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In diesem Kapitel wird die grundlegende, theoretische Perspektive der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Zentral ist hierbei das Konzept der Performativität, das als Erstes diskutiert und präsentiert wird [2.1]. Neben einigen Hinweisen zu einem stärker kulturwissenschaftlichen Verständnis wird vor allem die sozialwissenschaftliche Auffassung von Performativität erläutert, wie sie ursprünglich im Kontext der Wirtschaftssoziologie entwickelte wurde (Garcia-Parpet 2022; Callon 1998a). Anhand dieses Konzepts wird die zentrale These eingeführt: Die theoretischen Aussagen einer Wissenschaft werden zu „normativen Blaupausen“ für die Akteur*innen (Diaz-Bone 2017, S. 38) und erhalten eine aktive Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Bereiche für die Mobilisierung und Konstruktion der Wertigkeiten. Die Leistung des Unterkapitels ist die Formulierung eines theoretischen Modells, das verschiedene Effekte von Performativität unterscheiden kann. Dabei werden Überlegungen integriert zum Gelingen beziehungsweise Scheitern von Performativität (Brisset 2019), zur Klassifizierung verschiedener Effektstärken (MacKenzie 2006) und zu Widerständen gegenüber den Prozessen der Performativität (MacKenzie 2006; Desrosières 2015).

Im zweiten Unterkapitel [2.2] werden die aus der Wirtschaftssoziologie stammenden Überlegungen neu ausgerichtet, um die Verwendung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie in der Kulturproduktion analysieren zu können. Hierzu wird zuerst verdeutlicht, welche „Blaupausen“ zur Ausrichtung von Prozessen in diesen theoretischen Konzepten stecken könnten. Anschließend wird die Perspektive der Arbeit auf mehrere Weisen erweitert: Anhand einiger aktueller Gesellschaftsdiagnosen (u. a. Reckwitz 2017; Boltanski und Esquerre 2018) sowie dem Konzept der Valorisierung wird diskutiert, wie die Theorien insbesondere in einem gegenwärtigen Kulturkapitalismus eine Rolle spielen können. Um die Wertigkeiten zu konzeptualisieren, die in den Theorien stecken, wird anschließend das Modell der Qualitätskonventionen aus der sogenannten „Economie des conventions“ (EC) vorgestellt (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a) und mit weiteren theoretischen Überlegungen zur Anwendung von Theorien in der Kulturproduktion ergänzt.Footnote 1 Die so erweiterte Perspektive der Arbeit soll allgemein fassen können, in welchen Zusammenhängen die Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien auftritt.

Das dritte Unterkapitel [2.3] präsentiert dann, wie gesellschaftliche Akteur*innen auf breiter Basis zu den Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften gelangen konnten. Dies wird anhand dreier Achsen diskutiert: (1) die Bildungsexpansion sowie die weiteren, von Universitäten und Fachhochschulen ausgehenden Auswirkungen, (2) die Akademisierung der Ausbildung an Kunsthochschulen und (3) die Relevanz von Theorien im Alltag von Akteur*innen. So soll aufgezeigt werden, dass das untersuchte Phänomen keineswegs eine Randerscheinung ist: Verschiedenste Sphären gegenwärtiger Gesellschaften sind von den Konzepten aus den Kultur- und Sozialwissenschaften durchdrungen und diese stellen eine mögliche Ressource für die Akteur*innen dar. Diese Durchdringung tritt gleichzeitig bei einer Vielzahl weiterer Aspekte auf, die zeigt, dass Trennungen wie etwa diejenige zwischen Wissenschaft und Gesellschaft immer undeutlicher werden.

2.1 Die Perspektive der Performativität

2.1.1 Auffassungen von Performativität

Neben der oben sowie in der Einführung [1.2] bereits kurz erläuterten und in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehenden Konzeptualisierung von Performativität finden sich diverse weitere Verwendungen des Begriffs. Das Konzept und die damit zusammenhängenden Vorstellungen einer Prozesshaftigkeit und Situiertheit von Handlungsvollzügen haben eine interdisziplinäre sowie transdisziplinäre Verbreitung in den Sozialwissenschaften und insbesondere in den Kulturwissenschaften erlebt (vgl. Diaz-Bone und Schwegler 2021, S. 138; Wirth 2002). Die weiteren Verwendungen von Performativität können grob zwei Bereichen zugeordnet werden: dem Konzept der Performanz und den performativen Sozialwissenschaften. Unabhängig von den folgenden Differenzierungen lassen sich sowohl das in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehende Konzept der Performativität als auch die beiden ergänzenden Bereiche auf einen gemeinsamen Nenner bringen: John Austins Beschreibungen der Sprechakte als soziale Handlungen (1972). Seine ursprüngliche Idee kann wie folgt zusammengefasst werden: Gewisse Sprachverwendungen sind mehr als nur Beschreibungen. Es sind performative Äußerungen, bei denen „etwas sagen, etwas tun heißt“ (Austin 1972, S. 35). Die von Akteur*innen in sozialen Situationen getätigten Aussagen sind daher nicht reduzierbar auf den Aussageinhalt einer Beschreibung oder auf den Status sprachlicher Repräsentationen von Gedanken (vgl. Diaz-Bone und Schwegler 2021, S. 139). Über die Vermittlung von Inhalt hinaus erfüllt Sprache diverse weitere soziale Funktionen: Performative Äußerungen versprechen eine Handlung, sie führen etwas aus, sie gestalten und formen ihre Umwelt. Sprache beschreibt die Welt nicht nur, sondern sie bringt bestimmte Weltzustände mit hervor (vgl. Krämer 2004b, S. 14). Bevor das eigentliche Performativitätskonzept im Detail erläutert wird, sollen hier die anderen beiden Bereiche (Performanz sowie die performativen Sozialwissenschaften) kurz eingeführt werden, um die grundlegende Leistung dieser Perspektive zu verdeutlichen.

Der erste und sehr umfangreiche Bereich der ergänzenden Verwendung von Performativität wird hier unter dem Begriff der Performanz zusammengefasst. Die dort formulierten und insbesondere in den Kulturwissenschaften verbreiteten Vorstellungen beschreiben eine Wende weg von Kultur als einem festen „Text“ hin zu einer Betrachtung der Dynamik und Aufführung von Kultur (vgl. Fischer-Lichte 2021, S. 39). Diese Theoretisierung wurde insbesondere in Bezug auf die kulturwissenschaftliche Betrachtung des Theaters und den dort vorzufindenden Inszenierungen von textlichem Material eingeführt (vgl. Carlson 1996, S. 13 f.; Fischer-Lichte 2021, S. 53). Das damit ermöglichte Verständnis kann allerdings auf eine Vielzahl anderer Kulturbereiche übertragen werden (Krämer 2004a) und verweist auf die kulturanthropologische Betrachtung von „Ritualen“ (Fischer-Lichte 2021, S. 17 f.). Dies vermag auf verschiedenste Weise zu verdeutlichen, wie sich Kultur nicht nur in „textlichen“ Artefakten und Zeichenzusammenhängen zeigt, sondern auch in deren „Aufführungen“ (Singer 1958). Es findet sich daher eine eigene Realität im Aufführungscharakter, die sich einer Planung und Kontrolle durch einzelne Subjekte entzieht und viel mehr Aspekte mit einbezieht, als in einem „Text“ vorhanden wären (Fischer-Lichte 2021, S. 89). Eine solche Realität der Performanz kann darüber hinaus sozialwissenschaftlich analysiert werden, indem auf gesellschaftliche Praktiken eingegangen wird, die eine Inszenierung des Sozialen ausweisen. So lassen sich allgemein die auftretenden „Theatralisierungen“ beschreiben, und wie Akteur*innen sich in gesellschaftlichen Teilbereichen in Szene setzen (Goffman 1969; Willems 2009). Die Analyse einer Inszenierung kann zudem helfen, das Zustandekommen und die Wirkung von sozialen Kategorien besser nachvollziehen zu können (West und Zimmermann 1987; Butler 1991, 2010). Das Konzept der Performanz schafft so insgesamt eine Aufmerksamkeit für ontologische Effekte, die nicht nur für die Analyse des Theaters oder anderer Kulturproduktionen Relevanz haben.

Als zweiter Bereich können unter dem Begriff der performativen Sozialwissenschaften (Gergen und Gergen 2012; Jones 2017; Mey 2018) weitere ergänzende Vorstellungen des Konzeptes der Performativität zusammengefasst werden. Hierbei steht weniger die Theoretisierung der Analyseperspektiven im Zentrum, sondern methodologische Überlegungen. Allgemein bezeichnet performative Sozialwissenschaft die Anwendung von künstlerischen Methoden sowie Aufführungs- und Darstellungspraktiken für sozialwissenschaftliche Forschung, wobei diese Anwendung sowohl allgemein als insbesondere auch für die Darstellung und Verbreitung von Ergebnissen diskutiert wird (vgl. Jones 2017, S. 2). Je nach institutioneller Heimat sowie Blick- und Verwendungsrichtung der Kunsttechniken können dabei verschiedenen Formen ausgemacht werden (Mey 2018, S. 2): Bei der „Arts-Informed Research“ werden stärker die Ergebnisse kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung mittels künstlerischer Praktiken aufgeführt, während „Artistic Research“ diese Praktiken nutzt, um Phänomene zu erforschen. „Arts-Based Research“ kann als weitere, in den Sozialwissenschaften beheimatete Position zwischen den beiden genannten Formen verstanden werden (vgl. Mey 2018, S. 2; Schreier 2017). Unabhängig von diesen verschiedenen Formen wird – im Gegensatz zum ersten Bereich – in den performativen Sozialwissenschaften nicht nur die Bedeutung von „Performanz“ für verschiedene Disziplinen herausgehoben. Mit dem Konzept der Performativität wird hier auch auf die Möglichkeit des wechselseitigen „Hineinwirkens“ von verschiedenen gesellschaftlichen Sphären Bezug genommen (Diaz-Bone und Schwegler 2021) und versucht, eine mögliche Entdifferenzierung von Kunst und Wissenschaft für die Analyse zu nutzen.

Die beiden erläuterten Bereiche verdeutlichen je eine grundlegende Leistung von Performativität, die auch für die vorliegende Arbeit anschlussfähig ist. Auf der einen Seite sind dies die ontologischen Effekte von Sprache oder Texten (vgl. Butler 2010, S. 147): Äußerungen formen eine Realität, sodass anschließend die sozial bindenden Konsequenzen zu betrachten sind, die aus der neuen Ontologie folgen. In Hinblick auf die hier angestrebte Erklärung der Verwendung von kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien durch gesellschaftliche Akteur*innen muss daher eine Vielzahl von Effekten beachtet werden. Neben neuen Verständnissen, die Kulturproduzent*innen entwickeln mögen, oder symbolischen Wirkungen, die von einer theoretisch-informierten Kulturproduktion folgen könnten, müssen zudem die Effekte auf die Kulturprodukte erfasst werden. Auf der anderen Seite wird mit einem grundlegenden Verständnis von Performativität einer positivistischen Haltung entgegengewirkt, die ein A-priori-Verständnis einer Beschreibung festlegt (vgl. Butler 2010, S. 147). Die Perspektive vermeidet vorab bestimmte Erklärungskategorien: “[P]erformativity seeks to counter a certain kind of positivism according to which we might begin with already delimited understandings of what gender, the state, and the economy are” (Butler 2010, S. 148). Was beispielsweise Kulturproduktion überhaupt ist und beinhaltet, soll nicht von Anfang an festgeschrieben werden. Vielmehr muss das Ziel einer Analyse sein, aufzuzeigen, was solche Erklärungskategorien für die Akteur*innen bedeuten. Ebenso wie A-priori-Verständnisse abgelehnt werden, sollen gesellschaftliche Sphären nicht als klar voneinander getrennt verstanden werden. Auch eine solche Vorstellung (wie etwa Differenzierung) soll nicht vorausgesetzt, sondern die Bedeutung von einer gesellschaftlichen Sphäre für eine andere hervorgehoben werden. Was Kulturproduktion ist und wie sie sich zeigt, ist abhängig von den theoretischen Beschreibungen in der Wissenschaft.

