Schlüsselwörter

Um das Phänomen der Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion zu analysieren, wurden bisher verschiedene theoretische Standpunkte eingeführt [Kap. 2 und 3]. Es sind Perspektiven, um an die Empirie heranzutreten und um Wissen über die tatsächlichen Verwendungsweisen der Theorien durch die gesellschaftlichen Akteur*innen in der Kulturproduktion zu produzieren. An dieser Stelle wird eine bestimmte Herausforderung für das empirische Vorgehen der Arbeit deutlich: Das Vorhandsein eines Wissens um Theorien ist kein Alleinstellungsmerkmal der wissenschaftlichen Position. Genau eine solche Auffassung leitet aber oftmals ein wissenschaftliches Vorgehen überhaupt an. Die damit verbundene Herausforderung wird als Erstes in diesem Kapitel behandelt, indem eine umfassende methodologische Diskussion präsentiert wird [4.1]. Es wird danach gefragt, wie der Herausforderung entsprechend nun eine gemeinsame Wissensproduktion ablaufen könnte und welche wissenschaftstheoretischen Vorstellungen von einer solchen Wissensproduktion herausgefordert werden.

Die verschiedenen methodologischen Grundlagen werden anschließend zusammengefasst und auf gegenseitige Ergänzungen sowie resultierende Spannungen hin betrachtet [4.2]. Dies gelingt schon deshalb, weil mit der Integration nicht nur der spezifischen Herausforderung dieser Arbeit begegnet wird. Vielmehr reihen sich die entsprechenden methodologischen Fragen in eine Vermittlung der beiden Großparadigmen Strukturalismus und Pragmatismus ein, die in einer Vielzahl anderer Ansätze ebenfalls angestrebt wird (Diaz-Bone 2017a). Eine solche Vermittlung kann in erster Linie als eine forschungspraktische Tradition aufgefasst werden, die ein Ausloten von Blickwinkeln im empirischen Vorgehen betont. Dies repräsentiert die grundsätzliche Haltung des eigenen, qualitativen Vorgehens der vorliegenden Arbeit. Zur weiteren Konkretisierung wird anschließend die Grounded-Theory-Methodologie sowie die Situationsanalyse eingeführt. Denn der gemeinsame Forschungsstil der beiden Ansätze weist verschiedenste Parallelen zu den zuvor geführten methodologischen Diskussionen auf.

Das letzte Unterkapitel [4.3] geht detaillierter auf das empirische Vorgehen selbst ein. Es werden einige Techniken erläutert, welche die Datenerhebung und Datenanalyse anleiteten und das allgemeine Methodenangebot der Grounded Theory und der Situationsanalyse ergänzten. Bei der Vorstellung der verschiedenen Techniken wird immer wieder auf die allgemeineren methodologischen Konsequenzen verwiesen, anhand derer die Techniken überhaupt erst ausgerichtet wurden. Durch den Übergang von der sehr allgemeinen Diskussion zu Beginn des Kapitels bis zu den konkreten Techniken in Bezug auf die erhobenen Daten soll das empirische Vorgehen der Arbeit nachvollzogen werden.

4.1 Die Sozio-Epistemologie der Performativität

4.1.1 Eine gemeinsame Wissensproduktion erster und zweiter Ordnung

Ein Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist die starke Verbreitung, welche die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in gegenwärtigen Gesellschaften erfahren haben (siehe [2.3]). Diese Verbreitung verdeutlicht nicht nur eine mögliche Relevanz der vorliegenden Untersuchung des Phänomens der Performativität, da die performativen Effekte potenziell in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen erwartbar sind. Sie verweist zudem darauf, dass eine neue Ausgangslage für kultur- und sozialwissenschaftliche Wissensproduktion zu konzeptualisieren ist. Die Theorien sind nicht mehr nur eine Abstraktions- und Erklärungsressource, welche die Positionen der oder des Forschenden kennzeichnet. Vielmehr tauchen die theoretischen Konzepte in der Empirie selbst auf. Damit findet sich keine alleinige theoretische Position mehr (von der die Wissensproduktion ausgeht), die einer rein empirischen Position gegenübersteht (auf welche die Wissensproduktion abzielt). Vielmehr vermischen sich diese beiden Positionen und die „außerwissenschaftlichen“ Akteur*innen sind mit einer eigenen theoretischen Kompetenz an der Wissensproduktion beteiligt. Die entsprechende Ausgangslage mag nun nicht für jede soziologische Untersuchung zentral sein. Sie ist es aber für die Wissensproduktion im Rahmen des empirischen Vorgehens dieser Arbeit. Ziel ist es nämlich, eine „Theorie“ zu entwickeln, die erklärt, wie genau sich Wertigkeiten in der Kulturproduktion durch Performativität verändern. An der Entwicklung dieses theoretischen Modells sind die Akteur*innen der Kulturproduktion auch in dem Sinne beteiligt, dass sie selbst bereits theoretisches Wissen zu der angestrebten, erklärenden „Theorie“ beitragen.

Die Beteiligung der Akteur*innen an der Wissensproduktion zeigt sich gemäß einer Logik erster und zweiter Ordnung. Die erste Ordnung entspricht einer ausgewiesenen Verwendung von Theorien durch die Akteur*innen (etwa in sprachlichen Aussagen oder in Texten), während die zweite Ordnung eine bereits in Prozessen oder Objekten „abgelagerte“ und nicht mehr weiter ausgewiesene Verwendung von Theorien behandelt.

Die Logik erster Ordnung

Bei der Beteiligung gemäß der Logik erster Ordnung wird ein theoretisches Begriffsinventar der Kultur- und Sozialwissenschaften zur Wissensproduktion von den gesellschaftlichen Akteur*innen selbst verwendet, um wiederum Wissen über das eigene Feld zu generieren. Beispiele hierfür wären etwa publizierte Texte, die Kulturproduzent*innen verfassen und die Theorien zitieren, oder sonstige Aussagen, die explizit theoretisch informiert sind. Die Logik erster Ordnung verweist so nochmals auf eine spezifische Situation hin, die aus der Verbreitung von kultur- und sozialwissenschaftlichem Wissen resultiert. Denn mit den zunehmenden Bildungsabschlüssen in den entsprechenden Disziplinen ging und geht weiterhin eine Nachfrage einher nach genau einem solchen Wissen, das von den so ausgebildeten Personen produziert wird (vgl. Reckwitz 2017, S. 182 f.; Boltanski und Esquerre 2018, S. 587 ff.; siehe [2.3.4]). So diffundieren nicht nur die Grundlagen der Wissensproduktion im wissenschaftlichen Sinne immer mehr in gesellschaftliche Felder, sondern es erfolgt auch deren Anwendung auf einer immer breiteren Basis außerhalb der Wissenschaft. Auf der Annahme eines breiteren Angebots von und größerer Nachfrage nach wissenschaftlichem Wissen beruht auch das Konzept des neuen Modus der Wissensproduktion. Dieses wurde von Michael Gibbons, Camille Limoges, Helga Nowotny, Simon Schwartzman und Martina Trow formuliert (1994). Der neue Modus kann mit der Logik der ersten Ordnung gleichgesetzt werden.Footnote 1

The core of our thesis is that the parallel expansion in the number of potential knowledge producers on the supply side and the expansion of the requirement of specialist knowledge on the demand side are creating the conditions for the emergence of a new mode of knowledge production. The new mode has implications for all the institutions whether universities, government research establishments, or industrial laboratories that have a stake in the production of knowledge. (Gibbons et al. 1994, S. 13)

Gibbons et al. stellen eine Abweichung von einem lange vorherrschenden Modus der Wissensproduktion fest, der in vielen modernen Vorstellungen einer kohärenten und damit einheitlich abgeschlossenen sowie selbstbestimmten Wissenschaft proklamiert wurde (1994, S. 38). Dieser alte Modus der kohärenten Wissensproduktion war klar in Disziplinen organisiert und teilte sich in Grundlagenforschung sowie angewandte Forschung auf, wodurch ein stärker theoretischer Kern der Forschung festzumachen war. Dieser Kern ergänzte diejenigen wissenschaftlichen Bereiche, in denen das theoretische Wissen (empirisch) angewandt beziehungsweise umgesetzt wurde (Gibbons et al. 1994, S. 19; vgl. auch Wohlrab-Sahr 2018). Der alte Modus entspricht so einem zwar immer mehr überholten, aber teilweise noch vorherrschenden Verständnis von wissenschaftlicher Wissensproduktion. In diesem Verständnis ist es die Wissenschaft sowie ihre kognitiven und sozialen Normen, die bestimmen, was ein relevantes Problem ist, wer Wissenschaftler*in ist und was „gute“ Wissenschaft ausmacht. Erst diejenigen Prozesse der Wissensproduktion, welche diesen Vorstellungen und Praktiken entsprechen, sind per Definition Wissenschaft – und „those that violate them are not“ (Gibbons et al. 1994, S. 3).

Anstelle dieser älteren Vorstellungen von Wissenschaft sei nun eine neue sozial dominante Norm getreten, ein neuer Modus, bei dem Wissen mehr und mehr im Kontext seiner Applikation entwickelt wird (Gibbons et al. 1994, S. 3 ff.). Die bisherigen Unterteilungen sowie die damit zusammenhängenden Organisationsweisen treffen dadurch immer weniger zu. Wissensproduktion wird in diesem neuen Modus von Transdisziplinarität und Heterogenität bestimmt (Gibbons et al. 1994, S. 56 ff.). Es ist nicht mehr eine abgeschottete Wissenschaft, die Kognition und Normen bestimmt. Der neue Modus der Wissensproduktion schließt eine Beteiligung von nicht wissenschaftlichen Akteur*innen mit ein. Diese Beteiligung erfolgt unter anderem deshalb, da nicht mehr nur einzelne Disziplinen die Kontrolle über eine Problemdefinition ausüben (Gibbons et al. 1994, S. 33).

As interactions multiply, the epistemological status of the knowledge thus produced does not follow traditional, that is, disciplinary criteria. […] Transdisciplinary research also needs some legitimating procedures, but they are different because different criteria are being applied to what is considered good research. Moreover, with the broadening and relatively transient character of the communities of practitioners involved the assessment of knowledge will occur through a much stronger societal contextualisation. (Gibbons et al. 1994, S. 22)

Der neue Modus der Wissensproduktion gilt sowohl für die Natur- und Technikwissenschaften als auch für die Kultur- und Sozialwissenschaften. Insbesondere die stärker geisteswissenschaftlich orientierten Kulturwissenschaften zeichnen sich schon länger durch die entsprechenden Merkmale aus: Sie nehmen eine geringere analytische Distanz ein und wirken stattdessen aktiv an der Konstruktion von Bedeutung in der Gesellschaft mit (Gibbons et al. 1994, S. 92). Die Bildungsexpansion und die damit einhergehende Verbreitung von kultur- und geisteswissenschaftlichen Arbeiten akzentuierte diese Tatsache nochmals (Gibbons et al. 1994, S. 96). Die bereits erwähnte, gesteigerte Nachfrage nach dem Wissen zeigt sich etwa im Rahmen der immer größer werdenden Kulturindustrie (vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 587). Eine stärker empirische, sozialwissenschaftliche Wissensproduktion mag eine größere analytische Distanz an den Tag legen als geisteswissenschaftliche Fächer. Trotzdem sind vergleichbare Prozesse auch hier am Werk (Gibbons et al. 1994, S. 105 f.; vgl. Warsewa et al. 2020, S. 287 ff.). So suchen Soziolog*innen bedeutungsvolle Kontexte für ihre Theorien außerhalb der eigenen Disziplin (und dies schon seit längerer Zeit).Footnote 2 Gleichzeitig haben die Ergebnisse und die Methoden der Soziologie starke Verbreitung erfahren: Die Ergebnisse der Disziplin fanden Anwendung im Rahmen von Prozessen der Rationalisierung (Lazarsfeld et al. 1975; Lau und Beck 1989). Die verwendeten Methoden wiederum wurden von Verwaltungen, Unternehmen, Verbänden, Bildungseinrichtungen und anderen Organisationen aufgenommen (Diaz-Bone 2011b, S. 300).

All dies führt dazu, dass Wissensproduktion im Zusammenschluss von verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen organisiert wird und neue Akteur*innen daran beteiligt sind. Kultur- und sozialwissenschaftliches Wissen wird nicht mehr nur an Universitäten von Wissenschaftler*innen produziert. Mit diesem neuen Modus muss zwangsläufig einhergehen, dass die theoretischen Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaft eine Anwendung außerhalb der Wissenschaft finden. Denn im Rahmen der Wissensproduktion dieser Fächer lassen sich die Theorien weder klar von Ergebnissen trennen, welche sie erzielen, noch von den Methoden, die sie anwenden (vgl. auch Diaz-Bone 2011b, S. 294). Wenn ein Wissen der Kultur- und Sozialwissenschaften produziert wird, dann sind auch ihre theoretischen Konzepte beteiligt. Dies ist die grundsätzliche Konsequenz des neuen Modus. Neben anderen Weisen der Legitimation dieser Wissensproduktion müssen neue Vorgehensweisen reflektiert werden. Gemäß der Logik der ersten Ordnung muss daher eine gemeinsame Wissensproduktion mit Akteur*innen konzeptualisiert werden, wenn diese explizit eigenes Wissen produzieren und dabei Theorien verwenden. Dieses produzierte Wissen soll mit in die wissenschaftliche Erkenntnis fließen können.

Die Logik zweiter Ordnung

Die Anerkennung einer expliziten Wissensproduktion mit den Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften durch die gesellschaftlichen Akteur*innen ist relevant, aber noch nicht ausreichend. Für eine gemeinsame Wissensproduktion muss zudem beachtet werden, dass die theoretischen Konzepte nicht nur explizit und in Wissensformaten wie Texten auftauchen können. Vielmehr können Theorien auch Teil der Denkweisen, Verfahren und Produkte sein, ohne dass die Akteur*innen dies bewusst ausweisen (können). Auch solche Aspekte sind theoretisch-informiert und müssen in die Erkenntnisprozesse einbezogen werden, die von der wissenschaftlichen Position ausgehen. Die Logik zweiter Ordnung weist daher auf eine stärker implizite Beteiligung der Akteur*innen an einer gemeinsamen Wissensproduktion hin, nämlich ohne dass ein direkt ausformuliertes, explizites Wissen vorhanden oder ersichtlich ist. Die gemeinsame Wissensproduktion gemäß einer Logik zweiter Ordnung folgt zudem der Perspektive der Performativität im engeren Sinne, da sie stärker an den Veränderungen in den Prozessen der Kulturproduktion interessiert ist und auf bestimmte ontologische Konsequenzen in den Produkten eingehen kann.

Die Logik der zweiten Ordnung ist vergleichbar mit dem Konzept der „theoretischen Empirie“ (Kalthoff et al. 2008; Kalthoff 2018). Die damit implizierte methodologische Position wurde im Zusammenhang mit der qualitativen Sozialforschung entwickelt. Das Konzept der theoretischen Empirie soll die Notwendigkeit betonen, Empirie und Theorie für die Forschungsprozesse nicht getrennt zu denken (Kalthoff 2008, S. 10). So soll insbesondere die Haltung infrage gestellt werden, dass nicht-standardisierte Verfahren der Analyse eigene Theorien aus empirisch gesättigtem Material generieren, ohne selbst bereits theoretisch „induziert“ zu sein (Kalthoff 2018, S. 132). Mit dem Konzept soll gewissen Tendenzen zu einem allzu vereinfachten „Empirismus“ in der qualitativen Sozialforschung entgegengewirkt werden (vgl. auch Eulitz und Leistner 2018, S. 16). Statt dieser vereinfachten Vorstellung muss die Tatsache anerkannt werden, dass Theorien immer schon Teil des empirischen Vorgehens sind – auch in eher explorativen Verfahren, die nicht bereits auf detaillierte theoretische Grundlagen zurückgreifen. Eine „Tabula-rasa-Position“ in Bezug auf das theoretische Wissen ist auch bei qualitativen Verfahren nicht möglich (vgl. Mey und Mruck 2011b, S. 32; Mey und Berli 2016, S. 4; Glaser und Strauss 1998). Die Vorstellung der theoretischen Empirie kann sowohl für die Position der oder des Forschenden als auch für die Prozesse außerhalb der Wissenschaft beachtet werden.

Mit dem Konzept der theoretischen Empirie werden verschiedene Einflüsse von Theorie auf die empirische Forschung erfasst. Hier sollen zwei verdeutlicht werden, wobei insbesondere der zweite Einfluss die indirekte Beteiligung an der Wissensproduktion beschreibt, die hier als Logik zweiter Ordnung aufgefasst wird. Auf der einen Seite leiten theoretische Konzepte den Umgang mit der Empirie an: Sie richten den Blick auf bestimmte Dinge und erst durch eine solche Ausrichtung lassen sich Daten überhaupt gewinnen.Footnote 3 Auf der anderen Seite – und zentral für das Argument der Beteiligung an der Wissensproduktion – können die Theorien auch in den empirischen Daten selbst vorliegen (etwa die Handlungen von Akteur*innen anleiten). Die Konzepte sind womöglich ein endogener Sachverhalt der Daten und durch sie entstehen Rahmungen in der Empirie. Neben dem expliziten, theoretisch-informierten Wissen der Akteur*innen gilt es daher, auch die impliziten Bezüge innerhalb des Forschungsprozesses zu „entschlüsseln“:

Es gibt – offen oder verborgen – Verweise auf andere Wirklichkeiten, Akteure und Horizonte. Für die qualitative Empirie bedeutet dies, dass sie die theoretischen Gehalte und Bezüge ihrer jeweiligen empirischen Fälle klären muss, um deren Theorieinduzierung als in Werk gesetzte Theorie, Vorstellung oder Vision der sozialen Welt bestimmen und analysieren zu können. [Die Theorien sind] versteckte Bezüge und Gehalte der empirischen Daten, die in verschiedenen Darstellungsmedien vorliegen. Sie erfordern Explizierung durch die soziologische Analyse. (Kalthoff 2018, S. 141)

Die in den Objekten und Prozessen vorhandenen Theoriekonzepte gilt es nicht nur zu entschlüsseln, sondern darüber hinaus als Teil der geteilten Wissensproduktion aufzufassen. Es sind nicht nur die Individuen als gesellschaftliche Akteur*innen, welche die Wissensproduktion beeinflussen. Gemeinsam mit den impliziten Bezügen einer theoretischen Empirie und in Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) muss von hybriden Netzwerken aus Individuen sowie Technologien und Formaten ausgegangen werden (Latour 2007, S. 63 ff.). In diesen Netzwerken tauchen die Theorien auf und in den Netzwerken erfolgt die gemeinsame Wissensproduktion (vgl. Diaz-Bone 2011b, S. 300).

Die Wissensproduktion gemäß einer Logik erster und zweiter Ordnung durch die Akteur*innen selbst verdeutlicht Folgendes: Es kann keine völlig „unabhängige“ Erkenntnistheorie für die wissenschaftliche Position formuliert, sondern es müssen Konzepte für eine gemeinsame Wissensproduktion angestrebt werden. Ein empirisches Vorgehen heißt somit, einen Verbund von verschiedenen Bereichen in den Blick zu nehmen, der Erkenntnis schafft und diese Erkenntnisse für die wissenschaftliche Wissensproduktion zu verwerten. Der Verbund der verschiedenen Elemente (der expliziten Wissensproduktion der Akteur*innen, der impliziten Wissensproduktion in den Prozessen und der wissenschaftlichen Wissensproduktion) schafft „eine sozial geteilte Wahrnehmungsstruktur“ (Diaz-Bone 2013b, S. 83), die als Sozio-Epistemologie aufgefasst werden kann. In den folgenden vier Abschnitten [4.1.24.1.5] werden methodologische Positionen für eine solche Sozio-Epistemologie ausgearbeitet. Dabei werden für die beiden Logiken je zwei Konsequenzen formuliert. Das Ziel dabei ist es, die Wissensproduktion der Akteur*innen sowohl als wichtige Ressource für die eigene wissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen als auch diese Wissensproduktion zu „objektivieren“ als ein zu analysierendes Phänomen.

4.1.2 Graduelle Differenz – 1. Konsequenzen der ersten Ordnung

Die beschriebene, geteilte Wissensproduktion gemäß der ersten Ordnung stellt gewisse Vorstellung von Wissenschaftsphilosophie und Epistemologie infrage, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten. Zu einem streitbaren Punkt wird mit der neuen Ausgangslage allerdings nicht die Frage nach einer „Wahrheit“ der wissenschaftlichen Erkenntnis. Vielmehr zeigt die Logik der ersten Ordnung andere Richtungen auf, wie das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Erfahrung und Alltagserfahrung problematisiert werden kann. In einigen geläufigen Problematisierungen der Wissenschaftsphilosophie scheint nämlich nicht eine geteilte Wissensproduktion die Herausforderung zu sein. Vielmehr wurde die Frage gestellt, wie mit einer epistemologischen Differenz zwischen einem von der Wissenschaft produzierten Wissen und einer alltäglichen Erfahrung umgegangen werden könnte. Dies verdeutlichen auch Gibbons et al.: „In [the old mode], the context is defined in relation to the cognitive and social norms that govern basic research or academic science. Latterly, this has tended to imply knowledge production carried out in the absence of some practical goal“ (Gibbons et al. 1994, S. 3 f.). Im Folgenden wird die Idee der Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltäglicher Erfahrung sowie ein Umgang damit anhand von drei Positionen illustriert: anhand der positivistischen Positionen des logischen Empirismus, über den Ansatz der Phänomenologie Edmund Husserls und über die Vorstellung des epistemischen Bruchs von Gaston Bachelards.

