Wie gehen Recht und Rechtswissenschaft mit Ungewissheit insbesondere bei der Standortauswahl für ein Endlager um? Die Machart des Rechts und das Verständnis der Rechtswissenschaften sind mit einem rechtsstaatlichen Umsetzungs- und Durchsetzungsanspruch verknüpft (vgl. Augsberg 2022, § 8 Rz. 21; Smeddinck 2016b: S. 25, 26 f.), der eine Verbindlichkeit mit sich bringt, die es in anderen wissenschaftlichen Disziplinen so nicht gibt. So kann der Gesetzgeber ein bestimmtes Verständnis von Fachbegriffen für die Verarbeitung in rechtlichen Zusammenhängen bindend festlegen, das nicht deckungsgleich mit anderen fachwissenschaftlichen Verständnissen ist (Brunnengräber und Smeddinck 2016). Ebenso ist er verpflichtet, z. B. dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz als Schutzpflicht oder Anspruchsnorm gerecht zu werden (statt aller: Jarass 2020, Art. 2 Rz. 80.).

Unter den Themen des besonderen Verwaltungsrechts ist der Umgang mit Ungewissheit mittlerweile ein „Klassiker“. Der Schritt dahin war allerdings ein epochaler. Den ursprünglichen Ausgangspunkt bildet die Gefahrenabwehr. Dabei geht es im Vergleich tendenziell eher um den Umgang mit einer „unsicheren Gewissheit“. Bezugsgröße ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, die hinreichend sind, dass es bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden an einem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (z. B. Leib und Leben) kommt (Brandt und Smeddinck 1994, S. 228.). Risiko bezeichnet dagegen die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens mit geringer Wahrscheinlichkeit, unterhalb der Schwelle der Gefahrenabwehr (Kahl und Gärditz 2019, § 3 Rz. 22). Dass es einen Bedarf an Maßnahmen und Grundrechtsschutz im Vorfeld minderer Schadenswahrscheinlichkeiten gibt, also für den rechtlichen Umgang mit Ungewissheit, musste erst erkannt, akzeptiert und rechtlich operationalisiert werden (vgl. etwa Klafki 2017; Di Fabio 1994). Vorsorge und Risikomanagement sind typische Bezeichnungen für dieses Handlungsfeld. Ungewissheit und Unsicherheit werden in der Rechtswissenschaft synonym verwendet (vgl. etwa die Beiträge in Hill und Schliesky 2016). Das Vorsorgeprinzip als zentrale rechtliche Kategorie zielt darauf, einen präventiven und planenden Umweltschutz zu betreiben, um das Eintreten von Umweltschäden von vorneherein zu vermeiden (statt aller: Kluth 2021, § 1 Rz. 127). Es wird in Deutschland unter Zustimmung der Rechtswissenschaft traditionell über Standards, also über standardisierte Handlungs- oder technische Vorgaben umgesetzt. In bemerkenswertem Kontrast dazu stehen das Endlager und zuvor die Standortsuche als völlig singuläres Projekt, wo es gilt, Anforderungen für diesen Einzelfall zu entwickeln.

Wie geht die Rechtsordnung insbesondere im Standortauswahlgesetz mit Ungewissheit um? Als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage wird die Entwicklung von der Gefahrenabwehr zur Risiko-Vorsorge nachvollzogen (1). Danach werden beispielhaft eine ganze Reihe von Elementen zum Umgang mit Ungewissheit im Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (StandAG – Standortauswahlgesetz)Footnote 1 vorgestellt (2.). Schließlich erfolgt eine rechtswissenschaftliche Einordnung (3.), ehe der Beitrag mit Fazit und Ausblick endet (4.). Der Fokus auf Ungewissheit leitet die Auswahl an Beispielen, aber auch die Zusammenschau von Aspekten an, die im ersten Moment ungewöhnlich erscheinen mögen. So werden Ungewissheiten, die im Recht geregelt werden, und Ungewissheiten, die das Recht verursacht, angesprochen.

1 Von der Gefahrenabwehr zu Vorsorge und Risikomanagement

Vorsorge musste als Handlungsfeld staatlicher Regulierung erst entdeckt und verstanden werden. Traditionell konzentrierte sich staatliches Handeln auf die Gefahrenabwehr. Gefahr ist dabei die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens an einem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (Schenke 2018, S. 506; Brandt und Smeddinck 1994, S. 227 f.). Es wird also eine Prognose getroffen. Ungewissheit spielt auch dabei eine Rolle (Kramer 2013, S. 200), da die Möglichkeit eben auch ein Moment der Ungewissheit enthält. Letztlich steht dahinter aber ein Bild von einem Geschehensablauf der vergleichsweise konkret und in seiner Kausalität fassbar ist. Es ist absehbar, wer beteiligt ist und welche Folgen drohen. Auch wenn hier ebenfalls der Anspruch ist, vor Eintritt eines Schadens – also vorsorglich – einzugreifen, unterscheidet die Rechtsordnung Gefahrenabwehr und Vorsorge als unterschiedliche Kategorien, die sich durch den Grad der Wahrscheinlichkeit abgrenzen lassen.

