissensordnungen und Regierungsweisen sind, sondern mit kollektiven und persönlichen Aneignungs-, (Um-)Deutungs- sowie Transformationsprozessen Reibungen und Brüche im Dreieck von Wissen, Macht und Subjektivierung entstehen (vgl. Deleuze 1991: 155 f.). Zusammenfassen lässt sich die Doppelrolle von Menschen in einem Regime von Wissen, Macht und Subjektivierung mit der folgenden Abbildung (vgl. Abbildung 3.1: Individuen als Kontaktfläche und Transformateur*innen von Wissen, Macht und Subjektivierung).

Abbildung 3.1
figure 1

Individuen als Kontaktfläche und Transformateur*innen von Wissen, Macht und Subjektivierung

Mit diesem doppelten Verständnis von Individuen bemerkt Foucault (2004a: 282) während der Analyse von modernen Regierungsweisen, dass

„das Pastorat eine Macht ist, welche die Verhaltensführung der Menschen zum Zielobjekt hat, […] [und in] Korrelation dazu […] genauso spezifische Bewegungen wie Widerstände, Widersetzlichkeiten, etwas, das man spezifische Revolten der Verhaltensführung nennen könnte, [erzeugt]“.

Es kann festgehalten werden, dass sich im Zentrum von klassischen Gouvernementalitätsanalysen das Anwendungsfeld der Regierungspraxis befindet. Die Praxis einer Regierung wird jedoch nicht als politische Universalie im Sinne einer Staatstheorie begriffen, sondern als ein System von unterschiedlichen Regierungsweisen (vgl. Foucault 2004b: 115). In diesem Kontext markieren Krisen der Gouvernementalität den Ausgangspunkt der Ontologie von Wissen, Macht und Subjektivierung (vgl. Pieper & Rodríguez 2003: 9).

Gleichzeitig kann die Geschichte der Gouvernementalität für die Perspektive der Soziologie des individuellen Widerstands genutzt werden. Mit der Soziologie des individuellen Widerstands werden Wissensordnungen, Regierungsweisen sowie Subjektivierungsformen vom inneren Widerstand handelnder Menschen aus erforscht. Das Konzept der Gouvernementalität bildet die Basis für die Soziologie des individuellen Widerstands, weil damit ein Analyserahmen und ein Instrument der Kritik von verschiedenen Arten der Menschenführung bereitgestellt werden. Ein weiterer Berührungspunkt zwischen der Soziologie des individuellen Widerstands und der Gouvernementalitättheorie entsteht durch die Annahme, dass alles „politisierbar [ist], alles kann politisch werden. Die Politik ist nicht mehr und nicht weniger als das, was mit dem Widerstand gegen die Gouvernementalität entsteht, die erste Erhebung, die erste Konfrontation“ (Sennelart 2004 zit. n. Foucault 2004b: 486). Vor diesem Hintergrund erweitert die Soziologie des individuellen Widerstands das Konzept der Gouvernementalität, indem sowohl nicht-diskursive Praktiken und Subjektivierungsweisen im Anwendungsfeld einer Regierungspraxis erforscht als auch Fluchtpunkte und Brüche in einem Subjektivierungsregime beleuchtet werden. Dazu wird die Ontologie von Wissen, Macht und Subjektivierung genutzt.

Insofern kann der gouvernementale Wandel in der Mitte des 18. Jahrhunderts vom Prinzip der Staatsräson hin zu einer liberalen Regierungsweise auf einen politischen Widerstand gegen den Rationalitätsrahmen einer merkantilistischen Regierung zurückgeführt werden (vgl. Foucault 2004a: 486–490). Infolge von Problemen des Reichtums und der Bevölkerung durch eine anhaltende Getreide- und Nahrungsknappheit wurde die merkantilistische „Politik des billigen Getreides“ (ebd.: 491) und die Ausübung der politischen Souveränität, die auf „einer allgemeinen Reglementierung der Menschen und des Territoriums“ (ebd.: 489) beruht, kritisiert. Deswegen wird der Merkantilismus weniger als ökonomische Lehre analysiert, sondern vielmehr als Regierungsweise mit folgenden Prinzipien:

„Daß erstens der Staat sich durch die Akkumulation von Geld bereichern soll, zweitens daß er sich durch Wachstum der Bevölkerung stärken soll, drittens daß er sich in einem Zustand der ständigen Konkurrenz mit fremden Mächten befinden und halten soll“ (Foucault 2004b: 18).

Aus der Destabilisierung der Staatsräson und aus dem damit verbundenen politischen Widerstand formiert sich eine liberale Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004a: 507). Infolgedessen wandelt sich die Staatsräson des maximalen Staates hin zur Regierung des minimalen Staates (vgl. Foucault 2004b: 84).

3.1 Liberale Gouvernementalität

Die liberale Regierungsweise besteht darin, die „richtige“ bzw. „natürliche“ (ebd.: 50) Balance zwischen einem Maximum und einem Minimum zugunsten einer minimalen Regierung auszuloten. In diesem Zusammenhang setzt die Regierung des minimalen Staates dem Regierungsprinzip der Staatsräson die politische Ökonomie als Begrenzung der Regierungsmacht entgegen (ebd.: 49). Der Markt soll unter einer liberalen Regierungpraxis zum Ort der Wahrheitsbildung, der Verteilungsgerechtigkeit und der Rechtsprechung werden (ebd.: 54 f.). Denn anders als unter einer merkantilistischen Regierung, wo die Preise durch eine staatliche Reglementierung festgelegt wurden, geht eine liberale Rationalität von einer „natürlichen“ bzw. „angemessenen“ (ebd.: 53) Preisbildung aus, insofern der Markt vor staatlichen Interventionen schützt und die Ordnung des Marktes von Wirtschaftssubjekten ausgehandelt wird. Nur mit dem Laissez-faire-Prinzip können sich, so lautet die liberale Losung, „natürliche“, d. h. „wahre“ Preise bilden, die „in einem bestimmten Verhältnis zur geleisteten Arbeit, zu den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Konsumenten stehen“ (ebd.). Die Veridiktion des Marktes wird dadurch zu einer äußeren Begrenzung der Regierungspraxis. Oder mit anderen Worten zusammengefasst:

„Der Markt soll die Wahrheit sagen, er soll die Wahrheit im Hinblick auf die Regierungspraxis sagen. Seine Rolle der Veridiktion wird künftig und auf einfach sekundäre Weise die juristischen Mechanismen, zu denen der Markt Stellung beziehen soll, anordnen, diktieren, vorschreiben, oder die Abwesenheit dieser Mechanismen, über die er sich zu äußern hat, bestimmen“ (ebd.: 56).

