„Zugang zur Realität gewinnen wir nur, wenn wir sehen, was die anderen sehen, und wenn wir sehen, was sie nicht sehen. Wer dies zum Ausgangspunkt seines Erkenntnisstrebens macht, muß diese Maxime, soll sie universell gehandhabt werden, auch auf sich selbst anwenden. Er muß sich selbst beobachten und dabei seine Erkenntnisse über Kognition rekursiv auch auf sich selbst anwenden können“ (Luhmann 1987: 210 f.).

In wissenssoziologischer Lesart geht es bei der Luhmannschen „Beobachtung zweiter Ordnung“ um eine Kritik des Wissens, die vor den Praktiken der Generierung von wissenschaftlichem Wissen nicht Halt macht. Als Kritik des Wissens wird die soziologische Aufklärung anderer gleichzeitig zu einer kritischen Selbstreflexion (vgl. Luhmann 1993: 7 f.). Vor diesem Hintergrund lässt sich die Forschung über akademische Subjektivierung als schmale Gratwanderung zwischen methodischem Voyeurismus und einem selbstreferenziellen Erkenntnisstreben begreifen. Denn einerseits birgt die teilnehmende Beobachtung im wissenschaftlichen Feld das Risiko in sich, die Selbstreflexion als Fixpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts zu nutzen. Andererseits kann die Selbstaufklärung genutzt werden, um zahlreiche kritische Konzepte der Soziologie auf das wissenschaftliche Feld und seine Angehörigen zu übertragen. Mit dieser Vorgehensweise wird der Versuch unternommen, verschiedene, parallel zueinander existierende Wissensordnungen, Regierungsweisen, Subjektivierungsformen und Subjektivierungsweisen im wissenschaftlichen Feld zu analysieren und die Seinsverbundenheit bzw. Ortsgebundenheit des WissensFootnote 1 zu reflektieren (vgl. Deleuze 1993: 255 f.).

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit stellt eine Gouvernementalisierung der deutschen Hochschullandschaft am Ende des 20. Jahrhunderts dar, weil die RationalisierungFootnote 2 der Regierungspraxis durch ein ökonomisches Tribunal des Marktes sowohl wissenschaftliche Arbeitsbedingungen als auch traditionelle akademische Imperative transformiert (vgl. Foucault 2004a: 163 f., 2004b: 342). Zu den prominentesten akademischen Imperativen zählen, laut Merton (1972: 48–55), Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierter Skeptizismus. Die Aneignung des organisierten Skeptizismus wird von Wissenschaftler*innen für eine unvoreingenommene Prüfung von wissenschaftlichen Erkenntnissen nach empirischen und logischen Kriterien der Wissenschaft genutzt (Merton 1972: 55). Die Uneigennützigkeit stellt demgegenüber eine verbindliche institutionalisierte Norm dar, die akademischen SubjektenFootnote 3 die Nutzung von Forschungsergebnissen zum eigenen Vorteil untersagt (ebd.: 53 ff.). Beim traditionellen akademischen Imperativ des Kommunismus wird angenommen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse ein Ergebnis von kooperativer Wahrheitssuche sind und deswegen persönliche Eigentumsrechte an wissenschaftlichem Wissen auf ein Minimum beschränkt werden. Im Gegenzug erhalten Wissenschaftler*innen für ihre Arbeit Anerkennung und Wertschätzung von der akademischen Gemeinschaft (ebd.: 51 ff.). Schlussendlich sollen gemäß dem Universalismus wissenschaftliche Erkenntnisse unabhängig von persönlichen Eigenschaften bewertet werden (ebd.: 48). Über den Wahrheitsanspruch von wissenschaftlichen Erkenntnissen soll allein der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas 1971: 37) entscheiden. Mit anderen Worten: „Der Chauvinist mag die Namen ausländischer Wissenschaftler aus den Geschichtsbüchern löschen, aber deren Erkenntnisse bleiben für Wissenschaft und Technologie unentbehrlich“ (Merton 1972: 48). Damit bilden traditionelle akademische Imperative nicht nur eine wissenschaftliche Diskursethik, sondern erzeugen auch ein traditionelles BerufsethosFootnote 4 von Wissenschaftler*innen und traditionelle akademische Subjektivierungsformen wie die der reinen Wissenschaftler*innenFootnote 5. Die reinen Wissenschaftler*innen werden von Bourdieu (1998: 17 f.) als relativ autonome akademische Subjekte beschrieben, weil sie sich Anrufungen und Subjektivierungsformen „wissenschaftsfremder“ Diskurse entziehen können. Sowohl traditionelle akademische Imperative als auch klassische Formen der Subjektivierung erodieren durch eine Gouvernementalisierung der deutschen Hochschullandschaft unter dem Primat des Marktes am Ende des 20. Jahrhunderts.

1.1 Forschungsgegenstand

In Hinblick auf die Transformationsprozesse im deutschen Hochschulsystem rückt die Ökonomisierung des Sozialen unter einer neoliberalen Wissenspolitik in das Zentrum der vorliegenden Arbeit. Mit der Ökonomisierung des Sozialen wird im Allgemeinen auf Simmels (2000 [1900]) These – die Imperative der Geldwirtschaft verändert die äußere und innere Natur des Menschen – Bezug genommen. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch gegenüber Simmels Werk stärker Aspekte einer hegemonialen Wissens- und Identitätspolitik betont. In diesem Kontext wird eine Philosophie des Wettbewerbs untersucht, die soziale Beziehungen unter dem Primat des Marktes transformiert und diesen Transformationsprozess für den Einzelnen durch verlässliche Handlungsrezepte und Identitätsangebote mit einem persönlichen Sinn versieht. Allerdings wird mit diesem Forschungsansatz die Ökonomisierung des Sozialen nicht auf eine Zeitdiagnose und die Dominanz von ökonomischen Denk- und Handlungsweisen in sozialen Feldern reduziert (vgl. Tellmann 2011: 484). Vielmehr wird die Ökonomisierung der Gesellschaft in einer Konfiguration von Wissen, Macht und Subjektivierung beleuchtet (vgl. Foucault 2004a: 162 f.). Die ökonomische Verallgemeinerung der Gesellschaft durch die Form des Marktes wird dementsprechend als Objektivierung einer neoliberalen Wissenspolitik betrachtet (vgl. Foucault 2004b: 342). Oder anders formuliert: „Es [geht] darum zu bestimmen, wie die verschiedenen Machtdispositive in ihren Mechanismen, Wirkungen und Beziehungen mit so unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und in Bereichen mit so unterschiedlichem Umfang aussehen“ (Foucault 1999: 23). Durch die „Politik der Ökonomisierung [rückt] eine Wendung des gesamten gesellschaftlichen Bereichs zur Wirtschaft“ (Foucault 2004b: 335) in das Blickfeld der Arbeit. Damit wird ein Schlaglicht auf die Beziehung zwischen akademischen Subjekten, Wissen und Regierungsweisen geworfen. In diesem Zusammenhang werden mit einem diskurstheoretischen Bezugsrahmen Regierungsweisen und Ökonomisierungsprozesse im wissenschaftlichen Feld als Wissenspolitik analysiert. Es wird davon ausgegangen, dass in der Konfiguration von Wissen und Macht eine objektive Wirklichkeit mit Identitätsangeboten entstehen. Demgegenüber kann angenommen, dass Wissenschaftler*innen durch ihre interpretative Kompetenz eine neoliberale Wissenspolitik im wissenschaftlichen Feld modifizieren, erweitern oder gänzlich transformieren (vgl. Bosančić 2019: 44).

