Bei dem Versuch, die aufgeworfene Frage mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Lexika-Beiträgen zu klären, zeigen sich Leerstellen und diffuse Erklärungsversuche, wohingegen über die Definition von Liberalismus weitestgehend Einigkeit herrscht: So konstatiert Zöller (2014: 273),

„dass der Begriff in den spanischen Verfassungskonflikten der nachnapoleonischen Zeit erstmals als Selbstbezeichnung einer politischen Richtung auftaucht. Übereinstimmung besteht aber auch darüber, dass die Ideen, die den Liberalismus ausmachen, sich lange vorher gebildet haben und dass sie in England während der Kämpfe des 17. Jh.s durch die Vorstellung der ,Whigs‘, die in der ,Glories Revolution‘ als Sieger aus diesen Auseinandersetzungen hervorgingen, erstmals zu politischer Wirksamkeit gelangten.“

Gemäß dieser Definition zählen die Forderung nach einer Gleichstellung der Menschen vor dem Gesetz, nach dem Schutz des Privateigentums und nach Meinungsfreiheit zur politischen Ideengeschichte des Liberalismus (vgl. Hillmann 2007: 501; Zöller 2014: 273). Folglich entwickeln sich die Anerkennung individueller Grundrechte und Freiheiten sowie eine Abgrenzung von absolutistischen und feudalen Ideen zur Basis des Liberalismus (vgl. Recker 2000: 407). Im Zentrum des klassischen Liberalismus befindet sich die politische Philosophie von Mill (2012 [1859]) und Locke (2012 [1689]). Insbesondere Lockes (ebd.) Tria „Leben, Freiheit und Eigentum“ führt zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Individuum und Staat im 18./19. Jahrhundert (ebd.). In diesem Zusammenhang überträgt Smith (2007 [1776]) die liberale Maxime, den Staatszweck auf Ordnungs- und Sicherheitsfunktionen zu beschränken, um individuelle Freiheiten nicht durch einen LeviathanFootnote 1 zu gefährden, auf die Wirtschaftstheorie und wird zum Vordenker der liberalen Wirtschaftspolitik des Laissez-faire. Mit der Laissez-faire-Wirtschaftspolitik wird der Liberalismus vom Merkantilismus abgegrenzt, da dem Staat untersagt wird, in die Ökonomie einzugreifen (vgl. Foucault 2004a: 486–490). Das Laissez-faire-Prinzip wird durch die Theorie der Marktharmonie von Smith (2007 [1776]) wissenschaftlich fundiert: Hier wird davon ausgegangen, dass die Preisbildung im Zustand der vollkommenen Konkurrenz, ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage erzeugen und dadurch Wirtschaftssubjekte individuelle Wahlmöglichkeiten der Nutzenmaximierung erhalten (vgl. Ganslandt 2010: 566). Die verstreuten Interessen der Wirtschaftssubjekte werden von der unsichtbaren Hand des Marktes zu einem positiven kollektiven Resultat der gemeinsamen Bereicherung zusammengeführt und erzeugen eine Marktharmonie (vgl. Smith 2007 [1776]: 349 f.). Infolge dieser Annahmen gehen die Vertreter*innen einer liberalen Wirtschaftspolitik davon aus, dass ein Wirtschaftssubjekt „nur an seinen eigenen Vorteil [denkt], und am Ende profitiert die ganze Industrie davon“ (Foucault 2004b: 383). Vor dem Hintergrund einer liberalen Wirtschaftspolitik und der Theorie der Marktharmonie sollen wirtschaftliche Entscheidungen nicht mehr vom Staat getroffen werden, sondern von Wirtschaftssubjekten, die durch die unsichtbare Hand des Marktes geleitet werden (vgl. Smith 2007 [1776]: 349 f.). Soweit herrscht Einigkeit unter den berücksichtigten Lexika-Beiträgen (vgl. Ganslandt 2010; Hillmann 2007; Klima 2011; Recker 2000; Zöller 2014), wohingegen die geistes- und sozialwissenschaftlichen Interpretationen von liberalen Ideen zu keinem Konsens gelangen.

So deuten Ganslandt (2010: 565) und Klima (2011: 408) den Liberalismus als Ideologie, während Hillmann (2007: 501) im klassischen Liberalismus ein „System von Anschauungen über eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung“ sieht. Bei Recker (2000: 407) avanciert der liberale Diskurs zu einer „weltanschaulichen Richtung, die in ihren verschiedenen Ausprägungen individuelle Grundrechte und Freiheiten in den Vordergrund stellt“. Oder mit anderen Worten zusammengefasst:

„Kaum ein Begriff hat durch die Vermengung alltagssprachlicher und historisch-politischer Bedeutungen einerseits und das Nebeneinander verschiedener ideenpolitischer Definitionen andererseits so sehr an Aussagekraft verloren wie der Begriff Liberalismus (engl. liberalism). […] Dieses Ideengemenge blieb auch im 20. Jh. bestimmend, bis schließlich v. a. die Schriften F. A. v. Hayeks ein neues Interesse an dem Gesellschaftskonzept des klassischen Liberalismus auslösten“ (Zöller 2014: 272 f.).

2.1 Neoliberalismus als Interdiskurs

Im Folgenden wird (Neo-)Liberalismus als Interdiskurs betrachtet, weil eine (neo-)liberale Wissenspolitik Elementar- und Spezialdiskurse miteinander verbindet und diese speziellen und allgemeingültigen Wissensordnungen transformiert. Die Ideengeschichte des (neo-)liberalen Diskurses weist zahlreiche Verbindungen zu verschiedenen wissenschaftlichen SpezialdiskursenFootnote 2 und zu ElementardiskursenFootnote 3 auf (vgl. Link 2012: 58; Müller-Armack 1932: 13; Smith 2007 [1776]). Grundsätzlich sind Diskurse „institutionalisierte, nach verschiedenen Kriterien abgrenzbare Bedeutungsarrangements, die in spezifischen Sets von Praktiken (re-)produziert und transformiert werden“ (Keller 2008: 205). Aus diesem Grund erlangen institutionalisierte Aussagesysteme nur einen Geltungsanspruch in der sozialen Wirklichkeit, wenn sie für Akteur*innen sinnstiftende Handlungsrezepte und damit Antworten auf soziale Deutungs- und Handlungsprobleme liefern. Folglich können Spezialdiskurse – im Unterschied zu Elementardiskursen (Alltagswissen) – als begrenzte Sagbarkeits- und Wissbarkeitsräume bezeichnet werden, die Subjekte mit speziellem Wissen hervorbringen (vgl. Link 2012: 58). Diesbezüglich folgen die Subjekte von Spezialdiskursen der Logik einer Wissensspezialisierung und erzeugen mit trennscharfen Begriffen und Definitionen Eindeutigkeit, wohingegen Subjekte mit institutionalisiertem Alltagswissen universelle Wissens- und Sagbarkeitsräume hervorbringen. Oder anders zusammengefasst: „Moderne Expertendiskurse sind in ihrer Objektivierung textförmig und sozial berufsförmig verfasst, während die Alltagsdiskurse eher mündlich und weniger kodifiziert sind; wir können hier vom Vorliegen einer epistemischen Differenz sprechen“ (Pfahl & Traue 2013: 428). Interdiskurse bilden eine Brücke zwischen Elementar- und Spezialdiskursen. Diese zur Wissensspezialisierung gegenläufigen und entdifferenzierten Diskurse speisen sich einerseits aus Fragmenten von Spezialdiskursen und andererseits „benötigen [Interdiskurse] zu ihrer Reproduktion […] eine Art Korrelat bzw. Kompensation […], die zwischen den Spezialitäten vermitteln und,Brücken schlagen‘“ (Link 2012: 59). Ein wesentlicher reproduktiver Bezugspunkt von Interdiskursen ist Alltagswissen. Damit sind Interdiskurse reintegrierende Wissensbereiche, die Subjekte mit selektivem, fragmentarischem Wissen aus verschiedenen Spezialdiskursen hervorbringen. Gleichzeitig besitzen diese Subjekte mit ihrem fragmentarischen Wissen einen universellen Geltungsanspruch, weil sie mit ihrer Übersetzungsfunktion spezialisiertes Wissen allgemein zugänglich und verständlich machen. Exemplarisch wird dieser Zusammenhang mit folgender Abbildung darstellt (vgl. Abbildung 2.1: Interdiskurse als reintegrierende und transformierende Wissensordnungen).