Innerhalb der Gefahrenabwehr gibt es Graduierungen, die den Anspruch an die Stufe der Ungewissheit mit Blick auf praktische Bedürfnisse variieren. Eine Anscheinsgefahr liegt vor, wenn der handelnde Beamte aus der Sicht vor Eintritt des schädigenden Ereignisses mit Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Informationen aufgrund hinreichender Anhaltspunkte vom Vorliegen einer Gefahr ausgehen konnte und diese Prognose dem Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters entspricht (Trurnit 2022, § 1 Rz. 21; Schenke 2018, S. 507). Amtswalter ist jeder, der öffentlich-rechtlich handelt: „Maßgeblich ist nicht die Person des Handelnden, sondern seine Funktion, d. h. die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall auszuübende Tätigkeit dient“ (Grzeszik 2022, Art. 34 Rz. 5). Dabei muss er das Vorliegen einer Gefahr für sicher halten. Die Anscheinsgefahr legitimiert also die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme unter Bedingungen gesteigerter Ungewissheit, auch wenn sich nachträglich herausstellt, dass tatsächlich gar keine Gefahrensituation vorgelegen hat (Kramer 2013, S. 202 f. mit weiteren Nachweisen). Ein behördliches Handeln wird nicht rechtswidrig, weil in der konkreten Situation von einer Gefahrenlage auszugehen war, die sich später nicht bestätigt (z. B. ein Polizist greift in einen Bankraub ein, der sich später als Dreharbeiten für einen Film herausstellt). Auf eine Situation gesteigerter Ungewissheit bezieht sich auch der Gefahrenerforschungseingriff oder Gefahrenverdacht. Eine Behörde kann entsprechend Maßnahmen ergreifen, wenn bereits prognostisch „ungewiss ist, ob überhaupt eine Gefahr vorliegt, aber aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte die Möglichkeit einer Gefahrenlage nicht ausgeschlossen werden kann“ (Kramer 2013, S. 203 m.w.N.; vgl. auch Waldhoff 2020, S. 262). Dem handelnden Beamten fehlt also die verfahrensrechtlich erforderliche Überzeugung von einer Gefahr. Dann hält der Beamte das Vorliegen einer Gefahr und damit eines Schadenseintritts subjektiv für wahrscheinlich und steht dadurch zudem unter Handlungszwang (Poscher 2001, S. 142; differenzierend: Schenke 2018, S. 508). In beiden Fällen geht es also um Gefahrenkonstellationen, die man knapp so zusammenfassen könnte: Es war gar nicht so bzw. es könnte vielleicht so sein. Und in beiden Fällen kann staatliches Handeln rechtmäßig sein.

Über die Je-desto-Formel wird insgesamt ein hohes Maß an variabler Einsatzfähigkeit gewährleistet: Je höher im Einzelfall der Stellenwert eines betroffenen Schutzgutes ist, desto geringere Anforderungen werden an die Eintrittswahrscheinlichkeit des möglichen Schadens gestellt (Schenke 2018, S. 506; Brandt und Smeddinck 1994, S. 228). Mit anderen Worten: Je größer der Schaden, der droht, desto weniger Belege werden für den Eintritt des Schadens verlangt, um ein Eingreifen der Behörden zu rechtfertigen. Vor allem seit den 1980er Jahren ist das Bewusstsein für diffuse Belastungen und unklare Kausalitäten gewachsen. Dabei ging es um Erscheinungsformen und Probleme, die mit dem Handwerkszeug der Gefahrenabwehr nicht zu fassen waren und sind. Diese Entwicklung ist mit dem Begriff und dem Bewusstsein von der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) verknüpft. Rechtswissenschaft und Rechtsordnung mussten für das Risiko-Management – also das Zusammenwirken zwischen staatlichen Akteuren und Wissenschaft (Münch 2022, S. 44) – neue, geeignete rechtliche Handlungsformen entwickeln. Es geht darum, Risiken zu ermitteln, zu bewerten, zu entscheiden. Oder anders variiert: Risiken zu erforschen, Informationen zusammenzutragen, Entwicklungen zu beobachten, Entscheidungen zu treffen, Maßnahmen zu überprüfen. Zu diesem Kanon gehört, wenn auch aus einem anderen Traditionsstrang der Regulierung – nämlich den Regeln der Technik entwickelt (Schneider 2002,: 246 ff.) – das Anforderungsniveau, beim Einsatz von technischen Anlagen den Stand von Wissenschaft und Technik einzuhalten. So heißt es etwa in § 19 Absatz 1 Satz 3 Standortauswahlgesetz: Der Standortvorschlag muss erwarten lassen, dass die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung, den Betrieb und die Stilllegung des Endlagers nach § 9b Absatz 1a des Atomgesetzes gewährleistet ist und sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. So soll sichergestellt werden, dass zum Zeitpunkt der (behördlichen) Entscheidung, bei der Erteilung einer Genehmigung neueste Anforderungen ohne Abstriche erfüllt werden (Leidinger 2017, § 7 AtG Rz. 178 ff.; vertiefend: Smeddinck 2016a).

2 Umgang mit Ungewissheit im Standortauswahlgesetz

Nun wird anhand der Regelungselemente Zwecksetzung des Standortauswahlgesetzes (Abschn.2.1), Rückholbarkeit und Reversibilität (Abschn. 2.2), Öffentlichkeitsbeteiligung, Nachprüfungsrecht, Nationales Begleitgremium (Abschn. 2.3), Kriterien, Sicherheitsverordnungen, Safety Case (Abschn. 2.4), Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft: Sicherheit vs. Rechtsschutz (Abschn. 2.5) der Umgang mit Ungewissheit im Standortauswahlgesetz aufgefächertFootnote 2.