Als grundsätzliche Perspektive, wie sie über die beiden ergänzenden Bereiche erläutert wurde, verlangt Performativität einen spezifischen Umgang mit dem betrachteten Phänomen. Sie verhindert nämlich, dass die Verwendung der Theorie durch die gesellschaftlichen Akteur*innen über eine Art metaphysischen Sozialkonstruktivismus betrachtet würde (vgl. Kjellberg und Helgesson 2006, S. 841; Hennion 2013, S. 20 f.).

A politician may claim that ‘a new day has arrived’ but that new day only has a chance of arriving if people take up the utterance and endeavor to make that happen. The utterance alone does not bring about the day, and yet it can set into motion a set of actions that can, under certain felicitous circumstances, bring the day around.

(Butler 2010, S. 147 f.)

Performative Effekte werden so nicht als eine Art omnipräsente Magie aufgefasst, die Realität komplett verändert. Vielmehr müssen die verschiedensten Details in den Blick genommen werden. Denn genauso wie die theoretischen Konzepte eine fundamentale Wirkung auf eine Ontologie haben könnten, kann auch die Realität einer Kulturproduktion genau solche Wirkungen verhindern. Und genauso wie es die Vermischung im Hinblick der Wirkung der wissenschaftlichen Sphäre auf die Kulturproduktion zu betrachten gilt, muss eine mögliche umgekehrte Richtung in der Erklärung von performativen Effekten mitbedacht werden. Nach dieser ersten Einführung in ergänzende Vorstellungen von Performativität kann nun das eigentliche Konzept erläutert werden.

2.1.2 Die Performativität von wirtschaftswissenschaftlichen Theorien

Die sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung von Performativität, die in der vorliegenden Arbeit im Zentrum steht, entstammt aus der Wirtschaftssoziologie (Garcia-Parpet 2022; Callon 1998b; MacKenzie 2006; Callon et al. 2007; Cochoy et al. 2010; Boldyrev und Svetlova 2016; Neris Junior et al. 2021; Sparsam 2022). Die dort betrachteten Sprechakte sind die theoretischen Aussagen der Sozialwissenschaften und insbesondere der Wirtschaftswissenschaften.Footnote 2 Dieser Perspektive folgend wird davon ausgegangen, dass die Wirtschaftswissenschaften die Welt der Wirtschaft und eine bestimmte Form von Markt nicht einfach beschreiben, sondern mitformen und geradezu „provozieren“ (Muniesa 2014). Es sind daher die Wirtschaftswissenschaften, welche die wirtschaftlichen Phänomene erschaffen (vgl. MacKenzie und Millo 2003, S. 108). In ihrer radikalsten Ausformulierung besagt das Konzept, dass die Wirtschaftswissenschaften das eigentliche Herz der wirtschaftlichen Aktivitäten sind (vgl. Brisset 2019, S. 2). Die Vorstellung, dass die Wirtschaftswissenschaften eine zentrale Rolle im Prozess der Wirtschaft einnehme, anstatt diese nur zu beschreiben, findet sich auch in anderen Theorietraditionen (vgl. Brisset 2019, S. 3): So diskutiert Karl Marx den Beitrag von klassischen Ökonom*innen als eine eigentliche Kraft für die moderne Industrie (2005 [1844]). Auch Überlegungen zur Vorbildfunktion des Idealtypus „Homo oeconomicus“ (Polanyi 1977) können in Verbindung zu diesem wirtschaftssoziologischen Ansatz gebracht werden.

Für die theoretische Entwicklung der Performativitätsperspektive relevant waren insbesondere vier Entwicklungen (Callon und Roth 2021, S. 221 f.): (1) Im Rahmen eines kognitiven „Turns“ entwickelte sich ein Interesse dafür, wie Entscheidungsfindungsmechanismen von den wirtschaftlichen Akteur*innen nachvollzogen werden könnten (Orléan 2002). Dies führte dazu, dass Psyche und Affekte, Dispositionen und Sozialisation sowie Informationsverarbeitung und Informationszirkulation als Teilaspekte der Entscheidungen analysiert wurden (Callon und Roth 2021, S. 221). (2) Danach wurden auch die weiteren Ausstattungen dieser Akteur*innen hervorgehoben und analysiert, wie diese Ausstattungen zustande kommen: die „Werkzeuge“ in Form von Tabellen, Zahlen und Daten sowie die jeweiligen Umgangsweisen damit. (3) Dies ermöglichte ein Verständnis dafür, dass die zu betrachtenden Akteur*innen, welche Entscheidungen treffen und bestimmte Ausstattungen aufweisen, oftmals auch die Wirtschaftswissenschaftler*innen selbst sein könnten. (4) Nicht zuletzt ist Performativität im Zusammenhang mit der Entwicklung einer allgemeineren theoretische Perspektive zu sehen, die eine „Ökonomisierung“ von Prozessen beschreibt: wie Tätigkeiten, Verhaltensweisen und Sphären oder wie Bereiche als wirtschaftlich etabliert werden (Çalışkan und Callon 2009). Der Begriff der „Performativität“ wird von Michel Callon (1998a) im Anschluss an Marie-France Garcia-Parpet (2022) eingeführt, um den Einfluss von ökonomischer Theorie auf die Wirtschaft neu aufzunehmen.

Callon beginnt in der Einführung des Sammelbandes The Laws of the Markets (1998a) mit der Frage, wie überhaupt die Berechenbarkeit von Preisen sowie die damit möglichen Konflikte von einem Markt gelöst werden können: wie ein Preis für etwas bestimmt wird, was dann auf einem Markt gehandelt werden kann. Die Voraussetzungen, um diesen Preis zu bestimmen – so die Idee von Callon –, sind nämlich nicht a priori durch kognitive Funktionen und auch nicht durch kulturelle Faktoren gegeben. Um Berechenbarkeit zu erreichen und Preise festlegen zu können, ist immer eine bestimmte Voraussetzung im Sinne einer Ausstattung nötig (Callon 1998a, S. 6 f.). Diese Ausstattung entsteht in den Verflechtungen, Verwicklungen und Verknüpfungen des Marktes und dessen Akteur*innen mit und in einer sozialen Umwelt. Die Ausstattungen entstehen durch eine Einbettung (einer „embeddedness“, Callon 1998a, S. 7; Granovetter 1985). In dem spezifischen Verständnis dieser Einbettung geht es allerdings nicht darum, eine Liste von Eigenschaften zu erstellen, die einen typischen Markt und dessen Referenzen umfassen, und so die Ausstattung der Akteur*innen aufzuzeigen. Vielmehr soll die Einbettung als Prozess selbst betrachtet werden, der als Rahmen eine Berechenbarkeit von Preisen ermöglicht (vgl. Kjellberg und Helgesson 2007, S. 141). Erst im aktiven Prozess der Einbettung und den damit entstehenden Verbindungen ergeben sich sowohl die Struktur des Marktes als auch die Handlungen der Akteur*innen. Die „Agency“, also die Fähigkeit, allgemein zu handeln oder spezifisch zu berechnen, wird genauso wie ein*e „Agent*in“ im Prozess der Einbettung vom Markt realisiert.Footnote 3 Die Agentin (und damit ihre Handlungen) und das Netzwerk des Marktes (die Verbindungen, die ihn ausmachen) sind „two sides of the same coin“ (Callon 1998a, S. 8).

Nachdem diese ersten Überlegungen noch unabhängig vom Performativitätsansatz eingeführt wurden, geht Callon dann auf eine bestimmte Ressource ein: wirtschaftswissenschaftliche Theorien. Erst die Mobilisierung dieser Ressource in der Einbettung eines Marktes ermöglicht die Berechnungen von Preisen: „What we shall be looking at […] is that beyond the material, procedural, legal and monetary elements which facilitate the framing and construction of the space of calculability, there is a capital, yet rarely mentioned, element: economic theory itself“ (Callon 1998a, S. 22). Diese Theorien können sehr allgemein aufgefasst werden und alles bezeichnen, was beim Verständnis, der Analyse und der Ausstattung eines Marktes unterstützt (Callon 2005, S. 9). Damit finden sich auch wirtschaftswissenschaftliche Vorstellungen als Ressource, die weiter von der akademischen Disziplin selbst entfernt sein mögen. Gleichzeitig kann aber die Disziplin im engeren Sinne mit ihren direkten Vertreter*innen und deren Modellen zur Einbettung des Marktes beitragen und so die Wirtschaft formen und performen (MacKenzie 2006, S. 16). Die Performativitätsperspektive verdeutlicht damit, wie das spezifisch disziplinäre Wissen der Wirtschaftswissenschaften einen Markt nicht nur beschreibt, sondern Referenzen für seine Teilbereiche oder Eigenheiten liefert – und dadurch den Markt selbst bestimmt.

Zwei Beispielstudien für solche Performativitätsprozesse können hier kurz vorgestellt werden, die an weiteren Stellen der Arbeit wieder auftauchen: Eine erste Konstitution von einem Markt durch einen Wirtschaftswissenschaftler und durch dessen theoretische Konzepte aus der Ökonomie beschreibt Garcia-Parpet (2017). Der Markt, der im Zentrum ihres Interesses liegt, ist ein Erdbeeren-Marktplatz in Fontaines-en-Sologne in Frankreich Anfang der 1980er Jahre. Ein Wirtschaftsberater wurde beauftragt, den Marktplatz als Auktionsort neu zu organisieren. Im Rahmen dieser Neuorganisation bezog sich der Berater auf die „neoklassisch[e] Theorie, die seine Handlungen leiten sollte“ (Garcia-Parpet 2022, S. 58). Er gestaltete den Marktplatz für die Erdbeeren in seiner Funktionsweise, in den Ausstattungen mit technischen Geräten und in der räumlichen Organisation. Damit, so die Idee des Beraters, sollten die „Wettbewerbsmechanismen“ wieder in Gang gebracht werden (ebd.). Der zentrale Aspekt, den Gracia-Parpet verdeutlicht, ist folgender: Die theoretischen Konzepte greifen nicht direkt in das eigentliche Marktgeschehen ein (zum Beispiel in die konkreten Kaufentscheidungen), sondern bestimmen die Realität und Aufrechterhaltung des Marktplatzes, in dessen Rahmen Entscheidungen getroffen werden (vgl. Garcia-Parpet 2022, S. 68 f.). Die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien sind beteiligt an der Bildung eines Rahmens für den Markt, dessen „Framing“, was wiederum bestimmte Entscheidungen und Handlungen ermöglicht oder nicht (vgl. auch Butler 2010, S. 148). Die zweite Beispielstudie von Donald MacKenzie (2006) beschreibt dieses Framing anhand wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte, die aus der Herausbildung und Mathematisierung der Finanzwissenschaften resultierten. Er betrachtet Performativität an der Chicagoer Börse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nimmt dabei Bezug auf verschiedene finanztheoretische Modelle (als die Theorien der Wirtschaftswissenschaften). Hierbei wird nochmals deutlich, wie breit die Konsequenzen aus der Performativität sein können. Gegen Ende der 1980er Jahre haben sich nicht einfach nur Daumenregeln für die Preisbestimmung in komplexe Mathematik gewandelt, so MacKenzie (2006, S.177). „In Chicago, that mathematics was being performed in flesh and blood. The shouting, gesticulating, sweating, jostling bodies in Chicago’s pits were enacting theorems.” (ebd.)