Abbildung 2.1
figure 1

Interdiskurse als reintegrierende und transformierende Wissensordnungen

Der Abbildung 2.1 zufolge verbinden herrschende Subjekte des (Neo-)Liberalismus Spezial- und Elementardiskurse miteinander, weil einerseits wissenschaftliches Wissen (re-)produziert wird. Andererseits transformieren und politisieren (neo-)liberale Subjekte spezialisiertes Wissen, um daraus allgemeingültige Handlungsrezepte zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund konterkarieren sich die diffusen Deutungsversuche von (Neo-)Liberalismus der Lexika-Beiträge nicht, sondern verweisen mit einer diskurstheoretischen Lesart auf die Struktur eines Interdiskurses. Dadurch lässt sich (Neo-)Liberalismus als Wissenschaft, Weltanschauung oder Ideologie begreifen (vgl. Foucault 2004b: 248). Oder anders formuliert: „Der Liberalismus als allgemeiner Stil des Denkens, der Analyse und der Einbildungskraft“ (ebd.: 305). Aus diesem Grund entstehen zwischen einem neoliberalen Diskurs und anderen Wissensordnungen keine klaren Grenzen. Außerdem besitzt ein neoliberaler Interdiskurs reintegrierende und transformierende Eigenschaften, weil neoliberale Subjekte Spezialdiskurse als Vehikel für ihre Ideen nutzen und wissenschaftliches Wissen in veränderter Form in Alltagswissen übergeht (vgl. Müller-Armack 1932: 13; Röpke 1997: 52). „Dies kann synchron geschehen, sofern ein Diskurs sich gegen andere behauptet oder sich mit ihnen verbündet, es kann diachron geschehen, sofern ein Diskurs andere ablöst oder durch sie abgelöst wird“ (Waldenfels 1991: 290). Die Besonderheit einer neoliberalen Wissensordnung liegt also einerseits in der kreativen Umdeutung und Politisierung von wissenschaftlichem Wissen und andererseits in der Übersetzungsleistung, spezialisiertes Wissen durch eine neoliberale Rationalität zu verallgemeinern, ohne dabei die Ordnung des neoliberalen Interdiskurses zu destabilisieren (vgl. Link 2012: 58 f.).

2.2 Neoliberale Klassiker als Anwälte des Marktes und Diskursguerillas

In der Handlungsweise herrschender Subjekte eines liberalen und neoliberalen Diskurses lassen sich Parallelen beobachten, denn (neo-)liberale Subjekte nutzen ihren Expert*innenstatus, um einen universellen Geltungsanspruch zu erlangen (vgl. Hayek 1981). Den Expert*innenstatus erlangen herrschende Subjekte des Interdiskurses durch die Einbettung in Spezialdiskurse sowie durch ihre Übersetzungsfunktion (vgl. Lenel, Molsberger, Gröner & Schüller 1997: 25). Jedoch anders als hochspezialisierte Wirtschaftsexpert*innen, die in einem eng begrenzten Wissensraum agieren, erzeugen (neo-)liberale Expert*innen einen universellen Geltungsanspruch, weil sie einen trans-epistemischen Raum herstellen, der eine Schnittstelle von Alltag, Politik und Wissenschaft bildet (vgl. Maeße 2017: 313).

„Hierbei werden nicht nur unterschiedliche Kapitalsorten aus verschiedenen Feldern auf eine Diskursposition konzentriert, von der dann unmittelbare Dominanz ausgeübt werden kann. Vielmehr geht es gerade nicht darum Dominanz auszuüben, sondern darum, einen relativ komplexen, multireferentiellen Kommunikationsprozess zu ermöglichen, der die Fäden zusammenführt und somit diverse Interessen, soziale Perzeptionen, Handlungslogiken und Machtoptionen in Politik, Alltag und Wissenschaft orchestriert“ (ebd.).

Gemäß dieser Definition sind (neo-)liberale Expert*innen kreativ-eigensinnige Übersetzer*innen, die beim Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Politik und Alltag die Narrative der einzelnen Diskurse mit persönlichen Deutungen anreichern und damit Legitimationsbestrebungen einer (neo-)liberalen Wissensordnung verfolgen (vgl. Lyotard 1994: 90). Dementsprechend sind für neoliberale Klassiker wirtschaftliche Fragen auch immer mit politischen und sozialen Fragen verbunden. Um Handlungsrezepte für gesellschaftliche Problematisierungen zu entwickeln, werden Fragmente unterschiedlicher Spezialdiskurse genutzt (vgl. Müller-Armacks 1932: 55 ff.). An dieser Stelle findet ein Transfer von Prinzipien des Marktes auf das Soziale statt, wodurch ein Zugriff auf Elementardiskurse und ihre Angehörigen hergestellt wird. Diese Strategie ermöglicht, selektives, spezialisiertes Wissen in Elementardiskurse zu übersetzen und neoliberale Lösungen für soziale Problematisierungen anzubieten, ohne von der Zielsetzung einer Marktgesellschaft abzuweichen, denn eine neoliberale Gesellschaftsordnung soll nach dem Primat des Marktes organisiert werden (vgl. Röpke 1997: 52). Das Einhegen von Marktprinzipien in gesellschaftliche Teilbereiche verdeutlicht einen universellen Geltungsanspruch der herrschenden Subjekte des neoliberalen Interdiskurses. So plädiert Röpke (1997: 39) dafür, „die Politik der Marktwirtschaft mit einer Politik zu verknüpfen, die jene Ordnungen schafft und erhält; [dazu gilt es] das Feld der Gesellschafts- und Sozialpolitik im weitesten Sinne zu erschließen, die freilich so beschaffen sein muß, daß sie dem Sinn der Marktwirtschaft nicht widerspricht“. Was Röpke (ebd.) allgemeingültig formuliert, wird von Hayek (1981) in einem Interview über soziale (Un-)Gleichheit präzisiert. Hier fordert der Nobelpreisträger für Ökonomie im Kontext des Bevölkerungsproblems der 1980er Jahre eine Regulation der Weltbevölkerung durch einen Wettbewerb um lebensnotwendige Ressourcen und die Anerkennung einer kulturellen Evolution unter dem Primat des Marktes. Auf die Frage des Redakteurs der „WirtschaftsWoche“, ob man eine internationale Umverteilung zugunsten von Entwicklungsländern ablehnen sollte, antwortet Hayek (1981: 38):

„Ja, sicher. […] Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung aber unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“

Hayeks politische Forderung suggeriert einen Idealzustand der vollkommenen Konkurrenz, unter dem unterschiedliche Völker in einen Wettstreit um knappe Ressourcen treten sollen. An dieser Stelle wird Darwins Evolutionstheorie umgedeutet, um soziale Ungleichheit als Folge eines ökonomischen Wettbewerbs sinnstiftend zu erklären. Auch andere Klassiker interpretieren Fragmente der Evolutionsbiologie im Rahmen eines neoliberalen Interdiskurses. So bemüht Rüstow (1949: 153) ebenfalls eine sinnstiftende Erklärung von sozialer Ungleichheit mit dem Ziel, eine Transformation der Gesellschaftsordnung nach dem Ideal einer allgemeinen Wettbewerbsgesinnung voranzutreiben:

„Genau so, wie die Natur im Wettkampf der Individuen und Arten das Tüchtige sich ungehemmt entwickeln und das Untüchtige mitleidlos sterben läßt; mit den gleichen Mitteln der Organisation arbeitete das 19. Jahrhundert. Es kann gar nicht anders sein, als daß das 19. Jahrhundert späteren Generationen einmal ein großartiges Schauspiel bieten muß.“

Vor diesem Hintergrund wird die Evolutionstheorie mit einer neoliberalen Ethik der Selbstbestimmung, Verantwortung und individuellen Wahlfreiheit verknüpft. Denn analog zur biologischen Evolution führt der ökonomische Ausscheidungswettkampf, so Hayeks (1981) Ausfassung, zu einer Selektion jener Individuen, die sich an die Bedingungen des Wettbewerbs anpassen können. Gleichzeitig mündet der Wettbewerb um knappe Ressourcen in einer Regulation der Weltbevölkerung und erzeugt eine notwendige Ungleichheit zwischen Individuen. Denn der neoliberale Leitgedanke „survival of the fittest“ (Fach 2015: 114 f.) kann nur verwirklicht werden, „wenn das Ergebnis der persönlichen Freiheit […] zeigen würde, daß manche Lebensweisen erfolgreicher sind als andere“ (Hayek 1991: 105).