2.1 Zwecksetzung des Standortauswahlgesetzes

Mit dem Standortauswahlverfahren soll nach § 1 Absatz 2 Satz 1 Standortauswahlgesetz in einem partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren für die im Inland verursachten hochradioaktiven Abfälle ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit für eine Anlage zur Endlagerung nach § 9a Absatz 3 Satz 1 des Atomgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland ermittelt werden.

Der Standort mit der bestmöglichen Sicherheit ist der Standort, der im Zuge eines vergleichenden Verfahrens aus den in der jeweiligen Phase nach den hierfür maßgeblichen Anforderungen dieses Gesetzes geeigneten Standorten bestimmt wird und die bestmögliche Sicherheit für den dauerhaften Schutz von Mensch und Umwelt vor ionisierender Strahlung und sonstigen schädlichen Wirkungen dieser Abfälle für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleistet (§ 1 Absatz 2 Satz 2 StandAG). Damit ist die Sicherheit des Standortes das überwölbende Hauptziel (vgl. Smeddinck 2016b). Mit der überlangen Zeitspanne ist unmittelbar die Einsicht verknüpft, dass ein hohes Maß an Ungewissheit über die weitere Entwicklung der Menschheit und der Erde aufgerufen ist, die nicht bzw. immer weniger sicher prognostiziert werden kann (vgl. Kersten 2016; Smeddinck und Semper 2022).

Im Verständnis von Rechtswissenschaft und von Jurist:innen steht außer Frage, dass der Zwecksetzung zu Beginn eines Gesetzes typischerweise kein eigener, direkter Regelungsgehalt zukommt. Traditionell werden zwei Funktionen einer solchen Bestimmung unterschieden:

  • Die Vorschrift über Ziele und Zwecke eines Gesetzes wird zum einen genutzt, um unbestimmte Rechtsbegriffe in anderen Vorschriften eines Gesetzes in ihrer Bedeutung präziser bestimmen zu können. In der Rechtsanwendung werden Interpretationsregeln genutzt. Dazu zählen neben der Frage nach dem Wortlaut, nach der systematischen Stellung des Begriffs in der einzelnen Vorschrift und im weiteren Gesetz, nach den Materialien, die Gesetzgebungsverfahren den Gesetzentwurf begleitet und erläutert haben, letztlich auch die Frage nach dem (Schutz-)Zweck des Gesetzes.

  • Zum anderen dient die Zweckbestimmung auch als Leitlinie für den Gesetzgeber und als Legitimationsgrundlage, die die Anerkennung und Durchsetzung rechtlicher Pflichten erleichtern soll.

Die Gesetzgebungslehre hebt hervor, dass die Ziel- und Zwecksetzung zugleich die vielleicht erste und letzte Vorschrift in einem Gesetz ist, die für all diejenigen verständlich sein sollte, die nicht Jura studiert haben. In einem Politikfeld wie der Endlagersuche nehmen viele Menschen Anteil am Verfahren und berufen sich immer wieder auf den Wortlaut des § 1 Absatz 2 Satz 1. Der Wortlaut unterstützt deren Erwartungen und wird als Argument für eigene Forderungen benutzt. Das mag nicht alles der reinen Lehre vom Recht entsprechen. Es entwickelt sich aber eine eigene Dynamik, die zu einem öffentlichen Diskurs führt, der den Gesetzgeber zu Anpassungen im Interesse der Sicherheit veranlassen könnte (eingehend: Smeddinck 2022).

2.2 Rückholbarkeit, Bergung und Reversibilität

Nicht die Verortung im Gesetzestext (wo etwas steht), sondern der materielle Gehalt, wie er sich zuallererst aus dem Wortlaut ergibt, ist maßgeblich für die Bindungswirkung einer Regelung, für das, was tatsächlich getan werden muss. Nach § 1 Absatz 4 Satz 2 Standortauswahlgesetz sind die Möglichkeit einer Rückholbarkeit für die Dauer der Betriebsphase des Endlagers und die Möglichkeit einer Bergung für 500 Jahre nach dem geplanten Verschluss des Endlagers vorzusehen. Damit wird eine klare Pflicht zum Handeln festgelegt. Rückholbarkeit ist die geplante technische Möglichkeit zum Entfernen der eingelagerten Abfallbehälter mit radioaktiven Abfällen während der Betriebsphase (§ 2 Nr. 3). Bergung ist das ungeplante Herausholen von radioaktiven Abfällen aus einem Endlager (§ 2 Nr. 4). Beide Aktivitäten sind auf die Sicherheit des Standortes und des Endlagers bezogen und verweisen auf nachträgliche Reaktionen, die sich dem Anspruch des Lernens und Selbsthinterfragens nach § 1 Absatz 2 Satz 1 Standortauswahlgesetz zuordnen lassen.