Der logische Empirismus (Schleichert 1975; Stadler 2015) rückt als Wissenschaftsphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rolle der Erfahrung ins Zentrum der Erkenntnisproduktion (vgl. Kornmesser und Büttemeyer 2020, S. 40). Für diese Position zeigte sich die Differenz zwischen der wissenschaftlichen Wissensproduktion und einer Alltagserfahrung sowie die damit einhergehende Herausforderung beispielhaft in folgender Weise: Mit der Wende zum letzten Jahrhundert entwickelten sich diverse naturwissenschaftliche Fächer in immer komplexere Richtungen und wurden immer abstrakter. So verfügt etwa eine moderne mathematische Physik in ihren Konzepten von Raum, Zeit oder Bewegung über keinen klaren Bezug mehr zur menschlichen Wahrnehmung (Friedman 2007, S. 94). Trotzdem müsste das Fach als empirische Wissenschaft eigentlich einen solchen Bezug aufweisen. Dies wäre zumindest die Bedingung, die der logische Empirismus an die empirischen Wissenschaften stellt, um diese gegenüber metaphysischen Konzepten abzugrenzen. Bei diesem wissenschaftsphilosophischen Ansatz steht ein Zusammenhang von Theorie und Beobachtung im Zentrum: Die Theorien ergeben sich aus logischen Aussagen, die Begriffe mit empirischem Bezug miteinander verknüpfen. Daher müssen diese Aussagen auf Erfahrungen zurückzuführen sein und sich durch empirische „Protokollsätze“ fundieren lassen. Der Zusammenhang zwischen theoretisch-logischen Aussagen und den empirischen Protokollsätzen wurde zuerst induktiv und im Sinne einer Verifizierbarkeit formuliert. Später erfolgt eine Reformulierung dieser Position im Rahmen des Falsifikationismus von Karl Popper, mit dem stärker eine deduktive Logik ins Zentrum gerückt wurde (2013; vgl. Dahms 1994, S. 332 ff.). Doch sowohl bei der Verifizierbarkeit als auch bei Falsifizierbarkeit ist es die Überprüfbarkeit der theoretischen Aussagen durch empirische Erfahrung, die im Zentrum steht. Sie zeichnet wissenschaftliches Wissen aus und grenzt es gegenüber einer Metaphysik ab.

Die Entwicklung von abstrakteren Wissenschaften forderte genaue diese Vorstellung des logischen Empirismus heraus, da deren theoretische Aussagen immer weniger einen Zusammenhang zu den empirischen Erfahrungen des Alltags ermöglichten. Diverse Vertreter*innen der positivistischen Position setzten sich Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Frage auseinander, wie diese epistemologische Differenz wieder überwunden werden könnte (vgl. Friedman 2007, S. 94). Denn Ziel des logischen Empirismus war es auch, mit dem postulierten Wissenschaftsverständnis gesellschaftlichen Fortschritt in einer Welt zu erreichen, in deren Zentrum das Wissen der Wissenschaft stand (Dahms 1994, S. 22; Richardson und Uebel 2007, S. 4). Die festgestellte Differenz zwischen dem in der Wissenschaft formulierten Wissen und einer empirischen Erfahrung, wie sie im Alltag auftrat, war daher ein Problem für die Wissenschaftsphilosophie. Ab den 1960er Jahren kritisierten insbesondere Teile der Sozialwissenschaften die Position des logischen Empirismus und Fächer wie die Soziologie suchten andere Wissenschaftsphilosophien als Grundlage für Erkenntnis und Fortschritt (vgl. Richardson und Uebel 2007, S. 2; Kelle 2017, S. 48).Footnote 4 Diese Abwendung vom Positivismus führte aber nicht automatisch dazu, dass das Problem der Differenz zwischen einer wissenschaftlichen Erfahrung und derjenigen des Alltags gelöst worden wäre (vgl. Howaldt 2005).

Die Phänomenologie Husserls stellt eine zentrale Grundlage für die qualitativ-interpretative und nicht-standardisierte Sozialforschung dar, wie sie sich ab den 1970er Jahren entwickelte (Ploder 2014). In dieser wissenschaftsphilosophischen Position zeigt sich die hier im Zentrum des Interesses stehende Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagserfahrung von einer anderen Richtung her als beim logischen Empirismus (vgl. Lamnek und Krell 2016, S. 59 ff.). Husserl grenzt sich bereits in den 1930er Jahren mit seiner Krisis-Schrift (2012) gegen eine leistungsfähige und objektive Wissenschaft ab, wie sie vom logischen Empirismus vertreten wird. Eine solche positivistische Art von Wissenschaft habe als Konsequenz eben keinen Bezug mehr zu subjektiven Positionen sowie deren Wahrnehmungen, so die Kritik Husserls. Deshalb könnten diese Wissenschaften auch keine Antworten mehr auf Sinnfragen geben (vgl. Schimmer 2013, S. 25 f.). Im Sinne einer umgekehrten Position nimmt daher die Phänomenologie die Alltagserfahrung und deren immanenten Zugang zur Welt als Ausgangslage (Römpp 2005, S. 24). Um zu Erkenntnissen zu gelangen, kann die Wissenschaft gemäß der Phänomenologie die gewohnten Alltagserfahrungen der Lebenswelt als Bezug und Referenzrahmen nutzen. Davon ausgehend sollen allgemeine Strukturen der subjektiven Orientierungen gefunden werden. Als Epistemologie stellt sie die konstitutive Bedeutung der Subjektivität für Erkenntnisse ins Zentrum.

Eine Position wie diejenige der Phänomenologie muss allerdings eine Lösung finden, wie mit einem Wissen der Subjekte wieder Abstraktheit und eine „Universalität“ (Römpp 2005, S. 213) erlangt werden kann. Dadurch öffnet sich für die Phänomenologie die epistemologische Differenz von der anderen Seite: Die Herausforderung für die wissenschaftliche Erkenntnis ist es nun, wie von einer Alltagserfahrung auf ein wissenschaftliches Wissen geschlossen werden kann. Es lässt sich bereits feststellen, dass sowohl der logische Empirismus als auch die Phänomenologie eine Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltäglicher Erfahrung problematisieren. Beide Wissenschaftstheorien stellen somit die Frage, wie zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen vermittelt werden kann, um die eigene Position als wissenschaftlich herauszustellen. In der Blickrichtung des logischen Empirismus auf die Differenz wird versucht, die abstrakten, wissenschaftlichen Erkenntnisse wieder einer Alltagserfahrung zugänglich zu machen. Auf der anderen Seite der Differenz steht eine Tradition der Phänomenologie, die versucht, mit der Ausgangslage des subjektiven Alltags und der „Evidenz des eigenen Bewusstseins“ (Luckmann 2008, S. 34) wissenschaftliche Erkenntnis zu generieren.

Die dritte Möglichkeit, mit der Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und der Erfahrungen im Alltag umzugehen, stammt aus der historischen Epistemologie von Bachelard (1974, 1984, 1988). Seine Wissenschaftsphilosophie war insbesondere für verschiedene Bereiche der französischen Soziologie zentral, so auch für Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu und Chamboredon 1991, S. 8 ff.; Diaz-Bone 2007, S. 41; Wacquant 2018, S. 5 f.). Erst mit einem Wechsel von den stärker strukturalistischen hin zu den neueren, eher pragmatischen Ansätzen in Frankreich wurden die Konzepte der historischen Epistemologie weniger relevant (Fabiani 2018, S. 154 f.). Gleichzeitig nahmen gewisse neopragmatische Positionen den Ansatz von Bachelard „neu“ auf (vgl. Whiteman und Dudley-Smith 2020, S. 4). Die entsprechende Konzeptualisierung von Erkenntnisgewinn bleibt daher auch für aktuelle Sozialforschung relevant. Ein zentrales Konzept von Bachelard ist der sogenannte epistemologische Bruch. Mit diesem Konzept wird die historische Epistemologie kurz eingeführt und eine dritte Variante zur Problematisierung der Differenz zwischen Wissenschaft und Alltagserfahrung vorgestellt.

Für Bachelards Wissenschaftsphilosophie ist der Unterschied zwischen der abstrakten Form von Erkenntnis und der Alltagserfahrung ein zentrales, konstitutives Moment für die Wissenschaft. Die Idee des epistemologischen Bruchs nimmt eine zuvor als Problem beschriebene Feststellung auf und formuliert sie zur eigentlichen Lösung um. Bachelard postuliert im Bruch die „epistemologische Relevanz eines ‘Zwischen’“ (Pravica 2015, S. 40). Die Differenz des wissenschaftlichen Wissens zum Alltagsverständnis ist für ihn die eigentliche Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnis (Bachelard 1984, S. 44). Der epistemologische Bruch zwischen Wissenschaft und Alltag wird durch eine neue kollektive und kognitive Wissensordnung ausgelöst. Das heißt, dass Wissen in der Wissenschaft in einem komplett neuen System organisiert und verwendet wird. Dadurch muss die wissenschaftliche Erkenntnis den alltäglichen Erfahrungen widersprechen und kann nicht mehr in Einklang mit dem Alltag gebracht werden (Bachelard 1984, S. 44). Es müssen etwa neue Kategorien gefunden und andere Problemdefinitionen angestrebt werden. Erst ein solcher Bruch ermöglicht die wissenschaftliche Arbeit und garantiert ein Erkennen von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Erfahrungen. Die Erkenntnisweise darf nicht mehr alltäglich sein. Die für die anderen beiden wissenschaftstheoretischen Ansätze beschriebene Problemstellung wird von Bachelard als Startposition genutzt, von der aus Wissen in der Wissenschaft organisiert und so im engeren Sinne erst wissenschaftlich wird.

Die Abbildung [Abb. 4.1] fasst auf der linken Seite die drei Positionen des logischen Empirismus, der Phänomenologie und des epistemologischen Bruchs nochmals zusammen. Auf der rechten Seite präsentiert sie schematisch den Blick auf und den Umgang mit der Differenz zwischen Alltagserfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis der drei Wissenschaftsphilosophien. Die dabei verwendeten Symbole sind beispielhaft und haben keine genauere Bedeutung. Sie sollen lediglich wissenschaftliche Erkenntnisse anhand Strichfiguren und empirischer Alltag mit grauer Schraffur abbilden.

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Übersicht wissenschaftsphilosophischer Positionen

Die erkenntnistheoretische Ausgangslage der vorliegenden Arbeit stellt die drei präsentierten Wissenschaftstheorien auf den Kopf. Diese verbindet trotz ihrer Unterschiede alle dieselbe Vorstellung, nämlich dass eine Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagserfahrung vorhanden ist. Das Phänomen der Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie impliziert hingegen, dass eine klare Trennung zwischen wissenschaftlichem Wissen und einer Alltagserfahrung nicht (mehr) so angenommen werden kann. Vielmehr werden die theoretischen Konzepte der Wissenschaft von den Individuen auch im Alltag der Produktionswelten verwendet; die Wissenschaft und ihre Theorien formen und performen den Alltag. Für die Position des logischen Empirismus bedeutet dies, dass die Aussagen der Theorie und die Beobachtungssätze nicht nur weiterhin direkt zusammenhängen, sondern dass die zu beobachtende Empirie und daraus abgeleitete Sätze bereits durch Theorie geformt sind. Wie bereits von Popper als Kritik vorgebracht (2013), gilt es, die Vorstellungen von „theoriefreien“ Sinnesdaten abzulehnen und vielmehr eine gegenseitige Bedingtheit anzuerkennen (vgl. Dahms 1994, S. 332). Auch die Erfahrung der gesellschaftlichen Akteur*innen operiert womöglich bereits mit den Wissensbeständen der Wissenschaft. Die Konsequenz der Perspektive der Performativität für die Phänomenologie zeigt sich in ähnlicher Weise: Es darf nicht Ziel sein, die immanente Alltagserfahrung der Subjekte für die Konstruktion von abstrakter Erkenntnis zu nutzen. Sondern es gilt neu, auch die abstrakten Erkenntnisse in einer jeweiligen Lebenswelt zu beachten. Damit muss weniger eine Ableitung als ein „Hervorbringen“ von Theorie angestrebt werden, da theoretische Konzepte auch in den Prozessen der Alltagserfahrung vorhanden sind.

Während für den logischen Empirismus und die Phänomenologie auf mögliche Strategien im Umgang mit Performativität verwiesen werden kann, so scheint die Annahme von solchen Effekten für das Konzept des epistemologischen Bruchs gravierende Konsequenzen zu beinhalten. Die Voraussetzung, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis erst durch einen Bruch mit der Alltagserfahrung auszeichnet, erlaubt nur zwei Schlussfolgerungen im Hinblick auf Performativität: Die erste Schlussfolgerung betrifft die theoretischen Konzepte selbst. Rufen diese Theorien performative Effekte im Alltag der Akteur*innen hervor, so fehlt diesen Konzepten der epistemologische Bruch. Sie wären daher nicht wirklich wissenschaftliche Theorien, sondern eher „folk theories“ der Akteur*innen (Bourdieu 2010, S. 432) und fänden deswegen ihren Weg in den Alltag beziehungsweise in die Produktionswelten. Auch eine Forschung mit diesen Theorien wäre daher nicht mehr angebracht. Deren Verwendung würde nur redundante Lesarten von Daten zutage fördern, die bereits im Alltag der Kulturwelten vorhanden wären (vgl. Whiteman und Dudley-Smith 2020, S. 5). Die zweite Schlussfolgerung würde die Wissenschaftlichkeit der performativ wirkenden Theorie weiterhin behaupten. Gleichzeitig müsste dann aber den Kulturwelten ein eigener Bruch in den feldeigenen Erkenntnissen zugestanden werden, der mit demjenigen der Wissenschaft vergleichbar ist. Das heißt, dass die Akteur*innen im Feld mit derselben oder zumindest mit einer vergleichbaren Wissensordnung operieren würden wie diejenige, die in der Wissenschaft vorherrscht. Auch bei der zweiten Schlussfolgerung wäre Forschung teilweise redundant, da sie ja bereits durch eine jeweilige Kulturwelt selbst geleistet würde.

Das Konzept der Sozio-Epistemologie ermöglicht nochmals eine andere Problematisierung der beschrieben wissenschaftstheoretischen Differenz. Das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und der Alltagserfahrung kann auch relativ konzeptualisiert werden. Anstelle einer absoluten Differenz können – der Vorstellung einer geteilten Wissensproduktion folgend – unterschiedliche Arten der Erkenntnisse als eine graduelle Differenz anerkannt werden (vgl. Strübing 2008, S. 294 f.). Damit entfällt ein Dualismus zwischen den Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaft und den Theorien der Akteur*innen. Beide Male handelt es sich um theoretisches Wissen, welches aber Unterschiedlichkeiten aufweisen kann. Ziel der Erkenntnisweise der vorliegenden Arbeit muss es sein, die Ausprägung der Differenz empirisch zu klären: zu untersuchen, wo und wie sich Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede in der Theorieverwendung zeigen können. Im nächsten Schritt gilt es daher, in der Methodologie eine Symmetrie anzustreben, um sowohl die Alltagserfahrungen als auch wissenschaftliche Erfahrung auf dieselbe Art und Weise anzugehen. Dies wird es im weiteren Verlauf erlauben, das Konzept des epistemologischen Bruchs nochmals aufzunehmen. Dieser Bruch zwischen Wissenschaft und Alltag wurde nämlich bisher in einem absoluten Sinne eingeführt, muss jedoch stärker relational erfasst werden. Es wird sich zeigen, dass die Konsequenzen von Performativität nur auf den ersten Blick so gravierend für dieses Konzept sind.

4.1.3 Generalisierte Symmetrie und ein neuer Bruch – 2. Konsequenz der ersten Ordnung

Die im letzten Abschnitt vorgestellten Erkenntnistheorien machten deutlich, dass erst gewisse Vorstellungen von Wissenschaft und Wissensproduktion die Perspektive der Performativität zu einer Herausforderung für die Methodologie werden lassen. Diese Vorstellungen wurden alle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt und stehen im Zusammenhang mit der „Moderne“ (vgl. auch Gibbons et al. 1994, S. 34 ff.): einer gesellschaftlichen Entwicklung, im Rahmen derer Prozesse wie Urbanisierung, Industrialisierung und Demokratisierung sowie die damit verbundene formale Rationalisierung etabliert wurden und auf ihren Höhepunkt gelangten (Wagner 1995, S. 24; Reckwitz 2017, S. 28 f.). Zentral für die Entwicklung dieses neuen Regimes der Moderne und dessen Kontrast zu „traditionalen“ Gesellschaften, so die Annahme, ist die Entstehung eines empirisch-analytischen Verständnis von Wissen beziehungsweise Wissenschaft (vgl. Wagner 1995, S. 24). In Wir sind nie modern gewesen (1991) vertritt Bruno Latour die Position, dass genau eine solche Wende hin zur Moderne nicht stattgefunden hat.Footnote 5 Für ihn findet sich keine gesellschaftliche Entwicklung, weder im Sinne einer (wissenschaftlich-technologischen) Revolution noch in einer sonstigen Weise, die einen klaren Schnitt gegenüber einer vormodernen Gesellschaft markieren würde. Eine solche Position ist insbesondere vor einem sozialwissenschaftlichen Hintergrund bisweilen radikal, da etwa die Soziologie als Fach sich genau über die Besonderheiten einer modernen Gesellschaft konstituiert (Wagner 1995; vgl. Reckwitz 2012, S. 47). Im Folgenden wird Latours Position nicht vollständig präsentiert, sondern lediglich in Bezug auf ihren erkenntnistheoretischen Ansatz diskutiert.

Anstelle einer neuen Gesellschaftsform seien mit dem Begriff der Moderne zwei Trennungen behauptet worden (Latour 1995, S. 18 ff.). Diese beiden Trennungen bedingen einander und mit ihnen zeigt sich die eigentliche Idee der Moderne: Die erste und absolut zentrale Trennung meint die zwischen der Natur und der Gesellschaft. Sie schafft eine Dichotomie zwischen einem exakten, objektiven Wissen auf der einen und den handelnden Subjekten sowie ihrer Kultur auf der anderen Seite. Die zweite Trennung der Moderne steht quer zur ersten und separiert zwei Praktiken (Latour 1995, S. 19): Die Einen „reinigen“, die Anderen „übersetzen“ (siehe auch [3.3.5]). Während Erstere klar entweder Objekte oder Subjekte feststellen, vermischen Letztere genau diese beiden Bereiche. Die Übersetzungen erschaffen damit Hybride in Form von Netzwerken zwischen Natur und Gesellschaft. Für die Moderne ist allerdings nur die erste Praktik der Reinigung legitim. Für dieses Reinigen und die damit zusammenhängende Trennung ist die Wissenschaft verantwortlich; sie ist der eigentliche Motor einer angeblichen Moderne. Übersetzende Praktiken werden hingegen den vormodernen Kulturen zugeschrieben. Die Abbildung [Abb. 4.2] zeigt diese beiden Trennungen, die damit entstehenden Dichotomien und die zusammenhängenden Praktiken schematisch auf.

Abb. 4.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung gemäß Latour 1995, S. 20)

Reinigungs- und Übersetzungsarbeit

Die Moderne mag nun die erste Dichotomie ins Zentrum stellen und ausschließlich eine Legitimierung der reinigenden Praktiken betreiben. Trotzdem finden Übersetzungen statt: Gemäß Latour hat spätestens seit Beginn der 1990er Jahren die Proliferation von Hybriden mehr und mehr zugenommen (1995, S. 16 f.). Am Beispiel des Ozonlochs zeigt er so auf, wie eine Übersetzung des Phänomens ein Netzwerk aufspannt zwischen chemischen Elementen, Firmen, Politik, Umwelteinflüssen und mehr (Latour 1995, S. 1/12/69/usw.). Das Phänomen Ozonloch wird damit zum Quasi-Objekt, da es weder eindeutig Natur noch Gesellschaft ist. Gleichzeitig mit dieser Proliferation der Hybriden beziehungsweise als Reaktion darauf wird die Trennung von Natur und Gesellschaft weiterhin behauptet. Dies kann wiederum nur durch die fortlaufende Reinigung erfolgen. Die Gleichzeitigkeit von Übersetzung und Reinigung ist gemäß Latour das eigentliche Paradox der Moderne. In ihr liegt allerdings auch der Erfolg der Vorstellungen einer Moderne:

In dieser doppelzüngigen Sprache liegt die kritische Macht der Modernen: Sie können die Natur inmitten der sozialen Beziehungen mobilisieren und trotzdem unendlich von den Menschen entfernt halten; sie sind frei, ihre Gesellschaft zu schaffen und abzuschaffen, und machen trotzdem aus den gesellschaftlichen Gesetzen etwas Unausweichliches, Notwendiges und Absolutes. (Latour 1995, S. 53)

Trotz der „Macht“ dieser Gleichzeitigkeit sehen sich aber Bereiche wie Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Sie müssen die Verbreitung von Hybriden mit der Trennung von Natur und Gesellschaft in Einklang bringen (Latour 1995, S. 77). Für Latour ist unter anderem die historische Epistemologie Bachelards (1974; siehe oben) genau eine dieser modernen wissenschaftstheoretischen Philosophien, die einen Umgang mit dem eigenen Paradox zu erreichen versucht (Latour 1995, S. 80 f.). Hierbei ist (wiederum) der epistemologische Bruch der „zweifelhafte“ (ebd.) Lösungsansatz für das Paradox. Der Bruch, so Latour, schaffe es, dass nicht mehr die einzelnen Pole „Subjekt“ und „Objekt“ wahrgenommen werden, sondern nur noch die intentionale Trennung dazwischen. Dank des reinen Subjektes auf der einen Seite entsteht eine Wissenschaft, die mit dem Alltagsverständnis bricht und so auf der anderen Seite die Objekte schafft. Vermischungen mögen existieren, sie sind allerdings nicht für die Wissenschaft relevant:

Zur gleichen Zeit liefert das Werk von Bachelard mit seiner doppelten Stoßrichtung das Symbol für diese unmögliche Krisis, diese Zerrissenheit: Zum einen steigert es durch den Bruch mit dem gesunden Menschenverstand noch die Objektivität der Wissenschaften, zum anderen, und symmetrisch dazu, übersteigert es durch die epistemologischen Einschnitte [GS: Bruch] die gegenstandslose Macht des Imaginären. (Latour 1995, S. 81)

Anstelle eines erneuten Ein- und Zerteilens von Bereichen schlägt Latour das Prinzip der Symmetrie vor, das nicht mit den Prämissen der Moderne operiert (1995, S. 123 ff.). Der ursprüngliche symmetrische Gedanke stammt aus den sogenannten Science & Technology Studies und verlangt, dass sowohl wissenschaftlicher Erfolg als auch Misserfolg durch dieselben sozialen Prozesse erklärt werden müssen (Barnes und Shapin 1979; Bloor 1991; vgl. Latour 1995, S. 25, 124). Dieses Prinzip wird noch mal erweitert und verallgemeinert durch die Erkenntnisse aus empirischen Studien zur Arbeit in Laboratorien (Latour und Woolgar 1986) und den darin gefundenen Parallelen zwischen Alltag und wissenschaftlicher Praxis. Michel Callon folgend (2006) schlägt Latour eine generalisierte Symmetrie vor, die nicht nur Erfolg und Misserfolg, sondern konsequenterweise auch Natur und Gesellschaft beziehungsweise natürliche Objekte und kulturelle Subjekte auf dieselbe Weise erklären möchte. Das Prinzip der generalisierten Symmetrie wird in der Abbildung [Abb. 4.3] dargestellt.