Das Wechselspiel zwischen Diskursen, Regierungsweisen und Subjekten lässt sich in doppelter Weise präzisieren: Erstens wird die neoliberale Reorganisation des deutschen Hochschulsystems unter den Gesichtspunkten einer Ökonomisierung des Sozialen verhandelt. Zweitens werden aktuelle Transformationsprozesse als Kampf von herrschenden Subjekten verstanden, die stellvertretend für Diskurse um einen Geltungsanspruch und eine Deutungsmacht im wissenschaftlichen Feld ringen. Exemplarisch erschließt sich der Zusammenhang von Wissen, Macht und Subjektivierung im Hochschulbetrieb aus Fragen nach Autonomie und Qualität in der Wissenschaft. Mit diesen allgemeinen Fragen sind gleichzeitig Machtfragen nach der Wahrheit und dem Modus der Menschenführung verbunden. Darüber hinaus offenbaren sich in elementaren Wahrheits- und Machtfragen die Beziehungen von Subjekten zu Wissensordnungen und Regierungsweisen (vgl. Foucault 2004c).

Durch den zunehmenden Einfluss eines Managementdiskurses im Hochschulsystem der BRD hat sich der Deutungskampf von akademischen Subjekten um Autonomie verschärft (vgl. KGSt 1993, WR 2014: 46). Denn traditionellerweise versteht Bourdieu (1998: 18) Autonomie als Brechungsstärke von Wissenschaftler*innen gegenüber nicht wissenschaftlichen Interessen. In anderen Worten:

„Niemand soll einem in die eigene Lehre oder Forschung oder Zeiteinteilung hineinreden, und das von einem vertretene Teilgebiet des Faches darf in seiner Bedeutung nicht geschmälert, beispielsweise durch ‚Bologna‘ aus dem Pflichtkanon des Studiums herausgenommen werden“ (Schimank 2015: 280).

Die Fähigkeit, sich äußeren Zwängen und Anforderungen zu entziehen oder im Rahmen des wissenschaftlichen Spezialdiskurses zu interpretieren, objektiviert sich in traditionellen Steuerungsmodellen wie akademischer Selbstverwaltung (vgl. Schimank 2002: 4 f.). Auch die Freiheit, weitestgehend ohne Interventionen aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu lehren und zu forschen, deutet auf ein traditionelles Verständnis von wissenschaftlicher Autonomie hin (vgl. Enders, de Boer & Weyer 2013: 7).

Im Zuge der Gouvernementalisierung von deutschen Hochschulen wird wissenschaftliche Autonomie zunehmend mit einem neoliberalen Freiheitsbegriff verknüpft. Demnach kann individuelle Freiheit nur in einem Wettbewerb um knappe Ressourcen entstehen (vgl. Eucken 1949: 27). Infolgedessen wurde in den letzten zwei Dekaden an deutschen Hochschulen ein wissenschaftlicher zu einem unternehmerischenFootnote 6 und managerialen Freiheitsbegriff transformiert (vgl. Huber 2012; Enders, de Boer & Weyer 2013). „Managerial autonomy addresses discretion over financial matters as well as human resources management and management of other production factors (logistics, housing, and organization)“ (Enders, de Boer & Weyer 2013: 7). Mit einer eigenverantwortlichen Planung und Steuerung von Hochschulen soll die Verantwortung über die Qualitäts- und Leistungsentwicklung auf die Hochschulleitungen übertragen werden (vgl. WR 2006: 70 f.). Hier prallen die widerstreitenden Handlungsaufforderungen eines traditionellen wissenschaftlichen Spezialdiskurses mit denen eines Managementdiskurses aufeinander.

In diesem Kampf von Subjekten um Deutungsmacht werden Hochschulen als „ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes [betrachtet]“ (Bourdieu 1998: 20). Dieses relationale Machtverständnis legt nahe, Autonomie im Verhältnis zu den Kräften zu betrachten (vgl. Gengnagel, Witte & Schmitz 2017: 285–289). Folglich entscheiden Deutungsmuster von herrschenden SubjektenFootnote 7 über Wahrheits- und Machtfragen in der Wissenschaft. Mit einer exklusiven Sprecher*innenposition generieren Subjekte Deutungsmacht und herrschen damit nicht über, aber durch institutionalisierte Wissensordnungen im wissenschaftlichen Feld (vgl. Link 2007: 221; Maeße 2017). Insofern können Hochschulen als ein Kräftefeld und Bezugssystem von Diskursen betrachtet werden, „worin [sich] die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst […] bestimmen [kann]“ (Foucault 2015: 82).

1.2 Gouvernementalisierung von Hochschulen und der Wandel von diskursiven Praktiken

Traditionelle Hochschulen wurden als „organisierte Anarchien“ (Cohen & March 1974) wahrgenommen, in denen professorale Oligarchen herrschten. Die Narrative über ein universitäres Feudalsystem werden in den 1990er-Jahren genutzt, um die deutsche Hochschullandschaft zu rationalisieren. In diesem Zusammenhang weitet sich die Gouvernementalisierung des Staates auf Hochschulen und ihre Angehörigen aus (vgl. Foucault 2004a: 163 f.). Sichtbar wird die Rationalisierung von Regierungspraktiken im deutschen Hochschulbereich an der Implementierung des „Neuen Steuerungsmodells“ (NSM) (vgl. KGSt 1993). Das NSM gilt als deutsche Interpretation von „New Public Management“ (NPM) (ebd.). Ein wesentliches Charakteristikum stellt die Personalpolitik dar, denn seit der Einführung des NSM wird eine gezielte Prekarisierung von wissenschaftlicher Arbeit an deutschen Hochschulen verfolgt (vgl. Lenk 2022). An sich ist akademische Prekarität kein neues Phänomen im deutschen Hochschulsystem. Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert Weber (2002 [1894–1922]: 477) eine berufliche und soziale Unsicherheit von Wissenschaftler*innen. Grundlegend werden unter akademischer Prekarität unsichere, instabile Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse von Wissenschaftler*innen verstanden (vgl. Dörre & Rackwitz 2018: 187). Eng verbunden mit der beruflichen und sozialen Unsicherheit von Wissenschaftler*innen ist akademische Mobilität, also