Von diesem Standpunkt aus eignen sich neoliberale Klassiker das Selbstverständnis eines Anwalts an, der für die Freiheit und das Recht seines Mandanten kämpft (vgl. Busse 2014: 24). Hiermit erwecken neoliberale Klassiker den Eindruck, die Rechte des Markts zu vertreten, weil sie sich für einen freien Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit in einer marktförmigen Gesellschaft einsetzen. Mit der Vertretung von Marktinteressen in diversen Konfliktarenen ist das Ziel verbunden, Chancengleicht zwischen Marktteilnehmer*innen und die Rahmenbedingungen für einen fairen sozioökonomischen Ausscheidungswettkampf zu schaffen. Diese Aspekte sollen die Marktwirtschaft sozial, d. h. gerecht machen, denn der Wettbewerb im Zustand der vollkommenen Konkurrenz, so lautet Euckens (1949: 24 f.) Plädoyer, „besteht nicht im Kampf von Mann gegen Mann, sondern er vollzieht sich in paralleler Richtung. Er ist nicht Behinderungs- oder Schädigungswettbewerb, sondern er ist ‚Leistungswettbewerb‘.“ Dazu wird von Rüstow (1949: 153) ein markwirtschaftlicher Wettbewerb mit einem sportlichen Wettkampf verglichen – beide Wettbewerbsformen müssen nach dem Ideal der „Startgerechtigkeit“ (ebd.) organisiert werden, wodurch „eine kameradschaftliche, gemeinschaftsnahe Gestaltung“ (ebd.) entsteht. Hier stellt die Rechtfertigung des freien Wettbewerbs gleichzeitig eine Verteidigungsstrategie der Anwälte des Marktes dar. Auch die Semantik der neoliberalen Klassiker erinnert an die Subjektivierungsform eines Anwalts (vgl. Busse 2014: 24). Sichtbar wird das neoliberale Selbstverständnis an der persönlichen Motivation einiger Klassiker, sich zur Gründung der BRD mit Kernfragen einer neuen Wirtschaftsordnung auseinanderzusetzen. Nach der zweiten Bundestagswahl von 1953 wird Röpke als neoliberaler Wirtschaftsexperte vom damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard beauftragt, eine sinnvolle und menschenwürdige Wirtschaftsordnung zu entwickeln. Das Ergebnis von Röpkes Studie ist das neoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, die bis dato gesellschaftspolitische Relevanz in Deutschland besitzt (vgl. Lenel, Molsberger, Gröner & Schüller 1997: 25). Hier bezeichnet Röpke (1997: 34) seine Mitstreiter als „Anwälte der Marktwirtschaft“ und sich selbst als „Anwalt des freien Wettbewerbs“ (ebd.: 53). In den 1950er Jahren sehen die Anwälte des Marktes ihr neoliberales Projekt der Sozialen Marktwirtschaft durch einen aufkommenden keynesianischen Sozialstaat gefährdet. Darüber hinaus konkurriert das Modell der Sozialen Marktwirtschaft mit Formen der sozialistischen Planwirtschaft des Ostblocks. Deswegen befinden sich die Anwälte des Marktes im „Kampf um eine freie Wirtschaft gegen die sozialistischen Strömungen“ (ebd.: 28). Was folgt, ist die Verteidigung des neoliberalen Projekts gegen alle Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, Organisationen sowie individuellen Weltanschauungen, welche sowohl die Marktmechanismen als auch Unternehmer*innen als Antriebskräfte des Marktes und des gesellschaftlichen Fortschritts behindern (ebd.: 33–37). In ihrem Kampf für eine marktförmige Gesellschaft werden von den neoliberalen Klassikern verschiedene Wissensordnungen und Handlungsweisen als antiliberal deklariert (vgl. Foucault 2004b: 163 ff.). „Grob gesagt, alles, was dem Liberalismus entgegengesetzt ist, alles, was darauf aus ist, die Wirtschaft staatlich zu leiten, stellt also eine Invariante dar“ (ebd.: 165 f.).

An dieser Stelle findet jedoch auch eine Abgrenzung vom klassischen Liberalismus statt (vgl. Eucken 1949: 3–7; Rüstow 1949: 152 ff.; Hayek 1991: 481–497). Insbesondere die fehlenden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der liberalen Wirtschaftspolitik werden von neoliberalen Klassikern für ökonomische Monopol- und Kartellbildung, den gesellschaftspolitischen Einfluss einzelner Gruppen sowie den „finster-brutalen Geist des 19./20. Jahrhunderts, den das manchesterliche Laissez-faire sich fessellos austoben ließ“ (Rüstow 1949: 148), verantwortlich gemacht. „So glitt die Wirtschaftspolitik des Laissez-faire in eine Wirtschaftspolitik des Interventionismus hinein“, resümiert Eucken (1949: 6). In diesem Kontext gehen die neoliberalen Klassiker von einer Zentralisierung der Produktionsmittel aus, „und zwar nicht durch einen Mangel an Logik oder eine Irrationalität, die der kapitalistischen Wirtschaft eigentümlich wäre, sondern aufgrund der organisationalen und sozialen Notwendigkeit, die ein Wettbewerbsmarkt mit sich bringt“ (Foucault 2004b: 249). Anstatt die Organisation der Wirtschaft den Unternehmer*innen zu überlassen und an die unsichtbare Hand des Marktes zu glauben, fordern die neoliberalen Klassiker die sichtbare Hand eines Wettbewerbsstaates, durch den sich eine „funktionsfähige und menschenwürdige Wirtschaftsordnung entfalten [kann]“ (Eucken 1949: 7). Die neoliberale Lösung für das liberale Ordnungsproblem lautet wie folgt: „Zum einen müssen die wirtschaftlichen Pläne und Handlungen koordiniert werden (Ordnung des Wirtschaftsprozesses im engeren Sinn), zum anderen muß für Leistungsantriebe gesorgt werden“ (Röpke 1997: 40). Hier gehen Fragmente eines wirtschaftswissenschaftlichen Spezialdiskurses in Politik und Alltag über, denn das „neoliberale Programm der Sozialen Marktwirtschaft“ (ebd.: 51) verfolgt das Ziel, „die theoretischen Modelle in die Wirklichkeit zu übersetzen“ (ebd.: 41). Zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft als Ordnung „offener Märkte“ (ebd.: 51) und des „freien Leistungswettbewerbs“ (ebd.) sei jedoch, Röpke (ebd.) zufolge, die Komplizenschaft des Staates notwendig, um den formalen Mechanismus des Wettbewerbs durch „ein juristisches und institutionelles Rahmenwerk“ (ebd.) zu schützen. Gleichwohl sollen staatliche Rahmenbedingungen eine „Souveränität des Konsumenten“ (ebd.: 52) gewährleisten, damit der Wettbewerb durch den Preismechanismus von Angebot und Nachfrage reguliert wird. Zugespitzt formuliert: „Insofern ist die Marktwirtschaft als das fortgesetzte Konsumentenplebiszit anzusehen, in dem jedes Geldstück einen Stimmzettel darstellt“ (ebd.: 52). Diese neoliberale Idee hat sich in der modernen bürgerlichen Gesellschaft verankert, wenn es beispielsweise darum geht, mit ökonomischen Mitteln politische Ziele des Umweltschutzes voranzutreiben. So werben Unternehmen wie Atmosfair mit klimabewusstem Reisen, indem durch Flugreisen entstandene CO2-Emissionen durch Spenden an Umweltprojekte kompensiert werden. Nach einer Analyse des Klima-Fußabdrucks erhalten Konsument*innen den errechneten Kompensationsbetrag, wodurch beispielsweise ein Betrag von 100 Euro die entstandenen CO2-Emissionen eines Hin- und Rückflugs von Berlin nach Bangkok mit Zwischenstopp in Abu Dhabi zu 100 Prozent deckt (vgl. Atmosfair 2019). Gleichwohl verschafft das „Konsumentenplebiszit“ (Röpke 1997: 52) umweltbewussten Vielflieger*innen nicht nur ein faires Gewissen gegenüber der Umwelt und sich selbst, sondern kanalisiert auch politische Interessen durch ökonomische Anreizsysteme und trägt damit zu einer Stabilisierung des Kapitalismus bei.