Abb. 4.3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung gemäß Latour 1995, S. 128)

Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip der ANT

Startpunkt der dargestellten, symmetrischen Erklärung sind die Quasi-Objekte und Quasi-Subjekte, die nicht mehr Abweichung, sondern eigentliche Norm sind. Etwaige Unterschiede zwischen der Natur und der Kultur sind über diese Perspektive nicht mehr a priori gegeben, sondern deren Entstehung muss nachverfolgt und erklärt werden. Ausgehend von diesen Hybriden als Position in der Mitte führt der Weg der symmetrischen Erklärungen dann zu den allenfalls getrennten Polen.

Solange wir modern waren, war es unmöglich, eine zentrale Position einzunehmen, von der aus die Symmetrie zwischen Natur und Gesellschaft endlich sichtbar wird, denn sie existierte nicht. […] dieser Punkt [war] ein Niemandsland, ein Un-Ort. Wie wir inzwischen wissen, ändert sich alles, sobald wir die nichtmoderne Dimension hinabsteigen, statt immer nur innerhalb der modernen Dimension vom einen zum anderen Pol zu wechseln. Der undenkbare Un-Ort wird nun zum Punkt, an dem die Vermittlungsarbeit in die Verfassung einbricht. Er ist nicht leer, im Gegenteil, hier vermehren sich die Quasi-Objekte oder Quasi-Subjekte. Er ist nicht undenkbar, sondern wird zum Terrain aller empirischen Untersuchungen, die inzwischen schon zu den Netzen durchgeführt worden sind. (Latour 1995, S. 129)

Das erläuterte Symmetrieprinzip der ANT lässt sich auf die 1. Konsequenz der ersten Ordnung der gemeinsamen Wissensproduktion übertragen. Diese Konsequenz stellte eine graduelle Differenz fest zwischen wissenschaftlichen Theorien und Alltagserkenntnis beziehungsweise der Anwendung von wissenschaftlichen Theorien im Alltag. Diese graduelle Differenz entspricht genau der Vorstellung von den Hybriden. Die Annahme der Vermischung muss als Ausgangspunkt genommen werden, von dem aus die möglichen Festschreibungen als „wissenschaftlich“ oder „Alltag“ erklärungsbedürftig werden.

Mit dem präsentierten Ansatz der Symmetrie wird im Folgenden weitergearbeitet. Gleichzeitig müssen Teile von Latours Ausführungen relativiert werden, insbesondere dessen teilweise polemische Position gegenüber Bachelard.Footnote 6 Die Vorstellung des epistemologischen Bruchs, so wie Latour ihn einführt, verweist zu stark auf eine vollständige und so essentialistische Abtrennung zwischen Wissenschaft und außerwissenschaftlichen Bereichen. Doch das von Bachelard vorgeschlagene Konzept soll nicht einfach eine komplette und womöglich endgültige Abtrennung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Alltagsverständnis verdeutlichten, sondern die Wechselwirkungen und daraus resultierende Konsequenzen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Alltagswelt zeichnet sich nämlich in einem historischen Prozess ab (Bachelard 1988; vgl. Wulz 2014, S. 68). Daher sind die beiden Bereiche nicht komplett losgelöst voneinander, sondern es resultiert ein diskontinuierliches Wechselspiel: Das Konzept des Bruchs beschreibt einen Wissenschaftsprozess, in dem Widerstände und Gegensätze aufeinander reagieren und so Um- und Abbrüche schaffen (vgl. Rheinberger 2005, S. 318; Wulz 2014, S. 71; Whiteman und Dudley-Smith 2020, S. 2). Eine durch einen Bruch organisierte, epistemische Ordnung ist daher ein aktueller „Zwischenstand und damit kein a priori“ (Diaz-Bone 2007, S. 25). Der Bruch ist keineswegs etwas Universelles, wie dies von Latour impliziert wird.

Mit einer solchen relationalen Lesart der Position Bachelards lässt sich der epistemologische Bruch mit dem Ziel der generalisierten Symmetrie vereinbaren (vgl. Whiteman und Dudley-Smith 2020). Neu rücken die mit dem Erklärungsprinzip der Symmetrie einhergehenden Vorstellungen von Vernetzungen und Mediationen zwischen der Wissenschaft und einem alltäglichen Produktionsfeld als zu betrachtender Gegenstand in den Fokus (vgl. Becker 2019, S. 29). Dieses genaue Interesse für die Verschiebung von den theoretischen Konzepten zwischen Wissenschaft und Alltag repräsentieren den neuen erkenntnistheoretischen Bruch: Es ist ein anderes Interesse als dasjenige, welches die Akteur*innen in der alltäglichen Produktionswelt hegen, welche die Theorie der Kultur- und Sozialwissenschaften verwenden.Footnote 7 Die Erklärungsweise gemäß dem Symmetrieprinzip ist ein Weg zur Erreichung des Bruchs und entspricht der beständigen Suche nach ihm (anstatt einen epistemologischen Bruch vorauszusetzen). Es rücken die Bedingungen für und die Konsequenzen aus den veränderten Verwendungen der wissenschaftlichen Konzepte im Alltag in den Blick – und damit etwas, das nicht Teil des Alltagsverständnisses ist (und oftmals auch nicht Teil des gängigen Wissenschaftsverständnisses).

4.1.4 Performativität als Phänomenotechnik – 1. Konsequenz der zweiten Ordnung

Die beiden beschriebenen Konsequenzen aus der ersten Ordnung der Sozio-Epistemologie zielten vor allem auf den Umgang mit theoretisch informierten Akteur*innen ab, also wie deren explizite Wissensproduktion Teil der Erkenntnis der vorliegenden Arbeit werden könnte. Es fehlen allerdings noch Konsequenzen für die gemeinsame Wissensproduktion der Logik zweiter Ordnung. Denn die performativen Effekte der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaft haben nicht nur Konsequenzen für eine explizite Wissensproduktion der Akteur*innen, sondern auch für die Produktionsprozesse und die produzierten Objekte. Auch ein kulturweltlich-theoretisches Wissen, dass in den Prozessen und Objekten steckt, muss als Teil der Sozio-Epistemologie nachvollzogen werden. Zudem haben die bisherigen beiden Konsequenzen der ersten Ordnung noch nicht die Frage nach der genauen Vermittlung zwischen Theorie und Empirie für die vorliegende Arbeit behandelt, also welcher Bezug in der eigenen Methodologie zwischen den beiden Bereichen angestrebt wird. Insbesondere der epistemologische Bruch ist als Grundkonzept für die konkrete Epistemologie eines Vorgehens noch nicht ausreichend, da dieser lediglich eine „Absetzungsbewegung der Theorie von einem unmittelbaren Kontakt zur ‘Realität’ und die dann einsetzende diskontinuierliche Theoriedynamik“ beschreibt (Diaz-Bone 2007, S. 35). Wie genau der Bezug zur Empirie erfolgt, ist damit aber noch nicht geklärt. Deshalb gilt es, weitere Konsequenzen aufzuzeigen, die aus der Sozio-Epistemologie zu folgen haben.

Für die Weiterverfolgung der methodologischen Perspektive der Arbeit und die Untersuchung der performativen Effekte wird daher ein zweites Konzept von Bachelard relevant: Phänomenotechnik.Footnote 8 Mit der Phänomenotechnik geraten stärker Prozesse zwischen Theorie und Empirie und die wechselseitige Abhängigkeit der beiden Bereiche in den Blick. Das Konzept beschreibt die Vorstellung, dass ein untersuchtes wissenschaftliches Objekt erst über die wissenschaftliche Betrachtung geschaffen wird (Bachelard 2004, S. 105). Performativität, wie sie in dieser Arbeit eingeführt wurde, so könnte man die Idee umformulieren, ist daher inhärenter Teil eines Objektes – und Bachelard „ein Performativitätstheoretiker avant la lettre“ (Diaz-Bone 2011b, S. 295, Hervorhebung i. O.). Ähnlich wie bei der zu Beginn dieses Unterkapitels beschriebenen Herausforderung für den logischen Empirismus (siehe oben) war es auch bei der Phänomenotechnik die aufkommende Teilchenphysik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eine Ausgangslage für Bachelards Überlegungen bildete. Das neue Wissen dieser Disziplin beruht in seiner zunehmenden Abstraktheit immer mehr auf komplexen, technischen Verfahren. Es sind diese Techniken, die überhaupt erst einen Zugang zu dem Wissen schaffen: Sie ermöglichen eine künstliche Wirklichkeit, die nicht mehr einer sinnlichen Wahrnehmung entspricht und im Rahmen derer das Wissen erschaffen und nachvollziehbar wird. Daraus resultieren dann auch paradox erscheinende Erkenntnisse wie etwa die „Antimaterie“ (Pravica 2015, S. 152). Eine Technik der Wissensproduktion und deren Wirklichkeiten sind gemäß Bachelards Verständnis nicht ein der Wissenschaft externes Element, das in einem zweiten Schritt zur Anwendung kommt. Vielmehr sind diese technischen Instrumente in die Herausbildung des Wissens integriert (Wulz 2014, S. 69) und stellen den „modus operandi“ der Wissenschaft selbst dar (Rheinberger 2005, S. 315). Dies führt dazu, dass eine jeweilige Technik ein empirisches Objekt mitkonstruiert, welches dann gemäß einer wissenschaftlichen Methode aufbereitet wird: „[…] das Instrument ist der benötigte Intermediär, um ein Phänomen zu studieren, dieses wird instrumentiert, designiert als das Objekt einer Phänomenotechnik“ (Bachelard 2004, S. 2 f., eigene Übersetzung & Hervorhebung).

Genauso wie ein Objekt mit einer Phänomenotechnik konstruiert wird, beruht auch die Bestimmung dessen, was überhaupt das Objekt eines Phänomens ist, auf einer wissenschaftlichen Investition. Es kann kein Start- oder Nullpunkt festgelegt werden, von dem der technikgeleitete Zugang ausgeht (Rheinberger 2005, S. 316). Daraus folgt, dass weder die Objekte selbst noch ein unmittelbarer Zugang zu ihnen außerhalb der Wissenschaft gegeben ist. „Ein langer Kreislauf in der theoretischen Wissenschaft ist notwendig, um die Daten zu verstehen. Tatsächlich sind die Daten hier Ergebnisse. […] Sie müssen technisch erzeugt werden. Sie sind materialisierte Theoreme“ (Bachelard 2004, S. 103, eigene Übersetzung). Im letzten Zitat weist Bachelard auf die Rolle von Theorien hin: Die theoretischen Konzepte sind nicht nur nötig, um in der Technik abgebildete Objekte zu erkennen, sondern sie bilden überhaupt erst die Techniken und Instrumente aus. Eine Unterscheidung zwischen Technik und Theorie wird von ihm nicht getroffen (vgl. Pravica 2015, S. 152). Die theoretischen Konzepte sowie die daraus abgeleiteten Instrumente erschaffen und ermöglichen den Zugang zum empirischen Objekt. In einer letzten Konsequenz verweist die Idee der Phänomenotechnik auf einen zirkulär ablaufenden Prozess: Instrumente und Techniken werden gemäß einer Theorie realisiert, schaffen den Zugang zu einer Empirie und konstruieren die wissenschaftlichen Objekte. Die so instruierten Objekte werden wiederum genutzt, um „eine im voraus gefasste Hypothese, ein vorgängiges Schema, einen Beobachtungsplan“ (Bachelard 1988, S. 18) zu rekonstruieren. Wissenschaft „lernt aus dem, was sie konstruiert“ (ebd.). Die Empirie wird dabei sowohl in einem historischen Prozess über Theorie konstruiert sowie realisiert, als dass sie selbst an diesem historischen Prozess beteiligt ist (Rheinberger 2005, S. 321).

Die offensichtlichen Entsprechungen für die Phänomenotechnik finden sich in den Natur- und Technikwissenschaften: Die Teilchenbeschleuniger und ähnliche Apparate der Atomphysik sind technische Anordnung zur Erschaffung einer eigenen Realität, die dann für die wissenschaftliche Wissensproduktion genutzt wird (Wulz 2014, S. 69). Doch auch für die empirischen Sozialwissenschaften (Diaz-Bone 2007, S. 41; Wulz 2014, S. 70) und insbesondere für die vorliegende Arbeit ist Bachelards technischer Materialismus (2004) eine hilfreiche Ergänzung. Phänomenotechnik beschreibt nämlich, wie unter Einbringung einer Theorie entwickelte Instrumente die Phänomene und ihre Objekte in einer holistischen Weise instruieren (vgl. Diaz-Bone 2007). Das Konzept betont die Konstruktionsleistung von Theorien und zeigt auf, dass erstens der Zugang zur Empirie nie frei ist von einer theoretischen Leistung und zweitens konkrete Objekte in der Empirie bereits von der Theorie mitkonstruiert sind. Die oben beschriebene Herausforderung der Performativität und die Sozio-Epistemologie einer zweiten Ordnung sind daher nicht Spezialfälle, sondern generelle Voraussetzung für jede wissenschaftliche Erkenntnis.

Für die Methodologie dieser Arbeit folgen zwei Positionen als Konsequenz der Phänomenotechnik: Erstens macht Bachelards historischer Materialismus klar, dass trotz der theoretischen Informiertheit der Akteur*innen im Alltag und in den Produktionsfeldern nicht bloß auf das „Subjekt“ als Erkenntnismodell zurückgegriffen werden kann (vgl. Diaz-Bone 2007, S. 45). Die performativen Effekte können zwar zu reflexiven Prozessen in den Individuen führen. Trotzdem darf der Zugang zum empirischen Material nicht nur interpretierend und nachvollziehend erfolgen (Diaz-Bone 2007, S. 46). Mithilfe des eigenen Vorgehens müssen weiter auch überindividuelle Effekte sowie Veränderungen in Objekten und Prozessen in den Blick genommen werden können, wie dies etwa die Analyse von Diskursen ermöglicht (Diaz-Bone 2017c, S. 35). So mag etwa die Verwendung der Theorien in der Kulturproduktion durchaus „Sinn“ für die Akteur*innen ergeben. Das Konzept der Phänomenotechnik verdeutlicht aber genau, dass der Prozess, welcher diesen Sinn konstituiert, nicht nur von den Individuen ausgeht. Der Sinn kann erst in einem überindividuellen Diskurs generiert werden. Oder Sinn zeigt sich erst im Zusammenhang mit konkreten Objekten, Prozessen und den damit zusammenhängenden Techniken im Feld.

Die volle Realität des Sinn konstituierenden Prozesses hinterlässt auf der „Ebene“ von Individuen nur ihren „Nachhall“. Sollen Sinnprozesse analysiert werden, muss man die Ebene des Subjekts verlassen. Denn dass diese erleben, dass es für sie Sinn in der Welt gibt, bedeutet nicht, dass ihnen der Sinn und die Praxis der Sinnproduktion der Welt vollständig begreiflich ist. Stattdessen ist Sinn ein den Individuen vorlaufendes und die Individuen transzendierendes, für diese vorreflexives, kollektives Resultat einer sozialen Praxis der Sinnproduktion. „Sinn“ entsteht in der vorreflexiven überindividuellen sozio-epistemologischen Praxis der Organisation von Erfahrung und deren (Mit-)Konstruktion der „Welt“. (Diaz-Bone 2007, S. 47)

Die zweite, der Phänomenotechnik resultierende Position ist folgende Annahme: Es findet sich keine durch und durch theoriefreie Position, welche die wissenschaftliche Erkenntnis beziehungsweise die Forscherin im Verhältnis zur Empirie einnehmen könnte. Jede Erkenntnis ist auch durch kollektive, sozio-epistemische Praktiken und Theoriekonzepte „infiltriert“ und vororganisiert (Diaz-Bone 2007, S. 49), auch die eigene methodologische Position. Aus der Distanz, die durch einen erneuten epistemologischen Bruch gewonnenen wurde, sowie aus dem eben formulierten Bewusstsein für überindividuelle Prozesse muss daher eine weitere methodologische Konsequenz folgern. Diese gilt einer „Sorge“ (Diaz-Bone 2007, S. 49), dass die formulierten Strategien lediglich der Realisierung von denjenigen Theorien dienen, die der Forschung zugrunde liegen. Daher muss als weitere Konsequenz für die Methodologie auch eine selbstreflexive Beobachtung realisiert werden.

4.1.5 Teilnehmende Objektivierung – 2. Konsequenz der zweiten Ordnung

Als Folge der Überlegungen zur Phänomenotechnik gilt es, ein reflexives Bewusstsein für die eigene Forschungspraxis zu mobilisieren und in das methodische Vorgehen zu integrieren. Eine Möglichkeit für eine solche Reflexivität lieferte Bourdieus Konzept der teilnehmenden Objektivierung (1978, 2003; Bourdieu 2017).Footnote 9 Teilnehmende Objektivierung folgt den Vorstellungen eines relationalen Denkens, das wegkommen will von Dualismen und Substanzen (und wie dies allgemein in einer bourdieuschen Soziologie angestrebt wird; siehe auch [3.1.13.1.2 und 3.2.1]). Als letzte Konsequenz des relationalen Ansatzes, so die Idee Bourdieus, gilt es, die Relation zwischen Forschungssubjekt, dem Forschungsdesign und dem Forschungsobjekt in den Blick zu nehmen (vgl. King 2014, S. 20). Mittels der teilnehmenden Objektivierung soll das explizit gemacht werden, was sonst als selbstverständlich angesehen wird: die eigene Forschungspraxis. Bourdieus Konzept geht so auf Herausforderungen ein, die sich aufgrund des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit für die Methodologie zeigen. Implizit verweist die teilnehmende Objektivierung aber auch auf einen „Normalfall“ des Vorgehens von Sozialwissenschaften. Denn sowohl die verwendeten Konzepte als auch eine empirische Arbeit sind immer schon Teil des sozialen Geschehens: „Es gibt für die soziologische Analyse keinen Ort außerhalb des sozialen Geschehens“ (Krais 2004, S. 175).

Um Erkenntnisse über das Soziale zu gewinnen, die sich von den subjektiven, unmittelbaren Urteilen unterscheiden, verweist Bourdieu auf die soziologische Objektivierung. Diese Objektivierung gilt nun nicht nur dem „Objekt“, sondern auch dem Verhältnis „des Subjekts zu seinem Objekt in der Praxis“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 98). Oder anders formuliert: Im Zentrum steht schlussendlich „die Objektivierung des Subjektes der Objektivierung, das heißt des analysierenden Subjekts – kurz, des Forschers selbst“ (Bourdieu 2010, S. 418). Mit dieser zusätzlichen Objektivierung soll erreicht werden, dass die Möglichkeitsbedingungen und Grenzen der Objektivierung selbst untersucht werden können. Die sozialen Bedingungen beziehungsweise die Sozialwelt einer Objektivierung soll erfasst werden (Bourdieu 2010, S. 420; vgl. Schultheis 2017, S. 133). Die teilnehmende Objektivierung ist daher eine Erweiterung der soziologischen Arbeit auf die eigene soziologische Arbeit. Es ist eine Selbst-Reflexion genauso wie eine „Selbst-Befragung“ (Krais 2004, S. 176), die sich sowohl auf das Ziel eines jeweiligen Vorgehens als auch auf die daraus folgenden methodologischen Konsequenzen bezieht. Dies wird anhand von zwei Formen der teilnehmenden Objektivierung erreicht. Auf der einen Seite muss die eigene Praxis im Sinne der eigenen sozialen Merkmale hinterfragt werden: das eigene Geschlecht, die eigene Position im sozialen Raum, eine mögliche Position in einem untersuchten Feld und so weiter. Auf der anderen Seite muss auch die eigene Position innerhalb der Produktion des Wissens im engeren Sinne objektiviert werden. Dieser zweite Teil der Reflexivität ist für Bourdieu eine Frage des akademischen Feldes: Es geht um die Wissenschaft als soziale Welt, die bestimmte Anforderungen stellt (vgl. Bourdieu 1998, S. 18; siehe auch [3.2.2]). Das heißt, es müssen die Interessen reflektiert werden, die mit der Zugehörigkeit zum akademischen Feld verbunden sind (und auch wie diese sich etwa zu einem Feld der Macht verhalten; Wacquant 1996, S. 67). Weiter gilt es, die Kategorien der Wahrnehmung zu hinterfragen, die durch das akademische Feld sozial konstruiert werden. Ein bestimmter epistemologischer Bruch und die daraus resultierende epistemische Praxis sind daher auch soziale Brüche in Hinblick auf das eigene Feld, die es zu beachten gilt (Bourdieu 1996, S. 274).

[D]ie teilnehmende Objektivierung […] ist wahrscheinlich die schwierigste Übung überhaupt, weil sie den Bruch mit den tiefsten und am wenigsten bewussten Einverständigkeiten und Überzeugungen erfordert – oft gerade mit denjenigen, die das untersuchte Objekt für den, der es untersucht, „interessant“ machen –, mit all dem, was er von seinem Bezug zu dem Objekt, das er erkennen möchte, am wenigsten wissen will. (Bourdieu 1996, S. 287)

Die Reflexivität durch die Objektivierungen der Position im untersuchten Feld und im wissenschaftlichen Feld stellt allerdings auch eine doppelte Herausforderung dar (Bourdieu 1996, S. 279 f.): Erstens muss ein unmittelbares Verständnis des Sozialen überwunden werden. Das Alltagsverständnis (über das eben auch eine Soziologin verfügt) ist ein Hindernis für eine wissenschaftliche Erkenntnis. Es sind daher die Werkzeuge der Soziologie nötig, um überhaupt eine solche soziologische Objektivierung zu erreichen, dies sowohl in einer normalen als insbesondere auch in einer reflexiven Praxis. Ohne die Werkzeuge werden womöglich bestimmte Deutungen nicht hinterfragt, Wahrnehmung und deren Klassifikationen nicht abstrahiert und Strukturen nur reproduziert. Eine „naive Doxa des common sense“ (Bourdieu 1996, S. 280) kann damit nicht überwunden werden. Die Herausforderung ist daher, die Korrespondenz einer objektiven Ordnung und der subjektiven Organisation zu hinterfragen, statt die daraus folgende Selbstevidenz anzunehmen (Bourdieu 2015b, S. 126, vgl. 2007). Gerade in der Soziologie verdoppelt sich diese Problematik und die daraus resultierende Notwendigkeit der Werkzeuge noch einmal, da der oder die Forschende generell über eine Vertrautheit mit der sozialen Welt verfügt – und oft auch noch direkt mit einem Objekt involviert ist (King 2014, S. 21). Eine Illusion der unmittelbaren Erkenntnis als auch die Vorstellung des „interessenlosen Interesses“ (Bourdieu 1998, S. 27) ist für den Soziologen besonders präsent.