„die durch unsichere Beschäftigungsverhältnisse erzwungene bzw. geforderte fast grenzenlose zeitliche und räumliche Verfügbarkeit der akademischen Wissensarbeiter*innen, die sie nomadisch zwischen den Hochschulen und Forschungseinrichtungen hin- und herspringen lässt, immer bereit, jede Möglichkeit zu ergreifen, ohne Rücksicht auf Bindungen jedweder Art“ (Ullrich & Reitz 2018: 23)

Auch das Nomadentum von Wissenschaftler*innen ist nichts Neues in der deutschen Hochschullandschaft. Was sich jedoch geändert hat, sind die Legitimationsmuster von akademischer Prekarität, denn im Zuge von NPM kann beobachtet werden, dass die berufliche und soziale Unsicherheit weniger aus der Tradition gerechtfertigt wird, sondern vielmehr als Ressource der Menschenführung und Effizienzsteigerung in einer projektförmigen Wissenschaft angesehen wird (vgl. Bourdieu 1998: 26–31; Lenk 2022: 147; Torka 2009). Damit geht traditionelle in legale, rationale Herrschaft über, weshalb es sich um eine strategische akademische Prekarisierung durch herrschende Subjekte des Managementdiskurses handelt (vgl. Weber 1988 [1922]: 475–481). Legitimiert wird akademische Prekarität also nicht mehr durch eine Tradition im Wissenschaftsbetrieb, sondern durch eine „formal korrekt gewillkürte Satzung“ (ebd.: 475) des RechtsFootnote 8, wodurch die berufliche und soziale Unsicherheit von akademischen Wissensarbeiter*innen planvoll hervorgerufen und rational begründet wird.

An deutschen Hochschulen liegt der Anteil von befristetem, hauptberuflichem wissenschaftlichem Personal weit über dem Anteil von Hochschulen in Frankreich, Großbritannien und den USA, wo ebenfalls eine Reorganisation durch unternehmerisch-manageriale Steuerungsmodelle stattgefunden hat (vgl. Kreckel 2013: 57). Außerdem kennzeichnet sich der „deutsche Sonderweg“ (ebd.) durch einen schleichenden Transformationsprozess. Während in Ländern wie Großbritannien und den USA der Wissenschaftsbetrieb bereits in den 1980er Jahren flächendeckend mit Marktzwängen und Herrschaftstechnologien des NPM-Diskurses konfrontiert wurde, setzt die Entwicklung in der BRD ein Jahrzehnt später ein (vgl. Musselin 2006: 63 f.; Schimank 2002: 3 f.; WR 2018a: 29). In einem internationalen Vergleich von Hochschulsystemen wird auch deutlich, dass nationale Differenzen im Transformationsprozess von Hochschulen durch politische, wissenschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder entstehen (vgl. Clark 1983). Demzufolge dominiert in den USA der Markt, während in Großbritannien das Management von einzelnen Hochschulen ausschlaggebend ist und in Deutschland und Frankreich wird die Reorganisation von der (Wissenschafts-)Politik vorangetrieben (vgl. Huber 2012: 247 f.).

Auch mithilfe von diskursiven EreignissenFootnote 9 können Länderspezifika rekonstruiert werden. Ein relevantes diskursives Ereignis stellt die Formulierung der Lissabon-Strategie zur Jahrtausendwende dar, wodurch der NPM-Diskurs zu einem irreduziblen Teil der Wirklichkeit an deutschen Hochschulen wird. Unter dem Credo der Lissabon-Strategie – „die EU [soll] bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt [werden]“ (Deutscher Bundestag & Wissenschaftliche Dienste 2006: 4) – formiert sich ein unternehmerischer Staat und treibt eine Transformation von traditionellen zu unternehmerischen Universitäten voran (vgl. Huber 2012: 244 f.; Mazzucato 2015). „Anders ausgedrückt, es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter der Aufsicht des Staats“ (Foucault 2004b: 168). Auch das anschließende Regierungsprogramm „Europa 2020“ (Europäische Kommission 2010) lässt keine Zweifel daran entstehen, dass „die Macht in der Form und nach dem Muster der Ökonomie“ (Foucault 2004a: 144) ausgeübt werden soll. Damit transformiert der gouvernementale Wandel Hintergrundregeln der Regierungspraxis. Durch diesen Transformationsprozess geht eine Grammatik der Sorge in eine Grammatik der Härte über (vgl. Fach 2015: 114 f.). Die Grammatik der Härte wird durch einen staatlich inszenierten Wettbewerb in verschiedenen Gesellschaftsbereichen sichtbar (vgl. Demirović 2008: 17). Vor diesem Hintergrund fordert der Imperativ des Marktes den Einzelnen auf, sich wie ein Wirtschaftssubjekt zu verhalten, „dessen Hauptaufgabe die Navigation auf dem Meere des Marktes mit seinen Strömungen, Stürmen und Untiefen ist“ (Röpke 1997: 57). Die Maxime dieser neoliberalen Subjektivierungsform lautet „survival of the fittest“ (Fach 2015: 114 f.). Mit dem Wandel der Regierungspraxis kann eine Metamorphose vom Leitbild des „Vollkasko-Wohlfahrtsstaats“ zum „schlanken Wettbewerbsstaat“Footnote 10 beobachtet werden. Infolge der neoliberalen Transformationsprozesse kommt es zu einer Verschiebung „von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge“ (Lessenich 2003: 86). Mit der Ökonomisierung der Sozialpolitik wird das Ziel verfolgt, neue Märkte zu erschließen und eine marktförmige Sozialordnung zu konstruieren (vgl. Foucault 2004b: 332). Im Rahmen einer neoliberalen Sozialpolitik „scheint [es] daher nur folgerichtig, daß von jenen, die einen Anspruch auf Unterstützung in Umständen haben, für die sie hätten versorgen können, verlangt wird, solche Vorkehrungen selbst zu treffen“ (Hayek 1991: 362). Ansonsten prognostiziert Hayek (1991: 377) „Konzentrationslager für die Alten, die sich nicht selber erhalten können […] [und] deren Einkommen vollkommen von einer Zwangsausübung auf die Jüngeren abhängt“.