Die liberale Regierungspraxis soll sich nicht mehr an der Weisheit von Regierenden orientieren, sondern sich nach den Erkenntnissen der politischen Ökonomie richten (vgl. Foucault 2004a: 150 f.). Dadurch wird der Spezialdiskurs der politischen Ökonomie zur Ratio und Begrenzung einer liberalen Regierungspraxis, weil eine Regierung, die „gegen alle Regeln sowohl des Beobachtbaren als auch der Rationalität den Verkehr des Getreides reglementiert, maximale Preise festlegt etc.: sie handelt blind, gegen ihre Interessen, sie irrt sich buchstäblich, und zwar wissenschaftlich“ (ebd.: 503). Demnach bestimmen herrschende Subjekte mit evidenzbasiertem Wissen der politischen Ökonomie, ob zu viel oder wenig regiert wird, ob die Regierungspraxis richtig oder falsch ist. Durch die Politisierung von Fragmenten aus Spezialdiskursen wird eine wirtschaftswissenschaftliche Denkweise zur politischen Rationalität einer liberalen Regierung. Diese spezifische Verbindung von Wissen und Macht deckt sich auch mit dem ersten Deutungsangebot von (Neo-)Liberalismus als reintegrierender Wissensbereich und von neoliberalen Subjekten, die wissenschaftliches Wissen umdeuten und als Vehikel für ihre Ideen nutzen (vgl. Abschnitt 2.1 Neoliberalismus als Interdiskurs; 2.2 Neoliberale Klassiker als Anwälte des Marktes und Diskursguerrillas). Denn herrschende Subjekte des (neo-)liberalen Interdiskurses übertragen politisierte Fragmente von Spezialdiskursen in Elementardiskurse und erzeugen eine Lebenstotalität aus (neo-)liberalen Subjektivierungsformen (vgl. Bröckling 2007: 283; Link 1983: 27). Demnach soll die politische Ökonomie sowohl die Denk- und Handlungsweise des Einzelnen als auch die Richtschnur der Regierungpraxis bilden.

Sichtbar wird die Rationalität einer liberalen Regierung am Problem der Bevölkerung. Anstatt die Bevölkerung als Menge von Untertanen mit Reglementierungen zu steuern, wird sie als Naturalität betrachtet, die durch das Gesetz der Interessenmechanik beeinflusst wird (vgl. Foucault 2004a: 504). In diesem Zusammenhang übernimmt die Regierung Verantwortung für die Bevölkerung, indem evidenzbasiertes Wissen angewendet wird, um Probleme der Bevölkerung handhabbar zu machen. Denn mit wissenschaftlichem Regierungswissen wurden beispielsweise Praktiken der öffentlichen Hygiene entwickelt und Fragen der Demografie geklärt. Mit dieser Vorgehensweise steuert ein minimaler Staat die Interessen der Bevölkerung nicht direkt mit unmittelbarem Zwang, sondern kanalisiert die verschiedenen Interessen über Anreizsysteme der Gefahr und der Selbstsorge. Interessen und Verhaltensweisen werden also angereizt, erleichtert oder erschwert (ebd.: 505 f.). Durch die naturalistische Perspektive auf den Wirtschaftsprozess und die Bevölkerung verschieben sich Grenzen der Regierungsgspraxis in mehrfacher Hinsicht: Erstens wird die Regierungspraxis von Imperativen der politischen Ökonomie eingeschränkt. Insbesondere Physiokraten wie Vincent de Gournay prägten die liberale Regierungsmaxime: Laissez faire, laissez passer (vgl. Schelle 2011). Zweitens wird mit der Verwaltung der Bevölkerung das Problem der Nützlichkeit aufgegriffen, welches sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts zuspitzt. Der Maßstab einer interessenbasierten Regierungspraxis ist die Nützlichkeit für die Bevölkerung und den Markt. Denn „die Interessen sind im Grunde dasjenige, wodurch die Regierung Gewalt über alle diese Dinge ausüben kann, die für sie die Individuen, die Handlungen, die Reden, die Reichtümer, die Ressourcen, das Eigentum, die Rechte usw. sind“ (Foucault 2004b: 73 f.). Der Zweck und das Instrument einer liberalen Regierung ist die Verknüpfung von Marktfreiheit mit den Interessen der Bevölkerung durch individuelle Freiheiten, um im Interesse der Bevölkerung zu handeln, ohne jedoch in das Marktgeschehen einzugreifen und Freiheiten zu gefährden (vgl. Foucault 2005a: 168). Damit bilden der Markt als Ort der Wahrheit und die Interessen der Bevölkerung die Fixpunkte einer liberalen Regierung (vgl. Foucault 2004b: 72).

Das ökonomische Interessen-Nützlichkeitskalkül von liberalen Subjekten wird am Prinzip des europäischen Gleichgewichts ersichtlich. Hier sollen einzelne Nationalstaaten die Interessen von anderen Nationen in Europa berücksichtigen, um unter der „Idee eines europäischen Fortschritts“ sowohl eine kollektive Bereicherung voranzutreiben als auch auf einem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben (ebd.: 85 f.). Die Lissabon-Strategie und das Regierungsprogramm „Europa 2020“ (Europäische Kommission 2010) belegen die politische Aktualität der liberalen Wissenspolitik einer transnationalen Beutegemeinschaft, die sich kollektiv am Rest der Welt bereichert und um internationale Wettbewerbsfähigkeit kämpft. Darüber hinaus wird mit der Idee des europäischen Gleichgewichts der liberale Macht-Wissen-Komplex erweitert, weil nicht nur Individuen, sondern auch Nationalstaaten sowie der europäische Wirtschaftsraum als Wirtschaftssubjekte angerufen werden. Hier wird nicht mehr von einem merkantilistischen Nullsummenspiel des persönlichen Gewinns oder Verlusts ausgegangen, sondern von einer weltumspannenden politischen Rationalität, die in der Öffnung der Märkte eine Garantie des ewigen Friedens und des Wohlstands sieht (vgl. Foucault 2004b: 88). In diesem Kontext wird durch den Prozess der kollektiven Bereicherung eine Win–win-Situation zwischen Wirtschaftssubjekten versprochen, jedoch unter der Voraussetzung, dass sich alle Marktteilnehmer*innen in einem Zustand der vollkommenen Konkurrenz befinden. Denn eine liberale Wissenspolitik postuliert „ein Maximum an Gewinn für den Verkäufer, ein Minimum an Ausgaben für die Käufer“ (ebd.: 84), wenn sich Konkurrenz zwischen Wirtschaftssubjekten frei entfalten kann. Insofern können Liberalismus und Staatsräson als zwei unterschiedliche Regierungsweisen analysiert werden, denn eine liberale Regierung folgt dem Prinzip der maximalen Ökonomie, wohingegen unter der Staatsräson ein maximaler Staat verfolgt wird (vgl. Foucault 2005a: 181). Demgemäß setzt sich jedoch eine liberale Regierungspraxis dem Verdacht aus, dass zu viel regiert wird, was zu einer Veridiktion des Marktes sowie zur Überprüfung von Regierungspraktiken durch die Prinzipien der Nützlichkeit und der Interessen der Bevölkerung führt (ebd.: 181 f.).

Gleichzeitig basiert eine liberale Regierung auf einer politischen Kultur der Gefahr und der Verwaltung von individuellen Freiheiten. Vor dem Hintergrund werden bereitgestellte individuelle Freiheiten mit Kontroll- und Zwangsmechanismen in Form von liberalen Herrschaftstechnologien gesteuert. Das Ziel von liberalen Herrschaftstechnologien besteht darin, Interessen zu kanalisieren sowie gewährte individuelle Freiheiten zu beherrschen, was zur Folge hat, dass zunehmende Freiheiten durch eine Steigerung von Kontrolle und Intervention begleitet werden (vgl. Foucault 2004b: 103). Freiheit wird also hergestellt und gesichert, indem das Verhalten von Subjekten mit panoptischen Disziplinartechniken überwacht und diszipliniert wird (vgl. Bentham 1791). Demzufolge wird Kontrolle nicht zum Gegenpol von Freiheit, sondern zur treibenden Kraft, denn Kontroll- und Zwangsmechanismen werden von einer liberalen Regierung als legitimes Mittel betrachtet, eine soziale Ordnung zu sichern, die auf der Freiheit des Einzelnen und des Marktes beruht. Durch die Verknüpfung von individueller Freiheit mit einer politischen Kultur der Gefahr wird das Wechselspiel zwischen persönlichem Risiko, Eigenverantwortung und Kontrolle zur treibenden Kraft einer liberalen Mobilisierung, denn die individuelle Verantwortung für die Gefahren des Lebens fordert Subjekte auf, flexibel auf ihre unsicheren Lebensumstände zu reagieren und sich an eine liberale Wissens- und Identiätspolitik anzupassen. Oder man könnte auch behaupten:

„Die Devise des Liberalismus ist, ,gefährlich zu leben‘. ,Gefährlich zu leben‘, das bedeutet, daß die Individuen fortwährend in eine Gefahrensituation gebracht werden oder daß sie vielmehr darauf konditioniert werden, ihre Situation […], ihre Zukunft usw. als Träger von Gefahren zu empfinden. Und dieser Anreiz der Gefahr ist, glaube ich, eine der wichtigsten Implikationen des Liberalismus“ (Foucault 2004b: 101).