Callons Arbeiten (1998a) und die beiden erläuterten Beispielstudien machen deutlich, dass der Aspekt der „Berechenbarkeit“ sehr allgemein gefasst werden muss. Es geht nicht nur darum, den konkreten Preis eines Gutes zu bestimmen. Vielmehr beinhaltet die Vorstellung von Berechenbarkeit gemäß dem Performativitätsansatz alles, was dann schlussendlich zu einem bestimmten Wert und dessen Beurteilung führt. Ein solcher Prozess startet bei fundamentalen Aspekten der Auswahl sowie Unterscheidung. Ein Urteil über einen Wert und die Berechnung des Wertes werden so als derselbe Aspekt aufgefasst:

Calculation starts by establishing distinctions between things or states of the world, and by imagining and estimating courses of action associated with those things or with those states as well as their consequences. By starting with this type of definition (wide, but usual) of the notion of calculation, we try to avoid the distinction (also conventional, but too sharp) between judgement and calculation. (Callon und Muniesa 2005, S. 1231)

Die Beeinflussung von Märkten durch die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien muss in einem breiten Prozess verortet werden, im Rahmen dessen eine indirekte Form der Vermittlung erfolgt: eine „Übersetzung“ (Latour 1984). Übersetzung ist als ein grundsätzlicher sozialer Prozess anzusehen, in dem etwas – ein Merkmal, eine Regel, ein Produkt, eine Technik oder eine Idee – sich über Zeit und Raum ausbreitet (Kjellberg und Helgesson 2007, S. 843). Dabei wird der ursprünglichen Entität a priori keine Wirkung zugeschrieben. Erst wenn die wirtschaftswissenschaftliche Theorie durch etwas und/oder jemanden aufgenommen wird, beginnt sie die Wirtschaft zu verändern. In Callons Vorstellung (1998a) sind dies die Werkzeuge und Modelle im Rechnungswesen, die Prozesse des Marketings sowie des Managements ganz allgemein: Sie nehmen die Theorien auf, beziehen sie mit ein, übersetzen sie und sind so verantwortlich für die Rahmung eines Marktes. Bei Garcia-Parpet und dem Erdbeermarkt in der Sologne leisten insbesondere der Wirtschaftsberater sowie von ihm überzeugte Händler*innen und anschließend die Anordnung des Auktionsgebäudes selbst diese Übersetzung (Garcia-Parpet 2022, S. 62 ff.). MacKenzie wiederum beschreibt einerseits eine „Kaskade“ von Personen, welche die finanzmathematischen Modelle entwickelten, verbreiteten und auf Märkte übertrugen (2006, S. 243). Andererseits beruhte deren Übersetzungsleistung auch auf technologischen Neuerungen, etwa den höheren Rechenleistungen von Computern und der Verfügbarkeit von Daten (MacKenzie 2006, S. 43/243). Neben dem Funktionieren eines Marktes folgt durch die Übersetzung ein weiterer Effekt: Der geschaffene Markt bedingt die Bestätigung von bisherigen und die Formulierung von neuen Theorien über den Markt (Callon 1998a, S. 27 f.). Es erfolgt eine sich gegenseitig bedingende Ko-Konstruktion: Die Theorien schaffen Werkzeuge, die wiederum einen Markt schaffen, weil sie diesen auf eine bestimme Art und Weise beschreiben, darin Messungen ermöglichen und Berechnungen machen (vgl. Callon 1998a, S. 28). Die durch die Werkzeuge etablierten Beschreibungen fließen dann zurück in die Theorie. Dies kann wiederum dazu führen, dass die übersetzten theoretischen Konzepte weiter angepasst werden (MacKenzie 2006, S. 90).

In der bisher formulierten Weise würden die theoretischen Referenzen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften ebenfalls als Teil eines Rahmens aufgefasst, mit dem Kulturproduktion konstituiert wird. Das Zustandekommen eines Rahmens selbst wird als Teil eines Übersetzungsprozesses betrachtet (siehe auch [3.3.5]): Die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien müssen aufgenommen und dann Schritt für Schritt weitervermittelt und übersetzt werden, bis sie schließlich den Rahmen für eine Kulturproduktion mitkonstruieren. Ohne eine solche Übersetzung erfolgen keine Leistungen durch die theoretischen Konzepte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften, schon gar nicht im Sinne einer Performativität (vgl. Bacevic 2021, S. 12). Die Theorien sind erst dann ein Werkzeug – und wirken performativ –, wenn sie eine „Berechenbarkeit“ innerhalb der Kulturwelt vorstellbar machen, implizieren, mitbestimmen, initiieren oder vorgeben (vgl. Healy 2015, S. 185 f.). Berechenbarkeit ist als allgemeine Vorstellung zu verstehen und dient der Unterscheidung, was gut und was schlecht ist, was angebracht ist und was nicht, was dazu gehört und was nicht. Ist dieser allgemeine Rahmen etabliert, muss die Art und Weise identifiziert werden, wie die theoretischen Konzepte „handeln“ (Bacevic 2021, S. 2). Nach der performativen Wirkung gilt es abschließend auch weitere Feedbackschlaufen zu verdeutlichen, die aufgrund der Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften in der Kulturproduktion erfolgen.

2.1.3 Dimensionen von Performativität

Die bisher präsentierte Perspektive der Performativität beschreibt eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand mit eigenen theoretischen Konzepten nicht nur beschreibt, sondern performt. Die damit implizierten Übersetzungsprozesse verdeutlichen zwei zusammenhängende Merkmale (vgl. Brisset 2019, S. 117): Erstens fokussieren sie auf sozio-technische Entitäten für die Erklärung. Das heißt, dass Performativität die stabilisierten Netzwerke betrachtet, die Menschen, nicht-menschliche Aktanten, Objekte und auch Aussagen gemeinsam in Beziehung setzen (Callon und Latour 1981, S. 284; Brisset 2019, S. 31). Dieser Fokus auf die Verwendung von „Werkzeugen“ und die dadurch veranlassten Handlungen und Beschreibungen schränkt die Perspektive sehr stark auf eher mikro-soziologische Vorgänge ein.Footnote 4 Performativität, in der bisher gemäß Callon (1998a) präsentierten Weise, ignoriert in den Erklärungen teilweise eine bereits vorhandene soziale Umwelt und deren Faktoren (vgl. Brisset 2018, 86 f.). Dieses Ignorieren allgemeiner Makro-Aspekte wie etablierter konventioneller Grundlagen oder Institutionen (Svetlova 2012) ist das zweite Merkmal von Performativität. Konkreter auf die Wirkung von Theorien in der sozialen Welt bezogen muss der Performativitätsansatz dahingehend erweitert werden, dass eine jeweilige Theorie sich nicht nur in spezifische Werkzeuge übersetzen lässt. Darüber hinaus muss geprüft werden, ob theoretische Positionen bereits mit einer konventionellen Grundlage in der sozialen Realität übereinstimmen. Die sozialen Prozesse stimmen dann bereits mit einer Theorie überein, da sich ein gemeinsames Verhalten einer Gruppe an diesen geteilten Vorstellungen ausrichtet (Brisset 2019, S. 77). Das heißt weiter, dass auch Übersetzungsprozesse erfolgen können, die sich nicht ausschließlich auf sozio-technische Einheiten im Sinne der oben beschriebenen Werkzeuge beschränken lassen, sondern sich vielmehr auf allgemeinere Vorstellungen beziehen können.

Aus den beiden Merkmalen folgt nicht zuletzt eines der zentralsten Probleme des Performativitätsansatzes: Die bisher erläuterte Perspektive kann kaum ein Nicht-Funktionieren und Scheitern von Theorien in einem performativen Sinne erklären (Brisset 2019; vgl. Butler 2010; Miller 2005). Zwar verdeutlicht unter anderem auch Callon, dass bestimmte Kriterien oder Arrangements vorhanden sein müssen, damit performative Effekte einer Theorie auftreten können beziehungsweise Performativität gelingen kann (2007). Trotzdem taucht gescheiterte Performativität, also dass eine Theorie keinen Beitrag zur Konstruktion einer sozialen Realität leistet, oft gar nicht erst im Blickwinkel der Perspektive auf. Deswegen gilt es nun, die Grundlagen für den performativen „Erfolg“ einer Theorie zu beschreiben. Hierzu wird auf eine Konzeptualisierung von Nicolas Brisset Bezug genommen (2019). Tritt eine Grundlage nicht auf, so sollten sich auch keine performativen Effekte eines theoretischen Konzeptes zeigen (vgl. Brisset 2019, S. 151 f.). Brisset folgt mit seinem Ansatz zudem Austins ursprünglicher Formulierung von Performativität (Austin 1972), welche bereits Bedingungen für ein Gelingen von Sprechakten definierte (vgl. Brisset 2019, S. 153). Nach der Erläuterung dieser ersten, grundlegenden Dimension von Performativität können im Rahmen einer zweiten Dimension unterschiedliche Effektstärken von Performativität konzeptualisiert und als dritte Dimension die Möglichkeit einer Gegenperformativität eingeführt werden.

Bedingungen des Erfolgs von Performativität

Brisset folgend müssen drei Bedingungen vorhanden sein, damit die Wirkung einer Theorie überhaupt auftreten kann (2018, 147 ff.). Für Performativität muss erstens eine „empirische“ Bedingung durch das theoretische Konzept erfüllt sein. Das bedeutet, dass sich für die Akteur*innen ein „anderes Verhalten“ aufgrund des theoretischen Konzepts überhaupt ergeben können muss. Die Theorie muss also ein nicht-äquivalentes Phänomen bestimmen können: “A theoretical element can only be performed, to the extent that it provides a point of reference for social agents […]” (Brisset 2019, S. 153). Das theoretische Konzept muss im Sinne eines Referenzpunktes oder Vergleichshorizonts eine Alternative generieren für die Aktivitäten der Akteur*innen. Sie müssen erkennen, dass in der Theorie etwas steckt, dass eine alternative Möglichkeit für die eigene soziale Realität bietet. Ohne diese empirische Bedingung sehen die Akteur*innen keine Relevanz in einem theoretischen Konzept und damit auch keinen Grund, dieses für irgendwelche Prozesse heranzuziehen, die eine Berechenbarkeit ermöglichen würden: „Without this, [GS: die Theorie] will not only be of no use to the actor, but the actor will not be able to understand it.“ (Brisset 2019, S. 147).

Um performativ wirken zu können, muss eine Theorie als zweite Bedingung im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung wirken können (Brisset 2019, S. 149 f.). Diese Vorstellung Brissets nimmt das ursprüngliche Konzept zur Selbsterfüllung von Robert Merton (1948) dahingehend auf, dass eine Vorhersage über die Zukunft von vielen Personen geteilt wird und dass alle an deren Wahrheit „glauben“ (was dann dazu führt, dass die zuerst falsche Definition einer Situation wahr wird). Anstelle der Vorhersage wird hier aber auf die Theorie verwiesen: Auch diese muss von vielen (oder zumindest von denen für einen Prozess zentralen) Personen geteilt werden, um eine Wirkung in der sozialen Realität zu entfalten. Diese Grundlage der „Prophezeiung“ kann auch dann weiterhin funktionieren, wenn Dissonanzen zwischen den geteilten theoretischen Vorstellungen der Akteur*innen und einer empirischen Realität vorhanden sind (d. h., die „Prophezeiung“ sich nicht erfüllt hat). Allerdings muss in einem solchen Fall ein Weg gefunden werden, um die Unterschiede zu ignorieren: „In order to understand performativity, one is required to grasp either the way in which theory serves as an effective reference for agents or what it is that masks the dissonance between social beliefs and social phenomena“ (Brisset 2018, 153). In jedem Fall müssen aber verschiedene Akteur*innen die theoretische Vorstellung teilen, bevor die Theorie in der Kulturproduktion performativ wirken kann.

Die dritte Bedingung für den Erfolg von Performativität ist eine sogenannte externe Kondition. Brisset verweist damit auf die Tatsache, dass ein theoretisches Konzept eine Kohärenz mit der jeweils vorhandenen, kulturellen Vorstellung aufweisen muss: „[A]gents must have good reason to believe that the theoretical world coincides with the real world“ (Brisset 2019, S. 147). Mit der realen Welt sind die Vorstellungen, Qualitätskriterien und -kategorien sowie daraus entstandene Handlungsroutinen gemeint, die von Akteur*innen verfolgt werden. Diese Ausprägungen müssen dann teilweise auch in der theoretischen Konzeption in ähnlicher Weise gedacht werden. Oder umgekehrt formuliert: Die Theorie muss so übersetzt werden, dass ihre Konzeptualisierungen von den Akteur*innen als mit den Ausprägungen einer Welt übereinstimmend empfunden werden. Erst eine Kohärenz zwischen dem Konzept und dem kulturellen Kontext, wie er von einer Akteurin aufgefasst wird, ermöglicht die Grundlage für Performativität und ergänzt die anderen beiden Bedingungen (Brisset 2019, S. 179).