Gleiches gilt auch für die Maßgabe, dass das Standortauswahlverfahren §§ 12 ff. reversibel ist (§ 1 Absatz 5 Satz 1). Die genannten Paragrafen regeln den Ablauf des Standortauswahlverfahrens mit der Auswahl zu erkundender Gebiete einschließlich Standortvergleich, Standortvorschlag und Standortentscheidung. Reversibilität wird bestimmt als die Möglichkeit der Umsteuerung im laufenden Verfahren zur Ermöglichung von Fehlerkorrekturen (§ 2 Nr. 5) (zur Ambivalenz von Revisionen bei wicked problems: Münch 2022, S. 45). Während im nichtjuristischen Diskurs Reversibilität als selbstverständliche Option verstanden wird, macht das Gesetz das Vorliegen von Fehlern zur Voraussetzung. Das wirft unweigerlich die Frage auf, wer bestimmt, dass ein Fehler vorliegt? (vertiefend: Smeddinck 2021b) Nach traditioneller Lesart dürfte das Vorrecht darüber zu bestimmen, im Sinne einer Einschätzungsprärogative der Verwaltung, also dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), obliegen. Im Sinne einer erweiterten, die Organisation überschreitenden „Sicherheitsgemeinschaft“Footnote 3, die aus den Akteuren des Verfahrens der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft gebildet würde, wäre das Vorliegen eines Fehlers gemeinschaftlich festzustellen. Völlig unabhängig davon, ob das ein realistisches Szenario ist: Ein Rücksprung aus (bloßen) Optimierungsgründen ist dem Gesetzeswortlaut nach nicht zulässig und dient der „Pfadtreue“ des Verfahrens. Dadurch ist ein Rücksprung – also die Neubewertung von Entscheidungen aus vorhergehenden Verfahrensschritten (AkEnd 2002, S. 71 und 75) mit anderen, den jetzigen Verfahrensgang umsteuernden Konsequenzen oder eben der Wiederholung einer ganzen Verfahrenssequenz – aber auch nicht ausgeschlossen (zur Reversibilität als Normalfall der Demokratie: Augsberg 2013, S. 41). Ob Vorschläge zur konzeptionellen Entfaltung der Reversibilität (z. B. Mbah et al. 2021, S. 321 f.). auch zu einem regulativen bzw. rechtlichen Verständnis führen, wo das Vorliegen eines Fehlers keinen Bezugspunkt mehr darstellt, kann nicht prognostiziert werden.

2.3 Öffentlichkeitsbeteiligung, Nachprüfungsrecht, Nationales Begleitgremium

Ziel der Öffentlichkeitsbeteiligung ist nach § 5 Absatz 1 Satz 1 eine Lösung zu finden, die in einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird und damit auch von den Betroffenen toleriert werden kann. Bezogen auf die Zielsetzung in § 1 Absatz 2 Satz 1 des Standortauswahlgesetzes werden hier die Maßgaben der Partizipation und der Transparenz weiterverfolgt und runtergebrochen. Die Funktion der Öffentlichkeitsbeteiligung wird dahingehend interpretiert, dass ein Diskurs institutionalisiert wird, der auf Rationalität, auf den Austausch von Argumenten und Sichtweisen ausgerichtet ist. Es geht um die Ergänzung und Verkopplung mit gesellschaftlichen Diskursen im Sinne eines Korrektivs zu den herkömmlichen Diskursen, die von Fachbehörden und Fachleuten geführt werden (vgl. Habermas 1992, S. 143; vgl. auch Renn et al. 2007, S. 235; Waldhoff 2020, S. 261). Bezogen auf das Spannungsfeld Technologieeinsatz und Ökologie hebt der Umwelthistoriker Joachim Radkau hervor: „Der Umgang mit hypothetischen Risiken erfordert einen neuen Politikstil: den Bürgerdialog zur Ermittlung dessen, was Gesellschaft akzeptiert“ (Radkau 2011, S. 210; vgl. auch Pitschas 2012, Rz. 211). Welche Einschränkungen etwa toleriert die Gesellschaft bei Risiken, die sich nicht klar belegen lassen, wo das Vorsorgeprinzip aber sichernde Maßnahmen nahelegt?

Das Standortauswahlgesetz sieht als innovative Formate der Öffentlichkeitsbeteiligung (vertiefend: Smeddinck 2019 a) u. a. die sog. Teilgebiete-Konferenz (§ 9), Regionalkonferenzen (§ 10) sowie zu ihrem Austausch den Rat der Regionen (§ 11) vor. Die Regionalkonferenzen werden an den übertägig zu erkundenden Standortregionen eingerichtet. Sie begleiten das Standortauswahlverfahren und erhalten vor dem Erörterungstermin nach § 7 Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Vorschlägen nach § 14 Absatz 2 (Vorschlag für die übertägig zu erkundenden Standortregionen), § 16 Absatz 3 (Vorschlag für die untertägig zu erkundenden Standorte) und § 18 Absatz 3 (Standortvorschlag für ein Endlager). Schon der Austausch über Stellungnahmen u. a. im Erörterungstermin kann auf Sicherheitsaspekte gerichtet sein.