Damit sich der Einzelne gegen die Gefahren des Lebens absichern kann, werden Sicherheitsdispositive eingerichtet. Denn mithilfe von Sicherheitsdispositiven werden individuelle und kollektive Fluchtpunkte für die Gefahren des Alltags eröffnet. Gleichwohl wird mit bereitgestellten Sicherheiten ein gouvernementaler Zugriff auf Verhaltensweisen herstellt. Zur Hauptaufgabe von Sicherheitsmechanismen zählt die Kanalisierung von Interessen der Bevölkerung (vgl. Foucault 2004a: 506).

Die Rationalität von liberalen Sicherheitsdispositiven kann am Wandel der Polizei verdeutlicht werden. Während die Polizei unter dem Prinzip der Staatsräson die Untertanen und das Territorium stark reglementiert, soll das Polizei-Dispositiv unter einer liberalen Regierung die Kräfte des Staates durch den Schutz von individuellen Freiheiten steigern. Mit dem Transformationsprozess der Polizei wird ein diplomatisch-militärisches Dispositiv der Staatsräson in verschiedene Institutionen zerlegt, die sich mit der Verwaltung der Bevölkerung, dem öffentlichen Recht und der Anerkennung von individuellen Freiheiten auseinandersetzen (Foucault 2004a: 507 f.).

In diesem Zusammenhang kann konstatiert werden, dass der Haupteinsatz einer liberalen Regierung darin besteht, in einer bürgerlichen Gesellschaft dem Markt einen Freiraum einzurichten, ohne hergestellte individuelle Freiheiten zu gefährden (vgl. Foucault 2004b: 187). Diesbezüglich markieren Gesellschaft, Ökonomie, Bevölkerung, (Un-)Sicherheit und Freiheit die zentralen Bestandteile einer (neo-)liberaler Regierungsweise (vgl. Foucault 2004a: 508). Sowohl die Kultur der Gefahr als auch die Verbindung von Freiheit mit einer zunehmenden Kontrolle des Staates durch Herrschaftstechnologien erzeugt im Verlauf des 20. Jahrhunderts politischen Widerstand und führt zur Krise der liberalen Regierungspraxis. Diese Krise spiegelt sich u. a. im Freiheits-Paradoxon wider: Um die Freiheit der Arbeit unter zunehmender Arbeitslosigkeit zu garantieren, sind direkte Eingriffe in den Markt notwendig (vgl. Foucault 2004b: 103 f.). Aus diesen Widersprüchen einer liberalen Regierungspraxis entwickelt sich eine Grammatik der Sorge (vgl. Fach 2015: 112 f.). Die folgenden wohlfahrtsstaatlichen Interventionen in den Markt bilden eine wesentliche Gegenbewegung zur liberalen Kultur der Gefahr und damit den Ausgangspunkt für eine andere Regierungsweise. Anstatt den Einzelnen mit Risiken zu konfrontieren und anzureizen, wird ein Herrschaftsverhältnis zwischen Hirte und Herde hergestellt. Zugespitzt formuliert:

„Anderen fällt dazu eher das Vater-Bild ein. Ein Schäfer- oder auch Vater-Staat beherrscht seine Schafs- oder auch Kindsköpfe in wohltätiger Absicht, unterstützt sie, wo immer Hindernisse ausgeräumt werden müssen, leitet ihre Tätigkeiten an und versichert ihre Risiken, verschafft ihnen Chancen und heilt ihre Leiden, zeigt allen den rechten Weg und kümmert sich um jedes Einzelschicksal“ (ebd.: 113).

Diese moderne pastorale Regierungsweise stellt eine Revolte der Verhaltensführung zu einer liberalen Regierungsweise dar. Gleichzeitig wirken sozialstaatliche Interventionen dialektisch und aktualisieren eine liberale Regierungsweise. Denn eine neoliberale Regierungsweise bildet – ganz im Sinn von Fichtes (1907 [1795]: 72 f.) dialektischem Dreischritt – eine Synthese zwischen einer pastoralen und einer liberalen Regierungsweise, ohne jedoch bestehende Gegensätze vollkommen aufzulösen. Vielmehr legitimiert sich eine neoliberale Regierungsweise durch bestehende Spannungsverhältnisse zwischen anderen Regierungsweisen. Sichtbar wird dieser Zusammenhang sowohl an der permanenten Kritik einer sozialstaatlichen Regierungspraxis als auch der liberalen Laissez-faire-Politik. Vor diesem Hintergrund kann die Geschichte der Gouvernementalität als eine Geschichte des Widerstands betrachtet werden, jedoch lösen sich historische Gegensätze nicht dialektisch auf, weil es keine lineare historische Abfolge von Regierungsweisen gibt, sondern ein Bruch mit der Kontinuität durch den „Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten“ (Foucault 2004b: 115) entsteht (vgl. Junge 2008: 47). Dementsprechend „funktioniert ein Programm gerade deshalb ‚gut‘, weil es nicht oder jedenfalls nur schlecht funktioniert bzw. es die Probleme erst schafft, auf die es dann vorgeblich reagiert“ (Lemke 2000: 43). Folglich reflektieren und aktualisieren sich Regierungsweisen in den Spannungen und Widersprüchen jeweils anderer Regierungsweisen. In diesem Zusammenhang kann die bürgerliche Gesellschaft als Revolte der Verhaltensführung zur Staatsräson betrachtet werden und eine neoliberale Regierungsweise als Gegenbewegung zur modernen pastoralen und liberalen Regierungsweise.