Effektstärken von Performativität

Findet eine Performativität in dem Sinne statt, dass eine theoretische Referenz die soziale Realität (mit-)formt und (ko-)konstruiert, können nochmals verschiedene Effektstärken erfasst werden (vgl. MacKenzie 2006, S. 16 ff.). Der erste und schwächste Effekt kann MacKenzie folgend als „generisch“ bezeichnet werden (2006, S. 16). Hierbei werden die theoretischen Konzepte durch gesellschaftliche Akteur*innen verwendet, ohne dass dabei bereits ein eigentlicher Effekt aufgrund der Verwendung dieser Konzepte zu fassen ist. Das heißt, die Theorien tauchen lediglich als Referenz auf, ohne dass damit weitere Prozesse geändert werden. Trotz der Abwesenheit eines (unmittelbar feststellbaren) Effektes eines theoretischen Konzeptes kann die Theorie in der sozialen Realität auftauchen – und ein solches Auftauchen sollte nicht per se ignoriert werden. Dies insbesondere aufgrund der Tatsache, dass ein Nachzeichnen von konkreten Effekten oder Effektstärken gemäß MacKenzie keine einfache analytische Aufgabe ist: „What is […] more complicated empirically, is to determine what effect, if any, the use of economics has on the economic process in question. The presence of [a generic] effect is what is required for a stronger meaning of ‘performativity’: the subset of generic performativity that one might call ‘effective performativity’“. (MacKenzie 2006, S. 18).

Die im Zitat erwähnte zweite und stärkere Form von „effektiver“ Performativität kann festgestellt werden, wenn ein konkreter Effekt in der sozialen Realität auftritt: „[T]he use must make a difference“ (MacKenzie 2006, S. 18, Hervorhebung i. O.). Die Prozesse werden dabei an die Vorgaben eines theoretischen Konzeptes angepasst. Die Ko-Konstruktion der Realität ist bei dieser Effektstärke von Performativität allerdings nicht exklusiv auf eine theoretische Konzeption zurückzuführen. Sie wird von Vorstellungen und Ideen ergänzt, die in der jeweiligen sozialen Welt oder in weiteren Zusammenhängen vorhanden sind (vgl. Kjellberg und Helgesson 2006, S. 485). Hinsichtlich dieser Form der effektiven Performativität stellen sich zwei Fragen: Erstens muss geklärt werden, welche Teile der sozialen Realität anders aussehen würden, hätte die sozialwissenschaftliche Theorie keine Rolle gespielt, und welche Bereiche eines Prozesses oder Objektes von welchem theoretischen Aspekt beeinflusst werden. Zweitens gilt es, die Auswahl der verschiedenen konzeptionellen Grundlagen im Vergleich zu betrachten, also die Theorien im Vergleich zu den weiteren Vorstellungen: Deren Kombination kann sowohl in einem kohärenten Sinne funktionieren, als dass sie auch konkurrieren können und daher mit verschiedenen Techniken „vermittelt“ werden müssen (vgl. Kjellberg und Helgesson 2006, S. 849 ff.).

Nochmals weitreichender und damit als stärkster Effekt aufzufassen ist die Vorstellung einer „barnesischen“ Performativität (MacKenzie 2006, S. 19).Footnote 5 Den Begriff führt MacKenzie mit Bezug auf den schottischen Soziologen Barry Barnes und dessen Theorie der selbstvalidierenden Feedbackloops des Sozialen ein (Barnes 1983; vgl. MacKenzie 2006, S. 19). Als Effektstärke der Performativität impliziert diese Vorstellung, dass verschiedenste soziale Prozesse gemäß einer theoretischen Beschreibung ausgerichtet werden. Daher besteht ein exklusiver und besonders starker Link, der ein theoretisches Konzept und die soziale Realität verknüpft. Dies führt dazu, dass alle (bzw. die meisten) Bereiche der sozialen Realität von der Theorie beeinflusst und mitkonstruiert sind. Als Resultat gleicht diese soziale Realität mehr und mehr den Beschreibungen eines theoretischen Konzeptes: “In these cases [of ‘Barnesian’ performativity], the very use of a certain theory so profoundly affects the workings of the market that the theory becomes inseparable from the subject matter it once was devised to describe” (Kjellberg und Helgesson 2006, S. 845). Diese besonders starke Form von Performativität und eine daraus resultierende, weitreichende Erklärungslogik des Konzepts sei aber nicht nur empirisch eher unwahrscheinlich, so Hans Kjellberg und Claes-Fredrik Helgesson (2006, S. 852; vgl. Healy 2015, S. 187). Gemäß MacKenzie repräsentiert sie zudem auch etwas, was empirisch nur sehr schwierig festzustellen ist, da eine Vorher-Nachher-Situation bei einem solch starken Effekt kaum nachvollzogen werden könne (2006, S. 21).

Gegenperformativität

Neben den Grundlagen von Performativität, die deren Scheitern grundsätzlich aufzeigen können, sowie den verschiedenen Graden von performativen Effekten lässt sich eine weitere Dimension unterscheiden: Gegenperformativität (MacKenzie 2006, S. 19). Das Konzept beschreibt die Wirkung einer Theorie in dem Sinne, dass trotz einer breiten Adaption des Konzepts die Voraussetzungen für dessen empirische Validität von den Akteur*innen untergraben wird (MacKenzie 2004, S. 306). Das heißt, dass bewusst auf einen Aspekt eines theoretischen Konzepts Bezug genommen wird, um dann einen sozialen Prozess so zu gestalten, dass er eben genau nicht den im Konzept beschriebenen Vorstellungen entspricht. Akteur*innen „wehren“ sich dabei mit dem Wissen um die Konzepte gegen die theoretischen Beschreibungen (und Methoden, vgl. Diaz-Bone 2011b).Footnote 6 Die Aspekte einer Produktionsweise würden dann aufgrund eines Wissens um Theorie versucht in einer gegensätzlichen Weise auszurichten. Auch hier wird die soziale Realität durch eine theoretische Beschreibung aus der Wissenschaft mitkonstruiert – allerdings im Sinne einer zu vermeidenden Blaupause.

Alain Desrosières versucht in vergleichbarer Weise mit dem Begriff der „Retroaktion“ solche gegenläufigen Reaktionen auf wissenschaftliche Prozesse zu umschreiben (Desrosières 2015, vgl. Desrosières 2014; Mouhanna 2011). Der von ihm eingeführte Begriff kann zwar der Diskussion rund um Performativität zugeschrieben werden (Desrosières 2015, S. 347 f.). Gleichzeitig richtet Desrosières sich nochmals stärker gegen ein „Neutralitätsverständnis“ als Ethos von Statistiker*innen (2015, S. 331; vgl. Mouhanna 2011, S. 18). Retroaktion beschreibt die rückwirkenden Effekte von statistischen Konzepten und Messindikatoren in dem Sinne, dass die betroffenen, „vermessenen“ Personen auf die Statistiken reagieren (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 338/Fußnote 445). Solche Rückwirkungen treten insbesondere dann zutage, wenn die erhoben Zahlen der Statistik im Sinne einer Gouvernementalität (Foucault 2004a, b) zur Koordination und Steuerung verwendet werden. Der Begriff kann nun weiter eingeführt und dessen Konzeptualisierung genutzt werden, um Gegenperformativität genauer zu fassen. Denn obschon sich die von Desrosières anhand der Retroaktion beschriebenen Effekte hauptsächlich auf die Wirkung von statistischen Kategorien beziehen, sollen sie zur Konzeptualisierung von Performativität verwendet werden. Dies systematisiert nochmals stärker als MacKenzies Beschreibungen (2006) die Idee einer Gegenperformativität.

Die Ausgangslage für die Retroaktion schafft Desrosières über eine Begriffsunterscheidung zwischen Quantifizieren und Messen:

It is vital to distinguish two ideas that are often confused, that of quantification, and that of measurement. The verb to „quantify“ is used here broadly as a neutral term: to convert into numerical existence what was previously expressed in words and not in numbers […]. On the other hand, the idea of measurement inspired from the natural sciences, implies that something exists already in a form that is physically measurable. (Desrosières 2015, S. 333)

Daraus folgt, dass die Messbarmachung im Sinne der Quantifizierung keineswegs eindeutig ist, sondern eine soziale und kognitive Dimension beinhaltet. Der allgemeinen Performativitätsperspektive folgend (siehe oben) führt eine solche Quantifizierung immer auch zur Transformation und Re-Konstitution der Welt (Desrosières 2015, S. 333). Retroaktion betont dann, dass die Akteur*innen auf verschiedenste Arten und Weisen auf eine solche Weltkonstitution reagieren können. Denn Quantifizierung ermöglicht nur eine uneindeutige Erfassung der Welt mittels der Indikatoren sowie Kategorien (Desrosières 2015, S. 341 f.). Es sind immer andere Varianten der Messung und andere Verwendungen der gemachten Messungen denkbar. Deshalb können sich die Akteur*innen einer Quantifizierung ihrer Tätigkeit widersetzen. Diese erste Form einer Retroaktion entspricht MacKenzies Idee der Gegenperformativität (2006, S. 19): Es sind Rückwirkungen, bei denen der Verwendung quantifizierender Indikatoren grundsätzlich kritisch gegenübergestanden und die Messung abgelehnt wird. Als Folge können die Akteur*innen versuchen, sich generell gegen eine Messung zu wehren und diese zu verhindern. Desrosières führt aber noch weitere Spezifizierungen ein. Diese zeigen sich dann, wenn der Vorgang der Quantifizierung zuerst grundsätzlich angenommen wird, bevor weitere gegensätzliche Reaktionen erfolgen (Desrosières 2015, S. 348 ff.). Auf der einen Seite können andere Indikatoren zur Messung verlangt werden. Auf der anderen Seite können die Akteur*innen die vorhandenen Indikatoren anders interpretieren. Die drei Retroaktionen systematisieren Gegenperformativität: (1) Bei der ersten Form der Retroaktion richten Akteur*innen ihre Kulturproduktion so aus, dass sie einem theoretischen Konzept „entgegenlaufen“. (2) Dann können Akteur*innen auch ein anderes theoretisches Konzept verlangen und passen deshalb ihre Kulturproduktion bewusst nicht an. (3) Zuletzt können die Akteur*innen eine Theorie anders interpretieren und deshalb ihre Kulturproduktion auf eine Weise ausrichten, die der üblichen Interpretation einer theoretischen Beschreibung entgegenläuft.

2.1.4 Schlussfolgerung: Ein theoretisches Modell für performative Effekte

Die bisherigen Erläuterungen allgemein sowie insbesondere der letzte Abschnitt [2.1.3] ermöglichen es nun, ein detailliertes Modell von Performativität zu erstellen. Dessen Grundlagen wurden zwar hauptsächlich in Bezug auf wirtschaftssoziologische Überlegungen einführt. Nichtsdestotrotz soll das Modell im Rahmen der empirischen Untersuchung in der Kulturproduktion angewendet und dessen Aspekte anschließend präzisiert werden. Die Abbildung [Abb. 2.1] versammelt die Konzeptualisierungen von Brisset (2019), MacKenzie (2006; und indirekt auch Kjellberg und Helgesson 2006) sowie Desrosières (2015), um sie zu integrieren und zusammenzufassen. Im linken Bereich der Abbildung finden sich dabei die eigentlichen performativen Effekte: die verschiedenen Grade, mit denen ein theoretisches Konzept die soziale Realität beeinflussen kann. Im rechten Bereich sind die Gegenperformativität und Retroaktionen aufgelistet. Diese fassen die Wirkungen einer Theorie auf die soziale Realität zusammen, bei denen die Übereinstimmung mit den vorhandenen Beschreibungen nicht vorliegt. Diese beiden Varianten von Performativitäten und Gegenperformativitäten stehen vor dem grauen Hintergrund der „gescheiterten“ und nicht in der sozialen Realität wirkenden Theorien.

Abb. 2.1
figure 1

Theoretisches Modell der performativen Effekte (Quelle: Eigene Darstellung)

2.2 Theorien im Prozess der Valorisierung

2.2.1 „Berechenbarkeit“ in kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien

Nachdem zuletzt die theoretische Perspektive der Performativität eingeführt sowie ein entsprechendes Modell abgeleitet wurde, gilt es nun, den Fokus auf die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien zu legen und darzustellen, wie diese performativ wirken könnten. Dieser Abschnitt klärt hierzu allgemein, wie diese theoretischen Konzepte eine „Berechenbarkeit“ etablieren können, um eine Analogie mit den performativen Effekten von wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu nutzen. Die „Berechenbarkeit“, die der Abschnitt einführt, muss wiederum in einem sehr weiten sowie fundamentalen Sinn verstanden werden. Im folgenden Abschnitt [2.2.2] wird geklärt, für welchen „Markt“ die Theorien eine Berechenbarkeit liefern können (um die Analogie mit der wirtschaftssoziologischen Performativität beizubehalten). Die hier vorgebrachten Argumente erfolgen dabei immer mit Bezug auf Resultate der Kulturproduktion: Die Möglichkeiten ihrer „Berechenbarkeit“ mittels kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien und die mit der Kulturproduktion zusammenhängenden „Märkte“ sollen anhand der theoretischen Überlegungen dieser Arbeit konzeptualisiert werden.