Zur wissenschaftlichen Fundierung einer neoliberalen Wissenspolitik der individuellen Freiheit wird u. a. Bezug auf rechtswissenschaftliche Fragmente genommen (vgl. Hayek 1991: 185 f.). In diesem Zusammenhang führen Hayeks (1991: 194) rechtsphilosophischen Überlegungen zur politischen Forderung, dass der Staat nicht die Aufgabe hat, „eine bestimmte Ordnung herzustellen, sondern nur Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine solche Ordnung bilden und immer wieder erneuern kann“. Die neoliberalen Klassiker schließen ein Marktversagen unter einer staatlichen Sicherung der Wettbewerbsordnung aus. Folglich kann eine neoliberale Gesellschaftsordnung nur mithilfe allgemeiner und abstrakter Regeln des Wettbewerbs koordiniert werden (vgl. Eucken 1997: 14). Demnach objektiviert sich der neoliberale Interdiskurs in einem ökonomisch-politischen System, welches durch eine „Formalisierung der Wettbewerbsmechanismen“ (Foucault 2004b: 230 f.) (re-)produziert wird. Mit einer neoliberalen Lesart wird die Wirtschaft als Spiel von Wirtschaftssubjekten begriffen (ebd.: 243 f.). Vor diesem Hintergrund besteht der Wettbewerb nicht nur zwischen Individuum und Unternehmen, sondern eröffnet dem Staat die Möglichkeit, sich am Spiel der Wirtschaft zu beteiligen, „solange solche staatlichen Unternehmungen sich in Wettbewerbsmärkte einordnen und die Preisbildung auf den Märkten nicht durch staatliche Subventionen an solche Werke gestört wird, sind sie in der Wettbewerbsordnung erträglich“ (Eucken 1949: 49). Anders formuliert: „Doch was hier abzulehnen ist, ist nicht das Staatsunternehmen als solches, sondern das Staatsmonopol“ (Hayek 1991: 290). Die Aufsicht des Marktes über den Staat wird von den neoliberalen Klassikern mit der rechtsphilosophischen Annahme begründet, dass es

„sehr unwahrscheinlich [ist], daß es jemandem gelingen würde, verstandesmäßig Regeln zu konstruieren, die ihrem Zweck besser dienen als jene, die sich allmählich herausgebildet haben; und selbst wenn es ihm gelänge, könnten sie ihrem Zweck nicht wirklich dienen, wenn sie nicht von allen befolgt werden würden“ (ebd.: 84).

Die neoliberalen Klassiker vertreten also die These, dass kein „universales Subjekt des wirtschaftlichen Wissens“ (Foucault 2004b: 243) existiert. Röpke (1997: 38) verleiht dieser Annahme Alltagsrelevanz, indem er den Herrschenden einer Demokratie das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft abspricht: „Was wissen die Massen der Wähler, ja was wissen die Verantwortlichen selber von den Funktionen freier Preise und Märkte, vom sozialökonomischen Sinn des Gewinns, von der Aufgabe des Zinssatzes?“ Gemäß dieser Auffassung liegt die Deutungshoheit bei einer elitären Avantgarde von neoliberalen Wirtschaftsexpert*innen, die mit einem ökonomischen Freiheitsverständnis die Anwaltschaft für die „Ordnung einer Gesellschaft freier Menschen“ (ebd.: 28) übernehmen. Zur Plausibilisierung einer marktförmigen Gesellschaftsordnung postulieren die neoliberalen Klassiker Alternativlosigkeit, denn es gibt „nur die Wahl zwischen dem freien Preis und der Behörde […]. Dazwischen existiert nichts“ (ebd.: 61). Die radikal umgesetzte neoliberale Wissenspolitik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren zeigt, dass die neoliberale Handlungsmaxime „there is no alternative“ (Berlinski 2011) weitreichende Folgen für die Gesellschaft hat. Den Höhepunkt markieren die Zerschlagung des britischen Bergarbeiter*innenstreiks 1985 und die Privatisierung öffentlicher Sektoren. Für die politische Umsetzung neoliberaler Ideen erhielt Thatcher von ihrem geistigen Vater Hayek (1981: 40) Bewunderung, auch wenn er an der Verwirklichung des neoliberalen Projekts in Großbritannien zweifelte (vgl. Thatcher 1995: 50).

Festzuhalten bleibt, dass neoliberale Subjekte durch den Glauben an das Mantra der Alternativlosigkeit und die soziale Gerechtigkeit des freien Wettbewerbs vereint werden (vgl. Berlinski 2011; Rüstow 1949: 153). Hiermit ist die Annahme verbunden, dass Freiheit nur in einer Gesellschaft möglich sei, die nach den Prinzipien des Wettbewerbs organisiert wird. Diesbezüglich werden die Anwälte des Marktes gleichzeitig zu Verfechtern von individueller Freiheit unter dem Primat des Marktes. Zur wissenschaftlichen Fundierung einer neoliberalen Politik der Freiheit eignet sich Hayek (1991: 26) sozialphilosophische Fragmente an und deutet diese um: Demnach ist individuelle Freiheit

„die Abwesenheit eines bestimmten Hindernisses für unser Handeln, nämlich die Abwesenheit des Zwangs von Seiten anderer Menschen. Die Freiheit wird etwas Positives nur durch den Gebrauch, den wir von ihr machen. Sie sichert uns keinerlei bestimmte Möglichkeiten, sondern überläßt es uns, zu entscheiden, was wir aus den Umständen machen, in denen wir uns befinden.“

Die Ausübung von Zwang liegt nach Hayeks (ebd.: 28 f.) Freiheitsverständnis allein beim Staat, der wiederum durch allgemeine Marktgesetze organisiert und reguliert werden soll. Damit wird individuelle Freiheit als „ein Werkzeug [verstanden], das den Individuen in der Verfolgung ihrer eigenen Ziele hilft, und nicht [als] ein Mittel, das zur Erreichung der Ziele anderer verwendet wird“ (ebd.: 29). Außerdem ist individuelle Freiheit unter dem Primat des Marktes ein Leistungsanreiz und eine neoliberale Lösung für das diagnostizierte Koordinationsproblem einer liberalen Wirtschaftsordnung im 19./20. Jahrhundert. Denn mit der Politik der Freiheit ist die Verantwortung für das persönliche Handeln verbunden, wodurch, laut Röpke (1997: 40 f.), „jeder an seinem Platze und gemäß seinen Funktionen sein Bestes gibt“. Im ökonomischen Freiheitsverständnis der neoliberalen Klassiker wird einerseits eine rechtswissenschaftliche Vorstellung aufgenommen, denn es wird davon ausgegangen, dass

„jedes Individuum […] ursprünglich Träger einer bestimmten Freiheit [ist], von der es einen bestimmten Teil abtritt oder nicht. Andererseits wird die Freiheit nicht als Ausübung einer Reihe von Grundrechten aufgefaßt, sondern einfach als Unabhängigkeit der Regierten gegenüber den Regierenden“ (Foucault 2004b: 69).

Die Wurzeln dieser Freiheitsvorstellung reichen bis in das 19. Jahrhundert zu einem liberalen Interdiskurs zurück. Grundlegend für den Freiheitsbegriff der europäischen neoliberalen Klassiker ist die Verbindung von individueller Freiheit mit Marktfreiheit (ebd.: 69 f.). In diesem Zusammenhang stellt Eucken (1949: 27) fest: „In der Tat ist der Wille zur Wettbewerbsordnung mit dem Willen zur Freiheit eng verbunden.“

Hier gilt es zu klären: Wie können Menschen unter dem Primat des Marktes frei sein? Die neoliberalen Klassiker fundieren den scheinbaren Widerspruch zwischen individueller Freiheit und Marktherrschaft mit transformierten Fragmenten aus Sozialphilosophie und Soziologie. Zur Transformation der Fragmente werden Praktiken von Diskursguerillas genutzt (vgl. Schölzel 2013). Hierzu deuten neoliberale Klassiker Fragmente von Spezialdiskursen um und nutzen diese als Vehikel für eigene Ideen. Doch anders als emanzipative Kommunikationsguerillas, die Herrschaft per se ablehnen und das Ziel verfolgen, „die Struktur der herrschenden kulturellen Grammatik wenigstens für Momente sichtbar zu machen und zu verschieben, indem deren Funktionsweise anerkannt und deren Ordnung möglichst nachhaltig durcheinander gebracht werde“ (ebd.: 41), nutzen neoliberale Diskursguerillas das Machtvakuum, um es mit einer neoliberalen Wissens- und Identitätspolitik zu füllen. Insofern bildet ein Spezialdiskurs für herrschende Subjekte des neoliberalen Interdiskurses ein Transportmittel in zweifacher Hinsicht: Erstens werden Spezialdiskurse durch die selektive Aneignung und Umdeutung von Fragmenten transformiert und entdifferenziert. Zweitens führt die Kolonialisierung von spezialisiertem Wissen zu symbolischem Kapital, welches durch den Expertenstatus von neoliberalen Klassikern sowie durch die Reichweite des neoliberalen Interdiskurses sichtbar wird. Die neoliberalen Diskursguerillas verfolgen also das Ziel, „ein Ideal darzustellen, zu zeigen, wie es erreicht werden kann, und zu klären, was seine Verwirklichung in der Praxis bedeuten würde. Dazu ist wissenschaftliche Erörterung ein Mittel, nicht ein Zweck“ (Hayek 1991: V). Die Beziehung von herrschenden Subjekten eines neoliberalen Diskurses und wissenschaftlichen Spezialdiskursen wird mit der Abbildung 2.2 veranschaulicht (vgl. Abbildung 2.2: Wissenschaftliche Spezialdiskurse als Quelle und Vehikel von herrschenden Subjekten eines neoliberalen Interdiskurses).