3.2 Neoliberale Gouvernementalität

Die Synthese von widerstrebenden Regierungsweisen wird am Programm der Sozialen Marktwirtschaft in zweifacher Hinsicht deutlich: Einerseits wird mit dem Bezug auf sozialstaatliche, keynesianische Interventionen eine liberale Kritik an einer postoralen Regierungspraxis aktualisiert (vgl. Eucken 1997: 40; Röpke 1997: 29). Andererseits werden eine liberale Regierungspraxis kritisiert und Fragmente der politischen Ökonomie umgedeutet. Für den neoliberalen Transformationsprozess werden Narrationen eines freien Marktes sowie ein liberaler Freiheitsbegriff genutzt und mit einem ordnungspolitischen Rahmen versehen (vgl. Rüstow 1949: 148). Gemäß Rüstow (ebd.: 131) ist Neoliberalismus „eine Erneuerung des Liberalismus von Grund auf […], die insbesondere auch allen berechtigten Einwänden und Forderungen des Sozialismus voll Rechnung trägt“. Denn „eine politische Utopie von Gleichheit oder Gerechtigkeit kennt der politische Liberalismus nicht, denn beide Momente sind entweder durch den vorausgehenden Naturzustand oder durch das Prinzip des freien Marktes gewährleistet“ (Junge 2008: 67). Dadurch führt das „Laissez-faire in eine Wirtschaftspolitik des Interventionismus“ (Eucken 1949: 6) und markiert den Übergang zu einer neoliberalen Regierungsweise. Es soll weder ein minimaler Staat entstehen, der die Sicherung und Koordination der Ökonomie den Wirtschaftssubjekten überlässt, noch soll der Staat die Ökonomie organisieren und reglementieren. Nach einer neoliberalen Rationalität liegitimiert sich der Staat in Marktfreiheit und in einer Übernahme von Verantwortung für die Bevölkerung sowie in der Sicherung eingerichteter individueller Freiheiten (vgl. Foucault 2004b: 119). Die Basis zur Ausübung von (politischer) Souveränität bildet eine soziale Wettbewerbsordnung, in der individuelle Freiheiten und Sicherheitsdispositive durch den Markt hergestellt werden (vgl. Röpke 1997: 40). Anders ausgedrückt:

„Der wirtschaftlich freie Markt bindet in politischer Hinsicht und verleiht politischen Bindungen Ausdruck. Eine stabile Deutsche Mark, eine zufriedenstellende Wachstumsrate, eine steigende Kaufkraft, ein günstiges Gleichgewicht von Zahlungen, das sind im zeitgenössischen Deutschland sicherlich die Wirkungen einer guten Regierung, aber es ist auch […] die Art und Weise in der sich ständig der staatsgründende Konsens manifestiert und verstärkt“ (Foucault 2004b: 126).

Damit wird in der Nachkriegszeit die wirtschaftliche Freiheit der BRD zum Produkt des Wachstums, des Wohlstands, des Staates und der Geschichtsvergessenheit (ebd.). Gleichwohl basiert der Wiederaufbau der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Totalität der Ökonomie, denn „die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist“ (ebd.: 124). Es ging also nicht wie unter einer liberalen Regierung darum, die Freiheit des Marktes in einem legitimen staatlichen Raum einzurichten. Vielmehr sollte die Regierungspraxis nach der Richtschnur der politischen Ökonomie ausgeübt werden, um einen Staat durch wirtschaftliche Freiheit und Wachstum zu legitimieren und zu stärken.

Neben der historischen Situation und dem Modus der Ausübung von (politischer) Souveränität wandelt sich die Regierungspraxis durch eine Problematisierung der liberalen Kultur der Gefahr. Anstatt den Einzelnen mit den Gefahren des Lebens ohne hinreichende Handlungsrezepte zurückzulassen und damit sozialstaatliche Interventionen zu provozieren, werden mehr Anreize durch Sicherheitsdispositive geschaffen, die durch eine neoliberale Gesellschaftspolitik fundiert werden. Fortan sollen individuelle Risiken nicht mehr durch sozialstaatliche Versicherungen abgedeckt werden, sondern von den Betroffenen durch eine private Vorsorge. Weiterhin räumt die neoliberale Gesellschaftspolitik in der BRD dem Einzelne das Recht auf ein Existenzminimum ein, wodurch kein unmittelbarer Zwang zur Erwerbsarbeit besteht (vgl. Foucault 2004b: 202 ff.). Infolgedessen erzeugt die neoliberale Sozialpolitik einen Wandel von Anreizen der Gefahr hin zu Anreizen der privaten Sicherheit. Ziel dieser Gesellschaftspolitik ist nicht die Vergesellschaftung von Gefahren des Lebens, sondern eine Individualisierung von Risiken und eine „weitestmögliche Kapitalisierung für alle sozialen Klassen“ (Foucault 2004b: 204) bzw. eine „Startgerechtigkeit“ (Rüstow 1949: 153). Mithilfe dieser Chancengleichheit soll eine Synthese zwischen Kapitalismus und Sozialismus gebildet werden, denn der Einsatz der neoliberalen Regierungspraxis liegt in einer „gerechten, menschenwürdigen Gesellschaftsordnung“ (Lenel, Molsberger, Gröner & Schüller 1997: 25). Für diese neoliberale Gesellschaftsordnung sollen Marktmechanismen als Organisations- und Regulationsprinzip des Sozialen eingerichtet werden. Die Maxime der neoliberalen Gesellschaftspolitik lautet:

„Das Wirtschaftswachstum allein sollte allen Individuen gestatten, ein Einkommensniveau zu erreichen, das ihnen individuelle Versicherungen, den Zugang zum Privateigentum, die individuelle oder familiäre Kapitalisierung erlaubt, womit sie die Risiken neutralisieren können“ (Foucault 2004b: 205).

Vor diesem Hintergrund setzt eine neoliberale Regierungspraxis dem minimalen Staat einer liberalen Regierung einen Wettbewerbsstaat entgegen (ebd.: 168). Dadurch wandelt sich die politische Ökonomie von einer äußeren zu einer inneren Begrenzung der Regierungspraxis. Gleichzeitig verbindet eine neoliberale Regierungspraxis den „finster-brutalen Geist des 19./20. Jahrhunderts“ (Rüstow 1949: 148) mit sozialstaatlichen Ideen, indem minimale Sicherheiten vom Staat gewährleistet werden und die restlichen Risiken durch private Versicherungen abdeckt werden können. Zu den prominentesten Sicherheitsdispositiven in der BRD zählt die Arbeitslosenversicherung. Eine treffendere Bezeichnung für dieses Sicherheitsdispositiv wäre wohl Arbeitssuchendeversicherung, da es sich nach Hayeks (1991: 380 ff.) Vorstellung um Arbeiter*innen im Übergang von der einen zu einer anderen Beschäftigung handelt, die lediglich für den Zeitraum der Erwerbslosigkeit eine minimale Unterstützung benötigen, um weiterhin am Wettbewerb des Arbeitsmarktes teilzunehmen. Das Sicherheitsdispositiv der Arbeitssuchenden erzeugt Anreize des Konsums und der sozialen Gerechtigkeit, denn „wenn bescheidenes Einkommen mit Gemächlichkeit, höheres Einkommen mit Anstrengung gekoppelt erscheint, so wird sich niemand mehr über das Ergebnis seiner eigenen Wahl zu beklagen haben; sozialer Neid wird keinen Ansatzpunkt mehr finden“ (Rüstow 1949: 150 f.). An diesem Beispiel wird einerseits die Synthese zwischen Kapitalismus und Sozialismus im Neoliberalismus deutlich. Andererseits kann mit dem Sicherheitsdispositiv des Existenzminimums exemplarisch gezeigt werden, dass eine neoliberale Regierungspraxis nicht unmittelbar wie ein Sozialstaat interveniert oder den Wirtschaftsprozess wie ein liberaler minimaler Staat laufen lässt, sondern auf die sozialen Rahmenbedingung des Marktes so einwirkt, dass sich Wettbewerb in der Gesellschaft ohne Hindernisse entfalten kann (vgl. Röpke 1997: 51 f.).