Im Hochschulbereich verdeutlicht die Art und Weise der Finanzierung, dass eine pastorale Regierungspraxis ihren Geltungsanspruch zunehmend verliert und Teile des Wissenschaftsbetriebs über eine neoliberale Regierungsweise gesteuert werden. So lässt sich seit 2000 ein Übergang der Grundfinanzierung von Hochschulen in Drittmittelfinanzierung beobachten, wodurch sich ein Wettbewerb um Ressourcen, Arbeitsplätze und Statusaufstieg im wissenschaftlichen Feld ausbreitet (vgl. Dohmen & Wrobel 2018: 87; van Dyk & Reitz 2017: 65 ff.). Gleichwohl wird mit dem Anstieg des Drittmittelanteils und der projektbasierten, wettbewerbsförmigen Organisation von Wissensarbeit der akademische Quasi-Arbeitsmarkt flexibilisiert (vgl. Rogge 2015: 687). Deutlich wird die Flexibilisierung von wissenschaftlicher Arbeit unter einer neoliberalen Wissenspolitik am Anstieg des Anteils von befristeten, teilzeitbeschäftigten und drittmittelfinanzierten wissenschaftlichen Beschäftigten in den letzten zwei Dekaden (vgl. BuWiN 2013: 184; BuWiN 2017: 128 ff.). Von 2005 bis 2014 kann ein kontinuierlicher Befristungsanstieg des wissenschaftlichen und künstlerischen HochschulpersonalsFootnote 11 in unterschiedlichen Disziplinen von durchschnittlich 87 auf 93 Prozent konstatiert werden. Von 2014 bis 2018 stagniert die Zahl des befristet beschäftigten künstlerischen und wissenschaftlichen Hochschulpersonals und war zuletzt 2018 mit 92 Prozent leicht rückläufig (vgl. BuWiN 2021: 111). An außeruniversitären Forschungseinrichtungen steigen Befristungen der wissenschaftlich BeschäftigtenFootnote 12 von 2013 bis 2018 mit 84 Prozent auf 85 Prozent leicht an (vgl. BuWiN 2017: 128 ff.; BuWiN 2021: 114).

Befunde aus kapitalismustheoretischen Arbeiten legen nahe, dass die Prekarisierung von Erwerbsarbeit keine zufällige Emission des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft ist, sondern sich als Teil eines modernen Regierungsprogramms begreifen lässt (vgl. Boltanski & Chiapello 2003; Sennett 2008). Mit dem gouvernementalen Wandel und der Formierung einer wissensbasierten Ökonomie zur Jahrtausendwende schreibt sich ein von neoliberalen Ideen geprägter Managementdiskurs – der in Fastfood-RestaurantsFootnote 13 erprobt wurde – in Hochschulen ein (vgl. Boltanski & Chiapello 2003: 296 ff.; Neumann 2015: 212). In den frühen 1990er-Jahren werden zunehmend mehr Wettbewerb, Effizienz, Transparenz und Autonomie gefordert (vgl. WR 1993: 21 f.). Vor diesem Hintergrund erfährt „das Festhalten an veralteten Leitungsstrukturen und nicht länger sachgerechten Leitideen“ (ebd.: 21) eine Problematisierung. Die Kritik an einer maroden, veralteten deutschen Hochschullandschaft mündet in eine Gouvernementalisierung. Im gleichen Atemzug verweisen von Mitte der 1990er- bis in die frühen 2000er-Jahre die Promotor*innen von neoliberalen Leitideen und managerialen Leitungsstrukturen auf die Relevanz der Funktionsfähigkeit des deutschen Hochschulsystems als eine Triebfeder der wissensbasierten Ökonomie und verleihen ihren Reformbestrebungen damit gesellschaftspolitische Relevanz. Denn um den Anforderungen der wissensbasierten Ökonomie gerecht zu werden, so lautet das Argument der Reformbefürworter*innen, müssen grundlegende Hochschulreformen und die „Verbesserung der Möglichkeiten zur Selbststeuerung durch ein entscheidungsfähiges Hochschulmanagement“ (ebd.: 24) verwirklicht werden. Mit den Reformen unter NPM sollen deutsche Hochschulen und ihre Angehörigen ebenfalls von universitären Feudalstrukturen befreit werden sowie mehr Autonomie, Wissenschaftlichkeit und Wirtschaftlichkeit erhalten (vgl. Müller-Böling 2000: 31 f.). Gleichzeitig versprechen herrschende Subjekte des Managementdiskurses eine Qualitäts- und Effizienzsteigerung im Hochschulbetrieb (vgl. Lohr, Hilbrich & Peetz 2015: 128).

Hier drängen sich folgende Forschungsfragen auf: (1) (Re-)Produziert der NPM-Diskurs an deutschen Hochschulen eine neoliberale Wissenspolitik, Regierungsweise und Technologien der Menschenführung? (2) Wie adressieren diskursive Praktiken des NPM-Diskurses akademische Subjekte?