Im Zentrum von Kulturproduktion stehen Prozesse der Ästhetisierung: des Kreierens von etwas „Schönem“, anstelle einer funktionalen Gestaltung. Die Praktiken, die eine Ästhetisierung ermöglichen, „[…] und die Verheißungen wie Dilemmata, mit denen sie sich verknüpfen, sind kein isoliertes Phänomen unserer unmittelbaren Gegenwart, sondern von den Sozial- und Kulturwissenschaften das gesamte letzte Jahrhundert hindurch in verstreuten Kontexten thematisiert worden“ (Reckwitz et al. 2015, S. 9 f.). Das Zitat stammt aus dem Sammelband Ästhetik und Gesellschaft (Reckwitz, Prinz, und Schäfer 2015a), der diverse Grundlagentexte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften in Hinblick auf Fragen der Ästhetik und damit der Kulturproduktion präsentiert. Die versammelten theoretischen Thematisierungen von Ästhetik sollen „Referenzpunkte“ (Reckwitz et al. 2015b, S. 10) für eine kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung zur Ästhetik bieten. Eine solche erste Funktion der Texte ist unbestritten. Allerdings ist dies nur eine der möglichen Verwendungen der Ansätze. Denn die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften liefern nicht nur Konzepte von Ästhetik, die anschließend im Zentrum von Forschungen stehen. Die Beschreibungen können weiter auch außerhalb der Wissenschaft und in den Produktionsfeldern bewusst herangezogen werden, um sinnliche Wahrnehmung auf eine bestimmte Art und Weise auszurichten. Dies kann eine zweite Funktion der Texte sein: Die theoretischen Konzepte bestimmen dann (mit), welche Formen und Farben, Kompositionen und Klänge oder Inhalte und Erzählungen wie ausgewählt, angewendet oder angeordnet werden. Oder anders formuliert: Die kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepte ermöglichen die Berechenbarkeit der ästhetischen Praktiken. Das entspricht der performativen Wirkung von Konzepten.

Dies kann im Folgenden nun problematisiert werden, zuerst kurz mit zwei allgemeineren Hinweisen, bevor zwei zentrale Punkte zu den Fragen der Ästhetik vorgebracht werden. Grundsätzlich kann erstens festgehalten werden, dass eine performative Verwendung von Theorien unabhängig von der Intention einer Wissenschaftlerin erfolgen kann. So verweist Niklas Luhmann in Kunst der Gesellschaft darauf, dass es sich bei seinen Ausführungen „nicht um eine hilfreiche Theorie“ für das „Kunstsystem“ handle (2007, S. 9). Trotzdem tauchten Verweise auf den Soziologen im empirischen Material der vorliegenden Arbeit auf und seine Theorie wirkte performativ (siehe [5.2.5]). Der zweite allgemeine Hinweis ist folgender: Oftmals wirken diejenigen theoretischen Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften performativ, die mehr oder weniger direkt auf ästhetische Praktiken verweisen. Ein solcher Bezug zu Ästhetik ist allerdings keine Voraussetzung: Eines derjenigen Konzepte, das besonders präsent war in den verschiedensten Fällen (siehe [5.4.4]), enthält keine wirklichen Hinweise zu ästhetischen Praktiken, nämlich Michel Foucaults Erläuterungen zum Panoptismus (1976). Die Theorien können also durchaus performativ wirken, selbst wenn sie keinen direkten Bezug zur Ästhetik aufweisen. Andere kultur- und sozialwissenschaftliche Konzepte tauchten wiederum nicht in den untersuchten Kulturwelten auf, obwohl sie einen Bezug zu ästhetischen Praktiken aufweisen, etwa Georg Simmels Soziologische Ästhetik (2009). Der direkte Bezug scheint daher weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für Performativität zu sein.

Nach diesen beiden allgemeinen Hinweisen kann nun mit den folgenden zwei Punkten spezifischer auf das Verhältnis der Kultur- und Sozialwissenschaften zur Ästhetik eingegangen werden: Die erste Problematisierung der performativen Verwendung der Theorien lässt sich anhand der Unterscheidung von Ästhetik und Ästhetisierung erläutern. Diese Differenz mag nicht immer trennscharf sein, verdeutlicht aber nochmals die Perspektive der vorliegenden Arbeit. Es findet sich nämlich auf der einen Seite ein Diskurs um Ästhetik selbst, in dem – etwas vereinfacht dargestellt – die Art und Weise beschrieben wird, wie ein ästhetisches Urteil zu fällen ist. Der zentrale Punkt hierbei ist, dass bereits in den Konzepten eine Aufforderung zu einer Ausprägung von Ästhetik enthalten ist. Die Theorien der Ästhetik beschreiben, wie Formen verwendet werden können, eine Komposition angegangen werden soll, oder ganz allgemein, welche Inhalte es auszuwählen gilt. Der Diskurs dieser Theorien der Ästhetik kann insbesondere der Kunstgeschichte oder auch den Musikwissenschaften zugeschrieben werden (siehe für eine detaillierte Betrachtung [2.3.2]). Er beinhaltet (implizite) Aufforderungen zur Ausgestaltung einer ästhetischen Praktik. Mit Theorien der Ästhetisierung wiederum, die eher dem Vorgehen der Sozial- und Kulturwissenschaften entsprechen, gilt es, die „Prozesse der Ästhetisierung in den Blick nehmen zu können“ (Reckwitz 2015, S. 21, eigene Hervorhebung). Anstelle einer Aufforderung gibt sich der Diskurs dieser Konzepte daher deskriptiv gegenüber den ästhetischen Praktiken (bzw. die Aufforderung würde einer Forschungsperspektive gelten): Die Theorien der Ästhetisierung beschreiben konkrete, empirisch vorhandene ästhetische Praktiken als Teil des Sozialen. Im Zentrum stehen die sozialen Gesetzmäßigkeiten im Zusammenhang mit einer Ästhetik, etwa die „Steuerung“ von Produktion und Distribution (Engel 2006, S. 232 ff.). Die eigenen „Wirkungen“ dieser Theorien auf eine Ästhetik (im Sinne einer Aufforderung) ist nicht vorgesehen. Trotzdem haben diese Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften, die vorhandene soziale Tatsachen nur beschreiben sollten, einen performativen Effekt auf Ästhetik.

Über eine solche Problematisierung wird zweitens die Rolle der Disziplinen vor dem Hintergrund einer Ästhetisierung moderner Gesellschaften nochmals neu gedacht. Grundsätzlich haben insbesondere die soziologischen Forschungsansätze lange einen Fokus auf Rationalisierung gesetzt: Im Zentrum der Moderne wurde ein Strukturzusammenhang der formalen und rationalen Versachlichung verortet. Dies führte dazu, dass in den Beschreibungen der gesellschaftlichen Entwicklungen ästhetische Praktiken marginalisiert wurden (vgl. Wagner 1995; Gephart 1998; siehe auch Beck 1986, S. 25). Der „Bias zugunsten einer Entästhetisierung“ (Reckwitz 2015, S. 15) scheint allerdings mehr und mehr zu verschwinden und eine Diskussion um Ästhetisierung wird in der Beschreibung von gegenwärtigen Entwicklungen zentral (vgl. Schäfer 2018, S. 193). Diese neue Diskussion diagnostiziert, dass „die moderne Gesellschaft […] in zunehmendem Maße ästhetische Praktiken fördert, dass diese sich in verschiedenste soziale Felder und Lebensformen hinein ausdehnen und intensivieren“ (Reckwitz 2015, S. 4). Ästhetiken und damit zusammenhängende Prozesse werden zu einer immer zentraleren Komponente für die Beschreibung der Funktionsweisen moderner Gesellschaften, dem Sozialen und für Formen der Kritik (vgl. Reckwitz 2015, S. 20). Die performative Verwendung der Theorie weist dann darauf hin, dass kultur- und sozialwissenschaftliches Wissen diese (neue) Relevanz des Ästhetischen nicht nur beschreibt und erklärt, sondern auch in die ästhetischen Praktiken eingreift, d. h. diese womöglich fördert und formt. Damit findet sich eine vergleichbare „Steuerung“ oder eben „Berechenbarkeit“ der Gesellschaft durch die Kultur- und Sozialwissenschaften im Bereich der Ästhetik, wie diese auch für die Rationalisierung festgestellt wurde (Lazarsfeld et al. 1975; Lau und Beck 1989). Im Folgenden gilt es deshalb kurz zu erläutern, wie sich diese gegenwärtige Relevanz des Ästhetischen in Gesellschaften zeigt.

2.2.2 Wertzuschreibung im Kulturkapitalismus

Nach den Hinweisen zur „Berechenbarkeit“ im letzten Abschnitt wird hier nun ein „Markt“ vorgestellt, für den die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien eine performative Wirkung entfalten könnten. Hierzu sollen einige Überlegungen aus aktuellen Gesellschaftsdiagnosen herangezogen und dabei auf einen bestimmten Prozess fokussiert werden. Den weiteren Rahmen bietet Andreas Reckwitzs Arbeit Die Gesellschaft der Singularitäten (2017). Innerhalb der im Buch gemachten Diagnose soll auf Valorisierung eingegangen werden. Dieser spezifische Aspekt sowie die damit ermöglichte Beschreibung von Prozessen wird von diversen anderen Autor*innen eingeführt und verwendet, sowohl Reckwitz’ Überlegungen vorausgehend (Karpik 2011; Eymard-Duvernay 2012) als auch in anderen Zusammenhängen (Boltanski und Thévenot 2007; Cefaï et al. 2015; Peetz et al. 2016; Berli et al. 2021). Valorisierung fokussiert allgemein auf die Art und Weise, wie Akteur*innen ihrem Handeln, den getätigten Transaktionen oder den nötigen Koordinationen mit Dingen und Menschen einen Sinn geben (Cefaï et al. 2015, S. 2). Aus diesem zugeschriebenen Sinn folgt immer ein Status des „Wertvollen“ (Reckwitz 2017, S. 66) oder ein spezifischer „Wert“. Letzteren Begriff gilt es wiederum in einem sehr umfassenden Sinne zu verstehen, wie zuvor bereits die „Berechenbarkeit“ von Preis. Valorisierung kann Prozesse der Wertbestimmung in der Ökonomie (Beckert und Aspers 2011) als auch in der Kulturproduktion verdeutlichen (Antal et al. 2015). Über die Betrachtung dieser Prozesse werden dabei immer auch Bedeutungskontexte hervorgehoben, die einen bestimmten Wert schaffen und erlebbar machen. Die hier präsentierten Gesellschaftsdiagnosen bieten die Möglichkeit, diesen Kontext in einer sehr allgemeinen Weise zu erfassen.

Im Anschluss an Reckwitz (2017, 2019) kann die Verwendung von theoretischen Konzepten im Rahmen der Kulturproduktion nicht nur als Valorisierung, sondern insbesondere als ein spezieller Prozess des „Kulturkapitalismus“ aufgefasst werden. Die in der Einleitung [1] verdeutlichte neue Relevanz des Ästhetischen in spätmodernen Gesellschaften kann daher im besonderen Maße auf deren Wirtschaftssystem übertragen werden. Während in der kapitalistischen Logik einer industriellen Moderne noch massenhaft Gebrauchsgüter für eine Population hergestellt wurden, verbreitet sich spätestens seit den 1980er Jahren eine neue Logik (Reckwitz 2017, S. 105 ff.). Ausgehend von einer „Creative Economy“ (Florida 2002) – die neben Musik, Kunst, Mode und mehr auch die Arbeitsformen von Wissenschaft umfasst – verändert sich die industrielle Ökonomie hin zu diesem neuen Kulturkapitalismus.Footnote 7 Die in Subkulturen, Start-ups und Netzwerken der Kulturproduzent*innen entwickelten Arbeitsweisen entgrenzen sich immer mehr und werden Teil der Logik der kapitalistischen Produktion. Damit entstehen nicht mehr Produkte, die „Mittel zum Zweck“ sind, sondern „kulturelle Güter“: Die von einer Kreativwirtschaft hergestellten „Dinge, Dienste, Ereignisse oder Medienformate“ (Reckwitz 2017, S. 16) sind nun die breit produzierten Erzeugnisse einer Wissens- und Kulturökonomie.