An dieser Stelle wird die neoliberale Gesellschaftspolitik zur Rahmenpolitik des Marktes. Denn mit einer neoliberalen Sozialpolitik wird der Versuch unternommen, die Rahmenbedingungen des Marktes so zu transformieren, dass traditionellerweise nicht ökonomische Teilsysteme und ihre Angehörigen einer Philosophie des Wettbewerbs nicht widersprechen, sondern sich in Märkte und Unternehmer*innen verwandeln. Diese sozialen Märkte wie der Bildungsmarkt und neuerdings ein stark expandierender Klimamarkt sollen die soziale Ordnung einer Marktgesellschaft entstehen lassen (vgl. Foucault 2004b: 200 f.). Die zentrale Aufgabe des Staates ist es, eine Wettbewerbsordnung auf die Rahmenbedingungen der Gesellschaft zu übertragen und durchzusetzen. Dazu bedarf es keines minimalen Staates, der nach dem Laissez-faire-Prinzip handelt. Vielmehr ist eine wachsame und aktive Politik eines Wettbewerbsstaates notwendig, der die Gesellschaft und sich selbst auf den Prüfstand des Marktes stellt (ebd.: 188). Die Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch das ökonomische Tribunal des Marktes kann auf einen Wandel der politischen Ökonomie als wichtigste Wissensform einer neoliberalen Regierungsweise zurückgeführt werden (ebd.: 342). Der Paradigmenwechsel vom Tausch zum Wettbewerb als Prinzip des Marktes und der Gesellschaft sorgt für eine gouvernementale Trendwende sowie für einen Wandel von anthropologischen Vorstellungen.

Anstatt den Homo oeconomicus als einen Wirtschaftsmenschen zu begreifen, der seinen persönlichen Nutzen durch Tauschprozesse maximiert, adressiert eine neoliberale Subjektivierungsform den Einzelnen als einen Unternehmer seiner selbst, „der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (ebd.: 314). Ansatzweise findet sich diese anthropologische Verstellung mit dem „Unternehmertyp des Wettbewerbs“ (Eucken 1997: 6 f.) auch bei den europäischen neoliberalen Klassikern wieder. Mit dieser Subjektivierungsform werden unternehmerische Fähigkeiten als Triebfeder des sozioökonomischen Wachstums betrachtet und auf gesellschaftliche Teilbereiche und ihre Angehörigen übertragen. Die Verschiebung vom Wettbewerb als natürliche Gegebenheit hin zum Wettbewerb als formaler Mechanismus des Marktes stellt die liberale Idee eines minimalen Staates vom Kopf auf die Füße (vgl. Foucault 2004b: 170 ff.). Denn die Transformation von wissenschaftlichem Wissen erzeugt eine neue Regierungspraxis, die sich zwar immer noch auf die politische Ökonomie bezieht, aber aufgrund von neuen politisierten wissenschaftlichen Erkenntnissen den Staat und die Gesellschaft einer ständigen Kontrolle durch den Markt aussetzt. Insofern soll nicht mehr der Staat den Markt beaufsichtigen, sondern der Markt soll den Staat kontrollieren (ebd.: 168). Gleichzeitig werden Sicherheitsdispositive eingerichtet, die weder individuelle Risiken vergesellschaften noch soziale Ungleichheit abbauen. Vielmehr bilden neoliberale Sicherheitsdispositive für den Einzelnen einen Anreiz, sich an die Anrufungen des Marktes anzupassen, um von individuellen Freiheiten und privaten Sicherheiten zu profitieren.

Es kann festgehalten werden, dass neoliberale Gouvernementalität ideengeschichtlich mit liberaler Gouvernementalität eng verbunden ist, da beide Regierungsweisen auf den (Spezial-)Diskurs der politischen Ökonomie Bezug nehmen und als Hauptzielscheibe die Interessen der Bevölkerung besitzen. Des Weiteren ist der Einsatz einer (neo-)liberalen Regierungpraxis die Bereitstellung von individuellen Freiheiten und (Un-)Sicherheiten. Zwischen liberalen und neoliberalen Regierungspraxen können jedoch eklatante Unterschiede beobachtet werden. Der liberale minimale Staat richtet dem Markt einen wirtschaftlichen Freiraum ein, den er definiert und kontrolliert, wohingegen ein neoliberaler Wettbewerbsstaat eine aktive Politik ohne Dirigismus verfolgt, bei der die Form des Marktes durch einen inszenierten Wettbewerb in verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft verallgemeinert wird. Hierzu transformiert eine neoliberale Regierungspraxis die Rahmenbedingungen des Marktes (ebd.: 167–188). Der Effekt des staatlich inszenierten Wettbewerbs ist die Konkurrenz zwischen einzelnen Teilsystemen und ihren Angehörigen um knappe Ressourcen, da mit verschiedenen Mitteln ähnliche Bedürfnisse befriedigt werden (vgl. Durkheim 1988: 326 f.). Exemplarisch für diesen Zusammenhang kann die Exzellenzinitiative/-strategie in der deutschen Hochschullandschaft genannt werden, bei der Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen und Hochschulen um Arbeitsplätze, Forschungsressourcen und Statusaufstieg konkurrieren (vgl. Münch 2009). Vor diesem Hintergrund kann Neoliberalismus im Vergleich zum Liberalismus als intervenierende Regierungspraxis bezeichnet werden. Zwar finden keine direkten Interventionen in den Wirtschaftsprozess statt, aber auf die Rahmenbedingungen des Marktes wird so eingewirkt, dass verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme und ihre Angehörigen einer Wettbewerbsordnung entsprechen (vgl. Foucault 2004b: 188 f.). In diesem Zusammenhang hält Lemke (2000: 37 f.) fest:

„Während am Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialisierung des Risikos an die Erfindung neuer – sozialer – Formen der Regierung gebunden war, geht am Ende des 20. Jahrhunderts die Privatisierung von Risiken auf eine Neuauflage liberaler Regierungsmodi zurück. Diese neoliberalen Regierungsformen führen jedoch nicht […] zu einem Abbau des Staates […]; im Gegenteil übernimmt der Staat innerhalb des Neoliberalismus über seine traditionellen Funktionen hinaus neue Aufgaben. Die neoliberalen Regierungsformen zeichnen sich nicht nur durch direkte Interventionen durch autorisierte und spezialisierte Staatapparate, sondern auch durch die Entwicklung indirekter Techniken aus, die Individuen führen und anleiten, ohne für sie verantwortlich zu sein.“

Die Verschiebung von einer liberalen Politik des Laissez-faire hin zu einer wachsamen und aktiven neoliberalen Gesellschaftspolitik macht sich auch in einem Wandel der politischen Rationalität bemerkbar. Denn für liberale Klassiker stellt das Phänomen des Monopols ein Paradoxon dar, weil sie davon ausgegangen sind, dass Monopolbildung eine natürliche Konsequenz des Wettbewerbs ist. Gleichzeitig wurde die Annahme geteilt, dass es nur einen freien Markt geben kann, wenn Monopole bekämpft werden, was direkte Interventionen in den Wirtschaftsprozess zur Folge hätte – also ließ man die Dinge geschehen, was zu sozialstaatlichen Interventionen in Form einer pastoralen Regierungspraxis führte (vgl. Foucault 2004b: 191 f.). Die Rationalität einer pastoralen Regierungspraxis folgt dem Wert der Wohltätigkeit und „ihre Daseinsberechtigung [liegt] lediglich darin, das Gute zu tun […]. Das Heil der Herde ist in der Tat für die pastorale Macht das wesentliche Zielobjekt“ (Foucault 2004a: 189). Das liberale Monopol-Paradoxon soll durch direkte staatliche Interventionen in die sozialen Rahmenbedingungen des Marktes gelöst werden (vgl. Rüstow 1949). Zu dieser politischen Forderung gelangten die europäischen neoliberalen Klassiker, weil sie nicht davon ausgingen, dass Monopole die natürliche Folge von Wettbewerb sind, sondern durch die Rahmenbedingungen des Wirtschaftsprozesses entstehen. Die Lösung des liberalen Monopol- und Sozialstaatproblems liegt, laut den europäischen neoliberalen Klassikern, zwischen Kapitalismus und Sozialismus (ebd.). Anstatt Wirtschaftsprozesse geschehen zu lassen oder Wirtschaftszweige zu sozialisieren, soll das Soziale ökonomisiert werden, indem gesellschaftliche Teilbereiche mit dem formalen Mechanismus des Wettbewerbs konfrontiert werden (ebd.: 133 ff.). Denn die „Formalisierung der Wettbewerbsmechanismen“ (Foucault 2004b: 230 f.) wird als Mittel gegen sozial konstruierte Monopole angesehen. Mit anderen Worten:

„Das Gesetz kann nicht Zustände verbieten, sondern nur Arten des Handelns. Was wir erhoffen können, ist nur, daß, wann immer sich die Möglichkeit des Wettbewerbs wieder ergibt, niemand verhindert werden wird, sie zu nützen. Wo ein Monopol auf künstlich geschaffenen Hindernissen gegen den Eintritt in den Markt beruht, ist aller Grund gegeben, diese zu beseitigen“ (Hayek 1991: 338).

Die Kritik an einem staatlich organisierten Quasi-Markt mit einem Als-ob-Wettbewerb erübrigt sich an dieser Stelle, weil die Auseinandersetzung mit den Effekten einer neoliberalen Gesellschaftspolitik bereits im empirischen Teil der Arbeit stattfindet. Bevor das hier skizzierte Analyseraster auf akademische Subjektivierung in der deutschen Hochschullandschaft übertragen wird, bedarf es einiger Anpassungen sowie einer kritischen Reflexion des Konzepts der Gouvernementalität.

3.3 Eine kritische Reflexion des Konzepts der Gouvernementalität

Der erste grundlegende Kritikpunkt am Analyseraster der Gouvernementalität entsteht durch eine unzureichende Trennschärfe der Termini Regierung und Gouvernementalität. Während Gouvernementalität anfänglich von Foucault genutzt wird, um verschiedene Regierungsweisen zu unterscheiden, und Regierung als ein spezifischer Machttypus beschrieben wird, bei dem es darum geht, Macht in Form von (politischer) Souveränität auszuüben, vermischen sich die Termini zunehmend und erhalten einen übergreifenden Geltungsanspruch (vgl. Foucault 2004a: 162; 2004b: 13 f.). Um beide Begriffe trennscharf anzuwenden, müssen Fragmente und Verwerfungen während der Vorlesungsreihen von 1977/78 und 1978/79 geordnet werden: Dazu wird auf Foucaults (2004b: 261) allgemeines Verständnis von Gouvernementalität als „die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert […]“, Bezug genommen, um es in zweifacher Hinsicht zu präzisieren: Erstens charakterisiert das Konzept der Gouvernementalität spezifische Regierungsweisen, die anhand von verschiedenen Wissensordnungen, Rationalitäten, Herrschaftstechnologien und Subjektivierungsformen unterschieden werden. Zweitens bildet Gouvernementalität ein Analyseraster für die Ontologie von Wissen, Macht und Subjektivierung, wohingegen Regierung das Anwendungsfeld der Regierungspraxis beschreibt, d. h. wo und wie (politische) Souveränität ausgeübt wird (vgl. Foucault 2004a: 146 f.). Oder anders formuliert: „Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ (Foucault 1996: 118). Damit bezieht sich regieren (frz. gouverner) „auf die Herrschaft, die man über sich selbst und über andere ausüben kann, über seinen Körper, aber auch über seine Seele und seine Art zu handeln“ (Foucault 2004a: 183).

„Daraus folgt, dass Regierung im Sinne Foucaults auch spezifische Formen der Intervention strukturiert. Eine politische Rationalität ist nämlich kein reines und neutrales Wissen, das die zu regierende Realität lediglich „re-präsentiert“, sondern stellt selbst bereits eine intellektuelle Bearbeitung der Realität dar, an der dann politische Technologien ansetzen können. Darunter sind Apparate, Verfahren, Institutionen, Rechtsformen etc. zu verstehen, die es erlauben sollen, die Objekte und Subjekte einer politischen Rationalität entsprechend zu regieren“ (Lemke 2000: 32 f.).

Es kann konstatiert werden, dass die politische Rationalität den Modus einer Regierung festlegt und wie Subjekte handeln sollen, wodurch sich Regierungspraxis in Herrschaftstechnologien und Selbsttechnologien reflektiert. Denn beim Regieren geht es darum, Individuen durch sich selbst und durch andere zu führen. „Der Begriff der Regierung meint hier nicht einen lokalisierbaren Punkt der Macht, von dem hierarchisch ‚regiert‘ wird, sondern die Verbindung von Formen der Lenkung von Individuen mit Weisen ihrer Selbstführung“ (Junge 2008: 48). Demgemäß können Herrschafts- und Selbsttechnologien als kollektive und individuelle Handlungsanweisungen betrachtet werden (vgl. Lemke 2014: 260). Es regiert also kein Staat über sein Hoheitsgebiet, sondern in jedem Fall Menschen über Menschen. Dabei beschränkt sich die Regierung nicht auf eine politische Souveränität. Vielmehr eignet sich das Paradigma der Regierung, um soziale Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten zu erklären. Ein „Haus zu führen“, „Kinder zu lenken“ oder einen „religiösen Orden zu führen“ (Foucault 2004a: 141) bedeutet, dass Menschen mit verschiedenen Herrschafts- und Selbsttechnologien sowohl auf ihre eigenen als auch die Denk- und Handlungsweisen anderer einwirken, wohingegen mit dem Konzept der Gouvernementalität politische Souveränität hervorgehoben und verschiedene Regierungsweisen entlang von Wissen, Macht und Subjektivierung analysiert werden (ebd.: 142 f.). Denn unter modernen Regierungsweisen ist Souveränität nicht mehr an das (göttliche) Recht oder die Weisheit von Regierenden gebunden, sondern an die gouvernementale Vernunft einer modernen Regierung. Eine moderne Regierung übt politische Souveränität aus, indem sie sich die Interessen der Bevölkerung aneignet und diese Interessen mit Herrschaftstechnologien steuert (vgl. Foucault 2004b: 73 f.). Dadurch rückt die Bevölkerung in den Mittelpunkt der Regierungspraxis (ebd.: 74). Wenn auf (neo-)liberale Gouvernementalität Bezug genommen wird, geht es um eine Regierungsweise, „die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“ (Foucault 2004a: 162). Wenn es jedoch um Regierungspraxis im Allgemeinen geht, findet eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Fremd- und Selbsttechnologien in Anwendungsfeldern wie der deutschen Hochschullandschaft statt.