Die zweite Herausforderung im Vorgehen der teilnehmenden Objektivierung besteht in der Gefahr der Übernahme einer „Doxa“ bei den soziologischen Werkzeugen: einem blinden Vertrauen in die Werkzeuge der Wissenschaft. Insbesondere mit diesen Werkzeugen kann eine Vorstellung von „allgemeingültigen Schemata“ und die Illusion von der Abwesenheit von Gesetzen im wissenschaftlichen Feld entstehen. Hier sind es Verselbstständigungsprozesse in der Wissenschaft, ein Glauben an und zugleich eine Vertrautheit mit den wissenschaftlichen Begriffen sowie ihren Kategorien, die dazu führen könnten, dass Strukturen durch eine unhinterfragte Übernahme der Schemata reproduziert werden (vgl. Zimmermann 2008, S. 124). Solche Prozesse gilt es mit der teilnehmenden Objektivierung ebenfalls zu objektivieren. Die doppelte Frage von „Doxa“ und Illusion im empirisch untersuchten Feld und im akademischen Feld führt dazu, dass die Denkschemata, Klassifikationen und Positionen einer Soziologie genauso nötig für Erkenntnis wie sie selbst zu hinterfragen sind.

Um als Teil der eigenen Methodologie eine „epistemische Reflexivität“ (Wacquant 1996; vgl. auch Rowe 2018, S. 107) zu etablieren, schlägt Bourdieu (1989, 2010) eine Doppelung respektive eine Kombination in der Konzeptualisierung der Methodologie vor: Erstens soll die Methodologie und die epistemologische Praxis einer „Objektivität“ entsprechen, mit der eine Objektivierung der primären Erfahrung angestrebt wird (Bourdieu 2010, S. 433). Die Objektivierung gilt den strukturellen Dispositionen, also Kapitalien und den daraus resultierenden Verortungen im sozialen Raum und im Feld. Diese Strukturen gilt es zu beachten, wenn die Akteur*innen untersucht werden, und sie müssen auch für die eigenen Forschungspraktiken im Umgang mit den Akteur*innen objektiviert werden (Rowe 2018, S. 109). Bei Letzterem steht daher weniger das individuelle Bewusstsein der oder des Forschenden im Zentrum, sondern die epistemische Praxis der Disziplin (Wacquant 1996, S. 71). Soziale Fakten werden in diesem objektiven und strukturellen Blick zu „Dingen“ (Bourdieu 1989, S. 14) und erlangen eine gewisse „Unabhängigkeit“ (auch wenn diese konstruiert ist). Damit soll sichergestellt werden, dass weder die Repräsentationen der Akteur*innen reproduziert werden, noch dass einfach der Blick der eigenen Disziplin unhinterfragt angewendet wird.Footnote 10

Zweitens soll die Objektivierung immer wieder mit weiteren „Subjektivierungen“ konfrontiert und so getestet werden: Es geht um einen „aktiven Moment des Einbringens der […] objektivierten und der Kritik unterzogenen Erfahrung in ständig weiter von dieser Erfahrung entfernte Akte der Objektivierung“ (Bourdieu 2010, S. 433). Diese „weit entfernte Akte der Objektivierung“ entstehen dabei nicht durch eine wissenschaftliche Objektivität, sondern durch das Subjekt des Forschers beziehungsweise durch andere Subjekte. Die eigene, „prä-reflexive Erfahrung“ (ebd.) oder eben die eigene „Subjektivität“ kann in der methodologischen Position genutzt werden, um den strukturellen, objektiven Blick herauszufordern. Da „Objektivität“ soziale Fakten als „Dinge“ betrachtet, ignoriert sie, dass soziale Tatsachen nicht nur „unabhängig“ sind, sondern auch „objects of knowledge, of cognition – or misrecognition – within social existence“ sind (Bourdieu 1989, S. 14). Ein lediglich objektiver Standpunkt in der Methodologie würde die Strukturen nur der Praxis der Akteur*innen „überstülpen“.

Da diese Voraussetzungen in die Begriffe, analytischen Werkzeuge (Genealogie, Fragebogen, statistische Auswertung usw.) und praktische Forschungsoperationen (wie Kodierungsroutinen, Verfahren zur “Bereinigung” von Daten oder Faustregeln für die Arbeit im Feld) eingehen, erfordert die Reflexivität weniger eine intellektuelle Introspektion als vielmehr eine permanente soziologische Analyse und Kontrolle der soziologischen Praxis […]. (Wacquant 1996, S. 67 f.)

Die reine Anwendung der Position der Objektivität würde schlussendlich verhindern, eine jeweilige Praxis der Akteur*innen überhaupt zu verstehen. Daher muss der subjektiven Position der Akteur*innen und deren Gedankenobjekte eine Rolle in der Objektivität der Sozialwissenschaften zugesprochen werden und nach Gegenüberstellungen der beiden Konstruktionen gesucht werden.Footnote 11 Teilnehmende Objektivierung ist ein „Hin und Her“ (Bourdieu 2010) zwischen zwei Wahrheiten: „Erst diese doppelte Wahrheit, objektiv und subjektiv, macht die vollständige Wahrheit der sozialen Welt aus“ (Bourdieu 1996, S. 289). Insbesondere über die Ergänzung der „Subjektivität“ gelangt man wieder zur Ausgangslage der gemeinsamen Wissensproduktion: der Sozio-Epistemologie, in der die konstitutive Rolle der Alltagsakteur*innen mitgedacht werden soll. Die spezifische Position der vorliegenden Arbeit zu dieser teilnehmenden Objektivierung ist es allerdings auch, dass nicht etwa zwischen einem objektiv-strukturell-theoretischen Blick und einem subjektiv-praktischen-atheoretischen Blick unterschieden wird (wie dies etwa Wacquant formuliert, 1996). Sondern es gilt, andere Unterscheidungen jeweils relational zu treffen. Die Herausforderung durch das spezifische Interesse der Arbeit ist es gerade, dass die „folk theories“ der Akteur*innen Konzepten aus den Kultur- und Sozialwissenschaften entstammen. Trotzdem muss auch für das empirische Vorgehen der vorliegenden Arbeit die Dualität von „Subjektivität“ und „Objektivität“ aufgenommen werden.

4.2 Eine qualitative Methodologie zwischen Paradigmen

4.2.1 Die methodologischen Konsequenzen zwischen Pragmatismus und Strukturalismus

Die methodologischen Konsequenzen, die aus dem Konzept der Sozio-Epistemologie abgeleitet wurden [4.1.24.1.5] sind in der aktuellen Form noch zu allgemein. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Erstens scheinen sich gewisse Konsequenzen noch zu widersprechen oder sie beinhalten zumindest im Vergleich gegenläufige, konzeptionelle Elemente. So stehen sich bei der 1. und 2. Konsequenz der ersten Ordnung die Vorstellungen gegenüber, dass sowohl ein gradueller Übergang angenommen werden muss (von alltäglichen hin zu wissenschaftlichen, theoretischen Positionen) als dass auch ein neuer Bruch erreicht werden soll (in der Forschungsposition gegenüber der alltäglichen Verwendung der Konzepte). Bei der 1. und 2. Konsequenz der zweiten Ordnung wiederum wird einerseits verlangt, dass Phänomene symmetrisch erklärt werden sollen (d. h. immer auf dieselbe Art und Weise), während die teilnehmende Objektivierung gleichzeitig verschiedene Erklärungen aufführt („subjektivistische“ und „objektivistische“). In der Form sind die formulierten Ansätze daher noch zu wenig integriert. Das zweite Problem ist, dass die methodologischen Konsequenzen noch nicht wirkliche Techniken zur Verfügung stellen. Das heißt, sie sind noch keine Methoden im engeren Sinne, mit denen Daten erhoben und analysiert werden können. Dieser Abschnitt diskutiert die methodologischen Konsequenzen mit dem Ziel, eine Integration zu leisten, und bereitet so den Übergang zu konkreten Methoden und spezifischen Techniken vor, die dann im weiteren Verlauf des Kapitels erläutert werden.

Die Ausführungen im letzten Unterkapitel [4.1] zeichneten sich neben einer geringen Integration auch durch eine vergleichsweise oberflächliche Einführung der Konzepte aus. Beides entspricht allerdings einem strategischen Interesse: Denn es geht nicht darum, ein völlig widerspruchsfreies und umfangreiches Theoriegebäude für das empirische Vorgehen zu entwickeln (vgl. Diaz-Bone 2017b, S. 342). Im Zentrum steht vielmehr, dass ein reflexiver und kontrollierter Umgang mit den Herausforderungen erreicht wird, welche die Untersuchung von Performativität für die eigene Forschung bereitstellt. Anstelle einer theoretischen Kohärenz und der detaillierten Diskussion der Konzepte soll eine methodologische Kohärenz und praktische Anleitung für die eigene Arbeit gefunden werden. Ein solcher Ansatz, der die Forschungspraxis ins Zentrum rückt, folgt einer sich immer mehr verbreitenden Tendenz in den Sozialwissenschaften. Diese Tendenz lässt sich auf eine Vermittlung der beiden „Megaparadigmen“ von Pragmatismus und Strukturalismus zurückführen (Diaz-Bone 2017a):

Der Pragmatismus und noch mehr der Strukturalismus haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts entscheidend dazu beigetragen, dass die Sozialwissenschaften von der Philosophie unabhängig hinsichtlich der Grundlagen für ihre Methodologie und Epistemologie geworden sind. Zudem stellen beide große Theorietraditionen dar, die für die gegenstandsbezogene Forschung relevant und präsent sind, anstatt als empirieferne Großtheorien formuliert zu werden, die in den Sozialwissenschaften immer weniger präsent und forschungsrelevant sind. Die […] Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Pragmatismus und Strukturalismus […] entwickeln empirische Forschungsperspektiven, Problematisierungen und Forschungsinstrumente, so dass sich jeweils eine forschungspraktische Trias aus Konzepten, Methoden und empirischen Anwendungen formiert. (Diaz-Bone 2017b, S. 342)

In diesem Sinne zeigen sich die methodologischen Konsequenzen und die möglichen Strategien für das Forschen gemäß einer Sozio-Epistemologie nicht einfach als verstreute Ideen. Vielmehr können sie in einen weiteren Zusammenhang gestellt, integriert und verglichen werden. Denn im Grunde lassen sich die meisten theoretischen und eben auch methodologischen Ansätze der Sozialwissenschaften auf die Paradigmen des Pragmatismus und des Strukturalismus zurückführen (Diaz-Bone 2017a, S. 380, 2017b, S. 336). Dies gilt auch für die in den letzten Unterkapiteln [4.1.24.1.5] eingeführten Konsequenzen und die dahinterliegenden Konzepte. Die Zuordnung zu einem der beiden Paradigmen wird in der Abbildung [Abb. 4.4] präsentiert.

Abb. 4.4
figure 4

(Quelle: Eigene Darstellung)

Zusammenfassung der Sozio-Epistemologie

Beispiele für methodologische Positionen, die dem Denken des Pragmatismus entsprechen, sind die Idee der graduellen Differenz zwischen den Wissensordnungen sowie das via Latour eingeführte Prinzip der Symmetrie für Erklärungen (vgl. auch Hennion 2013). In Ersterer zeigt sich die Ablehnung von Dualismen, die für den Pragmatismus typisch ist (vgl. Diaz-Bone 2017a, S. 384, 2017b, S. 338). In dem Paradigma steht nicht ein ontologischer Holismus im Blick auf Phänomene im Zentrum und von Beginn an feststehende sowie sich jeweils ergänzende Einteilungen werden abgelehnt. Diese Haltung zeigt sich in der graduellen Differenz, wenn wissenschaftlich und nicht wissenschaftliche Verwendung von theoretischen Konzepten nicht per se gegenübergestellt werden, sondern die vorhandene Aufteilung erklärt werden soll. Anstelle der Dualismen wie Wissenschaft und Alltag (oder auch „Natur“ und „Kultur“) betont der Pragmatismus eine Pluralität und die Vielfalt der Möglichkeiten. Es geht um graduelle Übergänge zwischen verschiedensten Bereichen, um Vermischungen und den kontinuierlichen Wandel (Strübing 2008, S. 294). In diesen Übergängen steht ein jeweiliger Prozess im Zentrum und so immer auch eine Realität, die gemacht werden muss: „Der wesentliche Gegensatz besteht darin, daß für den Rationalismus die Wirklichkeit von aller Ewigkeit her fertig und vollendet ist, während sie für den Pragmatismus noch im Werden ist und ihre Gestaltung zum Teil erst von der Zukunft erwartet“ (James 1977, S. 257, eigene Hervorhebung). Für dieses Machen beziehungsweise Werden von Realität sind die jeweiligen Umwelten und Kontexte essentiell, die es auf immer neue Art und Weise zu erschließen gilt. Die „Welt da draußen“ ist also erst dann und nur so lange Realität, wie sie durch die Aktivitäten der Handelnden herangezogen wird. Erst durch das Heranziehen wird sie auch zu einer Umwelt und zu einem relevanten Kontext (Strübing 2008, S. 291). Dieses kontinuierliche Hervorbringen steht wiederum im Einklang mit der Idee der Pluralität von Praxisformen und deren verschiedenen Überschneidungen sowie Übergängen in den jeweiligen Kontexten (Diaz-Bone 2017b, S. 338).

Ähnliche pragmatische Vorstellungen wie in der Idee der graduellen Differenz zeigen sich auch im Erklärungsprinzip der Symmetrie. Gleichzeitig lässt sich damit ein weiterer zentraler Punkt des Pragmatismus einführen: ein evolutionstheoretisches Denken, das für systemische Zusammenhänge herangezogen wird (Dewey 2002; vgl. Diaz-Bone 2017a, S. 384). Strukturen wie die Unterscheidung zwischen einem Wissenschaftspol und einem gesellschaftlichen Gegenüber werden nicht per se vorausgesetzt, sondern müssen erklärt werden. Dabei steht insbesondere die Relativität der Beziehung solcher Bereiche im Zentrum, wie sie allgemein über das Verhältnis zwischen Umwelt und Akteur*innen erfasst wird (Mead 1908). Was der Pragmatismus betrachten möchte, ist ein „prozessuales Verhältnis von Entitäten (Individuen, Gruppen etc.) und ihren Umwelten, die ‘ko-evoluieren’ und als wechselseitig gestaltbar sowie je als wirkmächtig gedacht werden, ohne dass hier eine einseitige Wirkungsrichtung angenommen wird“ (Diaz-Bone 2017a, S. 384). Diese Vorstellung findet sich auch im methodologischen Prinzip der generalisierten Symmetrie: Vom Startpunkt der Quasi-Objekte beziehungsweise der hybriden Netzwerke aus gilt es zu erklären, wie ein jeweiliger Dualismus entsteht und wie sich gegenseitige Beeinflussungen zeigen. Das Symmetrieprinzip ermöglicht die gleichzeitige Betrachtung von beiden Seiten dadurch, dass diese mit denselben Erklärungsansätzen angegangen werden (anstatt sie als Dualismus vorauszusetzen).

Stärker dem Strukturalismus entsprechen hingegen Bachelards Konzepte des epistemologischen Bruchs und der Phänomenotechnik sowie Bourdieus Idee der teilnehmenden Objektivierung (vgl. auch Diaz-Bone 2017b, S. 341). Mit dem Bruch-Konzept Bachelards wird etwa eine deutlich oppositionsartige Organisation etabliert, mit deren Hilfe Prozesse genauso rekonstruiert wie angeleitet werden können. Solche oftmals binär gedachten Oppositionen sind zentral für das strukturalistische Denken (vgl. Brügger und Vigsø 2008, S. 54/72). Für Bachelard ist es das Wissen im System der Wissenschaft, das klar dem Alltagsdenken gegenübersteht (1984). Wissenschaft lässt sich anhand dieser Opposition immer wieder neu ausrichten. Mit der Möglichkeit der Neuausrichtungen zeigt sich die nicht substanzialistisch gedachte Formulierung von Kategorien im Strukturalismus, die insbesondere auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand Saussure zurückgeht (2001; vgl. Diaz-Bone 2017a, S. 381). Anstelle einer substanziellen Beziehung zwischen einem Wortlaut und dessen Bedeutung verweist Saussure auf die Ordnung der Organisation der Sprache selbst: Es geht lediglich um die Positionierung des bezeichnenden Begriffs gegenüber den anderen. Von diesen oppositionsartigen, nicht substanzialistischen Organisationen aus wirken dann die kulturellen Mechanismen, die zu den regelmäßigen sozialen Strukturen führen. Dies wurde etwa von Claude Lévi-Strauss in einer weiteren, für den Strukturalismus grundlegenden Arbeit anhand der Regel der Partnerwahl in verschiedenen Ethnien aufgezeigt (1981; Diaz-Bone 2017a, S. 381). Eine solche Rückführung der sozialen Strukturen auf Oppositionen (oder auch semantische Tiefenstrukturen, Foucault 1971) gilt als der „epochale Beitrag des Strukturalismus“ für die Sozialwissenschaften (Diaz-Bone 2017b, S. 341).

Weitere Merkmale des Strukturalismus können anhand des Konzeptes der Phänomenotechnik und der teilnehmenden Objektivierung gemeinsam hervorgehoben werden. Ersteres verdeutlicht den methodologischen „Antihumanismus“ des Megaparadigmas: Die Merkmale der sozialen Realität und die vorgefundenen Praktiken werden nicht auf individuelle „menschliche Ausstattungen“ zurückgeführt (Diaz-Bone 2017a, S. 382, 2017b, S. 341; vgl. Brügger und Vigsø 2008, S. 80). Bachelards Konzept weist entsprechend auf die Konstruktionsleistung der wissenschaftlichen Apparate hin und verdeutlicht eine überindividuelle Realität im Zugang zur Empirie. In ähnlicher Weise versucht das Konzept der teilnehmenden Objektivierung, die überindividuelle Realität zu erklären, und zielt dabei auf die Strukturen des wissenschaftlichen Feldes und auf die daraus resultierenden Praktiken ab. Für die Idee der teilnehmenden Objektivierung ist nun eine weitere strukturalistische Position grundlegend, nämlich die Vorreflexivität und das Unbewusste der Strukturen. Im Sinne einer Tiefenontologie schließt das wissenschaftliche Vorgehen auf etwas, das den Alltagsakteur*innen verborgen bleibt (vgl. Whiteman und Dudley-Smith 2020, S. 6). Eine solche strukturalistische Vorstellung markiert den Beginn von Bourdieus Konzept. Denn die Abstrahierung durch die teilnehmende Objektivierung zielt auf „die tiefsten und am wenigsten bewussten Einverständigkeiten und Überzeugungen“ (Bourdieu 1996, S. 287).

Die vier methodologischen Konsequenzen der Sozio-Epistemologie lassen sich nicht nur eindeutig einem der beiden „Megaparadigmen“ zuordnen. Sie weisen gleichzeitig auf Überschneidungen und Übergänge zwischen Strukturalismus und Pragmatismus hin (siehe die Pfeile in [Abb. 4.4]). Die teilnehmende Objektivierung ist etwa durchaus auch pragmatisch, wenn in einem symmetrischen Sinne sowohl die wissenschaftlichen Objekte als auch die eigene Arbeit analysiert wird. Bourdieu bezieht sich mit dieser Methodologie explizit gegen eine rein „strukturalistische Orthodoxie“ und versucht, die individuellen Aussagen von Akteur*innen ernst(er) zu nehmen (2010, S. 434; vgl. Krais 2004, S. 172). Auch die Konzepte des epistemologischen Bruchs und der Phänomenotechnik weisen Parallelen zur pragmatischen Philosophie auf: Die historische Wissenschaftsentwicklung im Verhältnis zum jeweiligen Bruch gegenüber einem Alltagsverständnis ist etwa eine evolutionäre Vorstellung, in der sich eine beständige Weiterentwicklung von Verhältnissen zeigt. Weiter verweist das Bruch-Konzept auf die Relevanz einer jeweiligen Perspektive. Denn erst diese Perspektive leitet die Konstruktion von dem an, was wissenschaftlich ist und was nicht. Bei der Phänomenotechnik wiederum wird in einem pragmatischen Sinne die Relevanz der Objekte herausgestellt. So zeigen sich in all diesen strukturalistischen Konsequenzen immer auch pragmatische Momente.

Umgekehrt gilt für die stärker pragmatischen Methodologien und Konzepte, dass sie nicht einfach in einer Opposition zu strukturalistischen Vorstellungen stehen. Dies lässt sich anhand einer bestimmten Verwendung von theoretischen Konzepten für die Forschung aufzeigen, die im Zusammenhang zur methodologischen Position des Pragmatismus steht. Theorien können nämlich als sogenannte „sensibilisierende Konzepte“ genutzt werden (Blumer 1986, S. 147 f., 1954; siehe Einführung von Kapitel [3]): Sie leiten den Blick auf und das Interesse an bestimmten Daten an (sie „sensibilisieren“ für die Daten). Grundsätzlich können auch strukturalistische Theorieansätze als solch sensibilisierende Konzepte dienen. Von diesem Standpunkt aus zeigt sich eine unterschiedliche Verwendung von alltäglichen und wissenschaftlichen Konzepten (die nicht mehr nur einer graduellen Differenz entspricht). Denn die wissenschaftlichen theoretischen Konzepte werden a priori zur Sensibilisierung herangezogen, und nicht etwa die Alltagskonzepte. Auch das Symmetrieprinzip mit seiner Vorstellung der Erklärung von zwei Polen und den dahin führenden Mechanismen weist auf strukturalistische Ideen hin: Die oppositionsartigen, nicht substanzialistischen Vorstellungen werden hier zwar zum Explanandum (anstatt eine Erklärung anzuleiten), sie stellen aber trotzdem einen wichtigen Referenzpunkt für die Methodologie dar. Zudem ist das Ziel der Anwendung der Symmetrie, eine nicht redundante Erklärung der Phänomene zu erreichen. Obschon Alltag und Wissenschaft auf dieselbe Weise erklärt werden sollen, gilt es, eine andere wissenschaftliche Erklärung als die alltägliche zu erreichen (vgl. Latour 2004a, S. 215). Eine Opposition ist daher auch hier vorhanden. Darüber hinaus findet sich im Pragmatismus durchaus ein vergleichbarer methodologischer „Antihumanismus“, da in den Erklärungen neben den Individuen die Objekte und Gegenstände eine zentrale Rolle einnehmen (vgl. Clarke et al. 2018, S. 26). Die dem Pragmatismus zugeordneten, methodologischen Konsequenzen stehen daher nicht in einer fundamentalen Opposition gegenüber dem Strukturalismus.