1.3 Reflexive Leerstellen und subjektive Deutungskämpfe im wissenschaftlichen Feld

Unter dem wachsenden Geltungsanspruch des NPM-Diskurses im wissenschaftlichen Feld geraten manageriale Praktiken auch zunehmend in die Kritik und erzeugen Widerstand in der akademischen Gemeinschaft (vgl. Schimank 2015: 280). Darüber hinaus hat das Spannungsverhältnis zwischen einem wissenschaftlichen Spezialdiskurs und einem managerialen Interdiskurs dafür gesorgt, dass in den letzten zwei Dekaden zahlreiche sozialwissenschaftliche Arbeiten zu NPM entstanden sind (vgl. Maeße & Hamann 2016: 29 f.). Hier werden zwei grundlegende Forschungsrichtungen sichtbar: Zum einen wird der wissenschaftliche Diskurs über NPM in den Sozialwissenschaften von organisations- und professionssoziologischen Arbeiten dominiert, die sowohl in der Wissenschaftssoziologie als auch in der Hochschul- und Wissenschaftsforschung angesiedelt sind (vgl. Krücken, Blümel & Kloke 2013; Schimank 2005; Teichler 2015). Zum anderen liegen kapitalismustheoretische Arbeiten vor, die nicht-intendierte Effekte von managerialen Praktiken beleuchten und kritische Positionen in den Diskurs über NPM einfließen lassen (vgl. Dörre & Neis 2010; Münch 2011; Weingart 2015). So deuten exponierte Reformkritiker*innen wie Dörre und Rackwitz (2018: 204) die strategische Prekarisierung von wissenschaftlicher Arbeit als „betriebsförmig organisierte Landnahme kreativer Wissensarbeit“, wohingegen Reformbefürworter*innen die neoliberale Wissenspolitik von NPM als Anregung betrachten, die „verkrusteten Strukturen“ (Hornbostel 2011: 8) des deutschen Hochschulsystems zu erneuern. Mit diesen widerstreitenden Positionierungen von Soziolog*innen kann der wissenschaftliche Diskurs über NPM gleichzeitig als Stellvertreter*innenkampf zwischen herrschenden Subjekten eines wissenschaftlichen Spezialdiskurses und eines managerialen Interdiskurses betrachtet werden, weil Deutungskonflikte um Themen wie Autonomie und Qualität entstehen. Diese Deutungskonflikte manifestieren sich in evidenzbasierten Wissen, denn mit dieser Wissensform versuchen akademische Subjekte ihrer „Form der Wahrheitsproduktion“ (Foucault 2014: 27) einen Geltungsanspruch zu verleihen. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Politisierung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit NPM beobachten. In dieser Konfliktarena wird Wissenschaft zu einem Mittel im Kampf von akademischen Subjekten um Wahrheit und Macht (vgl. Hornbostel 2009; Münch 2007). Freilich geben weder Akteur*innen des wissenschaftlichen noch Vertreter*innen des weltlichen PolsFootnote 14 im wissenschaftlichen Feld offen zu, politische Positionen in der wissenschaftlichen Arbeit zu beziehen und Machteffekte zu (re-)produzieren, da ihnen anderenfalls vorgeworfen wird, nicht werturteilsfrei zu forschen und damit wissenschaftliche Wahrheitsakte ihren Geltungsanspruch verlieren (vgl. Weber 2002 [1894–1922]: 498). Im Kampf um die Deutungshoheit nutzen sowohl Kritiker*innen als auch Befürworter*innen des NPM-Diskurses Machteffekte des wissenschaftlichen Spezialdiskurses, um die persönliche Haltung und „die Empfehlungen der Experten mit dem Deckmantel wissenschaftlicher Autorität zu umkleiden“ (Bourdieu 1992: 206). Im Gegensatz dazu verweisen beide Seiten auf ihre wissenschaftliche Distanz zu politischen Konfliktarenen im wissenschaftlichen Feld und werfen gegenläufigen Interessensgruppen ein „politisch-ideologisch gefärbtes“ (Hornbostel 2009: 20) Erkenntnisstreben vor, ohne jedoch die persönliche Seinsverbundenheit zu reflektieren. Diese reflexiven Leerstellen in der Seinsverbundenheit des Wissens spiegeln sich ebenfalls in etablierten Forschungspraktiken wider.

Im wissenschaftlichen Diskurs über NPM distanzieren sich Wissenschaftler*innen davon, die Effekte von Hochschulreformen über akademische Subjektivierungsweisen zu erforschen, was zu einer vernachlässigten, subjektorientierten Forschungsperspektive im wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt führt (vgl. Janßen & Sondermann 2016: 384). Sichtbar werden diese Leerstellen, wenn Wissenschaftler*innen ihre Arbeitsweise rechtfertigen – so weist Hamann (2017: 89 f.) zwar kritisch auf eine Verschweigung des Subjekts in der Wissenschaft hin, beschränkt sich aber auf einen ZugangFootnote 15 über Nachrufe in Fachzeitschriften, um die Verzerrungseffekte von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen bei der Rekonstruktion akademischer Subjektivierungsprozesse zu vermeiden. Auch in anderen Forschungsfeldern wie den Gouvernementalitätsstudien wird oftmals diskursives Material in Form von programmatischer Literatur herangezogen, um Regierungsweisen und Subjektivierungsformen zu erforschen, obwohl die Problematiken von „Als-ob-Anthropologien“ (Lessenich 2003: 91) und schulischem Fatalismus hinlänglich bekannt sind (ebd.: 91 f.). „Das heißt: die gouvernementalitätstheoretisch orientierten Studien geben zwar oft ausgesprochen differenziert und zum Teil sehr detailliert Aufschluss darüber, wie Menschen sein sollen, aber sie fragen nicht, ob sie es auch sind, also sein wollen, was sie sein sollen“ (Bührmann 2012: 153). Vor diesem Hintergrund erhalten diskursive Praktiken und Subjektivierungsformen einen gesteigerten Geltungsanspruch im wissenschaftlichen Diskurs, während Subjektivierungsweisen und nicht-diskursive Praktiken unter dem Einwand von Verzerrungseffekten und der schlechten Zugänglichkeit weitestgehend unberücksichtigt bleiben (vgl. Wagenknecht 2003: 221 f.). Insofern wird den Vertreter*innen etablierter Forschungsperspektiven und Praktiken nicht vorgeworfen, keinen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt zu leisten. Vielmehr findet eine Kolonialisierung von wissenschaftlichem Wissen unter anerkannten Theorien und Praktiken statt.

1.4 Wissenschaftliche Fragestellung und politisches Interesse der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit wird mit einer Dispositivanalyse ein Dialog zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie zwischen Subjektivierungsformen und -weisen hergestellt (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 14 f.). Grundsätzlich werden Subjektivierungsformen als Programme der Lebensführung verstanden, über die Subjekte lernen sollen, wie sie sich selbst und andere Subjekte erleben, wahrnehmen und deuten sollen (vgl. Bührmann 2012: 146), wohingegen sich die persönliche Aneignung, Umdeutung und Transformation dieser Programme in Subjektivierungsweisen widerspiegelt. Denn Subjektivierungsweisen sind die Art und Weise, wie sich Subjekte selbst und andere Subjekte erleben, wahrnehmen und deuten (ebd.). Mit der Differenzierung zwischen Subjektivierungsformen und -weisen werden etablierte Forschungsperspektiven und imaginierte Sozialfiguren wie das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007) einer kritischen Reflexion unterzogen. Gleichzeitig wird mit dieser Vorgehensweise ein Beitrag zur Beseitigung von Leerstellen in der Wissenschaftsforschung und in den Gouvernementalitätsstudien geleistet. Darüber hinaus findet eine Verknüpfung zwischen dem Konzept der Gouvernementalität und einer Dispositivanalyse statt. Bei der Übertragung des Dispositivansatzes auf das deutsche Hochschulsystem und seine Angehörigen ist Übersetzungsarbeit notwendig, da es sich um eine interdisziplinäre Forschungsperspektive handelt (vgl. Bührmann & Schneider 2012: 9–14). In diesem Kontext unternahmen Bröckling und Peter (2014; 2017) erste Anwendungsversuche, die sich als ergiebig herausstellten, weil Regierungskünste und Steuerungseffekte in der deutschen Hochschullandschaft mit „Dispositive[n] als Sichtbarkeitsmaschinen selbst sichtbar gemacht werden können [und] […] zugleich ein kritisches Moment [in sich bergen]“ (Bröckling & Peter 2017: 300). Daraus ergeben sich zwei Vorteile gegenüber etablierten Forschungspraktiken der Wissenschaftssoziologie und der Gouvernementalitätsstudien: Einerseits kontrastiert eine Dispositivanalyse Wissen, Macht und Subjektivierung (vgl. Foucault 1978: 119 f.). Andererseits kann der Dispositivansatz als analytisches Werkzeug genutzt werden, um Brüche und (individuelle) Grenzen in einem neoliberalen Subjektivierungsregime sichtbar zu machen (vgl. Bröckling & Peter 2017: 300). Denn Subjektivierungslinien bilden – anders als Kräfte-, Sichtbarkeits- und Aussagelinien – Bruchstellen in der Maschinerie eines Dispositivs, weil Subjekte weder Wissen noch Macht sind, sondern „sich den etablierten Kräfteverhältnissen sowie den konstituierten Wissensarten entzieh[en können]“ (Deleuze 1991: 155 f.).