In sehr viel stärkerem Maße gilt das noch für das mit dem Standortauswahlgesetz ebenfalls völlig neu kreierte Nachprüfungsrecht. Nach § 10 Absatz 5 Satz 1 kann jede Regionalkonferenz innerhalb einer angemessenen Frist, die sechs Monate nicht überschreiten darf, einen Nachprüfauftrag an das BASE richten, wenn sie einen Mangel in den Vorschlägen des Vorhabenträgers nach § 14 Absatz 2, § 16 Absatz 3 und § 18 Absatz 3 rügt. Das Nachprüfungsrecht wurde mit der Fortentwicklung des Gesetzes 2017 eingeführt und kann als Ausgleich für reduzierte Rechtsschutz- und Klagemöglichkeiten vor den Gerichten interpretiert werden. Zwar wird der qualifizierende Charakter durch diese starke Einflussmöglichkeit der Betroffenen sowie die Chance, Konflikte rechtzeitig aufzulösen und das Risiko von Abbrechen oder dauerhafter Verzögerung des Verfahrens zu mindern, betont (Wollenteit 2019, § 10 Rz. 23 m.w.N.). Dennoch ist hier die Chance eingeräumt, durch eine Rüge des Verfahrens oder an materiellen Aspekten insbesondere einen Beitrag zur Steigerung der tatsächlich erreichbaren Sicherheit des künftigen Endlagers zu leisten. Das Instrument ist geeignet, die latente Gefahr einer Pfadblindheit oder „Wagenburgmentalität“, die sich in der zuständigen Behörde gegenüber einer anspruchsvollen oder fordernden Umwelt herausbilden könnte, zu durchbrechen (vgl. Sträter 2022, S. 138 f.). In den Worten Robert Habecks: „Wer keine Gegenreden zulässt, lässt sich in Wahrheit nicht auf die Wirklichkeit ein“ (Habeck 2018, S. 29 f.).

Ein ähnlicher Mechanismus ist in der Ausgestaltung des pluralistisch zusammengesetzten Nationalen Begleitgremiums zu bemerken (eingehend: Smeddinck 2019b). Dessen Aufgabe ist nach § 8 Absatz 1 Satz 1 die vermittelnde und unabhängige Begleitung des Standortauswahlverfahrens, insbesondere der Öffentlichkeitsbeteiligung, mit dem Ziel, so Vertrauen in die Verfahrensdurchführung zu ermöglichen. Bei der Veröffentlichung von Empfehlungen und Stellungnahmen sind abweichende Voten zu dokumentieren (§ 8 Absatz 2 Satz 3). Hier geht es darum, Einzelmeinungen nicht von der Mehrheit wegdrücken zu lassen, sondern ihnen einen Raum und Aufmerksamkeit zu geben (vgl. Nida-Rümelin und Weidenfeld 2022, S. 38). In der Endlagerszene ist das Beispiel der Bergbehörde in Clausthal bekannt, die frühzeitig vor eintretendem Grundwasser im ehemaligen Bergwerk Asse als Lager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle gewarnt hat (Paul 2008). Heute dringen in unzuträglicher Weise große Mengen Wasser in diesen Endlagerstandort ein, der kraft gesetzlicher Entscheidung zu räumen ist. Auch die Challenger-Katastrophe wird auf ignorierte Warnungen eines einzelnen Ingenieurs zurückgeführt (vgl. Sträter 2022, S. 138 m.w.N.).

2.4 Kriterien, Sicherheitsverordnungen, Safety Case

Ein anderer Ansatz, bestmögliche Sicherheit – wie sie in § 1 Absatz 2 Satz 1 als überwölbendes Ziel des Standortauswahlverfahrens für 1 Million Jahre genannt wird – wissenschaftsbasiert zu unterstützen und mit der Langzeitperspektive des Projekts Endlager umzugehen, sind eine ganze Reihe von Kriteriensets, die auf die abzuschichtenden und einzugrenzenden Territorien angewendet werden. Unterschieden werden: Ausschlusskriterien (§ 22), Mindestanforderungen (§ 23), Geowissenschaftliche Abwägungskriterien (§ 24), Planungswissenschaftliche Abwägungskriterien (§ 25), Sicherheitsanforderungen (§ 26). Diese Anforderungen sind im Gesetz in ungewöhnlicher Breite und Detailliertheit aufgeführt, was aber auch dem Anspruch der Transparenz Rechnung trägtFootnote 4.

Diese Kriterien werden im untergesetzlichen Regelwerk ergänzt um eine Endlagersicherheitsanforderungsverordnung (EndlSiAnfV)Footnote 5 und die Endlagersicherheitsuntersuchungsverordnung (EndlSiUntV)Footnote 6. Einerseits zur Legitimationsgewinnung, andererseits aber auch zur Auffindung von fachlichen oder materiellen Mängeln und Unzulänglichkeiten hat das Bundesumweltministerium als Verordnungsgeber nach §§ 26, 27 Standortauswahlgesetz eine nicht-obligatorische Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt (vertiefend: Smeddinck 2021c). Das entspricht aber dem partizipativen Anspruch des Gesetzes. Der Kernmechanismus des dialogischen Austauschs war eine Vorschlag-Reaktion-Tabelle zu Änderungen am Verordnungsentwurf (Was wurde wie berücksichtigt?). In Anerkennung der Einsicht, dass Sicherheit in hohem Maße, wenn nicht sogar überwiegend auch vom Sicherheitsgefühl bestimmt wird (Bonß 2022, S. 11; Raupp 2022, S. 12), und weitergehend, dass misstrauische Regungen eher in einem Umfeld der Offenheit und Zugänglichkeit zu bezähmen sind (Piorkowski 2022, S. 17; Scherzberg 2016, S. 53 ff.; Frevert 2013, S. 16), ermöglicht die überobligatorische Öffentlichkeitsbeteiligung grundsätzlich ein Mehr an Nähe und Dialog, was der Sicherheit und dem Sicherheitsgefühl zugutekommen dürfte.