Abbildung 2.2
figure 2

Wissenschaftliche Spezialdiskurse als Quelle und Vehikel von herrschenden Subjekten eines neoliberalen Interdiskurses

Ein ähnliches Verhältnis kann zwischen den herrschenden Subjekten eines neoliberalen Diskurses und Elementardiskursen beobachtet werden: Hier werden diktatorische und demokratische Organisationsformen als Vehikel für neoliberale Ideen genutzt, wie Röpke (1997: 52) mit dem „Konsumentenplebiszit“ beweist (vgl. Fischer 2009; Hayek 1991: 131). Gleichwohl werden politische Organisationsformen von neoliberalen Klassikern als Gefährdung des freien Wettbewerbs und der individuellen Freiheit wahrgenommen. Hier mahnt Hayek (1991: 142),

„wenn die Demokratie erhalten bleiben soll, muß sie einsehen, daß sie nicht der Urquell der Gerechtigkeit ist und daß sie einen Gerechtigkeitsbegriff anerkennen muß, der sich nicht unbedingt in der vorherrschenden Ansicht über jedes konkrete Problem ausdrückt. Die Gefahr ist, daß wir ein Mittel zur Sicherung der Gerechtigkeit für die Gerechtigkeit selbst halten.“

Auch andere Klassiker sehen das neoliberale Projekt der Sozialen Marktwirtschaft durch demokratische Herrschaftsverhältnisse bedroht, weil Parlamente „Interventionsinstrumente“ (Müller-Armack 1932: 109) darstellen, welche eine neoliberale Gesellschaftsordnung mit dem „Konsumentenplebiszit“ (Röpke 1997: 52) zersetzen. Aus diesem Grund richtet sich neoliberale Herrschaftskritik gegen alle Formen des Interventionismus, die den freien Markt und seine Antriebskräfte in ihrer Entfaltung behindern (vgl. Eucken 1997: 11 f.). Doch anders als angloamerikanische Anarchokapitalisten, die eine soziale Ordnung durch eine Marktherrschaft ohne Staat forcieren, ist ein aktiver und aktivierender Staat die Basis für das Regierungsprogramm der europäischen neoliberalen Klassiker (vgl. Rothbard 2006 [1973]). Dementsprechend kann der europäische neoliberale Interdiskurs auch als „positiver Liberalismus“ (Foucault 2004b: 190) mit einer aktiven Politik ohne Dirigismus bezeichnet werden (ebd.: 188 ff.). Hier stellt sich die Frage: Wie kann ein Staat aktiv eine Wettbewerbsordnung vorantreiben, ohne direkt in den Wirtschaftsprozess zu intervenieren? Die Antwort der europäischen neoliberalen Klassiker lautet: Indem sich staatliche Interventionen auf die Rahmenbedingungen des Marktes beschränken. Im Zentrum einer neoliberalen Gesellschaftspolitik stehen also keine Eingriffe in den Wirtschaftsprozess, vielmehr handelt es sich um Interventionen für die Wirtschaft (ebd.: 333).

Ein weiteres Beispiel für die Guerillastrategie der neoliberalen Klassiker liefert Müller-Armack (1932), einer der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. In seinem Werk „Entwicklungsgesetze des Kapitalismus“ eignet sich Müller-Armack (ebd.: 8) sowohl geschichtsphilosophische marxistische Theorien als auch Paradigmen der Wissenssoziologie an und deutet diese um mit dem Ziel, „sie zur Theorie der Entwicklungsgesetze unserer Wirtschaftsverfassung [zu machen]“. Bei diesem Vorhaben wird stets die gleiche Strategie verfolgt: Als Erstes wird Bezug auf einen Aspekt einer wissenschaftlichen Theorie genommen. Und im zweiten Schritt wird ein selektiertes Fragment der Theorie mit anderen wissenschaftlichen Theorien pauschalisierend verglichen und zugunsten neoliberaler Ideen transformiert. Demzufolge sei, laut Müller-Armack (1932: 13):

„Marx‘ Geschichtstheorie […] nur eine Form der in zahlreichen Varianten auftretenden naturalistischen Geschichtsansicht. Ihnen allen ist gemeinsam, die Entstehung und Erhaltung kultureller Inhalte und Formen aus den Kräften und Tendenzen zu erklären, über die der Mensch schon als Naturwesen verfügt. Die dauernde Abwandlung, die dieser Gedanke bis etwa auf das vielbeachtete Buch von Mannheim: Ideologie und Utopie, gefunden hat, zeigt die Werbekraft dieses Geschichte auf die Naturebene reduzierenden Versuches.“

Bei dem neoliberalen Transformtionsprozess von wissenschaftlichem Wissen wird insbesondere auf den Klassenbegriff von Marx Bezug genommen mit dem Ziel, soziale Ungleichheit zu legitimieren und mit einem sozialen Sinn zu versehen. Vor diesem Hintergrund konstatiert Müller-Armack (1932: 55 ff.):

„Die Kapitalistenklasse insgesamt ist so nicht durch ihren Besitz, sondern nur durch die Funktion der unternehmerischen Leistung zu erklären. […] Keine Klasse lebt ihre Geschichte rein aus der Gewalt, zum mindestens nicht das moderne Bürgertum, dessen Basis die friedliche Verwertung von Marktchancen ist. […] Sie stellen Selektionsresultate dar, deren Stellung jeder anderen Sicherung, als der durch den formalen Marktmechanismus bestätigten Angebotsleistungen entbehrt. Das Irrationale dieser Klassenordnung liegt in den Kriterien, nach denen hierbei die Funktion gemessen wird, eben der Wettbewerbsfähigkeit.“

Infolgedessen werden sozioökonomische Privilegien von Unternehmer*innen nicht über den Besitz von Produktionsmitteln erklärt, sondern durch eine Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts, der auf Wirtschaftswachstum reduziert wird (ebd.: 57). Mit dem neoliberalen Klassenverständnis werden Unternehmer*innen zu Sozialfunktionär*innen und Unternehmer*inneninitiative zur dynamischen Antriebskraft des Kapitalismus erklärt (vgl. Eucken 1997: 8; Röpke 1997: 58). Gleichzeitig wird das neoliberale Klassenverständnis genutzt, um unternehmerischen Gewinn als eine Entschädigung für die sozioökonomischen Leistungen von Unternehmer*innen zu rechtfertigen (vgl. Röpke 1997: 57 f.). In diesem Zusammenhang vertreten neoliberale Klassiker folgende These: Wer ein Unternehmen leitet, geht ein unternehmerisches Wagnis ein und muss dadurch anpassungsfähig und flexibel sein, wohingegen „Schematisierung und Verbeamtung zu Mißerfolg oder Untergang [führen], mag es sich dabei um Einzelfirmen oder um Gesellschaften handeln“ (Eucken 1997: 7). Zugespitzt formuliert: „Hier, wo die Peitsche der Konkurrenz fehlt, macht sich wirklich die Erstarrung oder Feudalisierung des Unternehmens geltend“ (ebd.: 6). Nach dieser Auffassung hängt die gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte vom „Unternehmertyp des Wettbewerbs“ (ebd.: 7) ab, der als Triebfeder des sozioökonomischen Fortschritts angesehen wird. Gleichwohl dient die neoliberale Klassen- und Geschichtsauffassung als Fixpunkt für Problematisierungen. An dieser Stelle spiegelt sich in der geteilten Problemwahrnehmung der europäischen neoliberalen Klassiker die von ihnen kritisierte Seinsverbundenheit des Wissens wider (vgl. Müller-Armack 1932: 182 f.).