Infolge dieser Annahmen wird in der Dissertation die Soziologie des individuellen Widerstands empirisch erprobt. Mit dieser ForschungsperspektiveFootnote 16 wird eine neoliberale Wissens- und Identitätspolitik über die (Gegen-)Verhaltensweisen von akademischen Subjekten erforscht. Gleichwohl eröffnet die Soziologie des individuellen Widerstands die Gelegenheitsstruktur – und hier wird das politische Interesse der Arbeit auf die Praxis übertragen – jene „neuen Waffen“ (Deleuze 1993: 255 f.) zu entwickeln, die nötig sind, um sich modernen Regierungsweisen mit freiheitlichem Aussehen zu entziehen und feudale Hochschulstrukturen zu demokratisieren (vgl. van Dyk & Reitz 2017: 81 f.). Vor dem politischen Hintergrund der wissenschaftlichen Arbeit ist der Einwand berechtigt, inwieweit die wissenschaftliche Arbeitsweise werturteilsfreiFootnote 17 ist. Jedoch kann Kritiker*innen entgegnet werden, dass das Sichtbarmachen der persönlichen Positionierung, die nicht allein durch Imperative eines wissenschaftlichen Spezialdiskurses beeinflusst wird, gerade zur Werturteilsfreiheit beitragen kann, weil dabei eine Reflexion von persönlichen Sollensurteilen stattfindet. Es stellt sich anderenfalls die Frage, wie die wissenschaftliche Analyse von persönlichen Werten getrennt werden kann, wenn kein reflexives Wissen über diese Verzerrungseffekte vorhanden ist. Darüber hinaus wird mit der Reflexion eine Abstraktionslage entwickelt, die den Einfluss verschiedener Regierungsweisen und Subjektivierungsformen auf den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt ins Blickfeld rückt. Durch die Kritik des Wissens wird die vorliegende Arbeit zu einem intersubjektiv nachvollziehbaren Forschungsprozess. Des Weiteren soll mit der Reflexion von Regierungsweisen und Subjektivierungsprozessen im wissenschaftlichen Feld eine Diskussion über Autonomie und die Organisation von Hochschulen angestoßen werden, um die Rahmenbedingungen von wissenschaftlicher Arbeit von denen verhandeln zu lassen, die tagtäglich damit konfrontiert werden. Gleichwohl zieht die Kritik des Wissens eine Auseinandersetzung mit aktuellen Grenzen von wissenschaftlicher Autonomie nach sich.

Eine Beschreibung von relativer wissenschaftlicher Autonomie liefert die persönliche Wahrnehmung der Subjektivierungsweise des Autoren im wissenschaftlichen Feld: Einerseits distanziert man sich während der wissenschaftlichen Untersuchung von den sozialen Verhältnissen, in denen man forscht. Andererseits wird man beim Verlassen der Abstraktionslage unweigerlich mit den „historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens“ (Bourdieu 1992: 10) konfrontiert. Dadurch stellt die Seinsverbundenheit des Wissens einen Akt der Unterwerfung dar, der mitunter von anderen Betroffenen als „Opfergang“ und „Ärgernis“ (Foucault 1999: 8) beschrieben wird. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: „Ist es möglich, zur Wahrheit Zugang zu haben, ohne dafür mit einem Opfer, einer Askese, einer Verwandlung oder einer Läuterung zu bezahlen, die das Sein des Subjekts in Mitleidenschaft zieht“ (Gros 2004 zit. n. Foucault 2004c: 637). Bei der Seinsverbundenheit des Wissens wird zwar Bezug auf Marx (1961 [1859]: 9) genommen, jedoch nicht davon ausgegangen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Vielmehr wird in der Arbeit gezeigt, dass ideelle und materielle Infrastrukturen von Diskursen und Regierungsweisen sowohl durch Subjekte (re-)produziert als auch durch kollektive Deutungskämpfe sowie persönliche Aneignungsprozesse stabilisiert, umgedeutet oder transformiert werden (vgl. Bosančić 2019: 48). Damit spiegeln sich in einer diskursiv konstruierten Lebenstotalität von akademischen Subjekten gleichzeitig Fluchtpunkte und Handlungsalternativen wider.

Es kann festgehalten werden, dass die Auseinandersetzung mit Regierungsweisen und akademischer Subjektivierung als Quelle der Soziologie des individuellen Widerstands genutzt wird. Weiterhin eröffnet die Kritik von Macht-Wissen-Komplexen in der Wissenschaft eine Gelegenheitsstruktur für „Revolten der Verhaltensführung“ (Foucault 2004a: 282) und ein alternatives Hochschulsystem. Dabei geht es nicht darum, für eine pastorale Regierungspraxis eines traditionellen universitären Feudalsystems oder für neoliberale Kontrolltechniken von unternehmerischen Hochschulen Position zu ergreifen. Vielmehr können einzelne Fragmente eines neoliberalen Diskurses für eine Theorie des „Market-Failures“ (Borchardt 1981: 43) genutzt werden, um „die Realität […] den,vollkommenen Zuständen‘ [gegenüberzustellen und] die Apologeten des Marktes zu entlarven“ (ebd.). Dazu werden Subjektivierungsprozesse in der akdemischen Lebens- und Arbeitswelt reflektiert, um sich von Herrschaftstechnologien und Subjektivierungsanstrengungen zu emanzipieren. Ein Ansatzpunkt des Widerstands ergibt sich aus einer kritischen Beziehung des Einzelnen zu seiner Identität. Die Kritik an der Identität führt, laut Foucault (2004c: 661 f.), zu einer relativen Unbhängigkeit des Individuums von diskursiven Einflüssen. Dadurch könnten Individuen in der Wissenschaft tätig sein, ohne jedoch an eine akademische Identität gebunden zu sein, die unterjocht und unterwirft. Mit anderen Worten: „Die Selbstkultur bietet dem handelnden Menschen eine quantitative Begrenzungsregel (nicht zulassen, daß die politischen Aufgaben, die Geldsorgen und verschiedenen Verpflichtungen das Dasein so vereinnahmen, daß man Gefahr läuft, sich selbst zu vergessen)“ (ebd.: 662). Ob Formen dieser Selbstkultur an deutschen Hochschulen existieren und zur Emanzipation des Einzelnen führen, bleibt an dieser Stelle offen und wird im empirischen Teil der Arbeit mithilfe von (nicht-)diskursiven Praktiken und akademischen Subjektivierungsweisen diskutiert.