Ein ähnliches Potenzial bietet in einer Kette fortgesetzter Begegnungen auch die Endlagersicherheitsuntersuchung. Die abschließende Sicherheitsbewertung für den letztlich ausgewählten Standort baut auf einer umfassenden Sicherheitsanalyse auf, für die umfassende Daten und Kenntnisse über das Endlagersystem, den einschlusswirksamen Gebirgsbereich (vgl. Driftmann 2017) und die geologische Umgebung erforderlich sind. Dabei geht es darum, Argumente und Gründe dafür vorzulegen, ein Tiefenlagerprogramm in einer bestimmten Weise fortzuführen, also eine Entscheidungsgrundlage in einem idealerweise schrittweisen und an verschiedenen Haltepunkten reversiblen Endlagerprogramm bereitzustellen (Röhlig und Hocke 2016).

Nach § 11 Endlagersicherheitsuntersuchungsverordnung sind zugrunde gelegte Sachverhalte, Kenntnisdefizite, Verknüpfungen von Ungewissheiten untereinander, Ungewissheiten der Modellierung darzulegen, zu begründen und zu dokumentieren. Auch mögliche Erkundungs-, Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen sind im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Sicherheits-gerichteten Aussagen zu bewerten (Vgl. auch Dienel und Henseler 2017, S. 163 ff.; Smeddinck und Roßmann 2021, S. 115).

2.5 Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft: Sicherheit vs. Rechtsschutz

In Operationalisierung des „lernenden“ und „selbsthinterfragenden“ Verfahrens nach § 1 Absatz 2 Satz 1 Standortauswahlgesetz fordert der Organisationspsychologie Oliver Sträter die Entwicklung einer Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft, um dem überwölbenden Ziel der bestmöglichen Sicherheit besser gerecht zu werden. Das basiert auf der Überzeugung, dass eine Organisation nur so gut funktionieren kann wie es das Umfeld erlaubt (vgl. auch Voss 2022, S. 24.). Eine einzelne Behörde kann dem Ziel schlechter gerecht werden als eine gut vernetzte Behörde (Sträter 2022, S. 133; vgl. auch Eifert 2001, S. 156 f.).

Deutlicher und konkreter als die Attribute des Standortauswahlverfahrens verweist die Gesetzesbegründung auf anhaltenden Entwicklungsbedarf:

Die Sicherstellung von selbstkritischen und über die Zeiten wach bleibenden Strukturen ist in diesem Zusammenhang essenziell. Ziel ist, Fehlentwicklungen zu verhindern, nicht erwartete Entwicklungen frühestmöglich zu erkennen, die offene Kommunikation darüber und Prozesse zum Umgang mit diesen Entwicklungen anzustoßen und Anzeichen von institutioneller oder personeller Betriebsblindheit frühzeitig zu erkennen und im Keim zu ersticken. Die Herausforderung kann nur dadurch bewältigt werden, dass Maßnahmen und Vorkehrungen auf verschiedenen Ebenen vorgesehen werden, die gegenseitige Korrekturen und Kritik erlauben – der Gesamtprozess muss als selbsthinterfragendes System aufgebaut werden (BT-Drs. 18/11398, S. 47).

Einerseits ist schon die Bindungswirkung der Regelung über den Gesetzeszweck gering. In traditioneller Lesart dienen diese Vorschriften als Zweckbestimmungen zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. Smeddinck 2013) in anderen Vorschríften des betreffenden Gesetzes. Andererseits fungieren sie als Leitlinie und Legitimationsgrundlage des Gesetzgebers (auch zu einem erweiterten Verständnis: Smeddinck 2009). Demgegenüber ist die Bindungswirkung von Gesetzesbegründungen nochmals herabgesetzt, auch wenn sie im Zuge der historischen Auslegung von Interesse sind, da sie ja nicht (mal) Teil des Gesetzes mit seinem Regelungsanspruch geworden sind. Allerdings war es dem Gesetzgeber eben doch so wichtig, diesen Gesichtspunkt zu vermerken und transparent zu machen. Insofern kann man von einem „Auftrag zur Gestaltung“ (Hill 2018, S. 501) sprechen, der als „Orientierungshilfe und Leitgesichtspunkt“ (Eifert 2001, S. 154) formuliert ist (Smeddinck 2022).

Damit ist eine Aufgabe benannt, die in Gegensatz, mindestens in Konkurrenz zu anderen Zielen, Ausprägungen und Regelungselementen des Standortauswahlgesetzes steht. Sträter problematisiert in dem Zusammenhang vor allem die Funktionsweise des Rechtssystems, die in hohem Masse auf die Sanktionierung von Fehlern und individuellem Fehlverhalten ausgerichtet ist (Sträter 2022: S. 125). Dieses Herangehen hat eine lange Tradition und sich in vielen Zusammenhängen bewährt. Sträter sieht das „Kernelement Fehlerkultur“ durch das juristische (Sanktions-)System beeinträchtigt (Ebd. So auch bereits Niklisch 1986, S. 2288). Die Ausrichtung auf Fehler, Fehlersuche und Sanktionierung leitet die Aufmerksamkeit weg von den essentiellen Sicherheitsfragen und schafft eine Atmosphäre, die die Angst vor und das Verheimlichen von Fehlern „kultiviert“.