In der programmatischen Literatur wird die Seinsverbundenheit anhand einer Wechselwirkung zwischen neoliberalen Selbstbildern, Denk- und Handlungsweisen sowie sozialen Positionen sichtbar, denn die neoliberalen Klassiker befinden sich wie andere Guerillas in einem „Kampf gegen ein scheinbar übermächtiges Gegenüber“ (Schölzel 2013: 42). Vor diesem Hintergrund inszeniert Röpke (1997: 32 ff.) nach einer selbst geschriebenen Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft in den 1950er Jahren der BRD eine Verschwörung der Weltgemeingemeinschaft:

„Alles verbündete sich – die den kollektivistisch-inflationären Ideen tendenziös huldigende Economic Commission for Europe in ihren Jahresberichten, die Sozialisten aller Länder, die Gewerkschaften, […] ja sogar bis vor kurzem ein so ernstes Blatt wie der Economist –, um bald die Tatsachen des deutschen Erfolges der Marktwirtschaft zu verdrehen oder anzuzweifeln, bald ein düsteres Ende zu prophezeien, bald das deutsche Wirtschaftsregime für die Arbeitslosigkeit oder andere Sorgen und Probleme verantwortlich zu machen […]. Es gab eine regelrechte ,ökonomische Greuelpropaganda‘ gegen die marktwirtschaftlich-nichtinflationäre Kerngruppe Europas“ (ebd.: 33).

Infolge dieses diskursiven Ereignisses verfolgen die europäischen neoliberalen Klassiker Guerillastrategien, um den Widerstand gegen ihr Projekt dezentral zu brechen und gleichzeitig Fragmente widerstrebender Diskurse umzudeuten, gegnerische Positionen zu destabilisieren und als Vehikel für neoliberale Ideen zu nutzen. Oder allgemeiner formuliert: „Der Diskurs ist demnach in erster Linie eine Interventions- und Investitionsstrategie zur (Um-)Strukturierung sozialer Beziehungen“ (Maeße & Hamann 2016: 39).

2.3 Neoliberale Formen der Subjektivierung

Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit und die Transformation des Sozialen unter dem Primat des Marktes verdeutlichen, dass eine neoliberale Wissenspolitik moderne Gesellschaften nachhaltig verändert. So konstatiert Demirović (2008: 17) in seiner Gegenwartsdiagnose: „Alle, vom Kleinkind bis zum Rentner, vom Kindergarten über die Hochschule bis zum Wasserwerk, sollen sich unternehmerisch verhalten, sollen im Wettbewerb die Erstplatzierten und Exzellenten, niemand und nichts darf einfach nur gut sein.“

Sichtbar wird die Anschlussfähigkeit und Alltagsrelevanz einer neoliberalen Wissenspolitik ebenfalls bei dem Seminarprogramm der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Schulbereich: Hier werden Selbsttechnologien wie Zeitmanagement und Selbstvermarktung vermittelt, um Lehrer*innen für den alltäglichen Ausscheidungswettkampf im bildungsindustriellen Komplex zu stärken (vgl. GEW 2019a; GEW 2019b; Münch 2018). Diese Selbsttechnologien sind für die Betroffenen ein „Mittel des Überlebenskampfes“ (GEW 2003: 9) und erweisen sich damit als individuelle Handlungsrezepte für strukturell verursachte Risiken des Wettbewerbs im Bildungssystem. Gleichzeitig sind neoliberale Handlungsrezepte mit einer Zuschreibung von individueller Verantwortung für (Miss-)Erfolg auf dem Markt verbunden. Mithilfe dieser subjektiven Perspektive auf sich selbst und andere Subjekte werden persönliche Anreize geschaffen, die gemäß Eucken (1949: 27) zur Leistungssteigerung und Steuerung des Sozialen durch Marktmechanismen führen. Aus der persönlichen Handlungsfreiheit und Verantwortung im Rahmen des Marktes resultiert eine neoliberale Form der Subjektivierung. Die Rationalität der neoliberalen Subjektivierungsform lautet: „Wir schreiben einem Menschen nicht Verantwortung zu, um zu sagen, daß er, so wie er war, anders hätte handeln können, sondern um ihn anders zu machen“ (Hayek 1991: 94). In diesem Subjektivierungsprozess sollen die Marktmechanismen zur Richtschnur der persönlichen Lebensführung sowie zum Maßstab des gesellschaftlichen Fortschritts werden.

Das neoliberale Subjektivierungprogramm fordert den Einzelnen zu einer Rationalisierung seiner Lebensführung auf. Exemplarisch wird dieser Zusammenhang an einer verordneten buchhalterischen Lebensweise deutlich – so verkündet ein programmatischer Ratgeber der GEW (2003: 5): „Zeitdiebe stehlen zumeist die Zeit, die dem Freizeitkonto zusteht.“ In diesem Kontext verspricht der Ratgeber: „Feierabendgarantie für junge Lehrerinnen und Lehrer“ (ebd.: 12 ff.) bei einer Aneignung von Praktiken des ZeitmanagementsFootnote 4. Darüber hinaus suggeriert die von neoliberalen Ideen inspirierte bilanzförmige Lebensweise ein Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Privatleben. Mit der Work-Life-Balance für Lehrer*innen ist folgendes Versprechen verbunden: „Morgen ins Kino – na klar! Und die 7 b kriegt die Arbeit trotzdem am nächsten Tag wieder“ (ebd.: 5). Die Anrufungen des Marktes fordern den Einzelnen auf sich neoliberale Subjektivierungsformen mit Selbsttechnologien anzueignen.

Es kann festgehalten werden, dass der neoliberale Interdiskurs einen reintegrierenden Wissensbereich mit allgemeinen Handlungsrezepten für strukturelle und individuelle Risiken bildet. Mit neoliberalen Subjektivierungsformen wird Subjekten vorgeschrieben, wie sie sich verhalten sollen. Ob sich jedoch Subjekte an das Skript einer neoliberalen Wissens- und Identitätspolitik halten oder die programmatischen Handlungsrezepte umdeuten und transformieren, kann mithilfe von Subjektivierungsweisen erforscht werden. Insofern sind neoliberale Formen der Subjektivierung keineswegs deckungsgleich mit Subjektivierungsweisen, sondern nur eine mögliche Richtschnur des Handelns.

Zu den bekanntesten neoliberalen Subjektivierungsformen zählt das unternehmerische Selbst (vgl. Bröckling 2007; Foucault 2004b: 314; Rose 1998: 150–168). Mit dem unternehmerischen Selbst findet eine Reflexion von Anrufungen der Marktgesellschaft auf Subjekte statt, woraus abgeleitet wird, wie sich Menschen in einer marktförmigen Gesellschaft verhalten sollen. Die Als-ob-Anthropologie des unternehmerischen Selbst besteht aus

„ein[em] Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“ (Bröckling 2007: 7).

In Rekurs auf die Humankapitaltheorie wird das unternehmerische Selbst als ein Abkömmling des Homo oeconomicus verstanden, denn beide Sozialfiguren sollen sich mit einem Zustand knapper Ressourcen arrangieren (ebd.: 12). Es geht also um die „Art und Weise […], wie Individuen diese knappen Ressourcen auf alternative Zwecke verteilen“ (Foucault 2004b: 310). Doch anders als beim liberalen Homo oeconomicus, der versucht, in Tauschprozessen seinen persönlichen Nutzen zu maximieren, soll der neoliberale Homo oeconomicus ein „Unternehmer seiner selbst [sein,] der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (ebd.: 314).

Gemäß dieser unternehmerischen Anrufungen wird Mobilität für den Einzelnen zu einem zentralen Element seines Humankapitals, denn „die Abwanderung ist eine Investition, die abwandernde Person ist ein Investor“ (ebd.: 320). Folglich führen die amerikanischen neoliberalen Klassiker als Wegbereiter der Humankapitaltheorie die Funktionsweise des Kapitalismus auf eine kontinuierliche Steigerung des Humankapitals unter Anreizen des Wettbewerbs zurück (ebd.: 322). Auch wenn europäische neoliberale Klassiker den Homo oeconomicus als Fiktion der klassischen Nationalökonomie ansehen, wird Bezug auf die zweckrationale Sozialfigur genommen, weil „der Mensch [laut Hayeks (1991: 76 f.) anthropologischer Vorstellung] von Natur aus faul […] ist und daß er nur durch die Macht der Umstände dazu gebracht wurde, sich wirtschaftlich zu verhalten, und gelernt hat, seine Mittel seinen Zwecken sorgsam anzupassen“. Andererseits grenzen sich die europäischen neoliberalen Klassiker von anderen Fragmenten einer neoklassischen Wirtschaftstheorie ab, da sie nicht von einer unsichtbaren Hand des Marktes ausgehen, die den „Wildbach des persönlichen Interesses“ (Röpke 1997: 51) koordiniert und lenkt. Vielmehr bedarf es individuellen Anreizen zur Steuerung der Antriebskräfte des Marktes, die nach Röpkes (1997: 57) Auffassung darin bestehen, dass