Darüber hinaus soll mit den gegenwärtigen Transformationsprozessen im wissenschaftlichen Feld herausgefunden werden, welche Formen akademische Subjekte annehmen, wenn sie mit (neoliberalen) Regierungsweisen und Subjektivierungsformen konfrontiert werden. Hierzu gilt es, folgende Fragen zu klären: (3) Findet mit der Einführung von NPM in der deutschen Hochschullandschaft sowohl ein Wandel von akademischen Subjektivierungsformen als auch von akademischen Subjektivierungsweisen statt und eignen sich akademische Subjekte neoliberale Selbsttechnologien an? (4) Welche (nicht-)intendierten Effekte hat der NPM-Diskurs auf akademische Subjekte und den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt?

1.5 Forschungsstand und Thesen

Zur Diskussion der Forschungsfragen werden theoretische und methodologische Vorarbeiten herangezogen, bei denen TerminiFootnote 18 der Gouvernementalitätsstudien in zentrale BegriffeFootnote 19 einer Dispositivanalyse übersetzt werden (vgl. Bröckling & Peters 2017: 285–289). Doch anders als Bröckling und Peter (2017: 284), die sich mit einem Exzellenz-Dispositiv im deutschen Hochschulsystem auseinandergesetzt haben, werden in der vorliegenden Arbeit (nicht-)diskursive Praktiken des NPM sowie akademische Subjektivierungsformen und -weisen untersucht. Dazu gilt es im ersten Schritt, Problematisierungen, Zielsetzungen und PlausibilisierungsstrategienFootnote 20 des NPM-Diskurses herauszuarbeiten. Mit dieser Vorgehensweise wird das Ziel verfolgt, Querverweise aus bereits vorliegenden Arbeiten von Meier (2009) und Neumann (2015) auf den NPM-Diskurs zu ergänzen und Forschungslücken zu schließen. Während sich Meier (2009: 229) mit programmatischen Texten in einer Diskursanalyse auseinandergesetzt hat, um verschiedene historische diskursive Modelle der Hochschulorganisation darzustellen, wird in der vorliegenden Arbeit der Managementdiskurs als Wissensordnung und Regierungsweise beleuchtet. Darüber hinaus wird Neumanns (2015: 212) Verständnis von NPM – als eine „veränderte Handlungslogik mit neuen, von neoliberalen Ideen geprägten Verwaltungspraktik“ – aufgegriffen und durch die Forschungsperspektiven eines gouvernementalen Dispositivs und der Soziologie des individuellen Widerstands erweitert. Mithilfe der doppelten Perspektive auf NPM als Diskurs und Regierungsweise wird Wissen nicht auf Macht reduziert und mit der Soziologie des individuellen Widerstands werden nicht etablierte Kräfteverhältnisse berücksichtigt sowie Subjektivierung vom Widerstand handelnder Menschen aus erforscht (vgl. Waldenfels 1991: 281). In diesem Zusammenhang werden zentrale MerkmaleFootnote 21 von unternehmerischen Universitäten als Wissenspolitik und Herrschaftstechnologien analysiert (vgl. Huber 2012: 247; Enders, de Boer & Weyer 2013: 20 f.). Denn es wird davon ausgegangen, dass Wissenschaftler*innen unter den Anrufungen des Managementdiskurses einerseits Aggregatszustände des unternehmerischen Selbst annehmen und andererseits persönlicher Widerstand durch kollektive Deutungskämpfe und Aneignungsprozesse entsteht (vgl. Bosančić 2019: 48). Besitzt diese Annahme einen Geltungsanspruch in der deutschen Hochschullandschaft, erzeugen imaginierte Sozialfiguren wie das unternehmerische Selbst Handlungsrezepte für akademische Subjekte und subversive Verhaltensweisen. Damit avanciert, so lautet die erste These, unternehmerisches und manageriales Handeln zu einem irreduziblen Teil der Wirklichkeit und transformiert traditionelle akademische Subjektivierungsformen in neoliberale und andere Formen der Subjektivierung.

Der Wandel von traditionellen Wissenschaftler*innen zu akademischen Entrepreneur*innenFootnote 22 würde nicht nur einen „entscheidenden Bruch mit den Grundsätzen akademischer Autonomie, wie den Werten der Interessenlosigkeit, Zweckfreiheit und Unbeeinflußbarkeit durch Sanktionen und Anforderungen der Praxis“ (Bourdieu 1992: 206) bedeuten. Vielmehr würde ein inszenierter Wettbewerb um Ressourcen, Arbeitsplätze und Statusaufstieg zu einer marktähnlichen Regulierung von wissenschaftlichem Wissen führen. Infolgedessen gerät vor allem risikoreiche (Grundlagen-)ForschungFootnote 23 ohne ersichtlichen Mehrwert für die Gesellschaft ins Abseits von wissenschaftspolitischen Förderprogrammen (vgl. Reitz & Draheim 2006: 386 f.). Dieses ökonomisierte Verhältnis zwischen Gesellschaft und Wissenschaft kann kritisch betrachtet werden, denn, wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, wurde die gesellschaftliche Relevanz von anfänglich zweckfreien Themen wie die Forschung über Schimmelpilze der Gattung Penicillium oft erst Jahrzehnte später erkannt (vgl. Pieroth 1992). Außerdem lässt das Unternehmertum in der Wissenschaft Zweifel aufkommen, inwieweit Forschungsergebnisse wissenschaftlichen Kriterien wie Klarheit, Objektivität und kritischer Reflexion entsprechen (vgl. Weber 2002 [1894–1922]: 498–507). Denn in einem neoliberalen Transformationsprozess von akademischen Subjektivierungsweisen erodiert das traditionelle Selbstverständnis von Wissenschaftler*innen durch unternehmerisches Kalkül und akademische Subjekte werden qua manageriale Anreizsysteme in einen „Aggregatszustand betriebsamer Konformität“ (Bröckling 2007: 241) versetzt. Zugespitzt formuliert: Die Internalisierung von Fragmenten des NPM-Diskurses durch Wissenschaftler*innen hat nicht zu einer Effizienzsteigerung und Qualitätsverbesserung in Lehre und Forschung geführt, sondern einerseits zu einem Anpassungsverhalten von akademischen Subjekten, die so lehren und forschen, dass manageriale Kennzahlen erfüllt werden, und andererseits zu Widerstand gegen Herrschaftstechnologien und Subjektivierungsformen. Sollte die zweite These zutreffen, liegt es nahe, dass der Geltungsanspruch des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft „effets pervers“ (Boudon 2009 [1977]) erzeugt.