4.2.2 Bewährung einer qualitativen Methodologie zwischen den Paradigmen

Die Integration der verschiedenen Konsequenzen, die den beiden Paradigmen Pragmatismus und Strukturalismus zugeordnet werden können, ist nicht nur eine Herausforderung für die Methodologie der vorliegenden Arbeit, sondern vielmehr eine allgemeinere Problematik. Die Untersuchung der Performativität und das Forschen gemäß einer Sozio-Epistemologie ist daher vergleichbar mit anderen Vermittlungen der beiden „Megaparadigmen“ und anderen methodologischen Herausforderungen. So formuliert Bernard Lahire in seiner Soziologie der pluralen Akteur*innen (2011a; [3.1.43.1.5]) eine ähnliche Herausforderung, was die Kombination von Ansätzen betrifft. Dabei stellt er unter anderem fest, dass eine Kombination von direkten (eher pragmatischen) Beobachtungen und indirekten (eher strukturalistischen) Rekonstruktionen nötig ist:

The sociology of action that I propose implies, therefore, new methodological requirements. In order to grasp the internal plurality of actors, we have to equip ourselves with methodological procedures that make it possible to observe directly or reconstruct indirectly (from various sources) the variation of individual behaviours according to social context. Only methodological procedures of this kind will make it possible to judge the extent to which certain schemes of action are transferable from one situation to another, and others not, or to assess the degree of heterogeneity or homogeneity of the stock of schemes embodied by actors in the course of their previous socialization. If the direct observation of behaviours still remains the most pertinent method, it is rarely completely possible, given that ‘following’ an actor in the different situations of life is a task both heavy and ethically questionable. But even interviews and work on assorted archival material – when one is as sensitive to differences as to constancies – can reveal many little contradictions, heterogeneities of behaviour that are unperceived by the actors themselves, who very often seek, on the contrary, to maintain an illusion of the coherence and unity of their self. (Lahire 2011a, S. 208, eigene Hervorhebung)

Auch in den methodologischen Positionen der „Economie des Conventions“ (EC, siehe [2.2.4]) und der ANT (siehe oben und [3.3]) sowie in den verschiedenen Konzeptualisierungen der relationalen Soziologie (Bourdieu 2007; Diaz-Bone 2017b, 2018b; Emirbayer 2017) zeigen sich ähnliche Vermittlungen der beiden Paradigmen. In diesen verschiedenen theoretischen und eben auch methodologischen Ansätzen gilt das Interesse den Momenten, wenn sich die beiden Traditionen der Paradigmen „kreuzen“ (Emirbayer 2017, S. 41) oder zwischen den beiden Paradigmen „vermittelt“ wird (Diaz-Bone 2017b, S. 337). In einem methodologischen Sinne ist es genau das Ziel, zwei Herangehensweisen miteinander zu verbinden, die scheinbar widersprüchliche Elemente beinhalten können. Es geht sowohl um die „großformatigen Prozesse“, wie sie in strukturalistischen Konzepten im Zentrum stehen, als auch um einen „Aufschluss über das Handeln von Personen“, das den Pragmatismus anleitet (Boltanski und Esquerre 2018, S. 631). Somit muss keine völlig widerspruchsfreie Integration erreicht werden, sondern eine jeweilige Ergänzung ist das Ziel. Auch die hier formulierten, methodologischen Konsequenzen sollen ihre jeweiligen Ergebnisse gegenseitig in neuem Licht darstellen (vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 632).

Grundsätzlich sind daher beide Blickwinkel der Paradigmen im Umgang mit der Empirie nützlich. Diese Nützlichkeit muss sich allerdings in den konkreten Anwendungen zeigen. Sollte ein Blickwinkel nicht nützlich sein – auf ein Problem stoßen –, kann er auch wieder gewechselt werden, um die jeweilige Herausforderung nicht mehr als Problem anzusehen. Das bedeutet aber auch, dass in der konkreten Umsetzung letztendlich nur eine Realisierung durch Bewährung erfolgen kann (Diaz-Bone 2017c, S. 37): Jeder Blickwinkel muss zeigen, ob er angemessen ist und die Erkenntnisse hervorbringt, die benötigt werden (Bethmann 2019a, 2019b). Ein konkreter Forschungsprozess wird daher zu einer „Prüfung“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 187) für die verschiedenen methodologischen Konzepte. Die paradigmatischen Blickwinkel der formulierten Konsequenzen und die enthaltenen Überschneidungen liefern vor allem ein Angebot, das ausprobiert werden kann und muss. Es sind Lösungsansätze für die Herausforderungen im eigenen Vorgehen: Sie müssen als problemlösende Praktiken (Bethmann 2019a) für eine Forschungspraxis gemäß der Sozio-Epistemologie verstanden werden. Über diese Idee der Bewährung von sich jeweils ergänzenden Blickwinkeln wird Methodologie selbst performativ (Diaz-Bone 2011a), und zwar gemäß dem ursprünglichen Sinn John Austins (1972): Die Methodologie ergibt sich erst in der Prozess- und Ereignishaftigkeit; sie ergibt sich durch ihre konkrete Präsenz und Situiertheit in den methodischen Handlungsvollzügen. Der Forschungsprozess erarbeitet im Übergang von Methodologie zur Anwendung der Methode die eigenen Grundlagen und verfestigt diese (Dewey 2002; James 2006).

Die formulierten Konsequenzen [4.1.24.1.5] können als methodologische Handlungs- und Interaktionsstrukturen aufgefasst werden, nach denen sich die konkreten Techniken ausrichten (vgl. Bethmann 2019a, S. 146): die Methoden zur Fallauswahl sowie Datenerhebung und Datenanalyse. Mit dieser Ausrichtung wird übergeleitet von den grundsätzlichen Annahmen, die in den Theoriekapiteln vorbereitet wurden [2 und 3], hin zu den Fragen, wie Erkenntnisse gewonnen werden sollen und überhaupt können. Die methodologischen Konsequenzen leiten über von einer Ontologie (Was ist die „Realität“ des Phänomens?) hin zu einer Epistemologie (Wie kann das Phänomen „erfasst“ werden?). Sowohl aus diesen Konsequenzen der Sozio-Epistemologie als auch bereits aus der vorlaufenden Theoriearbeit wird deutlich, dass ein qualitativer Ansatz im Zentrum der Forschung stehen muss. So zielt die erfolgte Diskussion der Methodologie darauf ab, eine Gegenstandsangemessenheit zu formulieren, wie sie als zentrales Merkmal qualitativer Forschung herausgestellt wird (Schütz 1974; Garfinkel und Wieder 1992; Strübing et al. 2018, S. 86 f.). Mit dem Interesse für die Veränderungen der Wertigkeiten durch die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaft steht zudem eine Rekonstruktion von sozialem Sinn im Zentrum, der typisch ist für die qualitativen Verfahren (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2019, S. 106). Und nicht zuletzt bleiben trotz der breiten theoretischen und methodologischen Diskussion viele Bereiche offen – Mechanismen müssen sich noch genau zeigen, Techniken müssen sich bewähren. Dies verlangt nach einer Flexibilität und womöglich auch Zirkularität, die nur von qualitativen, nicht standardisierten Vorgehen ermöglicht wird. Gleichzeitig sollte die Diskussion der beiden Paradigmen klargemacht haben, dass quantitative Techniken sowie deren Daten und Ergebnisse auch in die Forschungsarbeit einfließen können und sollen, falls dies angebracht erscheint.

Als Nächstes gilt es, ein allgemeines Vorgehen und Methoden zu präsentieren, die den methodologischen Konsequenzen entsprechen und mit denen gemäß einer Sozio-Epistemologie über Performativität geforscht werden kann. Ein erstes Angebot an Techniken liefert die sogenannte Grounded Theory (Glaser und Strauss 1998; Mey und Mruck 2011a) und die von Adele Clarke formulierte Weiterentwicklung dieses Ansatzes in Form der Situationsanalyse (Clarke et al. 2018). Insbesondere die Situationsanalyse diente der vorliegenden Arbeit als Übergang zwischen methodologischen Überlegungen, methodischem Vorgehen und ganz konkreten, in der Arbeit verwendeten Techniken. Dies gerade auch deshalb, da das qualitative Verfahren von Clarke nochmals auf eigene Weise zwischen Pragmatismus und Strukturalismus vermittelt (Diaz-Bone 2013a). Clarke entwickelt die Situationsanalyse seit über zwanzig Jahren (2003, 2011a, b; Clarke et al. 2015a). Das Verfahren selbst mag deshalb noch lange nicht zum Mainstream qualitativer Methoden gehören, hat aber bereits einiges an Verbreitung und Akzeptanz erfahren (vgl. Offenberger 2019; Baumgartner et al. 2023). Als Weiterentwicklung beruht die Situationsanalyse zudem auf einem besonders weit verbreiteten Verfahren der qualitativen Datenerhebung und -analyse (die Grounded Theorie kann als einer der prominentesten Ansätze qualitativer Datenanalyse angesehen werden; Mey und Mruck 2011b, S. 11 f.). Mit ihrer Weiterentwicklung verfolgt Clarke das Ziel, den „postmodernen Verschiebungen in der Sozialtheorie und qualitativen Forschung noch stärker Rechnung [zu] tragen“ (Clarke 2011b, S. 207). Dies führt dazu, dass ihre Weiterentwicklung diverse Parallelen zu den oben eingeführten methodologischen Positionen aufweist.

4.2.3 Von der Grounded Theory zur Situationsanalyse

Die Grounded Theory (GT) als qualitativer Forschungsansatz und als Vorläufer der Situationsanalyse (SitA) ist nicht lediglich eine spezifische Methode, wie etwa eine Form der Datenanalyse. Vielmehr muss der Ansatz als ein Forschungsstil im weiteren Sinne verstanden werden (vgl. Mey und Mruck 2011b, S. 11). Die zuerst gemeinsam von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelte Methodologie (1974) wurde zu einem heute genauso prominenten wie „erkenntnistheoretisch gut fundierten“ Verfahren der qualitativen Datenanalyse (Mey und Mruck 2011b, S. 11 f.; Clarke 2012, S. 23). Auch Clarke und ihre Weiterentwicklung in Form der SitA ist Teil eines Kontinuums dieses Forschungsstils, das vor allem auf Strauss zurückgeht (Clarke et al. 2018, S. 6). Das verweist bereits darauf, dass innerhalb der GT eine Vielzahl von Umformulierungen und unterschiedlichen Ausrichtungen diskutiert werden.Footnote 12 Eine solche Diskussion wird hier aber nicht angestrebt. Vielmehr können zur Einführung des Forschungsstils zuerst einige grundlegende Merkmale erwähnt werden. Diese Merkmale sind eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Weiterentwicklungen, die von neueren GT-Vertreter*innen ausgehen (Morse et al. 2009) und zu denen auch Clarke und die SitA gezählt werden können.

Im Zentrum des Forschungsstils der GT steht die Entwicklung einer Theorie „mittlerer“ Reichweite in und durch Daten (Mey und Mruck 2011b, S. 29): Für einen Phänomenbereich soll eine eigene erklärende oder verstehende Konzeptsammlung erarbeitet und zu einem theoretischen Ansatz integriert werden, der sich grundlegenden sozialen Prozessen widmet (vgl. Strübing 2014, S. 9; Clarke et al. 2018, S. 4).Footnote 13 Um dieses Ziel zu erreichen, werden einige Strategien angeboten (Glaser und Strauss 1998; Glaser 1998; Corbin und Strauss 2015; vgl. Mey und Mruck 2011b, S. 13). Für die Gewinnung von Daten kann auf das Konzept der theoretischen Sensibilität und des theoretischen Samplings verwiesen werden. Bei einer solchen Herangehensweise werden im Verlauf des Forschungsprozesses immer wieder neue Daten aufgrund des aktuellen Wissenstands herangezogen. Anstelle der klaren Festlegung einer bestimmten Datenerhebung von Beginn an lösen sich Analyse und die Erhebung von neuem Material immer wieder ab. Der zentrale Prozess für die eigentliche Analyse der Daten ist das Kodieren: Damit werden zu Beginn noch stark an der Empirie orientierte Konzepte erarbeitet und zu Teilen des Materials zugeordnet („offenes“ Kodieren). Im Verlauf des Forschungsprozesses werden diese Konzepte beim ständigen Vergleich von empirischem Material und den vorhandenen Kodes immer abstrakter und gleichzeitig stärker miteinander verknüpft („axiales“ Kodieren). Dies ist möglich, da nach dem ersten, offenen Bearbeiten des Materials bereits stärker analytische Richtungen im Vorgehen deutlich werden. Ziel ist es, diese Schritte so weit fortzuführen, bis eigentliche Kernkonzepte oder Kategorien und deren Zusammenhänge deutlich werden („selektives“ Kodieren). Allen Kodierschritten liegt der ständige Vergleich zugrunde, der zwischen Empirie und Empirie, Empirie und Konzepten sowie Konzepten und Konzepten erfolgt. Begleitet wird die Analyse von einem Organisieren der Arbeitsschritte und Konzepte in Form von Memos. Dies sind beständig zu erweiternde Texte und Diagramme, die Gedankengänge und Interpretationen systematisch erfassen sollen.Footnote 14

Im Rahmen dieser Strategien und deren Anwendung mit dem Ziel der Theorieentwicklung legt die GT einen konstruktivistischen Charakter an den Tag, der in der Weiterentwicklung der SitA nochmals aufgenommen wird. So steht grundsätzlich die Art und Weise im Zentrum, wie die Akteur*innen eine Bedeutung in den Situationen schaffen – und nicht eine „Realität“, die in den Daten steckt (vgl. Charmaz 2006, S. 130 ff.). Die entsprechende Grundhaltung des Ansatzes leitet sich aus der Tradition des amerikanischen Pragmatismus (Peirce 1967, 1991; Dewey 2002) und des symbolischen Interaktionismus ab (Blumer 1980, 1986; Mead 2017). Der Forschungsstil versucht, eine Prozesshaftigkeit des Sozialen aufzuzeigen, und bereits in den ursprünglichen Formulierungen erleichtert der Ansatz daher die „Darstellung der Instabilitäten und Kontingenzen, für die sich postmoderne Perspektiven interessieren“ (Clarke 2012, S. 51). Die GT könne deshalb immer schon als ein postmoderner und interpretativer Ansatz angesehen werden, so die Haltung Clarkes (2012, S. 43 ff.; Clarke et al. 2018, S. 25 ff.; vgl. auch Offenberger 2019, S. 5). Damit einher geht die Darstellung von Differenzen und Verschiedenheiten: Mit der GT wird aktiv nach einer Variationsbreite gesucht, um dann die Unterschiede sichtbar zu machen (Clarke 2012, S. 52; Clarke et al. 2018, S. 32). Im Verlauf des empirischen Vorgehens wird so übergegangen von der Auswahl einer minimalen Varianz hin zu der Suche nach denjenigen Fällen, die eine hohe Chancen haben, „abweichende Ausprägungen des Phänomens aufzuweisen“ (Strübing 2014, S. 32; vgl. auch Glaser und Strauss 1998, S. 62 f.). Die Suche nach Differenzen gilt es so lange zu verfolgen, bis eine theoretische Sättigung erfolgt. Dies zeigt sich ab dem Zeitpunkt, zu dem eine neue Varianz die formulierten Konzepte nicht mehr irritieren kann (Glaser und Strauss 1998, S. 69 f.). Eine postmoderne und interpretative Ausrichtung der GT findet sich nicht zuletzt in ihrem materialistischen Konstruktivismus: Teil des Forschungsstils war immer schon die Vorstellung, dass auf der einen Seite die „materielle Welt“ (sozial) konstruiert ist, während auf der anderen Seite diese „nicht menschlichen“ sowie „hybriden“ Teile der Welt genauso an der Konstruktion des Sozialen beteiligt sind (Clarke 2012, S. 49; vgl. auch Clarke et al. 2018, S. 26 f.).

Clarke und weitere neue Vertreter*innen der GT formulieren zusätzlich zwei Merkmale des Forschungsstils der GT nochmals in neuer Weise.Footnote 15 Das erste Merkmal, das umformuliert werden soll, ist die an George Mead (2017) anschließende Idee der „Perspektive“ (Clarke et al. 2018, S. 26). Sie besagt, dass alles nur aus einer bestimmen Perspektive existiert und somit eben sozial konstruiert ist. Empirie (oder bei Mead die Natur) ist lediglich als eine Organisation von Perspektiven vorhanden (Strauss et al. 1981, S. 343 ff.). Sie existiert daher auch nicht im Sinne eines „unparteilichen Schiedsrichters“, auf den sich die Dinge in alleiniger und substanzialistischer Weise abstützen könnten. Die einzig möglichen Realitäten sind diejenigen, „die wir konstruieren […] und auf die wir uns ‘einigen, einig zu sein’“ (Clarke 2012, S. 49). Die zweite Generation der GT-Vertreter*innen nimmt diese Ideen auf und überträgt sie auf die Perspektive der oder des Forschenden. Es ist schlussendlich diese forschende Perspektive, mit der die Empirie eben mitkonstruiert wird. Clarke und andere aus der zweiten Generation verweisen daher auf einen Mangel an Reflexivität in älteren Studien und Forschungsarbeiten, die mithilfe der GT-Methodologie umgesetzt wurden (Clarke et al. 2018, S. 35). Um dies zu korrigieren, muss eine „Anwesenheit“ von Forscher*innen thematisiert werden, da sie ebenfalls als aktive Mediator*innen in einer Situation mitwirken. In den früheren Arbeiten und insbesondere in den Formulierungen von Glaser, so der Vorwurf, sei noch die „problematische Illusion“ eines „unsichtbaren“ Forschers vorhanden gewesen (Clarke 2012, S. 54).

Als zweites Merkmal möchten die Weiterentwicklungen der GT den Umgang mit vorhandener theoretischer und empirischer Literatur nochmals auf andere Art und Weise formulieren. Bereits die ursprüngliche Idee der Datenanalyse in der GT kann als „dekonstruktive“ Analyse angesehen werden: „Open coding connotes that data are open to multiple, simultaneous interpretations and codes. There is no one right reading“ (Clarke et al. 2018, S. 27). Es werden also verschiedene Lesarten bewusst gesucht, bevor im Verlauf des Forschungsprozesses bestimmte Ansätze und Deutungen durch das theoretische Sampling und Verknüpfen der Konzepte weiterverfolgt werden (Clarke 2012, S. 50). Dieser offene Prozess verweist bereits auf die eigentliche analytische Position der GT, nämlich Abduktion (Diaz-Bone 2019b, S. 51 f.). Die Konzepte sollen weder gemäß einer rein induktiven Art und Weise aus der Empirie abgeleitet werden, noch sollen sie deduktiv formuliert werden, um sie dann empirisch zu verwerfen (oder eben beizubehalten). Vielmehr geht es um ein beständiges Hin und Her zwischen empirischen Details und theoretischen Aussagen (Strübing 2014, S. 44 ff.). Erst über dieses Wechselverhältnis zwischen einer Arbeit an Daten und der Generierung der Konzepte für den Umgang mit den Daten entsteht die Theoretisierung eines sozialen Phänomens (Clarke et al. 2018, S. 28). Der Prozess des Kodierens wurde aber zu Beginn der GT noch stark mit einer Tabula-rasa-Vorstellung verknüpft: Forschung könne mit einem „leeren Blatt“ starten (Clarke et al. 2018, S. 35 ff.). Die eigene Haltung als auch bereits in der Literatur vorhandene empirische Ergebnisse und theoretische Konzeptionen sollten ausgeblendet werden, um „Verunreinigungen“ von Daten zu vermeiden. Insbesondere Letzteres wurde über die Weiterentwicklungen der GT von Strauss gemeinsam mit Juliette Corbin umformuliert (Corbin und Strauss 2015). Theorien und Ergebnisse anderer Arbeiten sollen also sehr wohl dazu verwendet werden, um einen ersten Anhaltspunkt für die Abduktion und die Analyse zu erhalten.

Diese grundsätzlichen Ausrichtungen der GT und insbesondere die zuletzt erwähnten Weiterentwicklungen sind für das Vorgehen der SitA relevant. Gleichzeitig zeigen sich nochmals einige Neuerungen im „Theorie-Methoden-Paket“, das die SitA repräsentiert (Clarke 2012). In ihren Ausführungen zur Situationsanalyse machen Clarke und ihre Mitautorinnen den Unterschied der beiden Verfahren an sieben spezifischen Punkten fest (2018, S. 41 ff.). Diese werden im Folgenden jedoch nicht explizit ausgewiesen, sondern im Hinblick auf die Herausforderung des empirischen Vorgehens der vorliegenden Arbeit integriert. Die SitA, so wird im folgenden Abschnitt deutlich [4.2.4], präsentiert einerseits methodologische Justierungen, welche die Weiterentwicklung der GT in die Nähe des Strukturalismus rücken und so den Forschungsstil nochmals interessanter für die vorliegende Arbeit machen. Andererseits führt die SitA nochmals spezifischere methodische Techniken ein, die dann im übernächsten Abschn. [4.2.5] präsentiert werden.

