Zusammenfassung
Nicht nur gegenüber Mitgliedern unserer Familie, sondern ganz allgemein gehen wir im Alltag davon aus, dass die Welt, so wie wir sie erfahren, tatsächlich ist. Wir unterstellen, dass sie sich auch für andere Menschen unserer Umgebung – jedenfalls in gewissen Grenzen – ähnlich darstellt. „Normale“ Handlungspartner zeichnen sich geradezu dadurch aus, dass ihre Sicht der Dinge, ihre Vorstellungen von alltäglichen Ereignissen und ihre Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes meinen eigenen mehr oder minder entsprechen. Jedenfalls gilt das unter der Voraussetzung, dass sie an meiner Stelle stehen oder gestanden hätten, also aus meiner Perspektive eine Erfahrung gemacht haben oder hätten. Alltäglich unterstelle ich regelmäßig diese prinzipielle Vertauschbarkeit oder Reziprozität der Perspektiven.
Dieser Text ist zuerst in dem von Martin Endreß und Alois Hahn herausgegebenen Band „Lebenswelttheorie und Gesellschaftsanalyse“, beim von Halem-Verlag, Köln, auf den Seiten 424-453 im Jahr 2018 erschienen.
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Notes
- 1.
Eine methodische Analyse dieser Studie, die Konsensfiktionen aufgrund von Antwortkonstellationen ermittelt, findet sich in Hahn et al. (1984). Eine sich auf neuere Daten beziehende Darstellung der unterschiedlichen Wahrnehmungen der gemeinsamen Lebenswelt durch Männer und Frauen, aber auch der entsprechenden gegenseitigen Fremdwahrnehmungen und damit eventuellen Konsens- und Konfliktfiktionen findet sich in Hahn et al. (2019).
- 2.
Vgl. ferner ganz generell für die Formen des Politischen in staatenlosen Gesellschaften Mair (1962).
- 3.
Ähnliche Formen der Machtausübung zeigt für die Stauferzeit Schneidmüller (2000).
- 4.
Über die Rolle der Macht und ihrer Verschleierung im Kontext von Familien habe ich mich geäußert in Eckert et al. (1989).
- 5.
Für den Bereich der Gemeinde finden sich meine diesbezüglichen Überlegungen in Hahn et al. (1979).
- 6.
Die besonderen Probleme der Bildung von Konsensfiktionen im Falle von Paradiesverheißungen und Höllenvorstellungen habe ich versucht in Hahn (1976; 1996) zu skizzieren. Selbstverständlich ist der „Wirklichkeitsgeschmack“ im Reich des Transzendenten ein anderer als bei mundanen Realitäten. Aber bei aller „multiplicity of realities“ (um diesen Terminus von Schütz zu paraphrasieren), gibt es doch bestimmte „transsystemische“ Konkordanzen. Speziell zu den Paradiesen vgl. Ayaß (2018).
- 7.
Ich habe dieses Gedicht Ende der 1950er-Jahre im Gymnasium auswendig gelernt. Es war damals sehr populär. An die Fundstelle konnte ich mich nicht mehr erinnern. Wie der Vorsitzende der Bergengruen-Gesellschaft, Herr Eckhard Lange, auf Anfrage von Herrn Rüdiger Steiner mitteilt, ist es im Jahre 1931 entstanden: „Es ist in verschiedenen Ausgaben unter verschiedenen Titeln erschienen (Die Verborgene Frucht, Berlin 1942/Zürich 1947 ; Figur und Schatten, Arche, Zürich 1958; Wanderbaum, Rabenpresse, Berlin 1932; Leben eines Mannes, Arche, Zürich 1982; Gestern fuhr ich Fische fangen, Arche, Zürich 1992 und – gleichen Inhalts – Meines Vaters Haus, Arche Zürich 2004). Letztgenannter Titel ist noch lieferbar; die Rechte liegen bei Arche. Beiden Herren danke ich herzlich für ihre Hilfe.
- 8.
Für neuere Bewegungen dieser Art vgl. etwa Albrecht (2012).
- 9.
Unter diesem Begriff versammelt sich eine lange Forschungsgeschichte. Für ein Beispiel vgl. Grässer (1977).
- 10.
Der Unterschied zwischen Charisma und Populismus findet sich scharf herausgearbeitet in Soeffner (1993).
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- 12.
Generell zur Problematik des Vertrauens in diesem Kontext: Luhmann 1973. Dabei ist die normalerweise Luhmann zugeschriebene Differenz von Person- und Systemvertrauen fast bis auf den Ausdruck hin – eine Simmelsche Trouvaille: „Bei reicherem und weiterem Kulturleben dagegen steht das Leben auf tausend Voraussetzungen, die der Einzelne überhaupt nicht bis zu ihrem Grunde verfolgen und verifizieren kann, sondern die er auf Treu und Glauben hinnehmen muß. In viel weiterem Umfange, als man sich klar zu machen pflegt, ruht unsere moderne Existenz – von der Wirtschaft, die immer mehr Kreditwirtschaft wird, bis zum Wissenschaftsbetrieb, in dem die Mehrheit der Forscher unzählige, ihnen gar nicht nachprüfbare Resultate anderer verwenden muß – auf dem Glauben an die Ehrlichkeit des anderen. Wir bauen unsere wichtigsten Entschlüsse auf ein kompliziertes System von Vorstellungen, deren Mehrzahl das Vertrauen, das wir nicht betrogen sind, voraussetzt“ (Simmel 1992: 389).
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Der Ausdruck wird von Luhmann in seiner Moraltheorie an prominenter Stelle eingesetzt. Wenn man wie er davon ausgeht, dass mit moralischem Dissens immer auch die Achtung oder Missachtung von Personen auf dem Spiel steht, ist es nur konsequent anzunehmen, dass offener Dissens in Fragen der Moral zur Streitquelle wird. Konsensfiktionen haben deshalb gerade hier friedenstiftende Funktionen. Der Terminus „polemogen“ wird übernommen von Julien Freund (1974). Luhmann unterstellt deshalb, dass „[…] Moralisierung zur Generalisierung des Konfliktstoffs [tendiert] (während die Bezugnahme auf Recht ihn einschränkt)“ (Luhmann 1978: 55). Auch das Werk von Thomas Luckmann und seinen Schüler:innen befassen sich empirisch mit dieser Frage. Gerade bei konversationsanalytisch vorgehenden Untersuchungen zeigt sich dann eine Tendenz zur Vermeidung von Moralisierungen in Gesprächen, wenn sie mit dem Risiko behaftet sind, Streit zu provozieren. Grundsätzlich pflegen z. B. Familien immer auch als „Gesinnungsgemeinschaften“ miteinander zu kommunizieren (vgl. hierzu Luckmann 1998: 39).
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Hahn, A. (2024). Konsensfiktionen als Ausgleich für Machtdefizite. In: Horizonte der Kommunikation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42623-1_5
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