Eine vergleichbare Entwicklung des Kapitalismus haben auch Luc Boltanski und Eve Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus beschrieben (2003; vgl. Reckwitz 2017, S. 191 f.). Sie verdeutlichen dabei den Übergang eines „Geistes“ oder allgemeiner einer Konvention, welche die Dominanz industrieller Massenproduktion und bürokratisierter Großunternehmen während der Phase des Fordismus reflektierte, hin zu dem neuen „Geist“ als Organisations- und Rechtfertigungsform des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts.Footnote 8 Diese seit dem Anfang der 1980er Jahre entstehende Form ist charakterisiert durch die Flexibilität, Mobilität und Selbstverantwortung sowie Kreativität, wie sie insbesondere von moderner Projekt- und Netzwerkarbeit gefordert wird (vgl. auch Peter 2011, S. 79). Was Reckwitz mit „Entgrenzung“ der Kreativwirtschaft beschreibt (2017, S. 114 f.), fassen Boltanski und Chiapello als Reaktion des Kapitalismus: Der neue Geist oder eben der Kulturkapitalismus, so ihre These, ist eine Antwort auf eine Kritik an der Standardisierung, der Bürokratie und der Massenproduktion, wie sie von kreativ-künstlerischen Kreisen der 1960er und 1970er Jahre formuliert wurde (Boltanski und Chiapello 2003, S. 461 ff.; Chiapello 2004). Die Forderungen wurden aufgenommen und genutzt, „um die Transformationen, die sich auf die Fortführung des Akkumulationsprozesses günstig auswirken würden, zu begleiten und attraktiv erscheinen zu lassen“ (Boltanski und Chiapello 2003, S. 470).

Im Gegensatz zur fordistischen Industrie einer Moderne geht es neuerdings in diesem Kulturkapitalismus nicht mehr um Standardisierung bei Produktion von Gütern. Vielmehr stehen „einzigartige“ oder eben „singuläre“ kulturelle Güter im Zentrum von spezifischen Märkten, wie dies Lucien Karpik verdeutlicht: „Es sind die Märkte von singulären, unvergleichlichen und deshalb unvergleichbaren Produkten. Sie stellen kein Randphänomen dar, sondern umfassen all die Austauschvorgänge, in denen es um das ‘Gute’ oder ‘Richtige’ geht – um edle Weine oder um Romane, um Ärzte, freiberufliche Dienstleistungen und besondere Expertisen“ (Karpik 2011, S. 13/45). Diese kulturellen Güter oder gemäß Reckwitz „Singularitäten“ verfügen nun über keinen praktischen oder zweckrationalen Nutzen mehr und ihre Funktionen können nicht im Rahmen einer Ordnung oder Skala verglichen werden (Reckwitz 2017, S. 67). Daraus folgt, dass diese Güter nicht mehr über einen unmittelbaren Wert verfügen, sondern dieser Wert muss im besonderen Maße zugeschrieben und so trotz einer Vorstellung von „Unvergleichbarkeit“ vergleichbar gemacht werden (Karpik 2011, S. 18; Reckwitz 2017, S. 174 f.). Kurz: Es geht um eine Valorisierung. Dabei impliziert der Prozess nicht etwa, dass lediglich ein Übergang von „Kultur“ zu „Kommerz“ erfolgt, in dem die Kulturprodukte durch einen Markt vereinnahmt würden. Vielmehr wird verdeutlicht, „wie der Markt die Zirkulation unvergleichlicher Güter gewährleisten kann und dadurch eine eigene, bislang verkannte Realität schafft“ (Karpik 2011, S. 18; vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 421 f.).

Die singulären Güter und damit oftmals die Resultate einer Kulturproduktion stehen immer mehr im Zentrum des kapitalistischen Wirtschaftssystems spätmoderner Gesellschaften. Mit Hinblick auf die Arbeiten von Boltanski und Arnaud Esquerre zur Bereicherung (2018) lassen sich diese Überlegungen nochmals etwas präzisieren. Auch sie verdeutlichen einen Wechsel weg vom Industriekapitalismus und dessen „Konsumgesellschaft“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 34) hin zu einer neuen Art und Weise der kapitalistischen Produktion: der sogenannten „Bereicherungsökonomie“.Footnote 9 Ähnlich wie Reckwitz sehen sie darin eine zentrale Gesellschaftsdiagnose, die „zur Interpretation der veränderten Zusammensetzung einer sozialen Formation“ beachtet werden muss (Boltanski und Esquerre 2018, S. 565; vgl. Susen 2018, S. 17 f.). Boltanski und Esquerre machen nochmals deutlich, dass diese neue Art der kapitalistischen Produktion vor allem deshalb erfolgt ist, weil in den westlichen spätmodernen Gesellschaften die Massenproduktionen ausgelagert wurde. Die De-Industrialisierung verlangte, dass neue Profitquellen gefunden werden mussten, die auf einer „Ausbeutung“ von anderen als den bisherigen Ressourcen beruhen. Hierbei ist „eine Umwandlung von Objekten, Orten und sogar Erfahrungen, die in Bezug auf die ureigenen kapitalistischen Interessen lange Zeit nur eine nachrangige Rolle gespielt hatten, in potenzielle Wohlstandsquellen“ erfolgt (Boltanski und Esquerre 2018, S. 31). Neben diversen weiteren Möglichkeiten ist es wiederum die Kulturproduktion, die eine neue und zentrale Ressource repräsentiert: „Ein anderer Indikator für die Bildung einer ökonomischen Bereicherungssphäre ist die Entstehung eines besonders bunt zusammengewürfelten, sich auf die zahlreichen Aktivitäten beziehenden Bereichs, die in der Regel unter dem vagen Ausdruck ‚Kultur‘ zusammengefasst werden.“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 65)

Die Analyse von Boltanski und Esquerre verdeutlicht somit einen ähnlichen Prozess der Valorisierung. Auch bei ihnen werden als Folge der zuvor genannten Entwicklung diejenigen Güter immer wichtiger, die eine je eigene Kostbarkeit haben sollen, außergewöhnlich seien oder eine besondere „Authentizität“ aufweisen würden, wie eben singuläre und kulturelle Güter. Dabei wird nicht nur den Objekten selbst eine wachsende Bedeutung zugesprochen, sondern vor allem den sie umgebenden Welten und Kontexten (Boltanski und Esquerre 2018, S. 40). Der zentrale Prozess der Valorisierung ist die sogenannte „Bereicherung“ und die damit verbundene Sammlerform von Waren (Boltanski und Esquerre 2018, S. 317): Hierbei wird etwas bereits Vorhandenes mit einem Narrativ aufgeladen, welches insbesondere auf eine Vergangenheit abzielt. Diese neue Form der Ökonomie beruht daher weniger auf der Produktion von neuen Dingen, als darauf, bereits vorhandene Dinge „reicher“ zu machen, in dem diese mit Geschichten verknüpft werden (Boltanski und Esquerre 2018, S. 16). Diese Form der Valorisierung ist auch zentral für zeitgenössische Kulturproduktion (Boltanski und Esquerre 2018, S. 407 ff.): Die Resultate der Kulturproduktion müssen nämlich nicht zuletzt eine bestimmte Anerkennung von „Sammler*innen“ erhalten, damit diese Güter als „Werke“ getauscht werden (Boltanski und Esquerre 2018, S. 410). Oder anders formuliert: Sie müssen einen singulären Charakter ausweisen können, um nicht völlig unbeachtet zu bleiben oder gar als „Abfall“ zu enden. Die Sammlerform und der damit zusammenhängende Prozess der Bereicherung ist bei Boltanski und Esquerre aber nur eine von insgesamt vier Varianten der Valorisierung.Footnote 10 Sie beschreiben daher nicht nur eine Verschiebung hin zu einem Kulturkapitalismus, sondern vielmehr zu einem „Vollkapitalismus“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 34): Dieser verknüpft die verschiedenen Weisen miteinander, Wert zu schaffen. Die hier beschriebene Form der Valorisierung ist dann eine Weise, die immer intensiver erfolgt.

Die kurz skizzierten Gesellschaftsdiagnosen verdeutlichen, dass Kulturproduktion und deren Logiken zu einem immer wichtigeren Aspekt im Rahmen von kapitalistischer Produktion werden. Dabei zeigen sich bestimmte Schwierigkeiten der produzierten Güter, die eine Valorisierung verlangen. Eine Komplexität der „Bewertung“ von Kulturprodukten war jedoch bereits im Industriekapitalismus vorhanden und die dortigen kulturellen Erzeugnisse galt es genauso im sozialen Kontext zu betrachten (vgl. Frith 1999, S. 22). Gleichzeitig können nochmals einige Prozesse genannt werden, die verdeutlichen, dass eine gegenwärtige Situation und die dabei benötigten Valorisierungen eine neue Herausforderung für Akteur*innen darstellen. Bei gewissen Kulturprodukten hat etwa die technologische Entwicklung dazu geführt, dass „Rarität“ (Reckwitz 2017, S. 126) kaum noch ein mögliches Bewertungskriterium sein kann. Mit dem Aufkommen digitaler Speicherung und Distribution wurden Kulturprodukte wie Musik ubiquitär (Huber 2018). Einzigartigkeit muss auf völlig neue Weise herausgestellt und damit überhaupt erstmals hergestellt werden (vgl. Karpik 2011, S. 294 ff.). Auch andere bisher herrschende Standards wie etwa die Unterscheidung von E- und U-Musik werden im Rahmen von gesellschaftlichen Kontexten immer mehr hinterfragt (Hondros i. E.). Um solche Herausforderungen der Valorisierung zu lösen, so eine sehr vage erste These, können die Kultur- und Sozialwissenschaften sowie insbesondere deren theoretische Konzepte eine Handlungsressource bereitstellen und performativ wirken. Ziel soll es im nächsten Abschnitt daher sein, einige theoretische Überlegungen vorzubringen, warum die theoretischen Konzepte in Bezug auf kulturelle und singuläre Güter eine solche Wirkung entfalten könnten.

2.2.3 Valorisierung mittels kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien

Das Herausstellen der Einzigartigkeit von kulturellen Gütern kann nicht nur über eine Rarität erfolgen, sondern auch über eine besondere Originalität: Die Güter sind nach innen „komplex“ sowie „dicht“ und damit interessant; nach außen immer „anders“ und daher überraschend (Reckwitz 2017, S. 126 f.). Das Bestimmen eines solchen Wertes kann auf verschiedene und sich gegenseitig ergänzende Weisen erfolgen (Reckwitz 2017, S. 121 f.). Einerseits können dem jeweiligen Kulturprodukt ästhetische, gestalterische, ethische und/oder ludische Eigenschaften zugeschrieben werden. Andererseits können die Wertzuschreibungen insbesondere innerhalb von Narrativen und hermeneutischen Eigenschaften erfolgen, die Bedeutungen und Erklärungen beisteuern. Hier erhalten nun die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien ihre Relevanz: Sie sind Modelle, Blickrichtungen oder Diskurse, mit denen ein solches Narrativ und die Bedeutungen für ein kulturelles Gut generiert werden können (vgl. Graham 2000, S. 152; Boltanski und Esquerre 2018, S. 59). Mit der Theoriereferenz kann dann etwa auf einen zusätzlichen Sinn beim Konsum eines kulturellen Produktes hingewiesen werden – also wieso gerade ein bestimmtes Musikstück gehört werden soll, welche besondere Situation eine Farbgestaltung repräsentiert oder was sich einer Person im Rahmen einer Theateraufführung erschließen könnte. Mit ihren Begriffssystemen und Erklärungsweisen liefern die Theorien eine große Anzahl an weiteren Referenzen und Anknüpfungspunkten, die zusätzlich zu den bereits vorhandenen Elementen der kulturellen Güter mobilisiert werden können. Die Valorisierungen mit Bezug auf Theorien verbinden weitere kulturelle und soziale Themen mit den Gütern, wodurch diesen eine hohe Eigenkomplexität zugeschrieben werden kann und sie als singulär ausgezeichnet werden (vgl. Reckwitz 2017, S. 52).