1.6 Aufbau der Arbeit

Zur Erforschung von akademischer Subjektivierung im Dispositiv neoliberaler Gouvernementalität bedarf es einer theoretischen Fundierung. Dazu werden im ersten Kapitel klassische Perspektiven von Vertretern des europäischen Neoliberalismus dargestellt und die gesellschaftliche Aktualität einer neoliberalen Wissenspolitik ausgelotet. Vor diesem Hintergrund wird Bezug auf Positionen von vorwiegend europäischen neoliberalen Klassikern wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Friedrich August von Hayek genommen. Insbesondere Hayek stellt eine zentrale Figur des klassischen neoliberalen Denkens dar, weil er die europäische Variante des Neoliberalismus mit den Ideen von amerikanischen Mitstreitern angereichert hat (vgl. Foucault 2004b: 304 f.). Anschließend werden die verschiedenen Positionen der neoliberalen Klassiker nach einseitig gesteigerten Gesichtspunkten in einer idealtypischen Weise geordnet, um die Infrastruktur eines europäischen neoliberalen Interdiskurses zu skizzieren (vgl. Weber 1988 [1922]: 191). In der vorliegenden Arbeit wird Neoliberalismus sowohl als universeller Interdiskurs als auch als moderne Regierungsweise beschrieben (vgl. Foucault 2004a: 162; Link 2012: 59). Dazu wird im zweiten Kapitel die diskurstheoretische Perspektive auf Neoliberalismus durch das Konzept der Gouvernementalität ergänzt und sozialer Wandel mit der Lesart der Soziologie des individuellen Widerstands interpretiert. In diesem Zusammenhang wird dafür argumentiert, die Ökonomisierung des Sozialen im Allgemeinen und die neoliberale Reorganisation der deutschen Hochschullandschaft im Speziellen vom Widerstand handelnder Menschen aus in einem gouvernementalen Dispositiv zu analysieren (vgl. Foucault 2004a: 162 f.). Weiterhin wird im zweiten Kapitel eine liberale von einer neoliberalen Gouvernementalität unterschieden sowie das analytische Konzept der Gouvernementalität kritisch reflektiert. Dazu werden die Grenzen eines gouvernementalitätstheoretischen Deutungsrahmens ausgelotet und die Forschungsperspektive eines Dispositivs mit der Soziologie des individuellen Widerstands verknüpft. Anschließend werden im empirischen Teil der Arbeit das dispositivanalytische Konzept und die Soziologie des individuellen Widerstands auf das deutsche Hochschulsystem übertragen. Hierzu wird akademische Subjektivierung an deutschen Hochschulen in einem Dispositiv neoliberaler Gouvernementalität analysiert. Die Basis der Forschung über akademische Subjektivierung bildet das dritte Kapitel mit einer methodologischen Fundierung der Forschungsansätze. In diesem Zusammenhang werden in den ersten beiden Abschnitten des dritten Kapitels Ansätze einer wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) sowie einer kontrastierenden Deutungsmuster- und Subjektivierungsanalyse vorgestellt (vgl. Ullrich 2020; Keller 2011). Außerdem werden die Erstellung des Korpus für die WDA und das Sampling der Befragten für die Deutungsmuster- und Subjektivierungsanalyse vorgestellt, um den Forschungsprozess intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten. Des Weiteren werden im dritten Kapitel zur Kontrolle von Verzerrungseffekten die Seinsverbundenheit sowie diskursive Einflüsse auf den Forschungsprozess reflektiert. Anschließend werden mit der WDA des NPM-Diskurses und mit den Deutungsmustern der Befragten kollektive Deutungskämpfe und Aneignungsprozesse von Subjektivierungsformen analysiert. Im vierten Kapitel werden mit dem Ansatz der WDA grundlegende Problematisierungen, Zielsetzungen und Plausibilisierungsstrategien des Managementdiskurses in der deutschen Hochschullandschaft analysiert. In diesem Kontext werden zentrale NarrativeFootnote 24 des NPM-Diskurses herausgearbeitet, die sinnstiftende Erzählungen, Handlungsrezepte und Identitätsangebote für akademische Subjekte bereitstellen. Außerdem werden aus den Anrufungen akademische Subjektivierungsformen rekonstruiert. Zusammenfassend werden im vierten Kapitel die Forschungsfragen (1) nach einer neoliberalen Rationalität des Regierens und (2) nach akademischen Subjektivierungsformen diskutiert. Im fünften Kapital wird mit der Deutungsmuster- und Subjektivierungsanalyse das empirische Material von 25 leitfadengestützten Interviews mit Wissenschaftler*innen verschiedener StatusgruppenFootnote 25 aus unterschiedlichen Disziplinen an der Freien Universität Berlin (FU Berlin) analysiert. Mit der Interviewanalyse werden akademische Deutungsmuster, Subjektivierungsweisen, Selbsttechnologien und subversive Verhaltensweisen beleuchtet. Ferner wird mit dieser Vorgehensweise die Forschungsfrage (3) nach der Internalisierung, Umdeutung und Transformation von Fragmenten, Praktiken und Subjektivierungsformen des NPM-Diskurses diskutiert. Im letzten Schritt der Interviewauswertung werden die unterschiedlichen Deutungsmuster und Subjektivierungsweisen der Befragten zum Realtypen einer balancierenden akademischen Persönlichkeit verdichtet (vgl. Ullrich 2020: 147). Dieser Realtyp wird im sechsten Kapitel aufgegriffen und mit den Ergebnissen der Kapitel vier bis fünf in einem gouvernementalen Dispositiv kontrastiert. Mit diesem Vergleich wird ein Teil des vertrackten Wirkungszusammenhangs von Wissen, Macht und Subjektivierung in der deutschen Hochschullandschaft offengelegt. Gleichwohl wird mit der Kontrastierung des empirischen Materials die Forschungsfrage (4) nach den (nicht-)intendierten Effekten des Managementdiskurses auf die Wissenschaft und Gesellschaft diskutiert. Mit dem Resümee und Ausblick werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst, Anregungen für zukünftige Forschungsvorhaben gegeben und Konturen einer Praxis der Selbstbefreiung vorgestellt. Schlussendlich folgt im Epilog die politische Botschaft der Arbeit. Zunächst gilt es jedoch zu fragen: Was ist Neoliberalismus?