4.2.4 Situationsanalyse als Methodologie zwischen Pragmatismus und Strukturalismus

Für die SitA wird eine „ökologische Leitmetapher“ zentral (Clarke 2012, S. 35), mit der Clarke die bis dahin leitende Idee des sozialen Handelns der GT ergänzt. Es sind „soziale Welten, Arenen, Aushandlungen und Diskurse“, die eine „konzeptionelle Infrastruktur“ bilden und im Zentrum einer Analyse stehen (Clarke 2012, S. 35). Diese Infrastruktur repräsentiert die eigentliche „Schlüsselgröße“: die Situation (Clarke 2011b, S. 118). Mit der Idee, die verschiedenen Elemente einer Situation zu erschließen, sucht die SitA einen Ausweg aus folgender Problematik, die viele qualitative Ansätze auszeichnet: Die interpretativen Verfahren haben eine Tendenz, sich entweder zu sehr um Handlungen und Interaktionen sowie das Selbst zu kümmern, oder sie stellen in einem zu allgemeinen Sinne eine spezifische „Kultur“ ins Zentrum des Interesses. Mit dem neuen Fokus der SitA sollen eine Situiertheit und dadurch die Verbindungen sowie die Interaktionen zwischen verschiedenen Phänomenen erfasst und beurteilt werden (Clarke et al. 2018, S. 16 f.). Die Erschließung der Situation zielt nicht nur darauf ab, einen Kontext der Phänomene mit zu erfassen. Die Betonung der Situation folgt vielmehr den Erkenntnissen der Science & Technology Studies, der ANT (siehe [4.1.3]) und den Konzepten von Mediation beziehungsweise Attachements (siehe [3.3]). Über die Betrachtung einer Situation soll die ko-konstituierende Leistung der verschiedenen Elemente für ein Phänomen erfasst werden. Eine Situation ist dann etwas Andauerndes, und nicht etwa eine kurze zeitliche oder räumlich begrenzte Einheit. In ihr finden sich Beziehungen zwischen diversen Kategorien von Elementen, die eine eigene Ökologie bilden und so ein jeweiliges Phänomen überhaupt erst hervorbringen (Clarke et al. 2018, S. 17).

Clarkes Idee der Situation ist vergleichbar mit dem Konzept des methodologischen Situationalismus, das bei der EC und einer neo-pragmatischen Ausrichtung der französischen Soziologie allgemein zur Anwendung kommt (vgl. Diaz-Bone 2018b, S. 546 ff.). Auch dort bilden die Situationen die Analyseeinheiten (vgl. Barthe et al. 2016, S. 206 ff.; Diaz-Bone 2018a, S. 374 ff.). Die EC und damit verbundene Ansätze untersuchen ebenfalls die Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernisse, Institutionen, Personen und Konzepte (Diaz-Bone 2018a, S. 375). Genauso wie bei der SitA wird betont, dass die Situationen über einen kurzen Moment hinausgehen und vielmehr über beständige Verbindungen das jeweilige Phänomen (mit-)konstituieren. Eine solche Analyse bewegt sich weg von einer Konzeption von Ebenen, z. B. mit Mikro-, Meso- und Makroebenen.Footnote 16 Vielmehr wird betrachtet, wie Praktiken und Strukturen mit verschiedenen Reichweiten in den Situationen integriert werden und was den daraus resultierenden Ko-Konstitutionen Stabilität verleiht (Diaz-Bone 2018a, 375). Während die EC und vergleichbare Ansätze vor allem eine Offenheit und damit Unsicherheit der Situation betonen, ist es bei Clarke eine Idee der Komplexität, die abgebildet werden soll (Clarke et al. 2018, S. 14).

Anhand des Situationskonzeptes wird nochmals deutlich, wie sich die SitA sowohl von der älteren als auch von einer neueren, konstruktivistischen GT (Charmaz 2006, 2009) unterscheidet. Bislang wurde die SitA nämlich vor allem als ein pragmatisches Projekt dargestellt, das sich noch nicht in zentraler Weise von der GT unterscheidet. Gemäß den bisherigen Ausführungen würde Clarkes Methode so vor allem der oben eingeführten 1. Konsequenz der ersten Ordnung der Sozio-Epistemologie gerecht werden: der Feststellung eines graduellen und eben nicht kategorialen Unterschieds zwischen wissenschaftlicher Wissensproduktion und alltäglicher Erfahrung [4.1.2]. Die weiter aufgeführten Konsequenzen [4.1.34.1.5] wären hingegen noch nicht umfassend integriert im Ansatz. Die „Akzentverschiebung“ (Offenberger 2019, S. 5) von der GT zur SitA kann nun anhand von drei Punkten festgemacht werden (Clarke et al. 2018, S. xxv): (1) die Rolle von nicht menschlichen Akteur*innen (bzw. Aktanten), (2) die Beachtung von Diskursen und überindividuellen Aspekten und (3) der Einbezug der Position des Forschenden in einem relationalen Sinne. Die drei Punkte werden in den folgenden Absätzen diskutiert und dabei grundsätzlich die Gleichzeitigkeit von strukturalistischen und pragmatischen Positionen herausgehoben. Zudem können den Punkten die anderen drei Konsequenzen zugeordnet werden. Damit wird verdeutlicht, dass die SitA der Methodologie entspricht, die in den vorhergehenden Unterkapiteln entwickelt wurde.

Die erste Ergänzung der GT durch die SitA ist die „ausdrückliche Berücksichtigung des Nichtmenschlichen“ (Clarke 2012, S. 101). Damit wird bei der Betrachtung von Situationen den von der ANT postulierten hybriden Netzwerken nachgegangen und eine Ko-Konstruktion und -Konstitution eines sozialen Phänomens soll untersucht werden: Auf der einen Seite müssen die eigentlichen sozialen Aspekte der Akteur*innen wie Kommunikation, Handlungen oder Macht erschlossen werden. Auf der anderen Seite müssen genauso die beteiligten Objekte und Techniken als Aktanten in eine Erklärung einbezogen werden. In den Netzwerken zwischen diesen verschiedenen Akteur*innen und Aktanten erfolgt die Übersetzung des sozialen Phänomens (Callon 2006; Hennion 2015) und alle einzelnen Bereiche der Situation stellen ein „Attachement“ des Phänomens dar (Hennion 2011, 2013). In dieser „ausdrücklichen“ Aufnahme der Aktanten folgt die SitA dem oben bereits eingeführten Symmetrieprinzip [4.1.3]: Dieses besagt, dass eine einheitliche „Erklärungssprache“ für die Analyse von sozialen und technischen Vorgängen erfolgen muss, beziehungsweise dass technische Prozesse auf dieselbe Art und Weise in die Erklärung einbezogen werden müssen wie die sozialen Aspekte eines Phänomens (vgl. auch Kneer 2009, S. 21). Die SitA steht aber nicht nur in einer (neueren und eher) französischen pragmatischen Tradition gemäß der ANT, sondern übernimmt diesen ersten Punkt auch vom älteren, US-amerikanischen Pragmatismus. Bereits im Umfeld des symbolischen Interaktionismus von Herbert Blumer (1980) gab es einen Fokus auf Objekte. Dieser sollte es nicht zuletzt ermöglichen, „die Welt auf völlig neue Weisen betrachten [zu] können“ (Clarke 2012, S. 103; vgl. auch McCarthy 1984). In der SitA wird allerdings diese pragmatische Vorstellung nochmals verstärkt und die Rolle von Aktanten aktiv gesucht.

Der zweite, die GT ergänzende Punkt stammt insbesondere aus der Rezeption der poststrukturalistischen Diskurstheorie Michel Foucaults (1974). Mit der SitA soll nämlich eine Realität gefasst werden, die sich in diskursiven Ordnungen und „Tiefenstrukturen“ zeigt, und den einzelnen Subjekten gar nicht bewusst sein muss. Über die Ergänzung der strukturalistischen Ansätze widmete sich die Analyse neu den Interaktionen zwischen diskursiven Praktiken, Machteffekten sowie deren Dispositiven (Foucault 1978). Damit stehen nicht mehr die einzelnen Handlungen von Individuen oder das erkennende und wissende Subjekt im Zentrum (Clarke et al. 2018, S. 79 f.; vgl. Diaz-Bone 2013a, S. 3). Die SitA zielt stärker auf die Untersuchung von „Regeln, durch die ein Wissen produziert, definiert und dargestellt wird“ (Clarke 2012, S. 185). Diese Untersuchung des Diskurses soll leisten, dass Kommunikation im weitesten erfasst wird (Sprache und Schrift genauso wie Bilder, Symbole, Materialitäten usw.). Das Ergebnis der Analyse zielt auf die Art und Weise der Kommunikation ab, ihre Funktion, ihrer Wahrnehmungsbeeinflussung sowie die daraus resultierenden Prozesse und Objekte. Foucaults Arbeiten haben die Diskursanalyse nochmals stärker weg von eher formalen und damit sprachwissenschaftlichen Ideen bewegt (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 71) und eine Analyse von Macht begründet. „[D]ie Weisen, in denen Wissen durch Sprache/durch Diskurse/durch diskursive Praktiken produziert, legitimiert und aufrechterhalten wird“ (Clarke 2012, S. 187), sind ein zentraler Bestandteil einer solchen Analyse. In dieser Ausrichtung zielt die SitA auch auf die lediglich implizierten oder stummen Akteur*innen oder Aktanten ab und sucht nach den „positions not taken“ im Diskurs (Clarke et al. 2018, S. 172; vgl. Offenberger 2019, S. 3). Clarkes Verfahren etabliert hierfür eine eigene Art der Phänomenotechnik [4.1.4] in der Analyse, um solche stillen Positionen im Diskurs anzugehen, zu beachten und zu reflektieren.Footnote 17

Der dritte Punkt der SitA, mit dem die GT ergänzt wird, ist die sozialökologische Analyseperspektive. Es geht darum, nicht nur die jeweiligen Handlungen zu betrachten, sondern auch die Umwelt oder eben die Struktur, welche diese Handlungen einbetten und welche durch die Handlungen eingebettet werden. Bereits Strauss versuchte in späteren Arbeiten gemeinsam mit Juliet Corbin, die strukturellen Bedingungen mit in die Analyse einzubeziehen und so den rein pragmatischen Blick der GT auf Handlungen zu ergänzen (Corbin und Strauss 1990).Footnote 18 Daraus resultierte die Verwendung der Bedingungsmatrizen. Dies sind kartografische Darstellungen der Situiertheit des Handelns, die etwa verschiedene Ebenen (international, national, Gemeinschaft, …, Interaktion) oder Teilbereiche (Konflikt, Bewegungen, Identitäten, …) umfassen (siehe Corbin und Strauss 2015, S. 172/178 für ein idealtypisches Beispiel). Diese Matrizen sollen vor allem „die spezifischen Bedingungen, unter denen die jeweilige Handlung geschieht, leichter und vollständiger erfassen“ (Clarke 2012, S. 107). Bei der SitA geht es darüber hinaus um die Gleichzeitigkeit von Struktur und Handlung in der Situation (Clarke et al. 2018, S. 45). Damit radikalisiert Clarke die Matrizen der GT. Die Sachverhalte werden als Resultate von Prozessen und Relationen betrachtet – und die Erklärung nicht (lediglich) den Akteur*innen (und ihren Eigenschaften) oder den Institutionen überlassen (und den sich dadurch ergebenen Möglichkeiten bzw. Einschränkungen). Zudem wird in der SitA keine Ordnung der strukturellen Bedingungen vorgegeben, sondern die Elemente einer Situation werden auf einer gemeinsamen Ebene betrachtet.Footnote 19 Beziehungen zu anderen Elementen genauso wie Fluchtlinien in neue Bereiche können von überall ausgehen. So ist die Erfassung der Komplexität das Ziel, nicht deren Reduktion (Clarke et al. 2015b, S. 20), und es wird die Frage nach dem Zustandekommen von Stabilität gestellt (Clarke et al. 2018, S. 94). Hierarchische Beziehungen werden allgemeiner in Hinblick auf Relationalität betrachtet. Innerhalb dieser Idee der Relationalität treffen sich die beiden Paradigmen von Pragmatismus und Strukturalismus (Diaz-Bone 2013a, S. 6). Und trotz der fluiden Ausgangslage besteht die Möglichkeit für eine teilnehmende Objektivierung [4.1.5]: Teil dieses Gefüges ist nämlich immer auch die Position der Forscherin als Subjekt im Alltag und in der Wissenschaft (Clarke et al. 2018, S. 34 ff.).

4.2.5 Mapping als ergänzende Analysepraxis

Das zentrale methodische Vorgehen der SitA ist das Erstellen von Karten. Ergänzend zum Kodieren wird daher ein „Mapping“ betrieben. Die daraus entstehenden Darstellungen sollen „detailliert und aus verschiedenen Blickwinkeln aufzeigen, was empirisch in der Situation vorhanden ist“ (Clarke 2012, S. 114). Grundsätzlich verfolgen beide Analysetechniken dasselbe Ziel: Anhand von Daten sollen Konzepten erarbeitet werden. Diese Konzepte werden ständig überprüft (im Sinne des Vergleichs) und dabei mehr und mehr verknüpft. Während das Erarbeiten von Konzepten bei der GT explizit erfolgt, kann das Erstellen der Maps in der SitA als eine implizite Variante dieses Vorgehens aufgefasst werden. Das explizite oder implizite Vorgehen zeigt sich im Verlauf des Analyseprozesses insgesamt: Bei der GT wird explizit auf das Erstellen von Konzepten abgezielt, indem anhand der Daten Begrifflichkeiten ausgearbeitet und wieder neuen Daten zugeordnet werden. Im Verlauf werden die Konzepte so weiterentwickelt und deren Beziehungen als Kategorien ausformuliert (Glaser und Strauss 1998; Strübing 2014, S. 15 f.). Solche datenbasierten Konzepte werden im Mapping der SitA nun nicht explizit ausformuliert, sondern sie zeigen sich implizit. Die Konzepte stehen etwa hinter dem Auswählen der Elemente für die Karten sowie insbesondere in deren Ordnung, Darstellung und den verschiedenen abgebildeten Beziehungen. Auch die Schritte im Erstellen einer Map laufen wiederum implizit nacheinander ab: Es werden zuerst die verschiedenen Elemente einer Situation aufgelistet, bevor diese dann auf eine bestimmte Weise dargestellt, geordnet sowie verknüpft werden. Abschließend kann so ein Schwerpunkt in der Betrachtung einer Karte festgelegt werden. Diese Schrittabfolge wird nicht explizit ausgewiesen, wie dies das offene, axialen und selektive Kodieren der GT verdeutlicht. Genauso implizit bleibt der wichtigste Punkt: In der konkreten Analysepraxis ergänzt das Mapping das explizite Kodieren der GT. Es ist eine Hilfe zum „Öffnen“ der Daten, zum Lösen von Blockaden, ein Weg zu neuen Einsichten und so weiter (Clarke 2012, S. 121 ff.).

Die SitA bietet nun drei verschiedene Mapping-Möglichkeiten an, um die gängigen Analysetechniken der GT zu ergänzen: Eine erste und oftmals zu Beginn des Forschungsprozesses im Zentrum stehende Technik ist das Erstellen einer Situationsmap. Deren analytischer Fokus ist die in einem weiten Sinne betrachtete Situation. Als Ziel soll die Darstellung alle beteiligten menschlichen Akteur*innen, nicht menschlichen Aktanten, die ablaufenden Prozesse, die geografischen Ortschaften und mehr erfassen (Clarke 2012, S. 124 ff.; Clarke et al. 2018, S. 127 ff.). Im Verlauf der Datensammlungen wird so eine Karte mit immer mehr Elementen ergänzt. Alles, was dem Forschenden als relevant erscheint, soll in die Darstellung aufgenommen werden. Damit entsteht weniger eine Auflistung von zentralen Elementen als ein „Reminder“ für das Vorhandene, das womöglich Auszuführende – oder auch das, was eben nicht weiter mit in die Analyse einfließen wird (Clarke et al. 2018, S. 128). Die aufgelisteten Elemente zeigen auf, was Zugang zur Situation verschafft oder verhindert, welche Positionen auftauchen, was für Infrastruktur oder Technik nötig ist, wie Wege hin- und wegführen, welche Organisationen mitspielen, was zentrale Ereignisse waren oder sind und so weiter. Dabei muss eine möglichst „flache Ontologie“ (Suhari 2019, S. 10) zwischen den Elementen verfolgt werden, indem diese nicht in einer spezifischen Weise unterschieden werden (weder über größere oder kleinere Elemente, noch über eine bestimmte Anordnungsweise). Konkret wird eine schriftliche Auflistung von Elementen erstellt. Diese können sowohl rein grafisch und „wild“ angeordnet als auch in tabellarischer Weise gesammelt werden. Letzteres soll eine „geordnete Arbeitsversion“ sicherstellen, dank der nichts übersehen oder vergessen wird (Clarke 2012, S. 134). Die beständige Arbeit an der Karte führt zu einer Vertiefung in dem Sinne, dass zwar immer neue Elemente hinzugefügt, aber gleichzeitig auch „Elemente, die sich als nicht (mehr) relevant für die Untersuchung ergeben haben, wieder von der Karte gestrichen werden“ (Suhari 2019, S. 4). Die stärker grafische Situationsmap wird im weiteren Verlauf verwendet, um Verknüpfungen aufzuzeigen und eine Art relationale Analysen durchzuführen: Die Elemente werden miteinander verbunden, um dann die „Art der Beziehung“ und „die Eigenschaften der Verbindungen“ zu erläutern (Clarke 2012, S. 140 f.). Ziel ist es, eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten, welche Relationen und damit implizit welche Konzepte weiterverfolgt werden sollen.

Die zweite Art von Maps sind diejenigen der sozialen Welten und Arenen. Während in den Situationsmaps die Elemente mehr oder weniger unabhängig von einer theoretischen Sensibilität selektiert wurden, ändert sich das in der zweiten Kartenart. Hier beziehen sich die Darstellungen auf eine Analyseeinheit in Bezug zur Situation, nämlich diejenige der sozialen Welten (siehe [3.2.3]). Diese Welten sind „sinnstiftende“ soziale Gruppen und Kollektive. Sie verfügen über eine jeweilige gemeinsame Aktivität und repräsentieren eigene Diskursuniversen (Clarke 2012, S. 147). Sie mögen zwar von einer Instabilität geprägt sein, bilden aber jeweils in ihrer unterschiedlichen Größe auch ein Eigenleben ab (Clarke et al. 2018, S. 148). Die Zugehörigkeit zu einer solchen Welt wird über die Handlungsverpflichtung bestimmt, also ob sich eine jeweilige Handlung auf die soziale Welt ausrichtet oder nicht. Die Analyse zielt daher auf die Aushandlungen ab, welche sich in den sozialen Welten zeigen (vgl. Suhari 2019, S. 6). Die ausgemachten sozialen Welten sind dann die Elemente der zweiten Map, die es räumlich anzuordnen gilt. Die Anordnung wird hier nun in mehrfacher Weise komplexer als noch bei den Situationsmaps: Grundsätzlich gilt es nämlich, die Elemente der zweiten Karte grafisch zu gestalten und bewusst zu positionieren. Die sozialen Welten sollen mit Details ausgestattet werden, sei dies durch ihre Form und Ausrichtung als insbesondere auch durch ihre eigenen Untersegmente. Die verschiedenen Welten werden gemäß ihren Beziehungen und Überschneidungen angeordnet und ihr Bezug zu größeren Arenen aufgezeigt. In diesen Arenen verhandeln, verändern und repräsentieren die Welten gemeinsame Themen. Eine so erstellte Map von sozialen Welten und Arenen verdeutlicht implizit, wie Handlungen in einer Untersuchungssituation strukturiert werden beziehungsweise wie sich diese Strukturen bilden (vgl. Clarke et al. 2018, S. 160).

Mit der dritten Kartenart der SitA, den Positionsmaps, soll insbesondere eine Tendenz zu Nivellierung von Differenzen und Verschiedenheiten bei der Darstellung der sozialen Welten ausgeglichen werden. Hier geht es nun nicht mehr darum, eine Übersicht zur Handlungsstrukturierung zu gewinnen. Die Positionsmaps sollen neu die verschiedensten vorhandenen und eingenommenen genauso wie fehlenden und damit „stillen“ Positionen in Bezug auf ein Thema darstellen: „Positionen auf Positionsmaps sind Positionen in Diskursen“ (Clarke 2012, S. 165). Damit können und sollen Widersprüchlichkeiten innerhalb von Gruppen und Individuen verdeutlicht werden können, wie sie sich anhand verschiedener Ausrichtungen zu Fragen in Diskursen zeigen mögen. Verschiedene Positionen zu einem Diskurs können genauso zwischen wie innerhalb einer Welt eingenommen werden (Clarke et al. 2018, S. 166). Widersprüche und andere Unstimmigkeiten wären in der zweiten Form der Maps noch nicht möglich, da dort soziale Welten als Einheiten betrachtet werden. Die Positionsmaps wechseln nun den Blick auf den Diskurs als Analyseeinheit und auf dessen Wirkung als strukturierender Effekt (vgl. Suhari 2019, S. 8). Dazu werden (wiederum implizit) Konzepte als struktureller Startpunkt für die Positionsmaps hinzugezogen: Verschiedenste Teilthemen eines Diskurses bilden Dimensionen ab, die sich etwa von voller Zustimmung bis hin zu voller Ablehnung bewegen können. Ein Diskurs in diesem Sinne besteht aus allen möglichen Dimensionen, die so gebildet werden können. Bei der Darstellung werden (so oft wie nötig) jeweils zwei Dimensionen genommen, um eine Map horizontal und vertikal aufzuspannen. Anschließend sollen die verschiedenen Positionen im Diskurs über die beiden Achsen in die Map eingetragen werden (Clarke 2012, S. 168; Clarke et al. 2018, S. 167). Hierin zeigt sich ein Unterschied zu den anderen beiden Karten: Mit der Situationsmap und der Map zu den sozialen Welten und Arenen werden nämlich immer neue Versionen ein und derselben Karte erstellt. Dies erfolgt zwar auch bei einer Positionsmaps. Gleichzeitig ergänzen sich in ihr viele verschiedene zweidimensionale Karten, um den Diskurs umfassend zu verdeutlichen. Die Abbildung [Abb. 4.5] stellt die drei Formen von Maps beispielhaft dar.