Diese Art der Valorisierung über eine Herausarbeitung von Originalität kann dem Genre der Rezension zugeordnet werden (Reckwitz 2017, S. 167; vgl. auch Diaz-Bone 2010). Rezensionen bereichern allgemein das Besprechen von Kulturprodukten, um deren Wert in „komplizierter“ Weise zu erläutern (z. B. die „Kritik“ eines Musikalbums in einer Zeitschrift). Die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften können dabei nicht nur genutzt werden, um eine hohe Eigenkomplexität in den Narrativen und Erklärungen einer Rezension zu verdeutlichen. Die Verwendung der wissenschaftlichen Konzepte ermöglicht es zudem, einer Problematik der Valorisierung zu begegnen. Rezensionen haben sich nämlich in dem Sinne verbreitet, als dass sie von den Kunstfeldern aus über in diverse andere Bereiche geflossen sind und zum eigentlichen „Schlüsselformat der Ökonomie“ wurden (Reckwitz 2017, S. 167; vgl. Karpik 2011, S. 202 ff.; Boltanski und Esquerre 2018, S. 74 f.). Zudem werden nicht nur in immer mehr Bereichen, sondern allgemein immer mehr Rezensionen verfasst. Unter anderem ermöglichen die digitalen Medien eine „Demokratisierung“ hinsichtlich des Verfassens von Rezensionen (vgl. auch Huber 2018, S. 41 ff.). Die Verbreitung und insbesondere diese Demokratisierung der Rezensionen führt zu einer Problematik der Bewertung zweiter Ordnung (Reckwitz 2017, S. 168). Rezensionen müssen aufgrund ihrer großen Verbreitung und unklarer Herkunft nun selbst auch bewertet werden. Das Vertrauen in eine bestimmte Bewertung ist nicht per se gegeben. Als eine Ressource für Rezensionen können die theoretischen Konzepte dank der Verbindung zum wissenschaftlichen Kontext eine gewisse Sicherheit und Legitimität bieten. Ein geteiltes Wissen um Theorien liefert mindestens einen gemeinsamen Bezugspunkt und womöglich gar eine sichere Basis im Sinne einer Expertise (vgl. Bessy und Chateauraynaud 1995, 2019).

Das Herausstellen einer Originalität im Rahmen einer Rezension impliziert bisher, dass die jeweiligen Produkte bereits vorhanden sind und erst im Nachhinein valorisiert würden. Das Herausarbeiten der singulären Eigenschaften kann aber bereits von Beginn der Kulturproduktion an erfolgen. Um den Status des singulären Gutes zu erhalten, ist daher nicht wichtig, ob der Valorisierungsprozess die Produktion von Anfang an bereits mitstrukturiert oder ob ein jeweiliges kulturelles Gut bereits vorhanden ist und in einem darauffolgenden Schritt eine bestimmte Wertzuschreibung erlebt. Beide Prozesse können als ein „Arrangement“ verstanden werden (Reckwitz 2017, S. 69): Objekte, Individuen, Bilder und Texte – und damit auch theoretische Referenzen – werden zusammengefügt. Kern dieses Arrangierens ist daher nicht eine Arbeit an einem jeweiligen Objekt wie etwa am Musikstück, sondern eine weitere, oftmals auch immaterielle Arbeit. Zudem wird bei einer solchen Arbeit auf gegebene Elemente zurückgegriffen, um die Produktion des Neuen, Einzigartigen zu ermöglichen. Zentral für die Produktion des singulären Gutes – sowohl als neu zu entdeckende als auch von Anfang an produzierte Idiosynkrasie – ist nicht ein Erfindungs- oder Schöpfungsgestus, sondern die Kombination von verschiedenen Elementen (vgl. auch Boltanski und Chiapello 2003, S. 176). Dabei soll das Arrangieren nicht mit denjenigen Elementen erfolgen, die sich bereits durch Nähe, Ähnlichkeiten oder Überschneidungen auszeichnen. Vielmehr gilt es, heterogene Teile zu einem „stimmigen Ganzen“ zu verknüpfen (Reckwitz 2017, S. 69). Kultur- und sozialwissenschaftliche Konzepte – und nicht etwa die „näher“ an einer Kulturproduktion liegenden Theorien der Ästhetik (siehe [2.2.1]) – liefern in den Arrangements ein neues und anderes Wissen für Narrative und Erklärungen. Beim Beispiel der Musik geht es dann nicht mehr darum, zu erfassen, welche Harmonien oder Rhythmen hauptsächlich in einem Musikgenre auftreten, sondern etwa die sozialstrukturelle Klasse zu nennen, welche ein Musikgenres hauptsächlich hört.

Dem Performativitätsansatz folgend können die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften eine „Framing“-Funktion in Bezug zu diesen Arrangements übernehmen: Sie bestimmen, was als sinnvolles Element dazugehört, wobei sie eine besondere Heterogenität in Bezug auf das Kulturprodukt zu integrieren vermögen. Gleichzeitig verdeutlichen die bisherigen theoretischen Überlegungen noch nicht, wieso gerade die Theorien aus dem Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften eine solche Relevanz erhalten könnten. Es können auch andere, nicht direkt auf praktische Kulturproduktion ausgerichtete Konzepte mit einer bestimmten gesellschaftlichen Legitimität dazu verwendet werden, um die „fremden“ Narrative rund um ein kulturelles Gut zu bilden und damit eine Singularität zu schaffen. Eine spezifische Passgenauigkeit zwischen den durch Kulturkapitalismus produzierten Gütern und den kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien muss daher noch genauer herausgearbeitet werden. Hierfür können als weitere theoretische Überlegungen die Eigenschaften von singulären Gütern kurz diskutiert werden (Reckwitz 2017, S. 137 ff.). Diese verfügen über (1) einen starken Bezug zur Idee von Authentizität, (2) haben eine spezielle zeitliche Struktur von Moment und Dauer, während sie (3) gleichzeitig von der Zirkulation in einer „Hyperkultur“ leben. Im Rahmen von allen drei Merkmalen kann dann aufgezeigt werden, wie die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften ein Erklären und Verstehen ermöglichen können.

Die erste Eigenschaft der Authentizität positioniert die kulturellen Güter gegenüber den „Künstlichen“ oder den „Kopien“, beschreibt sie als echt, als besonders (Reckwitz 2017, S. 137 f.; Boltanski und Esquerre 2018, S. 229/368). Die Güter sind authentisch, weil sie eine besondere oder eigentümliche Struktur aufweisen und nicht irgendwelchen Regeln folgen und weil sie auf etwas zurückgeführt werden können. Die Güter werden nicht als etwas Konstruiertes, sondern als etwas Unmittelbares aufgefasst. Diese Unmittelbarkeit ist allerdings nie per se vorhanden, sondern wird immer aktiv geschaffen. Das Schaffen von Authentizität kann ebenfalls auf verschiedenste Arten erfolgen: An einem Ende des Spektrums steht hier etwa die aktive „Suche“ nach dem Authentischen (Peterson 1997, 2005), insbesondere über eine Geschichte und die Vergangenheit (Boltanski und Esquerre 2018, S. 349 f.). Am anderen Ende der Konstruktionsmöglichkeiten liegt ein bewusstes und reflektiertes „Spiel“ mit Authentizitätsmerkmalen (vgl. Diederichsen 2014, S. xxiv). Hierbei können die theoretischen Beschreibungen der Kultur- und Sozialwissenschaften wieder eine Rolle spielen. Die Analysen dieser Ansätze haben nämlich insbesondere die Konstruktionseffekte von Authentizität beschrieben (vgl. auch Reckwitz 2017, S. 138) und so verdeutlicht, dass keine einheitliche Vorstellung von dem Authentischen herrscht (Bessy und Chateauraynaud 1995). Werden die Theorien solcher Analysen als Referenz im Zusammenhang mit einem kulturellen Gut verwendet, kann eine neue Art von Authentizität vermittelt werden: Ein Bewusstsein für die Konstruiertheit von Authentizität gilt dann als authentisch (vgl. Diaz-Bone 2010, S. 347; Hennion 2018, S. 159). Das „Künstliche“ wird zur unbewussten oder unreflektierten Konstruktion von Authentizität, während das „Echte“ sich der eigenen Konstruktion als soziale Tatsache bewusst ist. Es ist eine Möglichkeit, authentisch zu wirken im Anbetracht der Idee, dass es so etwas wie das Authentische nicht gibt.

Die zweite Eigenschaft der singulären, kulturellen Güter ist ihre spezifische Zeitlichkeit, die aus einer „Doppelstruktur von Moment und Dauer“ besteht (Reckwitz 2017, S. 141). Die zeitliche Komponente des Moments entspricht einem Erleben im Sinne eines psychischen und/oder physischen Prozesses von „Weltaneignung“ (Reckwitz 2017, S. 70). Es steht eine Wahrnehmung als solche und deren Affekt im Zentrum, und nicht etwa eine Informationsfunktion im Wahrnehmen. Für die Zeitlichkeit der kulturellen Güter kann die Valorisierung mittels kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien nun ermöglichen, den Übergang in der Doppelstruktur zu betonen: Im Sinne einer Narration wird der Wechsel von Moment zu Dauer etabliert (vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 221 f.). Indem das Erleben eine Beschreibung mit den theoretischen Konzepten erfährt, geht es über zu einer Langfristigkeit. Im Erleben können regelhafte Mechanismen und wiederkehrende Muster über die Theorien verdeutlicht werden: vom Praktischen zum Kontemplativen sowie vom Partikularen zum Generellen.Footnote 11 Insbesondere vergleichsweise jüngere sozialwissenschaftliche Ansätze haben genau diesen Übergang vom affektuellen Erleben hin zu einer weiteren sozialen Funktion von Kulturproduktionen betont (z. B. DeNora 2000). Die Theorien erweitern die Komplexität von etwas Stattgefundenem, die dann weit über diejenige des reinen Erlebens hinausgeht und so generelle Möglichkeiten für ein Erinnern und die Dauer des kulturellen Gutes schafft.

Das dritte Merkmal der vom Kulturkapitalismus produzierten Güter ist gemäß Reckwitz deren Zirkulieren in einer „Hyperkultur“ (2017, S. 143 f.). Auch hierfür können die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften die Ansatzpunkte liefern, um die Singularität herauszustellen. Eine Hyperkultur im Sinne Reckwitz beschreibt, dass bestimmte Güter aus einem lokalen und historischen Kontext herausgelöst werden. Alle Elemente der Kultur sind prinzipiell gleichberechtigt, um „zur potenziellen Quelle der Bereicherung des Lebensstils“ werden zu können (Reckwitz 2017, S. 108). Unabhängig vom jeweiligen Produktionskontext erfolgt dann ein Zirkulieren in einem globalen Markt. Dieser Übergang erfolgt sowohl für ehemalige Güter des Industriekapitalismus als auch für die kulturellen Güter:

Viele Singularitäten […] stammen aus der Sphäre der Kultur selbst – allerdings der vorökonomischen, der nichtmarktförmigen. Hier braucht also keine Kulturalisierung stattzufinden, die Transformation betrifft vielmehr den sozialen Rahmen, in dem Kulturobjekte sich bewegen. Konkret heißt dies: Eine kulturelle Singularität, die einmal ausschließlich fester Bestandteil bestimmter lokal und historisch verankerter Praktiken war, wird aus diesem Kontext herausgelöst und zu einem global zirkulierenden kulturellen Gut, das nun in Wettbewerb mit anderen Gütern gerät und von Konsumenten in pluralen Kontexten mit Kennerschaft angeeignet wird. Daraus ergibt sich eine für die Spätmoderne charakteristische Form der Kultur, die ich Hyperkultur nenne. In der Hyperkultur kann potenziell alles – gleich ob volks-, populär- oder hochkultureller Herkunft, gleich ob gegenwärtig oder historisch, gleich welchen lokalen Ursprungs – den Wert der Kultur erlangen. (Reckwitz 2017, S. 108)

Einen ähnlichen Übergang beschreiben auch Boltanski und Esquerre bei der Wertermittlung durch die Sammlerform im Rahmen der Bereicherung: Um einen entsprechenden Status als kulturelles Gut zu erhalten, muss ein Artefakt der Kulturproduktion nämlich „in die Zirkulationssphäre [vordringen], in der Güter dieser Art getauscht werden“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 409 f.). Deshalb ist „der eindeutigste Indikator dafür, ob etwas sich in ein Kunstwerk verwandeln lässt, nichts anderes ist als seine Aufnahme in eine Sammlung“ (Boltanski und Esquerre 2018, S. 410). Das Herauslösen der Güter aus dem Entstehungskontext und damit das Eintreten in diese Hyperkultur beziehungsweise die Zirkulationssphäre der Sammler*innen könnte wiederum durch kultur- und sozialwissenschaftliche Konzepte erreicht werden. Was Reckwitz als eine „Dekontextualisierung“ (2017, S. 146) bezeichnet, kann in Bezug auf die Theorien als eine Kontrolle des Kontextes beschrieben werden: Der Fokus liegt auf einem bestimmten Aspekt (Klasse, Geschlecht, Institution usw.), während ein jeweiliger Kontext nicht mehr zentral ist beziehungsweise der Aspekt in verschiedenen Kontexten auftritt (vgl. auch Frith 1999, S. 19). So beschreibt Howard Becker etwa ein Spannungsverhältnis zwischen einem Dienstleistungsgewerbe und künstlerischem Schaffen (2014). Dieses Verhältnis gilt dann nicht nur für den von Becker beschriebenen Fall, also für die amerikanische Großstadt Chicago in den 1960er Jahre. Vielmehr kann die entsprechende Konzeptualisierung das abweichende Verhalten in verschiedensten Kontexten verdeutlichen (Becker 2014, S. 89 f.). Die Valorisierung mittels kultur- und sozialwissenschaftlicher Bedeutungen und Narrative überführt daher dank der theoretischen Perspektive Güter in eine mögliche Hyperkultur.