„Gehorsam gegenüber dem Markt belohnt und Ungehorsam (oder mangelnde Erfassung der Befehle des Marktes) prompt und wirksam bestraft werden. Da aber die Impulse und Reaktionen des Marktes ein Feld äußerster Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten sind, so wird der Unternehmer zu einem Kapitän dessen Hauptaufgabe die Navigation auf dem Meere des Marktes mit seinen Strömungen, Stürmen und Untiefen ist. Diese Navigationsfunktion bleibt trotz aller ,nautischen Hilfsmittel‘ (Marktforschung, Statistik u. a.) eine solche, die die Urteilskraft, Erfahrung, den Charakter, den sicheren Instinkt des geschulten Kapitäns erfordert, ein fortgesetztes Urteilen und Entscheiden nach abgewogenen Wahrscheinlichkeiten. Daraus folgt der unschätzbare Wert des Unternehmers und einer wirtschaftlichen Ordnung wie der Marktwirtschaft, die so beschaffen ist, daß sie ständig für die beste Auslese der wirtschaftlichen Navigatoren sorgt und den wirksamen Antrieb für die Höchstleistung des Unternehmers und für die höchste Sorgsamkeit gewährleistet, mit der er seine Entscheidungen trifft.“

Dahingehend durchkreuzt die neoliberale Subjektivierungsform von Vertreter*innen der Freiburger Schule die selbstunternehmerische Sozialfigur von neoliberalen Klassikern der Chicagoer Schule (vgl. Bröckling 2007: 86 ff.). Denn neoliberale Klassiker der Freiburger Schule gehen davon aus, dass Unternehmer*innen nicht ausschließlich zweckrational handeln, „sondern sie suchen selbst eine solche Verwendung ihrer eigenen Arbeitskraft, ihrer Produktionsmittel und ihres Geldes, die ihnen als die beste erscheint“ (Eucken 1949: 22 f.), wohingegen amerikanische neoliberale Klassiker stärker als ihre europäischen Mitstreiter ein rationales Kosten-Nutzen-Kalkül betonen (vgl. Becker 1994). Die Differenz zwischen den Subjektivierungsformen der europäischen und der amerikanischen neoliberalen Klassiker wird auch an der Reichweite von unternehmerischen Denk- und Handlungsweisen sichtbar. Die europäischen Klassiker beschränken unternehmerisches Handeln weitestgehend auf den Staat, die Arbeitgeber*innen, Arbeitnehmer*innen und Konsument*innen (vgl. Eucken 1949: 23). Nach der Subjektivierungsform der europäischen neoliberalen Klassiker müssen Selbstunternehmer*innen flexibel und anpassungsfähig sein, Marktlücken für Produkte bzw. ihre Arbeitskraft ausfindig machen und sich selbst vermarkten. Hier werden Arbeitskräfte nicht als passive Lohnabhängige beschrieben, sondern als aktive Wirtschaftssubjekte konstituiert. Mit anderen Worten:

„So erscheinen die Arbeitenden in dieser Konzeption nicht mehr als abhängig Beschäftigte eines Unternehmens, sondern sie werden selbst zu autonomen Unternehmern, die eigenverantwortlich Investitionsentscheidungen fällen und auf die Produktion eines Mehrwertes abzielen: Unternehmer ihrer selbst“ (Lemke 2000: 40).

Der Wettbewerb soll die Beziehungen zwischen Wirtschaftssubjekten kanalisieren und koordinieren. Bei diesem Koordinationsprozess geht Eucken (1949: 26) davon aus, „wenn die Lebensmittelhändler der Stadt ebenso in Konkurrenz liegen wie die Hausfrauen“ kann die „Marktform der vollständigen Konkurrenz“ realisiert werden. Mit dieser Annahme nähern sich die europäischen neoliberalen Klassiker der Subjektivierungsform der Chicagoer Schule. Die amerikanischen neoliberalen Klassiker gehen jedoch noch einen Schritt weiter als ihre europäischen Mitstreiter, indem sie sämtliche soziale Interaktionen auf die ökonomische Form des Marktes reduzieren (vgl. Foucault 2004b: 313 f.). Die Interpretation des Sozialen durch ein wirtschaftswissenschaftliches Analyseraster hat drei wesentliche Folgen: Erstens wird durch die Verallgemeinerung der Humankapitaltheorie das Soziale ökonomisiert, weil damit nicht ökonomische Verhaltensweisen auf unternehmerische Verhaltensweisen reduziert werden (ebd.: 340). Zweitens dient die Übertragung von unternehmerischen Verhaltensweisen auf nicht ökonomische Gesellschaftsbereiche und ihre Angehörigen zur Prüfung und Kritik des Regierungshandelns (ebd.: 340 f.). Schlussendlich soll das Ökonomische das Soziale organisieren, wodurch die Führungsphilosophie von Unternehmen zur Lebensweise des Einzelnen werden soll. Oder anders formuliert:

„Die Anrufungen des unternehmerischen Selbst sind totalitär. Ökonomischer Imperativ und ökonomischer Imperialismus fallen darin zusammen. Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte“ (Bröckling 2007: 283).

Demgemäß erzeugen herrschende Subjekte des neoliberalen Diskurses eine universelle Identitätspolitik (vgl. Foucault 2004b: 207 f.). Andererseits stellt Bröckling (2007: 283) kritisch fest: „Ein unternehmerisches Selbst gibt es so wenig wie einen reinen Markt.“

Gegenwärtig wird die Realfiktion des unternehmerischen Selbst als analytischer Fixpunkt in soziologischen Gegenwartsdiagnosen herangezogen. So überträgt Peter (2017: 111) die neoliberale Subjektivierungsform auf das wissenschaftliche Feld und geht von einer „Konstitution des Akademischen Entrepreneurs als dominante Figur des zeitgenössischen Wissenschaftssubjekts“ aus. Die Besonderheit von neoliberalen Subjektivierungsformen in der Wissenschaft ergibt sich aus der prekären Organisation von wissenschaftlicher Arbeit und traditionellen Imperativen im wissenschaftlichen Feld (vgl. Bourdieu 1992; Merton 1972: 48–55; Weber 2002 [1894–1922]: S 477). Aufgrund von einem traditionellen Arbeitsethos und besonders unsicheren Arbeitsbedingungen kann davon ausgegangen werden, dass akademische Entrepreneur*innen „stärker noch als Unternehmer nicht nur eigenaktiv und verantwortlich handeln sollen, sondern auch außergewöhnlich gut mit Unsicherheit und Risiken umgehen müssen, um ständig neue Innovationen hervorzubringen und ihre Unternehmung zum Erfolg zu führen“ (Peter 2017: 111). Auf den ersten Blick liegt es nahe, dass unternehmerisches Handeln zu einem irreduziblen Teil der Wirklichkeit in deutschen Hochschulen geworden ist und eine Metamorphose von traditionellen akademischen Subjektivierungsformen zu neoliberalen Formen der Subjektivierung stattfindet. In diesem Transformationsprozess werden akademische Subjekte angerufen, flexibel, mobil, risikofreudig, anpassungsfähig und unternehmerisch zu sein. Im empirischen Teil der Arbeit wird geklärt, ob sich neoliberale Formen der Subjektivierung in akademischen Subjektivierungsweisen ablagern und neoliberale Subjektivierungsformen (individuellen) Widerstand erzeugen.

Vorerst wird die Frage – was ist Neoliberalismus – mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse des vorliegenden Kapitels geklärt. Hierbei wird die theoretische und institutionelle Ausrichtung der europäischen Variante des Neoliberalismus nur untergeordnet behandelt, zumal diese Aspekte schon an anderer Stelle ausführlich diskutiert wurden (vgl. Ptak 2004). Auch bestehende theoretische und politische DifferenzenFootnote 5 zwischen den neoliberalen Klassikern werden vernachlässigt. Vielmehr ist für den weiteren Verlauf der Arbeit die Infrastruktur des Wissens mit den Problematisierungen, Plausibilisierungsstrategien und Zielsetzungen von Interesse. Denn die Infrastruktur einer neoliberalen Wissenspolitik wird zur Diskussion der ersten beiden Forschungsfragen nach der Rationalität und den Anrufungen des NPM-Diskurses herangezogen.