Weitere Kritikpunkte am genealogischen Analyseraster der Gouvernementalität öffnen sich durch das einseitige Verhältnis zwischen Wissen, Macht und Subjektivierung, welches der Soziologie des individuellen Widerstands in mehrfacher Hinsicht widerstrebt. Denn sowohl der Duktus von gouvernementalitätstheoretischen Arbeiten als auch der programmatische Zugang zur sozialen Wirklichkeit sowie die Reduktion von Wissen auf Macht suggeriert eine fatalistische Lebenstotalität und lässt dadurch die Konturen von individuellem Widerstand in seiner gedachten und gelebten Form verblassen (vgl. Lessenich 2003: 91 f.). Damit verursacht programmatisches Material in Arbeiten der Gouvernementalitätsstudien eine Vernachlässigung von Subjektivierungsweisen und nicht-diskursiven Praktiken (vgl. Bröckling 2007; Fach 2015). Außerdem scheinen eingeübte Forschungspraktiken die Perspektive in den Gouvernementalitätsstudien zu beeinflussen, da einige Vertreter*innen des Konzepts kritisch darauf hinweisen, dass mit einem genealogischen Analyseraster die Wirklichkeit nur in einer programmatischen Form erfasst wird (vgl. Bröckling 2007: 283; Lemke 2000: 31). Zumindest würde die Dominanz etablierter Forschungspraktiken im Analyseraster der Gouvernementalität erklären, warum bei der empirischen Umsetzung einer dispositivanalytischen Forschungsperspektive – die theoretisch Widerstand berücksichtigt – schlussendlich der programmatische Zugang zur sozialen Wirklichkeit gewählt und nicht zwischen Subjektivierungsformen und –weisen unterschieden wird (vgl. Bröckling & Peter 2017: 289). Dahingehend werden in einer anderen dispositivanalytischen Arbeit mit der methodologisch-empirischen Kontrastierung von (nicht-)diskursiven Praktiken und von Subjektivierungsformen mit -weisen die einschlägigen Forschungspraktiken der Gouvernementalitätsstudien einer kritischen Reflexion unterzogen (vgl. Junge 2008: 100–104). Die vorliegende Arbeit knüpft an Junges (2008) Forschungsstil an, indem innerhalb eines neoliberalen Dispositivs im Anwendungsfeld der deutschen Hochschullandschaft nicht-diskursive Praktiken und akademische Subjektivierungsweisen erforscht werden. Schlussendlich ist eine genealogische Reduktion von Wissen auf Macht problematisch, da (individueller) Widerstand als nicht etabliertes Kräfteverhältnis weitestgehend unerforscht bleibt und Fluchtpunkte in einem modernen Subjektivierungsregime verschwinden. Zugespitzt formuliert: „Wer Wahrheitsgeltung und Aussagesinn auf pure Machtprozesse reduziert, hat keine Gründe mehr, sich diesen zu widersetzen oder zu entziehen. Tut er es doch, so tut er es grundlos“ (Waldenfels 1991: 281).

Mit der genealogischen Forschungspraxis von Gouvernementalitätsstudien drängen sich wissenschaftliche und politische Probleme auf, denn die Programmatik von Regierungsweisen lässt Widerstand in Form äußerer Ausschlussmechanismen erscheinen und verkennt dadurch den konstruktiven Charakter von „Revolten der Verhaltensführung“ (Foucault 2004a: 282) in doppelter Weise: Erstens bleibt mit der Unsichtbarkeit von Gegenverhaltensweisungen offen, welche Rolle (nicht-)diskursive Praktiken und Subjektivierungsweisen bei der Konstitution von Regierungsweisen spielen. Zweitens wird durch das Verschweigen von Gegenprojekten und Handlungsalternativen eine sozialwissenschaftliche Lebenstotalität produziert, die (ungewollt) zum Vehikel der neoliberalen Maxime „there is no alternative“ (Berlinski 2011) wird (vgl. Röpke 1997: 61). Kurzum: „Sowohl aus theoretischen wie aus politischen Gründen wäre es also notwendig, weniger die Kohärenz und Konsistenz als vielmehr die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Rationalitäten und Technologien herauszuarbeiten“ (Lemke 2000: 42). Es können auch Programmatiken herangezogen werden, um zu zeigen, dass Anrufungen und Als-ob-Anthropologien unabschließbare Anforderungen und erschöpfende Subjektivierungsformen darstellen. In diesem Zusammenhang resümiert Bröckling (2007: 283) über die Realfiktion des unternehmerischen Selbst:

„So kohärent das Rationalitätsmodell, so ausgefeilt die Strategie der Zurichtung und Selbstzurichtung auch sein mögen, sie übersetzen sich niemals bruchlos in Selbstdeutungen und individuelles Verhalten. Gemessen an ihrem Anspruch ist die Produktion unternehmerischer Individuen wie andere Subjektivierungsprogramme auch zum Scheitern verurteilt.“

Mithilfe der Kritik an gouvernemantalitätstheoretischen Studien werden in der vorliegenden Arbeit sowohl theoretische Annahmen als auch die genealogische Forschungspraxis des Konzepts der Gouvernementalität durch die Soziologie des individuellen Widerstands erweitert. Gleichwohl wird damit der Versuch unternommen, eine Theorie der Ent-Subjektivierung mit empirischen Erkenntnissen anzureichern (vgl. Foucault 1996: 27). Mit dieser Vorgehensweise soll überprüft werden, ob sich Wissenschaftler*innen (zeitweise) einem gouvernementalen Zugriff entziehen sowie normative Anforderungen durch ihre interpretative Kompetenz umdeuten und transformieren. Zu klären ist dann zunächst: Ist es überhaupt möglich, als Wissenschaftler*in die Zwänge des „Selbst-sein-Müssens“ (Bröckling 2007: 287) zu überwinden, ohne sich in Selbstauflösung oder -auslöschung zu begeben? Wenn die Möglichkeit zur Ent-Subjektivierung im wissenschaftlichen Feld besteht, bildet der Übergang von Regierungsweisen zu persönlichen Denk- und Handlungsweisen keine fatalistische Lebenstotalität, sondern einen Fluchtpunkt und eine Handlungsalternative im Regime von Wissen, Macht und Subjektivierung. Zur theoretischen Fundierung dieser Annahmen wird im Folgenden das Konzept der Gouvernementalität durch die Forschungsperspektive eines Dispositivs erweitert.

3.4 Gouvernementales Dispositiv

Vorerst muss geklärt werden: Was ist ein (gouvernementales) Dispositiv? Anhand von zwei sozialwissenschaftlichen Definitionsangeboten wird exemplarisch gezeigt, dass es sich beim Konzept des Dispositivs um einen weitestgehend unerschlossenen und unübersichtlichen Forschungsansatz handelt (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 9 f.). Vor diesem Hintergrund beschreibt Foucault (1978: 119 f.) ein Dispositiv als ein

„heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt […]. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“

Dieses universelle Dispositivverständnis wird von Keller (2011: 235) durch eine diskurszentrierte Definition präzisiert: Ein Dispositiv ist die „materielle und ideelle Infrastruktur, d. h. die Maßnahmenbündel, Regelwerke, Artefakte, durch die ein Diskurs (re-)produziert wird und Effekte erzeugt (z. B. Gesetze, Verhaltensanweisungen, Gebäude, Messgeräte).“ Einerseits wird das Dispositiv als Kit zwischen Diskursiven (Gesagtem) und Nicht-Diskursen (Ungesagtem) beschrieben (vgl. Foucault 1978: 119 f.). Andererseits wird ein Dispositiv auf die Infrastruktur von Diskursen und deren Effekte reduziert (vgl. Keller 2011: 235). In beiden Definitionsangeboten bleibt offen, welche Rolle handelnde Menschen in der Maschinerie des Dispositivs spielen. Erhellt wird diese Leerstelle durch Subjektivierungslinien, welche Sichtbarkeitslinien, Linien des Aussagens und Kräftelinien eines Dispositivs stabilisieren, durchkreuzen oder brechen, weil

„das Selbst […] weder ein Wissen noch eine Macht [ist]. Es ist ein Individualisierungsprozeß, der sich auf Gruppen oder Personen bezieht und sich den etablierten Kräfteverhältnissen sowie den konstituierten Wissensarten entzieht: eine Art Mehrwert. Es ist nicht sicher, daß jedes Dispositiv so etwas zuläßt“ (Deleuze 1991: 155 f.).