Dem hält er entgegen: „Bezogen auf die Interaktion im Gesamtsystem muss eine kritikfreundliche Grundstimmung erzeugt werden, wenn das Gesamtsystem nachhaltig sicher sein soll. Hierzu gehört eine Kultur der Kritik, bestehend aus eine Qualifikation der Kritikfähigkeit und Kritikvermittlung, einer entsprechenden interorganisationalen Umgangskultur und auch etablierter Prozesse zum Umgang mit Kritik“ (Sträter 2022, S. 138).

Die Konstellation ist ebenso interessant wie von grundsätzlicher Natur: Denn allgemein wird wie selbstverständlich angenommen, dass die Sanktionierung von Fehlern durch das juristische System einen Beitrag nicht nur zur Rechtssicherheit, sondern auch zu Sicherheit in der Sache selbst (je nach Gegenstand und Fachmaterie) leistet. Dieses Denken setzt sich fort, wenn eine weitergehende richterliche Kontrolle der Öffentlichkeitsbeteiligung gefordert oder nach einer rechtssicheren, bisher informellen Öffentlichkeitsbeteiligung gefragt wird. Es gilt also mit der Einsicht umzugehen, dass die gerichtliche Kontrolle oder Ahndung zu Sicherheitseinbußen in der Wahrnehmung der eigentlichen Aufgabe führen kann. Die grundsätzliche Frontstellung von Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft und Rechtssystem ähnelt dem Verhältnis von Mediation und Rechtsschutz, wo durch ein völlig anders Herangehen und Denken ganz andere Möglichkeiten der Begegnung und Konfliktlösung eröffnet werden. Das ist im Übrigen auch eine konzeptionelle Konkurrenz, die das Regelungsdesign des Standortauswahlgesetzes prägt (Smeddinck und Semper 2016).

3 Zwischen Einzelfall-Vorsorge und Standardsetzung

Ein auffälliges Gesetzesprojekt wie das Standortauswahlgesetz wirft immer auch die Frage nach der Einordnung im Rechtssystem und nach seiner Verallgemeinerbarkeit auf. Deshalb gilt es, Besonderheiten in den Blick zu nehmen und Bezüge zur Rechtsdogmatik herzustellen. Rechtsdogmatik wird als eine (Unter)Disziplin beschrieben, „die das positive Recht durchdringen und ordnen will, um die rechtliche Arbeit anzuleiten, und jene Fragen zu beantworten sucht, die die Rechtspraxis aufwirft“ (Bumke 2017, S. 1). Zentral für die Suche nach einem Endlager ist, dass es sich um ein Einzelfallprojekt mit beispielloser Laufzeit handelt, dem kein weiteres Projekt folgen soll. Demgegenüber ist die Operationalisierung von Vorsorge und der Umgang mit Ungewissheit typischerweise von der Standardsetzung für eine Vielzahl von mehr oder minder vergleichbaren einzelnen Anwendungsfällen geprägt (Scherzberg 2010, S. 305; Niklisch 1986, S. 2290). Wie ist dazu die Standortsuche für ein Endlager zu verorten? Vor einigen Jahren sorgte der sog. Risk-Based Approach im deutschen Umweltrecht für Kontroversen, da der Ansatz für jedes einzelne Projekt und Verfahren unter dem Leitmotiv der Effizienz und Evidenz eine anlass- und ortsbezogene Festlegung von Anforderungen vorsieht, was eine Abkehr von der im deutschen Recht vertrauten Standardsetzung bedeuten würde. „Sowohl bei der Beurteilung der Anlassadäquanz als auch beim Einsatz risikoregulierender Maßnahmen sollen ökonomische Aspekte und Kosten-Nutzen-Erwägungen eine maßgebende Rolle spielen. Ziel ist eine Rationalisierung von Risikoentscheidungen verbunden mit einer möglichst weitgehenden Minimierung des Aufwandes (Bürokratiekosten) und der mit der Einschränkung von Freiheiten verbundenen Belastungen risikoregulierender Maßnahmen (sozioökonomische Kosten)“ (Appel und Mielke 2014, S. 33; vgl. auch Scherzberg 2010, S. 306). Der Risk-Based Approach wird hier wie ein Idealtypus verwendet, um anhand dessen die Besonderheiten der Standortsuche für ein Endlager als Aufgabe der Risiko-Regulierung aufzuzeigen und abzugrenzen:

Bei der Standortsuche für ein Endlager findet eine anlassbezogene Entwicklung risikoregulierender Maßnahmen statt. Mit dem Attribut „wissenschaftsbasiert“ in § 1 Absatz 2 Satz 1 wird ein hoher Grad an wissenschaftlicher Rechtfertigung anvisiert. Hinsichtlich ökonomischer Aspekte kann angemerkt werden, dass eine anteilige Kostentragung durch die Energieversorgungsunternehmen in einem Fonds gesichert worden ist. Dagegen können Kosten-Nutzen-Erwägungen keine ausschlaggebende Wirkung für Vorgehensweisen und Entscheidungen im Standortauswahlverfahren haben. Dem steht der Hauptzweck der bestmöglichen Sicherheit entgegen. Der bürokratische Aufwand für die Standortsuche ist durch das Standortauswahlgesetz in Form der Öffentlichkeitsbeteiligung gerade nicht minimiert, sondern fundamental ausgeweitet worden und wird etwa durch neue Formen der informellen, gesetzlich nicht vorbestimmten Öffentlichkeitsbeteiligung weiter ausgeweitet. Mit der Unterbringung des Atommülls in einem Tiefenlager wird die Minimierung der Belastungen aufgrund Risiko-regulierender Maßnahmen angestrebt. Eine Minimierung von Kosten spielt dabei weder bei den Baukosten noch beim finanziellen Ausgleich für die Standortgemeinde eine ausschlaggebende RolleFootnote 7. Dagegen lassen sich Elemente der Standardsetzung im Standortauswahlgesetz und im untergesetzlichen Regelwerk beobachten, da Kriterien und Vorgaben auf eine Reihe von Regionen und Standorten zur Erkundung angewendet werden. Dieses Herangehen kann dann wieder mit Vorgaben für die standortbezogene Erkundung im Einzelfall kombiniert werden.

So werden Übereinstimmungen, vor allem aber der Kontrast gegenüber dem Risk-Based Approach plastisch. Diese knappe, kursorische Spiegelung verdeutlicht den Umgang mit Ungewissheit im Standortauswahlverfahren als Kombination aus Standardsetzungen und -anwendungen auf eine Reihe von Standorten sowie Einzelfall-bezogenen Elementen. Deutlich wird vor allem, dass es sich der Sache nach um ein einmaliges Projekt der Vorsorge mit speziell darauf angepasstem Regelungsdesign handelt.

4 Fazit und Ausblick

Die Suche nach einem Standort mit der bestmöglichen Sicherheit für ein Endlager für Atommüll reiht sich ein in das Spektrum von der Gefahrenabwehr hin zu Vorsorge und Risikomanagement. Auch, wenn der Umgang mit Ungewissheit aufgrund der überlangen Zeitperspektive von 1 Million Jahre die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf sich zieht und auf die Vorsorge lenkt, werden in der Durchführung der Suche und des Projekts auch Gefahrenabwehrmaßnahmen ergriffen werden müssen. Auch wenn Vorsorge und Gefahrenabwehr auf Basis verschiedener Voraussetzungen zu unterschiedlichen Handlungsfolgen führen können, betont das neuere Schrifttum Disziplinen-übergreifend den Umgang mit Ungewissheit als gemeinsam geteilte Perspektive (Voss 2022, S. 20). Allerdings erfordert mindestens die Langzeitsicherheit eines Endlagers eine einzigartige Kombination von Elementen „traditioneller“ Gefahrenabwehr und (innovativer) VorsorgeFootnote 8.

Das Standortauswahlgesetz enthält explizit, aber auch implizit eine Vielzahl von Regelungselementen, die für den Umgang mit Ungewissheit von Bedeutung sind. Eine Auswahl wurde in diesem Text vorgestellt. Es ist unvermeidlich, dass Unsicherheiten bleiben (Bonß 2022, S. 10). Dennoch signalisiert das Gesetz: diese ungewöhnliche Aufgabe kann bewältigt werden!Footnote 9

Zu den wichtigsten Einsichten der letzten Jahre gehört, dass (Un-)Sicherheit nicht allein objektiv bewertet werden kann. Das Sicherheitsgefühl basiert auf Vertrauen, das sich insbesondere durch Nähe vermitteltFootnote 10. Das gilt umso mehr und ist umso schwieriger zu erreichen, weil generell in der Gesellschaft Vertrauensverluste zu verzeichnen sind (Münch 2022, S. 42).

Nach den vielen Aspekten und Perspektivwechseln in diesem Beitrag ist die abschließende Pointe, dass das innovative Standortauswahlgesetz mit seinen zahlreichen Neuerungen auch und gerade im Hinblick auf den Umgang mit Ungewissheit eigenen Unsicherheiten mit sich bringt. Die starke Betonung der Öffentlichkeitsbeteiligung als einer frühzeitigen und erweiterten Form, nach Lösungen zu suchen und Konflikte zu bewältigen, kombiniert mit einer veränderten Ausgestaltung des Rechtsschutzes, zieht Unsicherheiten in der rechtlichen Abarbeitung nach sich. Denn die Zulassung eines Infrastrukturprojektes durch Bundesgesetz bzw. Bundesgesetze (Legalplanung) ist bisher eine mehr als ungewöhnliche Ausnahme gewesen (Smeddinck 2021a). Mit den Worten Alexandra Kürschners, die eingehend diese rechtswissenschaftliche Leerstelle aufgearbeitet hat: „Auch im Übrigen wird die noch unbewährte Anwendung des neuen Rechtsschutzformats eine Vielzahl rechtlicher Ungewissheiten aufwerfen, die Zweifel an dem Rechtsschutzformat selbst und damit letztlich auch an dem Konzept der Legalplanung aufkommen lassen können“ (Kürschner 2020, S. 257).

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Vorhabens TRANSENS entstanden, einem Verbundprojekt, in dem 16 Institute bzw. Fachgebiete von neun deutschen und zwei Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und im Niedersächsischen Vorab der Volkswagenstiftung vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) von 2019 bis 2024 gefördert (FKZ 02E11849A-J).