Abb. 4.5
figure 5

Drei Formen von Maps, beispielhaft (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Clarke et al. 2018)

Bei der Betrachtung des Mappings der SitA im Zusammenhang mit dem allgemeinen Vorgehen der GT lässt sich zuerst festzuhalten, dass die erstellten Maps keine Resultate sind, sondern nur „analytische Übungen“ repräsentieren (Clarke 2012, S. 153). Sie können zwar in spezifischer Weise ausgerichtet und/oder kombiniert werden, um eine sogenannte Projektmap zu erstellen (Clarke 2012, S. 177 ff.; Clarke et al. 2018, S. 195 ff.). Diese Darstellung dient dazu, „einer bestimmten Zielgruppe bestimmte Aspekte eines spezifischen Projektes zu erläutern“ (Clarke 2012, S. 177). Um eine Projektmap zu erstellen, müssen jedoch bereits die Ergebnisse mittels weiterer Analysen herausgearbeitet worden sein (kurz: Die Ergebnisse müssen vorhanden sein.). Die analytischen Übungen des Mappings gilt es daher zu den anderen Stilelementen der GT in Bezug zu setzen, mit denen eine eigene „Theorie“ aus den Daten entwickelt werden soll (siehe oben). Bereits aufgezeigt wurde, wie die Maps in einem impliziten Sinne das Kodieren unterstützen sollen, in dem zu Beginn der Analyse erste Wege in die Daten gefunden, Vergleiche angeleitet oder auch Systematiken der Konzepte über die Karten dargestellt werden. In ähnlicher Weise wird das theoretische Sampling durch die Maps unterstützt. Fehlen Daten zu einem Element auf der Situationsmap, muss eine bestimmte soziale Welt genauer untersucht oder eine Dimension eines Diskurses in die Analyse aufgenommen werden. Auch eine theoretische Sättigung kann in Bezug gesetzt werden zu einer Map (Clarke 2012, S. 147, 163, 175): Die Kodierungen und das Mapping sollen so weit vorangetrieben werden, bis keine zuvor unbekannten Elemente, Welten oder Themen mehr ergänzt werden müssen. Nicht zuletzt begleitet das Schreiben von Memos den ganzen Forschungsprozess. Diese Texte sollen auf der einen Seite immer wieder Anmerkungen und Gedanken im Verlauf der Analyse festhalten und so den Forschungsprozess mitstrukturieren (Clarke et al. 2018, S. 107). Auf der anderen Seite sichern die Memos die Ergebnisse (vgl. Strübing 2014, S. 34). Letzteres wird im Rahmen des Mappings nochmals wichtiger als bei der expliziten Formulierung von Kodes in der GT. Mit dem Erstellen einer Map müssen daher immer auch Fragen an diese Karte gestellt werden, etwa über die Beziehungen zwischen verorteten Elementen und den daraus resultierenden Situationen. Die „Antworten“, die eine jeweilige Map dann liefert, soll in den Memos festgehalten werden.

Über den ganzen Forschungsverlauf stellen die GT und die SitA methodische Techniken bereit, die für das eigene Forschungsvorhaben eingesetzt werden können. Sie umfassen Ansätze zur Fallauswahl sowie Datenerhebung, diverse Techniken für die Analyse der erhobenen Daten und auch bestimmte Qualitätskriterien. Mit Letzteren kann das eigene Vorgehen bewertet werden und sie ergänzen die allgemeinen Kriterien für qualitative Verfahren (wie etwa eine Gegenstandsangemessenheit, die Generalisierbarkeit und die intersubjektive Nachvollziehbarkeit; vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 21 ff.). Die Techniken der GT und der SitA sind bereits der erste Schritt, wie die methodologischen Konsequenzen umgesetzt werden können und den Handlungs- und Interaktionsstrukturen der Sozio-Epistemologie entsprochen wird. Einige Strategien, die von der SitA vorgeschlagen werden, sind dabei genau auf diese Situation ausgerichtet. Gleichzeitig liefert der Forschungsstil der GT und der SitA aber noch nicht das konkrete Vorgehen für den ganzen Forschungsablauf (vgl. auch Clarke 2012, S. 121 ff.). So gilt es, Startpunkte für die Fallauswahl zu definieren, von denen aus ein theoretisches Sampling angeleitet wird beziehungsweise sich Varianz zeigen kann. Bei der Erhebung wiederum muss geklärt werden, welche Daten einfach vorgefunden werden können und welche womöglich provoziert werden müssen. Auch für die Analyse selbst müssen Techniken gefunden werden, mit denen die Kodierung angeleitet und ein Vergleich organisiert wird, um manifeste oder latente Eigenschaften zu analysieren. Erst mit einer so zugeschnitten Fallauswahl, Datenerhebung und Datenanalyse wird klarer, wann tatsächlich theoretische Sättigung erreicht wurde. Das nächste Unterkapitel [4.3] präsentiert die konkreten methodischen Techniken und ordnet diese anhand des Forschungsablaufs ein. Sie umfassen konkretisierte Überlegungen aus den methodologischen Konsequenzen, das Angebot der GT beziehungsweise der SitA als auch Vorschläge aus weiterer Literatur (Becker 2019; Bethmann 2019a; Schaefer et al. 2019; Whiteman und Dudley-Smith 2020).

4.3 Methoden zur Analyse der performativen Effekte

4.3.1 Startpunkt des empirischen Vorgehens und Techniken der Datenerhebung

Ausgangspunkt für das Forschungsinteresse insgesamt und für die empirische Analyse war die Rolle des Autors der vorliegenden Arbeit in einer spezifischen Kulturwelt. Dies ist die experimentelle, elektronische Musik (EEM, siehe [5.1]). Aufgrund der eigenen Rolle ergab sich überhaupt das Forschungsinteresse an Performativität: Im Rahmen der Aktivitäten innerhalb der Kulturwelt wurde erstmals die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien durch gesellschaftliche Akteur*innen als ein zu untersuchender Sachverhalt anerkannt und problematisiert.Footnote 20 Die eigene Rolle des Autors und die damit ermöglichte Erfahrung repräsentiert daher eine erste Technik für das empirische Vorgehen. Sie lieferte eine Vertrautheit mit den ablaufenden Prozessen, den Inhalten und den Grenzen der Kulturwelt. Auch der erste Kontakt mit der Empirie war so möglich und ein Zugang zu Beispielen, bei denen Akteur*innen die Theorien verwendeten, stellte kein Problem dar. Zudem leitete die Rolle eine Auswahl von Gesprächspartner*innen an, unabhängig von einer bewusst formulierten theoretischen Logik. Im Rahmen dieser ersten Gespräche wurden Akteur*innen der Kulturwelt aufgesucht, weil die Erfahrung des Autors diese als mögliche „Expert*innen“ auswies. Dabei wurde mit Personen gesprochen, die selbst Musik produzierten, Veranstaltungen organisierten oder journalistisch tätig waren. Zusätzlich wurde in dieser frühen Phase ein Ad-hoc-Gespräch mit einem Experten für eine andere Kulturwelt geführt, um eine erste Varianz zu ermöglichen.

Im weiteren Verlauf galt es, das empirische Vorgehen von diesen fast autoethnografischen Pfaden wegzuführen (vgl. Clarke et al. 2018, S. 366). Die eigene Erfahrung sollte mehr und mehr angezweifelt werden, um dem alltäglichen Denken gemäß der Rolle in der Kulturwelt entgegenzuwirken (Strübing 2019, S. 526). Voreingenommenheiten sollten vermieden und womöglich blinde Flecken entdeckt werden, die aufgrund der bereits gemachten Erfahrungen in der Kulturwelt vorhanden waren. Ein blinder Fleck zeigt sich etwa anhand folgender Tatsache: Das Phänomen war vor seiner Erfassung für den Autor in dessen Tätigkeit in der Kulturwelt eine nicht weiter zu hinterfragende Normalität (und eben kein Phänomen). Auch er selbst verwendete bisweilen theoretische Texte in seiner Tätigkeit im Rahmen der Kulturwelt. Mit dem Voranschreiten des Forschungsprozesses musste daher eine Objektivierung betrieben und eine Unabhängigkeit von der eigenen Rolle in der Kulturwelt gefunden werden.

Für eine Abstraktion in der Fallauswahl war insbesondere das pragmatische Vorgehen des theoretischen Samplings zentral (siehe [4.2.3]). Anhand eines sich beständig im Rahmen der Analyse weiterentwickelnden Interesses wurden die Daten zur Verwendung der Theorien in der Kulturproduktion erhoben. Der Ablauf dieses Samplings kann wie folgt skizziert werden: Die erste bewusst theoretische Auswahl von Interviewpartner*innen erfolgte über die konzeptionelle Vorstellung eines Quasi-Objektes beziehungsweise eines Hybrids (siehe [4.1.3]). Konkret wurden zwei Personen interviewt, bei denen sich möglichst viele Überschneidungen zwischen dem Bereich der Wissenschaft und der Kulturwelt zeigten: Beide Personen arbeiteten an wissenschaftlichen Texten im Rahmen einer Ausbildung an einer Universität beziehungsweise einer Hochschule. Ihre jeweiligen Texte bezogen sich beide auf kultur- und sozialwissenschaftliche Themenbereiche und Theorien, obschon sie an einer Kunsthochschule eingeschrieben waren beziehungsweise Musikwissenschaften studierten. Gleichzeitig zum Verfassen ihrer Arbeiten veröffentlichten sie Musikalben in der untersuchten Kulturwelt. Anschließend wurde eine Person für ein Interview ausgewählt, die auf die Theoriekonzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften rekurrierte, aber keine tertiäre Ausbildung genossen hatte. Als nächster Schritt sollte eine größere Varianz anstrebt werden, indem ein historisches Beispiel aus dem Feld der Musik untersucht wurde, nämlich die Verwendung von theologischer Theorie in der kirchlichen Musik. In der Kulturwelt der EEM wurde das theoretische Sampling dann wieder über eine minimale Varianz weitergetrieben und verschiedene Produktionsprozesse sollten betrachtet werden: Musikproduktion in verschiedenen Formen, das Unterrichten von Musik, gemeinsames Musikhören, Vorträge halten oder Texte schreiben, über Themen streiten und mehr repräsentierten alles Formen der Kulturproduktion, die betrachtet wurden im Zusammenhang mit der Verwendung der Theorien.

Neben den untersuchten Beispielen in der Musik wurde im Rahmen des theoretischen Samplings auch ein bewusstes Wechseln des Feldes der Kulturproduktion betrieben. Dieser Schritt folgte einer strukturalistischen Vorstellung und die damit angestrebte Form der maximalen Varianz wurde mittels dreier Interviews realisiert: über einen Wechsel in das Feld des Designs, der Informatik und des Tanzes. Obschon die Beispiele klare Differenzen zur hauptsächlich untersuchten Kulturwelt aufwiesen, repräsentierten die drei interviewten Personen keine „negativen Fälle“ (Clarke et al. 2018, S. 39 f.). Sie verfügten nämlich über Verbindungen in die Kulturwelt der EEM. Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem Daten erhoben wurde, waren wissenschaftliche Kontexte. Neben Hinweisen in der Forschungsliteratur lieferten nämlich musikwissenschaftliche und kunstsoziologische Kongresse weitere empirische Beispiele. Bei diesen Veranstaltungen zeigten sich Hinweise für die Erklärung und die Wirkungsweisen von Performativität, die im Rahmen der Datenerhebung aufgenommen wurden. Die Fallauswahl erfolgte daher nach dem Symmetrieprinzip (siehe [4.1.3]): Auch die eigene wissenschaftliche Sozialwelt und die darin hervorgebrachten Praktiken sollten objektiviert werden. Dies half dabei, die im Zentrum stehende Kulturwelt nicht mehr nur als „Abweichung“ zu sehen (Latour 1995, S. 126), sondern vergleichbare Prozesse in der Wissenschaft zu suchen und so auch die Ursachen für Performativität in diesem Feld festzumachen.

Zur eigentlichen Datenerhebung wurden drei Wege gewählt, nämlich eine (1) Materialsammlung, (2) Feldnotizen und (3) Interviews. Bei allen drei Datenarten beziehungsweise den jeweiligen Erhebungsmethoden kamen Techniken zur Anwendung, die stärker einer „Objektivität“ und einer „Subjektivität“ gemäß der teilnehmenden Objektivierung entsprachen (siehe [4.1.5]):

Von Beginn des empirischen Vorgehens an konnte eine Materialsammlung betrieben werden, bei der eine Vielzahl von Beispielen zusammengestellt wurde. Sie dokumentierten die Verwendung von Theorien im Bereich der EEM und darüber hinaus. Das Material umfasste medial vermittelte Formate wie Rezensionen von Musikstücken, Interviews mit Künstler*innen und Pressetexte für Musikveröffentlichungen oder Veranstaltungen. Dieses Material wurde vor allem aufgrund der passiven Teilnahme des Autors in der EEM generiert. Gleichzeitig entstand eine Materialsammlung mit Beispielen, die stärker aufgrund der aktiven Tätigkeit des Autors in der Kulturwelt gesammelt werden konnten. Hierzu gehörten E-Mail-Verläufe, interne Dokumente oder auch viele Beiträge von Akteur*innen in den sogenannten sozialen Medien. Auch dies waren wiederum Beispiele, in denen Akteur*innen auf die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften verwiesen. Die Materialsammlung wurde laufend erweitert und bestand jeweils aus einer kurzen Beschreibung des Beispiels sowie weiteren Ergänzungen (wie etwa einem Bild, einem Weblink usw.). Diese offene und beständige Form der Materialsammlung entsprach eher dem Prinzip der Subjektivität gemäß der teilnehmenden Objektivierung, um offen für eine empirische Variationsbreite zu bleiben. Im weiteren Verlauf der Forschungsarbeit erfolgte das Dokumentieren der Beispiele stärker bewusst und einer Objektivität entsprechend: Die Sammlung wurde ausgerichtet, um die Beispiele aus den anderen beiden Datenerhebungsformen zu ergänzen. Das heißt, dass die oben erwähnten Materialien gesucht wurden, um die Feldnotizen und Interview zu vervollständigen und deren Objektivierung zu unterstützen.

Neben einer Materialsammlung waren teilnehmende Beobachtungen und daraus resultierende Feldnotizen ein weiterer Teil der Datenerhebung. Diese wurden einerseits nach bestimmten Begegnungen mit Akteur*innen erstellt. Anderseits wurden Feldnotizen vor allem nach dem Besuch von verschiedenen Veranstaltungsformaten erstellt. Wiederum im Sinne einer Subjektivität protokollierten die Texte diejenigen Begegnungen und Erfahrungen, welche die eigene Rolle in der Kulturwelt beständig ermöglichte. Gleichzeitig entsprachen die Feldnotizen in einem doppelten Sinne stärker einer Objektivität und einer theoretisch sensibilisierten Datenerhebung: Einerseits wurden in den Feldnotizen nicht nur die Beispiele aufgelistet beziehungsweise dokumentiert, wie dies in der Materialsammlung erfolgte. Vielmehr galt es, die Erfahrungen und Beobachtungen zu kommentieren, konzeptualisieren und theoretisieren (vgl. Corbin und Strauss 2015, S. 134; Knoblauch und Vollmer 2019, S. 611). Andererseits wurden die Feldnotizen im weiteren Verlauf der Forschungsarbeit für bewusst ausgewählte Beobachtungssituationen erstellt und nicht mehr nur aufgrund der eigenen Aktivitäten in der Kulturwelt (und es erfolgten auch teilnehmende Beobachtungen in anderen Kulturwelten). Eine konkrete Auswahl für Veranstaltungen und Kontexte wurde getroffen, um Fragen zu beantworten, die sich aus der fortschreitenden Analyse und dem theoretischen Interesse ergaben.

Die wichtigste Form der Datenerhebung waren die Leitfadeninterviews. Die so geführten Gespräche wurden als „Stätte begriffen […], in der sich die soziale Wirklichkeit des Forschungsthemas selbst ausschnitthaft […] produziert“ (Deppermann 2014, S. 145). Wiederum galt es Techniken umzusetzen, die dem offenen Prinzip der Subjektivität folgen sollten: So wurden die Gespräche insbesondere als Expert*innen-Interviews konzeptualisiert (Bogner et al. 2009). Das heißt, die Personen wurden nicht als Alltagsakteur*innen angesprochen, sondern das Interesse galt einem bereits als abstrahiert angenommenen Wissen dieser Personen (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 133; Helfferich 2019, S. 681). Diese Interviews fanden vor allem zu Beginn des Forschungsprozesses statt, als gleichzeitig noch die theoretischen Grundlagen erarbeitet wurden. Hierbei sollte auch auf das theoretische Wissen der Interviewpartner*innen zurückgegriffen werden, um die eigene Konzeptualisierung weiterzutreiben. In den Leitfadeninterviews, die stärker dem Prinzip der „Objektivität“ folgten, wurde eine Expert*innen-Rolle der befragten Personen wieder stärker in den Hintergrund gerückt. Zu dieser Art der Interviews wurde im Verlauf des Forschungsprozesses mehr und mehr übergegangen. Es wurde spezifischer mit Stimuli gearbeitet und die Gespräche fokussierten auf ausgewählte Aspekte, statt die Rollen der Personen ins Zentrum zu rücken (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 132 f.; vgl. Helfferich 2019, S. 678 f.). Die Interviews wurden dadurch zunehmend als Interaktionsereignis verstanden (vgl. Deppermann 2014): Es standen jeweils konkrete Thematiken, ein bestimmtes Vorgehen oder ein spezielles Objekt im Zentrum des Gesprächs. Dazu gehörten immer auch die Resultate der Kulturproduktion der interviewten Personen, die Referenzen auf theoretische Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften beinhalteten. Aus diesen konkreten Beispielen leiteten sich die weiteren Elemente des Gesprächs ab. Die zweite Variante der Interviews grenzte daher die Offenheit des Gesprächs stärker ein und ein spezifischeres Interesse im Sinne der fortschreitenden theoretischen Sensibilität wurde verfolgt.

Da die Interviewführung besonders relevant war für Datenerhebung, galt es, diese Methoden im besonderen Maße zu reflektieren: Welche Herausforderungen folgen aus dem Forschungsinteresse für dieses Vorgehen (vgl. Schwegler 2021; [4.1])? In einem fundamentalen Sinne kann etwa kritisiert werden, dass der Interviewführung ein zu individualistisches Handlungskonzept zugrunde liegt (vgl. Atkinson 2015, S. 13; Vogel 2019, S. 139): Die Ansichten der Personen, so das eigentliche Versprechen der Interviews, können soziale Prozesse erklären. Insbesondere die strukturalistischen Vorstellungen der hier angestrebten Methodologie (siehe [4.2.1]) verdeutlichen jedoch, dass Erklärungen auch über solche Ansichten hinausgehen müssen. Diesem Ansatz wurde versucht gerecht zu werden, indem eine Kombination der Datenerhebungstechniken umgesetzt wurde. Zudem wurden die Interviews mit spezifischen Metadaten ergänzt: Dort stand neben einem allgemeinen Eindruck oder besonderen Vorkommnissen nochmals die eigene Rolle des Autors im Zentrum. Das Verhältnis zu den interviewten Personen sollte beschrieben werden, und zwar sowohl im Bezug zur Rolle in der untersuchten Kulturwelt als auch zur Rolle als Wissenschaftler. Beide Aspekte wurden als ein „embodiement“ der Situation verstanden (Clarke 2011b, S. 212 ff.) und sollten analysiert werden. Für die konkrete Interviewführung galt es zudem zu konzeptualisieren, wann eine Antwort der Akteur*innen nur in geringem Maße provoziert werden sollte und so die gewonnenen Daten stärker als „vorgefunden“ angesehen werden konnten, und wann stärker Daten zu provozieren waren.

Die Konzeptualisierung des Interviews in Bezug auf eine „Provokation“ von Daten kann folgendermaßen umschrieben werden: Während der Gespräche wurde beispielsweise das grundsätzliche Forschungsinteresse der Arbeit früh offengelegt (indem etwa der Begriff der Performativität kurz erklärt wurde). Dies sollte die Einschätzung der Akteur*innen noch nicht auf etwas Spezifisches hinlenken, sondern allgemeine Vorstellungen von ihnen abholen. Ein daraus resultierendes Sprechen über das Phänomen im Interview wurde auch im Sinne eines gemeinsamen Kodierens verstanden (vgl. Schaefer et al. 2019). Die Akteur*innen sollten auf ihr theoretisches Verständnis zurückgreifen, um Situationen einzuschätzen, zu erklären und Konzepte selbst zu formulieren: Das Interview diente ihnen als „Objektivierungstechnik“ (Lahire 2011a; siehe auch [3.1.5]). Die Theoriekonzepte, mit denen die Akteur*innen während einer solchen Phase der Interviews operierten, wurden aber von ihnen gewählt und eben nicht „provoziert“. Mit dem Einbezug von stärker provozierenden Techniken wurden die Leitfadeninterviews als ein Spiel mit der Expert*innen-Position konzipiert. So galt es, die Interviewpartner*innen zwar weiterhin als Expertinnen zu adressieren, gleichzeitig stand jedoch nicht ausschließlich ihr Expertenwissen im Zentrum. Das bedeutet, dass das Wissen dieser interviewten Personen nicht mehr „losgelöst von der Person“ betrachtet wurde, was bei einem Expert*innen-Interview als ausschlaggebendes Moment gilt (Helfferich 2019, S. 680). Ihre Aussagen sollten dann wiederum stärker in Bezug auf ihre objektiven sozialen Merkmale bezogen werden (und diese Merkmale galt es zu erheben). Ebenfalls sollte die Theoretisierungskompetenz der Akteur*innen „überprüft“ werden. Als konkrete Technik hierfür wurde in den Interviews ein Unwissen betreffend diejenigen theoretischen Konzepte vorgegeben, die im Zentrum der Kulturproduktion der Akteur*innen standen. Dieses Unwissen war insofern „gespielt“, da im Vorfeld eines Gesprächs die in der Kulturproduktion verwendeten Konzepte recherchiert wurden.Footnote 21 Ziel der „Provokation“ war es, dass die interviewten Personen ihr Verständnis eines Theoriekonzeptes genauer erläutern mussten. Ebenfalls eher „provozierend“ war die oben erwähnte Verwendung von Beispielen in den Interviews: Diese wurden vor dem Interview vorbereitet und dann in den Gesprächen gemeinsam besprochen und „kodiert“, um so sehr konkrete Ansichten der Akteur*innen besprechen zu können.