Um also zu klären, ob Wissenschaftler*innen Widerstand in einem gouvernementalen Dispositiv im Anwendungsfeld der deutschen Hochschullandschaft leisten, müssen die unterschiedlichen Dimensionen eines Dispositivs skizziert werden (ebd.: 153).

Entgegen von Kellers (2011: 235) diskurszentrieten Dispositivverständnis wird in der vorliegenden Arbeit für eine erweiterte Dispositivperspektive argumentiert, weil Dispositive „als Ensembles zu verstehen [sind], welche Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände und Subjekte als Akteur*innen als Individuen und/oder Kollektive“ (Bührmann & Schneider 2012: 68) durch Sichtbarkeitslinien, Aussagelinien, Kräftelinien und Subjektivierungslinien miteinander verbinden (vgl. Deleuze 1991: 157). Die wesentliche Funktion eines Dispositivs liegt darin, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auf einen (gesellschaftlichen) Notstand (frz. urgence) zu antworten (vgl. Foucault 1978: 120). Mit dem Dispositivkonzept werden – ähnlich wie beim Analyseraster der Gouvernementalität – die Dimensionen Diskurse/Rationalitäten, Praktiken/Herrschaftstechnologien und Vergegenständlichungen/Subjektivierung analysiert (vgl. Bröckling & Peter 2017: 285 f.). Die erste Dimension beinhaltet institutionalisierte Wissensordnungen bzw. (politische) Rationalitäten (Diskurse/Rationalitäten), die in der zweiten Dimension diskursspezifische Praktiken bzw. Technologien der Menschenführung (Praktiken/Herrschaftstechnologien) erzeugen. Durch den Diskurs-Praktiken- bzw. Rationalitäten-Herrschaftstechnologien-Komplex entstehen in der dritten Dimension Vergegenständlichungen sowie Subjektivierungsformen und -weisen (Vergegenständlichungen/Subjektivierung). Im Netz eines gouvernementalen Dispositivs wird von einer Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Dimensionen ausgegangen, wie mit der Abbildung 3.2 ersichtlich wird (vgl. Abbildung 3.2: Dimensionen eines gouvernementalen Dispositivs).

Abbildung 3.2
figure 2

Dimensionen eines gouvernementalen Dispositivs

Mit der Annahme einer Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Dimensionen eines gouvernementalen Dispositivs findet im Gegensatz zu Bröckling und Peter (2017: 288), die sowohl die „Entgegensetzung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken für wenig fruchtbar“ halten als auch Subjektivierungprozesse auf Subjektivierungsformen reduzieren, eine Differenzierung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven (Herrschafts-)Praktiken sowie zwischen Subjektivierungsformen und -weisen statt (Bührmann & Schneider 2012: 50 f.). Denn in der Unterscheidung zwischen Diskursiven und Nicht-Diskursiven sowie zwischen subjektiven Soll- und persönlichen Ist-Zuständen liegt ein doppelter Mehrwert für die Soziologie des individuellen Widerstands: Erstens lässt die subjektorientierte Perspektive den Effekt eines Systems von unterschiedlichen Regierungsweisen aus der Perspektive handelnder Menschen sichtbar werden (vgl. Foucault 2004b: 115). Und zweitens wirkt die Berücksichtigung von nicht-diskursiven Praktiken und Subjektivierungsweisen einer Totalität von Regierungsweisen und einer Reduktion von Wissen auf Macht entgegen (vgl. Bührmann & Schneider 42 ff.; Waldenfels 1991: 281). Dadurch reichert die hier vorgeschlagene Soziologie des individuellen Widerstands eine Theorie der Ent-Subjektivierung mit einer Praxis der Selbstbefreiung an (vgl. Foucault 1996: 27). Folglich müssen diskursive und nicht-diskursive Praktiken sowie Subjektivierungsformen und -weisen unterschieden werden, um das Unsagbare, das Unsichtbare und das Irrationale in einem gouvernementalen Dispositiv zu beleuchten. In diesem Kontext wird die Perspektive auf Dispositive als „Sichtbarkeitsmaschinen“ (Bröckling & Peter 2017: 300) bzw. als „Fabrik von symbolischen Gütern“ (Maeße & Hamann 2016: 42 f.) erweitert, indem die Produktion des Unsagbaren und der Unsichtbaren mit Subjektivierungsweisen und nicht-diskursiven Praktiken erforscht wird. Nicht-diskursive Praktiken werden als Denk- und Handlungsweisen verstanden, die keiner institutionalisierten Wissensordnung eines Dispositivs entsprechen, wodurch sich Individuen Wahrheit, Macht und Subjektivierung entziehen können (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 47; Foucault 2015: 99).

„Gleichwohl können dem gegenüber nicht-diskursive Praktiken auch mit bestimmten diskursiven Praktiken bzw. angebbaren Diskursen in Bezug stehen. Unterstellt wird also die Möglichkeit einer sinnvollen analytischen Differenzierung zwischen dem Diskursiven und Nicht-Diskursiven als für die Empirie fruchtbare Heuristik“ (Bührmann & Schneider 2012: 47).

Wohingegen diskursive Praktiken „typische realisierte Kommunikationsmuster [sind], sofern sie in einen Diskurszusammenhang eingebunden sind […], deren Ausführung als konkrete Handlung […] der interpretativen Kompetenz sozialer Akteure bedarf und von letzteren aktiv gestaltet wird“ (Keller 2011: 228). Die interpretative Kompetenz von Akteur*innen besitzt damit einen zentralen Stellenwert für die Untersuchung des individuellen Widerstands in einem Regime von Wissen, Macht und Subjektivierung. Denn die Fluchtpunkte und Brüche im Subjektivierungsregime eines gouvernementalen Dispositivs können erst mit der analytischen Unterscheidung von (nicht-)diskursiven Praktiken sowie von subjektiven Soll- und persönlichen Ist-Zuständen lokalisiert werden. Mit dieser wissenschaftlichen Vorgehensweise können sowohl theoretische Annahmen der Soziologie des individuellen Widerstands als auch eine (Ent-)Subjektivierungs-Theorie empirisch fundiert werden. Gleichwohl wird mit der doppelten Perspektive auf (akademische) Subjektivierung für „Das-Subjekt-ist-tot-es-lebe-das-Subjekt“-Problem (Angermuller 2015: 101) ein Lösungsvorschlag angeboten, da weder von einem vollkommen unterjochten Subjekt noch von einem emanzipierten Menschen ausgegangen wird. Zudem wird mit der doppelten Forschungsperspektive die soziale Wirklichkeit nicht auf eine totalitäre Tatsache reduziert, sondern durch ihre Prozesshaftigkeit zum sozialen Ereignis gemacht. Um mit der Evidenz des Wissens, der Macht und der Subjektivierung zu brechen, wird individueller Widerstand von handelnden Menschen erfasst, wodurch Konturen einer alternativen sozialen Ordnung skizziert werden können (vgl. Foucault 2005b: 29 f.). Dahingehend soll aus subversiven Verhaltensweisen kein anderes Regierungs- und Subjektivierungsprogramm entstehen, sondern die Struktur einer sozialen Ordnung, die weitestgehend ohne Regierung und Subjektivierung auskommt.