2.4 Infrastruktur des europäischen neoliberalen Interdiskurses

Grundlegend lässt sich das Ideengemenge des klassischen europäischen Neoliberalismus als zentraler Bestandteil eines hegemonialen Diskurses beschreiben, dessen Subjekte eine Ökonomisierung des Sozialen vorantreiben (vgl. Foucault 2004b: 313 f.). Spezifisch für den europäischen Neoliberalismus ist sein Entstehungskontext. Der europäische neoliberale Interdiskurs hat sich durch eine Problematisierung von gesellschaftspolitischen Ereignissen wie der Weltwirtschaftskrise von 1929/32 und durch wiederkehrende Krisen des klassischen Liberalismus formiert (vgl. Kolev 2013: 2 f.; Ptak 2004: 289). Außerdem bietet der europäische neoliberale Interdiskurs für gesellschaftliche Notstände der Nachkriegszeit von 1945 bis 1949 Lösungen an. Hierzu werden Handlungsanweisungen für „die Umstellung der Kriegswirtschaft auf eine Friedenswirtschaft“ (Foucault 2004b: 118) sowie für das deutsche Problem der Staatsbildung bereitgestellt (vgl. Foucault 1978: 120). In der Nachkriegszeit gelingt es Politiker*innen mit der Einführung von wirtschaftlichen Freiheiten die BRD zu neuer politischer Souveränität zu führen. Um jedoch neoliberale Freiheitsgarantien unter den aufkommenden Krisen des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, waren zunehmend staatliche Zwangsmaßnahmen im Bereich der Ökonomie notwendig. Was individuelle Freiheit erzeugen sollte, erzeugte klassische sozialstaatliche Interventionen (vgl. Foucault 2004b: 105 f.). Deswegen führen die Problematisierungen der europäischen neoliberalen Klassiker zur politischen Forderung nach einer Wettbewerbsordnung durch aktivierende und aktive staatliche Interventionen in den Rahmen des Marktes. Im Fall von sozioökonomischen Krisen werden Formen des StaatsversagensFootnote 6 und ordnungspolitische ProblemlagenFootnote 7 dafür verantwortlich gemacht (vgl. Eucken 1949: 49; Hayek 1991: 290). Den Fixpunkt der neoliberalen Problemwahrnehmung bildet die Denkweise, dass „nichts beweist, daß die Marktwirtschaft Mängel hat, […] da man alles, was man ihr […] unterstellt, dem Staat zuschreiben muß“ (Foucault 2004b: 167). Exemplarisch für diese staatskritische Problemwahrnehmung steht das geteilte Deutungsmuster über die Weltwirtschaftskrise von 1929, welche auf eine sozialstaatliche Wirtschaftspolitik zurückgeführt wird, „die vor allem Keynes und die Keynes-Schule mit Erfolg vertreten“ (Eucken 1997: 42).

Die Gegenstände von neoliberalen Problematisierungen sind vielseitig und variabel, denn auch Gewerkschaften und Demokratie werden kritisiert und für Wirtschaftsdepressionen sowie für mangelnden gesellschaftlichen Fortschritt verantwortlich gemacht (vgl. Hayek 1991: 340 f.; Rüstow 1949: 120 f.). Bei all den Problematisierungen bleibt die Art und Weise der Kritik stets dieselbe. Denn herrschende Subjekte des neoliberalen Diskurses gehen von einer Unfehlbarkeit des Marktes aus. Deswegen wird die Kritik am Projekt der Sozialen Marktwirtschaft in den 1950er Jahren von europäischen neoliberalen Klassikern als „ökonomische Greuelpropaganda gegen die marktwirtschaftlich-nichtinflationäre Kerngruppe Europas“ (Röpke 1997: 33) gedeutet. Infolge dieses diskursiven Ereignisses wandeln sich die Infrastruktur des neoliberalen Interdiskurses und die Praktiken von neoliberalen Klassikern. Fortan fühlen sich die Klassiker verpflichtet, als Anwälte des Marktes die „neoliberale Marktwirtschaft“ gegen eine „linke Marktwirtschaft“ (ebd.: 34) eines aufkommenden Sozialstaates zu verteidigen. Des Weiteren grenzen sich die europäischen neoliberalen Klassiker infolge der zunehmenden Kritik an der Sozialen Marktwirtschaft von gegnerischen Positionen stärker ab als zuvor, um auf die Umgruppierung des europäischen Kräfteverhältnisses zu reagieren. Die Abgrenzung der Klassiker kann als Verteidigungsstrategie des neoliberalen Projekts in Europa betrachtet werden. Sichtbar wird die neoliberale Verteidigungsstrategie an der Handlungsmaxime „there is no alternative“ (Berlinski 2011). Mithilfe einer scheinbaren Alternativlosigkeit zu einer neoliberalen Gesellschaftsordnung wurde die radikale Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren verwirklicht. Beispielhaft für den Modus neoliberaler Kritik kann auch Röpkes (1997: 61) Schlussbemerkung zur Studie „Kernfragen der Wirtschaftsordnung“ genannt werden: „Wer den Wettbewerb unbequem findet, muß sich abfinden mit Organisation, Subordination, dem Schwinden der Verantwortung im immer dichteren Nebel des Unpersönlichen, der Unterwerfung des Menschen unter den Kollektivapparat.“ Mit der suggerierten Alternativlosigkeit zu einer marktförmigen Gesellschaft entwickeln herrschende Subjekte des neoliberalen Diskurses eine Plausibilisierungsstrategie für ihr Gesellschaftsmodell. Denn eine „neoliberale Marktwirtschaft“ ist mit individueller Freiheit verbunden, wohingegen sich Menschen in einer „linken Marktwirtschaft“ (Röpke 1997: 34) unterwerfen sollen.

„Das bedeutet, daß die Zustimmung zu diesem liberalen System als Nebenprodukt neben der juridischen Legitimation […] den permanenten Konsens erzeugt, und das Wirtschaftswachstum, die Produktion des Wohlstands durch dieses Wachstum erzeugt als Spiegelbild zur Genealogie Wirtschaftsinstitution/Staat eine Bewegung von der Institution der Wirtschaft zur globalen Zustimmung der Bevölkerung zu ihrer Ordnung und ihrem System“ (Foucault 2004b: 124 f.).

Die Zustimmung der Bevölkerung wird auch in der Gegenwart an der Anschlussfähigkeit neoliberaler Regierungsprogramme – trotz zunehmender kapitalistischer Krisen – deutlich (vgl. Butterwegge, Lösch & Ptak 2017: 11 f.). Dieser Zusammenhang kann auf Guerillapraktiken von herrschenden Subjekten des (europäischen) neoliberalen Interdiskurses zurückgeführt werden. Mithilfe der Praktiken von Diskursguerillas werden andere Wissensordnungen transformiert, wodurch gleichzeitig eine Anschlussfähigkeit entsteht. Bei diesem Transformationsprozess eignen sich die neoliberalen Diskursguerillas Fragmente von anderen Diskursen an, deuten diese um und nutzen die transformierten Fragmente als Vehikel für eigene Ideen und Praktiken.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der globale Erfolg einer neoliberalen Gesellschaftspolitik wie folgt erklären: Erstens ist eine neoliberale Wissenspolitik durch eine ökonomische Vernunft, die ein Marktversagen ausschließt, aber auch durch die Handlungsmaxime der Alternativlosigkeit widerstandsfähig und brechungsstark geworden. Und zweitens gelingt es herrschenden Subjekten mit Diskursguerillapraktiken, Anschlussfähigkeit zu erzeugen und andere, widerstrebende Diskurse für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Der neoliberale Interdiskurs erweist sich bis dato durch die parallel verlaufenden Strategien aus zentraler Verteidigung und dezentralem Angriff sowie durch eine persistente Staatskritik äußerst krisensicher. Selbst nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09, wo vielerorts Zweifel an einem neoliberalen Regierungsprogramm aufkamen,

„verschwanden die neoliberale Propaganda freier Märkte und die Angriffe auf den Interventionsstaat vorübergehend aus der öffentlichen Debatte, bald war aber klar, dass selbst dieses Krisendebakel keinesfalls zum Unter- oder Niedergang des Neoliberalismus geführt hatte. Vielmehr kehrte dieser nach einer kurzen Latenzzeit zurück, um seine marktradikale Agenda noch konsequenter zu verwirklichen. […] Bis heute bestimmt der Neoliberalismus die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Medienöffentlichkeit und das Alltagsbewusstsein hierzulande so stark wie kaum eine andere Weltanschauung, obwohl sich nur ein kleiner, aber politisch einflussreicher Personenkreis dieser Denkrichtung zuordnet“ (Butterwegge, Lösch & Ptak 2017: 11 f.).

Dadurch kann Neoliberalismus als ein Interdiskurs mit einem universellen Geltungsanspruch in der Gesellschaft betrachtet werden, wodurch der Einzelne mit neoliberalen Subjektivierungsformen konfrontiert wird. Vor diesem Hintergrund bilden neoliberale Subjektivierungsformen individuelle Handlungsrezepte für gesellschaftliche Problemlagen. Gleichwohl spiegelt sich im neoliberalen Interdiskurs eine spezifische Regierungsweise wider, die im Folgenden mit dem Konzept der Gouvernementalität analysiert wird (vgl. Foucault 2004a, b).