Die eben erläuterten Methoden, die dabei angewandten „subjektiven“ und „objektiven“ Techniken sowie die „Provokationen“ sind eine idealtypische Auflistungen. Im konkreten empirischen Vorgehen ergänzten und vermischten sich die drei Methoden und deren verschiedene Schwerpunkte. So wurden Interviewpartner*innen aufgrund der Beispiele in der Materialsammlung ausgewählt oder die Feldnotizen ergänzten Interviews. Wiederum im Sinne einer Technik wurde daher ein direktes Erheben und ein indirektes Nachvollziehen kombiniert. Es galt, den Materialien nachzugehen, die in den Interviews oder sonstigen Kontexten erwähnten wurden, und diese ebenfalls zu erheben. Gerade die zweite Ordnung der Sozio-Epistemologie (siehe [4.1.1]) verlangte nämlich, dass die Beispiele der Verwendung der Theorien „multimethodisch“ angegangen wurden (im Sinne der Ethnographie; vgl. Knoblauch und Vollmer 2019, S. 599). So wurde nicht nur ein bewusst formuliertes, theoretisch informiertes Wissen der Akteur*innen einbezogen, sondern Performativität in den unmittelbaren, womöglich unbewusst erfolgenden Praktiken und in Objekten nachvollzogen. Während zu Beginn eine konkrete Aussage einer Akteurin ein Beispiel repräsentieren konnte, kamen im weiteren Verlauf mehr und mehr Daten aus anderen Erhebungsmethoden hinzu. All dies bildete dann die Situation um die Akteurin ab und wurde als ein Fall aufgefasst, in dem eine kultur- oder sozialwissenschaftliche Theorie in der Kulturproduktion verwendet wird.

4.3.2 Systematik und Techniken der Datenanalyse

Die diversen Techniken der Datenerhebungen sowie deren Überschneidungen ermöglichten ein konzeptionell abgesichertes Datenkorpus. Das Korpus alleine lieferte allerdings noch keine Anleitung dafür, wie mit den enthaltenen Daten umgegangen werden sollte. Je nach Fall und Erhebungsmethoden enthielten diese Daten Angaben in unterschiedlichem Umfang und Detailgrad zu den Beispielen, wie die Akteur*innen die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Kulturproduktion verwendeten. Trotz dieser Unterschiede galt das Kredo „all is data“ (Glaser 1998, S. 8; Mey und Mruck 2011b, S. 28) und die Daten sollten unabhängig von ihrem Umfang und Detailgrad einbezogen werden können. In groben Zügen konnte das Vorgehen in der Analyse zwar der Grounded Theory und der Situationsanalyse folgen.Footnote 22 Gleichzeitig mussten eigene Systematiken und „Heuristiken“ (vgl. Bethmann 2019a, S. 80 f.) entwickelt werden, um der Sozio-Epistemologie im Detail zu entsprechen. Dieser Entwicklungsprozess erfolgte nun nicht im Anschluss an die Datenerhebung (wie das die Reihenfolge der Abschnitte in diesem Unterkapitel implizieren könnte). Vielmehr wurde an der Entwicklung der Analysetechniken gearbeitet, sobald erste Daten vorlagen. Parallel dazu wurden weiter Interviews geführt, Feldnotizen erstellt und Material gesammelt.

Mit dem ersten Interviewtranskript wurde ein „Close Reading“ und gemeinsames Kodieren durchgeführt, an dem zwei weitere Wissenschaftler*innen beteiligt waren. Dort wurde trotz des weitläufigen, theoretischen Hintergrunds der Arbeit und der Vertrautheit mit der Kulturwelt ein offenes Kodieren angestrebt, das noch nicht auf A-priori-Kategorien beruhte. Darauf folgten Versuche einer Strukturierung und Extrahierung über A-priori-Kategorien und einer daraus resultierenden, theoriegesättigten Beschreibung.Footnote 23 Dem Zweifel gegenüber der eigenen Rolle in der Kulturwelt (siehe [4.3.1]) wurde zu Beginn der Analyse insbesondere über die Situationsmaps begegnet: Die erste Form der Karten wurde trotz der vorhandenen Erfahrung detailliert erstellt, das heißt, dass gegenläufig zu dieser Erfahrung ohne Priorisierung alle auftauchenden Element aufgeführt wurden. Auch zeigten sich im Rahmen der ersten Analyse bereits Kategorien, für die weitere theoretische Konzepte nötig waren. Beispiele hierfür war etwa das Konzept der Grenzziehung (Lamont 1992) oder eine Konzeptualisierung von Wertvorstellungen in der Kulturproduktion (Gerber 2017). Diese neuen Theorien wurden zu den bereits vorher erarbeiteten theoretischen Positionen in Bezug gesetzt ([2 und 3]) und bildeten weitere sensibilisierende Konzepte. Neben solchen vorläufigen Ergebnissen waren die ersten Versuche der Analyse aber vor allem dazu da, mögliche Probleme der Datenanalyse zu entdecken und das eigene Vorgehen weiterzuentwickeln.

Nach den einführenden Analyseschritten konnte eine Systematik für die Fälle im Datenkorpus sowie eine erste grobe Heuristik entwickelt werden. Die gesammelten Beispiele und die damit zusammenhängenden Materialien wurden einerseits zu „materialreichen“ Fällen angeordnet. Im Zentrum eines solchen Falls stand ein Interview mit einer Akteurin oder eine umfassende Feldnotiz.Footnote 24 Diese Grundlage wurde anhand von weiteren Materialien ergänzt: Auf der einen Seite wurden sowohl von Akteur*innen erwähnte als auch bereits in der Materialsammlung vorhandene Elemente hinzugezogen. Diese Elemente waren etwa von den interviewten Personen verfasste Texte, andere Interviews in Medien, Pressetexte für die Kulturprodukte und mehr (vgl. Clarke et al. 2018, S. XXV/165 f.). Auf der anderen Seite wurden für die materialreichen Fälle auch Primär- und Sekundärliteratur zu den theoretischen Konzepten hinzugezogen, welche die Akteur*innen in den Beispielen verwendeten. Die verschiedenen Materialien ergänzten sich sowohl gegenseitig, als dass mit ihnen auch unterschiedliche Schwerpunkte verfolgt wurden (siehe auch unten): Die Literatur schärfte den Blick für die Wertigkeiten in den Theorien, während diese Wertigkeiten insbesondere im zusätzlichen Material analysiert wurden. In den Interviews und den Feldnotizen galt es, die Mechanismen nachzuvollziehen, die mit den Veränderungen der Kulturproduktion im Zusammenhang standen. Zudem boten die Interviews Einblick in die objektiven Merkmale der untersuchten Akteur*innen. Über das gesamte empirische Vorgehen wurden insgesamt 20 materialreichen Fälle analysiert (siehe [Anhang] und [Tab. A1]). Diese wurden ergänzt um insgesamt 71 „materialarme“ Fälle, die vor allem aus Beispielen aus der Materialsammlung oder kürzeren Feldnotizen stammten (siehe [Tab. A2]). Auch hier konnten diverse Elemente zusammengefasst werden, aber dies erfolgte in einer weniger umfassenden Weise. Während anhand der materialreichen Fälle die Konzepte und Kategorien erarbeitet wurden, übernahmen die materialarmen Fälle zwei andere Funktionen: In einem ersten, stärker forschungspraktischen Sinne konnte im fortschreitenden Verlauf der Arbeit die Materialsammlung direkt in die Analyse miteinbezogen werden. Als zweite Funktion überprüften diese Fälle die theoretische Sättigung. Aufgrund dieser Systematik von „materialreich“ (Erarbeitung der Konzepte) und „materialarm“ (Überprüfung der theoretischen Sättigung) beziehen sich die folgenden Erläuterungen der weiteren Analysetechniken auf die ersteren Fälle.

Die weiteren Techniken der Datenanalyse können dahingehend unterschieden werden, ob sie eher auf manifeste oder eher auf latente Sachverhalte in den Daten abzielten. Die manifesten Sachverhalte betrafen vor allem die konkreten Prozesse im Umgang mit den kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien, die von den Akteur*innen angesprochen wurden, beobachtet werden konnten oder sich direkt im Material vorfanden. Hierbei kamen zwei Techniken zum Einsatz: Erstens wurde eine Checkliste herangezogen, nachdem das Kodieren und Mappen eines Falls vorläufig abgeschlossen war. Dieses Vorgehen folgte einer Idee von Howard Becker (2019), anschließend an Latour (2003b). Mit der Checkliste, so Becker, können allgemein „interessante Fragen“ an die „Repräsentation der Gesellschaft“ gestellt werden, wenn diese Repräsentationen die Welt ihrer „Macher*innen“ verlassen und übergehen zu „Nutzer*innen“ (2019, S. 29). Die Idee konnte als eine Heuristik übernommen und auf die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien durch die Kulturproduzent*innen übertragen werden.Footnote 25 Die Checkliste half dabei, die vorläufigen Ergebnisse eines Falls zusammenzufassen und die verschiedenen Fälle in verdichteter Weise zu vergleichen. Sie etablierte daher eine Art epistemologischen Bruch (siehe [4.1.3]) in der Betrachtung der Fälle, indem eine bestimmte Ordnung eingeführt wurde. Die zweite konkrete Analysetechnik versuchte hingegen, stärker der Idee der graduellen Differenz zu entsprechen (siehe [4.1.2]). Hierzu wurden Teile der manifesten Daten „etikettiert“. Das heißt, dass das erhobene Material – in erster Linie Zitate aus den Interviews – nicht nur mit einem Kode, sondern mit einer Etikette versehen wurde (vgl. auch Schaefer et al. 2019).Footnote 26 Die Aussagen der Akteur*innen wurden damit als bereits theoretisch informiertes und kodiertes Wissen markiert. Dies sollte verhindern, dass mit fortschreitender Analyse die graduelle Differenz nicht mehr ernst genommen werden könnte und so ein Wissen gemäß der Sozio-Epistemologie der ersten Ordnung „untergehen“ würde. Zu den etikettierten Aussagen konnte dann regelmäßig zurückgekehrt werden.

Bei der Analyse von eher latenten Sachverhalten wurden ebenfalls zwei Techniken genutzt. Diese sollten stärker die performativen Effekte auf die Kulturproduktion aufzeigen können und so die Kodierprozesse ausrichten. Die erste Technik war eine bestimmte Art der Feinanalyse des Materials, die als ein Gedankenexperiment funktionierte und bei der Überwindung von Wahrnehmungsmuster helfen sollte (Bethmann 2019a, S. 73). Gemäß einer „Sinnhaftigkeitsannahme“ (Bethmann 2019a, S. 76) wurden kleine Analyseeinheiten wie kurze Aussagen der Akteur*innen oder bestimmte Produktionsprozesse als durch Performativität konstruiert aufgefasst: als hätte eine Theorie die Wertigkeit für die Aussage oder den Prozess vorgegeben. Diese Annahme erfolgte unabhängig davon, ob dies wirklich im Material ersichtlich war oder nicht. Sie bezog sich aber immer auf die von der Akteurin oder dem Akteur erwähnte Theorie. Ausgehend von der Annahme wurde dann versucht, das Gegenteil deutlich zu machen: dass die Aussage oder der Produktionsprozess völlig unabhängig von einem theoretischen Konzept sei. Wiederum konnte auch hierbei nicht nur auf manifeste Daten zurückgegriffen werden, sondern es mussten auch latente Aspekte im Rahmen des Gedankenexperimentes angenommen werden. Derselbe Prozess konnte in der umgekehrten Richtung angewendet werden: Eine Analyseeinheit wurde als etwas aufgefasst, das frei von jeglichem Einfluss einer Theorie sei, bevor dann versucht wurde, einen solchen Einfluss herzuleiten. Dabei wurde das Konzept der Performativität in Relation zu anderen sozialen Mechanismen gesetzt (z. B. Distinktion, siehe [3.1.23.1.3]). Dieses gleichzeitige Aufzeigen des Erfolgs und des Scheiterns von Performativität entsprach der Vorstellung einer symmetrischen Erklärung (siehe [4.1.3]).

Mithilfe der zweiten Technik, mit der die latenten Sachverhalte in den Daten analysiert wurden, sollten die performativen Effekte in der Kulturproduktion nachvollzogen werden. Sie repräsentiert eine Ausweisung zur Interpretation, die durch eine bestimmte Form des Vergleichs ermöglicht wird. Hierzu konnte ein Beispiel der Kulturproduktion, bei dem die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaft verwendet wurden, in eine relationale Ordnung überführt werden. Zuerst mussten (a) die Eigenschaften und Ausprägungen eines Beispiels festgelegt werden, also die konkrete Ontologie in den Daten zur Kulturproduktion. Um diese zu bestimmen, wurde ein Modell erstellt, mit dem verschiedene Kulturproduktionen in einheitlicher Weise erfasst und verglichen werden konnten (siehe [5.3.3]). Ein zweiter Aspekt der relationalen Ordnung waren (b) die von einer Theorie vorgegebenen Wertigkeiten (siehe [2.2.4]). Für ein betrachtetes Beispiel galt es daher zu erfassen, welche Wertigkeiten in der verwendeten Theorie auftraten. Dies wurde nicht nur von der analysierenden Position aus bestimmt, sondern es wurden auch die Interpretationen der Akteur*innen beachtet. Der letzte Aspekt der relationalen Ordnung war (c) die Ausprägungen einer Kulturproduktion, die im Feld zu erwarten wären, wenn keine performativen Effekte vorhanden sind. Das heißt, es wurde eine idealtypische Ausprägung der Kulturproduktion im Feld und gemäß dem eigenen Modell formuliert. Diese Formulierung erfolgte anhand von weiteren Daten sowie der Erfahrungen des Autors. Die Abbildung [Abb. 4.6] präsentiert die Ausweisung zur Interpretation schematisch.

Abb. 4.6
figure 6

(Quelle: Eigene Darstellung)

Ausweisung zur Interpretation

War ein Beispiel in diese relationale Ordnung überführt, konnte zuerst das jeweilige Kulturprodukt mit den Wertigkeiten des verwendeten theoretischen Konzeptes abgeglichen werden. Hierbei galt es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Ontologie der Daten und den Inhalten eines theoretischen Konzeptes zu suchen. Dies ermöglicht es herauszuarbeiten, welche Wertigkeiten durch eine Theorie womöglich vorgegeben wurden, die dann tatsächlich in der Kulturproduktion auftraten. Danach wurden diese mit denjenigen Wertigkeiten verglichen, die gemäß einer Feldlogik zu erwarten wären. Dabei zeigt sich, ob tatsächliche Veränderungen stattfanden oder ob die Prozesse in derselben Weise abliefen, die im Feld üblich und zu erwarten wären.Footnote 27 Über die gemeinsame Betrachtung der beiden Vergleiche ließen sich schlussendlich die performativen Effekte sowie deren unterschiedliche Stärken bestimmen. Zudem konnte über die relationale Ordnung imaginiert werden, was für Varianten von Wertigkeiten möglich wären (mit denen die tatsächlich in den Beispielen vorliegende Ausrichtung von Kulturproduktion abgeglichen werden konnten). Die etablierte Interpretationsweise diente der Analyse als eine eigene Phänomenotechnik, die das Material gemäß dem theoretischen Interesse ausrichten und „befremdlich“ machen sollte (vgl. Whiteman und Dudley-Smith 2020, S. 5 f.).

4.3.3 Hinweise zur Aufbereitung der Daten für die Ergebnispräsentation

Die zuletzt eingeführten Techniken der Datenanalyse müssen alle als Ergänzung beziehungsweise als spezifische Ausrichtungen des allgemeinen methodologischen und methodischen Angebots der Grounded Theory und der Situationsanalyse angesehen werden. Das heißt auch, dass Teile der empirischen Arbeit ohne den Rückgriff auf diese Techniken erfolgen konnten. Die „Theorie“ zur Erklärung von Performativität, die aus dem empirischen Vorgehen folgte, wurde mittels der gängigen Kodierschritte und Mapping-Strategien erarbeitet. Trotzdem sollte das letzte Unterkapitel [4.3.2] verdeutlichen, dass im Rahmen von qualitativen Verfahren solche Anpassungen nötig sind und der Verweis auf Kodieren und Mapping ermöglicht alleine kaum eine Nachvollziehbarkeit. Bevor die Ergebnisse der Analyse des empirischen Materials im nächsten Kapitel [5] präsentiert werden, sollen hier noch einige letzte Hinweise für eine Nachvollziehbarkeit gegeben werden. Diese beziehen sich auf die Aufbereitung der erhobenen Daten für die Ergebnispräsentation. Denn dabei konnten zwar gewissen Vorgaben für eine solche Ergebnispräsentation gefolgt werden. Gleichzeitig mussten jedoch eigene Ansätze für die jeweiligen Herausforderungen gefunden werden (vgl. Mruck und Mey 2019, S. 481ff).

Um die erarbeiteten Konzepte beispielhaft vorzustellen sowie nachvollziehbar und verständlich zu machen, werden bei der Ergebnispräsentation immer wieder Ausschnitte aus den Daten verwendet. Dabei wird jeweils angegeben, ob diese aus den Interviews, den Feldnotizen oder aus der Materialsammlung stammen. Dies sollte eigene Einschätzungen etwas erleichtern und womöglich einen gewissen Kontext erahnen lassen. Gleichzeitig sind damit keine tiefgreifenden Implikationen verbunden (bzw. wenn diese verbunden wären, würden sie auch erwähnt). Die beispielhaften Datenausschnitte wurden für die Präsentation sprachlich geglättet, um möglichst den Lesefluss und eine Interpretation nicht zu unterbrechen. Falls angebracht weist der Ausdruck „…“ auf kurzes Zögern der Akteur*innen hin während „[…]“ analog zu der Zitierweise bei Literatur interpretiert werden kann, nämlich: Ein längerer Datenteil fehlt. Im Rahmen einer Feldnotiz wären dann noch weitere Beobachtungen festgehalten worden, aber diese sind nicht für das präsentierte Beispiel relevant. Längere Zitate aus dem Datenmaterial werden wie längere Zitate aus der Literatur abgesetzt, zusätzlich aber über einen Einschub markiert. Nicht erwähnt werden muss, dass alle Daten für die Präsentation ins Deutsche übersetzt wurden (wenn sie nicht schon in dieser Sprache vorlagen). Dabei wird nicht ausgewiesen, welche Daten ursprünglich etwa in Englisch oder im Schweizerdeutschen aufgezeichnet wurden (obschon Letzteres aufgrund von gewissen Formulierungen womöglich nachvollzogen werden kann). Dies ermöglicht einerseits eine gewisse Anonymisierung. Anderseits war die Sprache beziehungsweise damit verbundene Implikationen nicht weiter relevant für die Arbeit und deren Blick auf die Kulturwelten (bzw. wiederum: Eine entsprechende Relevanz würde explizit erwähnt, wenn diese zu beachten wäre).

Neben der sprachlichen Anonymisierung wurden einige weitere Strategien angewandt, damit die präsentierten Daten nicht auf Individuen zurückzuführen sind. Gelegentlich wurden die Angaben zum Geschlecht, bestimmte Genrebezeichnungen oder geografische Hinweise gewechselt. Dies alles erfolgte in einer Weise, bei der grundsätzlich die untersuchten Kulturwelten und insbesondere die hauptsächlich im Zentrum stehende EEM angemessen repräsentiert bleibt. So entspricht das Verhältnis zwischen den Geschlechtern weiterhin demjenigen, dass über die Daten erfasst wurde, ein übliches Genre wurde mit einem anderen üblichen Genre ausgetauscht oder ein Städtename wurde durch einen anderen Ort ersetzt, in dem vergleichbare Veranstaltungen stattfanden. An anderen Stellen werden in der Ergebnispräsentation in Beispielen ein spezifischer Hinweis auf eine Person durch eine generische Markierung ersetzt: „Beyoncé“ würde mit „[Musikerin]“ ersetzt. Über den Schutz der interviewten Personen hinaus hing die Anonymisierung noch mit einem weiteren Gedanken zusammen. Einige Interviewpartner*innen verlangten nämlich keine Anonymisierung und für sie war es üblich, dass ihr Namen in wissenschaftlichen und weiteren Publikationen zu lesen waren. Eine solche explizite Benennung der Feld-Akteur*innen oder auch sonstiger Details des empirischen Materials können aber dazu führen, dass eine Kulturwelt wie die EEM durch die wissenschaftliche Betrachtung positiv valorisiert wird. Diese Problematik wird im Verlauf des Ergebniskapitels sowie im Fazit nochmals genauer erläutert (siehe [5.2.2 und 6.3], vgl. auch Haynes und Nowak 2021). Die entsprechende Erkenntnis führte aber dazu, dass die Wichtigkeit der Anonymisierung für die Ergebnispräsentation nochmals überdacht wurde.

Dennoch soll über den Verlauf der Ergebnispräsentation potenziell nachvollzogen werden können, wann immer dieselbe Akteurin oder derselbe Akteur beschrieben wird. Wenn an unterschiedlichen Stellen des Kapitels immer wieder auf „Beyoncé“ verwiesen wird, sollte dies auch für die Lesenden ersichtlich werden. Hierzu wird ein System angewandt: Die mehrmals auftauchenden Akteur*innen erhielten zweibuchstabige Kürzel. Diese werden vor einem längeren Zitat eingeführt mit „DM:“ und im Fließtext über „(DM)“ ausgewiesen. Mit der Ausnahme des Kürzels „GS“, das den Autor der vorliegenden Arbeit ausweist, sind die Buchstabenkombination zufällig und haben keine Bedeutung oder Funktion abgesehen von einer Unterscheidung. Bei den Kürzeln gilt es lediglich Folgendes zu beachten: Fehlt ein solches nach der Erwähnung einer Person oder vor der Einführung eines längeren Zitats, ist es nicht relevant, dass der entsprechende Akteur identifiziert wird, und er taucht nicht mehr in weiteren Beispielen auf. Dasselbe gilt bei den Kürzeln, bei denen das zweite Zeichen eine Zahl ist: Tauchen also „D1“ und „D2“ auf, so geht es nur darum, dass diese beiden Akteur*innen im entsprechenden Datenbeispiel unterschieden werden können, und sie werden an keiner anderen Stelle im Ergebniskapitel erwähnt. Mit den erläuterten Hinweisen zur Unterscheidung der Akteur*innen sowie zur sprachlichen Bereinigung und Anonymisierung der Daten wurde hoffentlich die Nachvollziehbarkeit des Vorgehens nochmals gefördert und es kann nun zur eigentlichen Ergebnispräsentation übergangen werden.