Neben den eben beschriebenen „Passgenauigkeiten“ zwischen den Merkmalen von singulären Gütern und den kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien findet sich eine weitere Überschneidung zwischen der Valorisierungslogik des Kulturkapitalismus und den theoretischen Konzepten. Aufgrund eines fehlenden Äquivalenzmaßes hinsichtlich der Nützlichkeit oder der Funktionalität (Reckwitz 2017, S. 70) müssen die kulturellen Güter auf andere Aspekte ausgerichtet werden. Es gilt nämlich, nicht die Art und Weise der Verwendung in den Arrangements mitzudenken, sondern die Rezeption: Es ist eine „Weltverarbeitung“, die erreicht werden soll, und nicht eine „Weltbearbeitung“ (Reckwitz 2017, S. 70 Hervorhebung i. O.). Abgeleitet von der doppelten zeitlichen Struktur lässt sich auch Rezeption zweifach imaginieren: Die singulären Güter können sowohl ein Erleben in den Fokus rücken, als dass auch ein analytischer Zugriff und weitere Valorisierung mitbedacht werden können (Reckwitz 2017, S. 66 f.). Während das Erleben in verschiedenster Art und Weise vor allem bei einem Laienpublikum im Zentrum steht, geht die weitere Valorisierung von Expert*innen aus (Reckwitz 2017, S. 70; Karpik 2011, S. 202 ff.; Boltanski und Esquerre 2018, S. 412). Dieser unterschiedliche Schwerpunkt in der Rezeption markiert dann auch den Unterschied zwischen den beiden Positionen – und nicht etwa das Vorhandensein eines bestimmen Wissens (vgl. auch Bessy und Chateauraynaud 2019, S. 142). Überträgt man diese Überlegungen auf die Verwendung kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien in der Kulturproduktion, lässt sich diese Differenz folgendermaßen interpretieren: Mit einem Konzept wird nicht nur das Erleben der rezipierenden Laien aus der Kulturproduktion angeleitet. Gleichzeitig wird eine weitere Valorisierung verdeutlicht, bei der auch die Expert*innen aus der Wissenschaft wieder auf das Produkt zurückgreifen können, da eine weitere Valorisierung bereits angedeutet wird.

2.2.4 In die Valorisierung hinein: Wertigkeiten in den Theorien

Die bisherigen theoretischen Überlegungen verdeutlichen, in was für weiteren sozialen Zusammenhängen die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien Relevanz erhalten können. Dabei fehlte jedoch eine theoretische Konzeptualisierung davon, was als „Wertvorstellung“ in den Theorien enthalten sein könnte und was für eine Art der „Berechenbarkeit“ durch das Framing der Konzepte möglich würde. Mit anderen Worten blieb der mit den Theorietexten (mit-)konstruierte Wert der kulturellen Produkte noch eine „Blackbox“ (Latour 2003b): Dessen genaue Bedeutung, seine Ausrichtung und sein Vergleichshorizont, die von ihm bestimmten Eigenschaften und umfassenden Bedeutungen sowie die damit verbundenen Implikationen wurden noch nicht definiert. Hier soll nun die theoretische Konzeptualisierung eingeführt werden, die einen Wert oder „Wertigkeiten“ erfassen kann. Dazu werden sogenannte „Qualitätskonventionen“ erläutert, die aus der neo-pragmatischen Soziologie der „Economie des convention“ (EC) entstammen (vgl. Diaz-Bone und de Larquier 2022). Dieser (nicht ganz einheitliche) Konzeptverbund hat einen direkten Bezug zu Fragen von Wert, wie er im Rahmen der EC allgemein verhandelt wird und wie er insbesondere von Boltanski und Laurent Thévenot im Grundlagenwerk Über die Rechtfertigung (2007) beschrieben wurde.

Das Buch gilt als einer der zentralen Beiträge der neueren französischen pragmatischen Soziologie und beschreibt, wie Akteur*innen sich auf normative Prinzipien beziehen, um Handlungen zu rechtfertigen (Boltanski und Thévenot 2007; vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 141 ff.). Rechtfertigungen werden darin als eine soziale Praktik verstanden, in der konkrete Akteur*innen sich in verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen auf anerkannte Wertigkeiten berufen, um dadurch in Konflikten und unsicheren, offenen Situationen zu einer tragfähigen Entscheidung zu gelangen. Dies kann wiederum auf verschiedenste Arten erfolgen, ganz im Sinne einer Pluralität. Gerade diese Pluralität, so eine Ausgangslage der Konzeptualisierung, ist ein Merkmal heutiger Gesellschaften (vgl. Peter 2011, S. 76). Den Rahmen für die verschiedenen Rechtfertigungen bilden die sogenannte Qualitätskonventionen, anhand derer Handlungen legitimiert wie auch koordiniert werden können.Footnote 12 Mehr noch als bei simplen „Qualitätsstandards“ von Produkten werden über diese verschiedenen Rechtfertigungen mittels Konventionen auch die Existenz und die Eigenschaften von Personen, Handlungen oder Objekten in einem umfassenden Sinne bestimmt und anerkannt (Eymard-Duvernay 1989; vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 143). Die Theorieperspektive der EC, wie sie hier in spezifischer Weise präsentiert wird, geht damit immer davon aus, dass ein Wert nicht einfach so gegeben ist (wie dies etwa eine neoklassische Konzeption des Begriffs tun würde, vgl. Eymard-Duvernay 1989). Wie bereits in den zuvor eingeführten Gesellschaftsdiagnosen und den dabei ersichtlichen Valorisierungsformen geht es vielmehr um die Produktion eines Wertes. Die Konventionen aus Über die Rechtfertigung (Boltanski und Thévenot 2007) präsentieren eine Möglichkeit, um die verschiedenen Wertigkeiten oder eben Qualitäten zu konzeptualisieren.

Zentral im Prozess der Rechtfertigung ist für Boltanski und Thévenot jeweils ein „Gemeinwohl“, das die Grundlage einer Konvention bildet und worauf sich die Qualitäten beziehen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 11/28 ff.). Als Prinzip stimmt es „die verschiedenen Einzelwillen aufeinander ab“ und bringt sie in „Einklang“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 53). Die Möglichkeiten von Qualitätskonventionen, deren jeweiliges Gemeinwohl sowie weitere damit verbundene „Grammatiken“ leiten die beiden Autoren aus einer Auswahl von Klassikertexten der Sozioökonomie, der Philosophie, von theologischen Texten und ebenso von zeitgenössischen Ratgebern ab. Boltanski und Thévenot verdichten dabei die unterschiedlichen Positionen zu den „Rechtfertigungsordnungen“ (oder eben den Qualitätskonventionen), auf die sich die Akteur*innen beziehen können (Diaz-Bone 2018a, S. 146). Sie betreiben mit ihrem Modell also nicht einfach eine Sozialphilosophie, sondern zeigen anhand von empirisch vorhandenen Texten eine „praktische Metaphysik“ auf, mit der die Akteur*innen umgehen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 202 f.; vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 145). Die Rechtfertigung anhand dieser Metaphysik der Qualitätskonventionen erlaubt es den Akteur*innen, nicht nur ihre Handlungen zu legitimieren und zu koordinieren, sondern sie implizieren auch immer eine bestimmte Wertigkeit als „Qualität“:

Die Qualifizierung, die durch koordinierenden Bezug auf die Rechtfertigungsordnungen und in Welten erfolgt, erkennt den qualifizierten Sachverhalten (Personen, Objekten, Handlungen) „Qualität“ im Sinne eines moralischen Wertes zu. Rechtfertigungsordnungen ermöglichen damit für die Akteure die Bezugnahme und Begründung normativ aufgeladener Oppositionen wie „gut“/„schlecht“, „gerecht“/„ungerecht“ oder „richtig“/„falsch“. Die praktische Normativität, die diese Welten und Rechtfertigungsordnungen realisieren und die sich in diesen normativen Begriffsoppositionen ausdrückt, ist immer bezogen auf das durch eine Koordination in Situationen anzustrebende Gemeinwohl. Dieses ist anders bestimmt je nach Welt und Rechtfertigungsordnung. (Diaz-Bone 2018a, S. 2018)

In Über die Rechtfertigung werden dazu sechs dieser Konventionen herausgearbeitet (Boltanski und Thévenot 2007), die später von zwei weiteren ergänzt wurden (Lafaye und Thévenot 1993; Boltanski und Chiapello 2003; Thévenot et al. 2011). Diese insgesamt acht beschriebenen Qualitätskonventionen lassen sich nach verschiedensten Merkmalen unterscheiden. Sie sollen aber hier nur in einer synthetisierten Form präsentiert und dabei knapp auf Kulturproduktion ausgerichtet werden.Footnote 13

  • In der Marktkonvention wird ein Wert über einen Preis bestimmt. Qualität zeigt sich dann in einer Form der Koordination, die sich an individuellen Bedürfnissen ausrichtet. Das optimale Ergebnis entsteht hierbei auf freien Märkten und der damit etablierten Konkurrenz um knappe Güter. Die wertvollen und großen Objekte „sind verkäufliche Güter, die eine starke Position auf einem Markt einnehmen“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 268). Hier würde daher eine Kulturproduktion einen Wert erhalten, die Profit über den Verkauf des Produktes auf einem Markt erzielen kann.

  • Während in der Welt des Marktes die Konkurrenz im Zentrum steht, ist es in der industriellen Konvention die effiziente Planung sowie die optimale Aufgabenteilung in der Kooperation. Eine funktionale Beziehung (und nicht Tausch) vermittelt dabei eine Wertigkeit: „Die Eigenschaft großer Wesen, die funktional, einsatzfähig oder professionell […] sind, zeigt also, dass sie imstande sind, sich in die Räderwerke und Getriebe einer Organisation einzufügen […]“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 278). Es ist Vorhersehbarkeit, Zuverlässigkeit und eine Planbarkeit, anhand der sich Wertigkeit in der industriellen Konvention ausrichtet. Ein Kulturprodukt würde über einen optimierten Produktionsprozess hergestellt und hätte eine Funktion in einem spezifischen Zusammenhang.

  • Nochmals anders wird Produktion und damit Qualität in einer handwerklichen oder auch häuslichen Konvention bestimmt. Hier ist Koordination idealtypisch auf eine körperliche Produktion von Einzelstücken ausgerichtet und die Konvention hat die Familie und deren Hierarchievorstellungen als Modell. Zentrale Bezugspunkte für Wert sind dabei die Stärke einer Gemeinschaft, deren Gepflogenheiten und ihre Kontinuität sowie die „Beziehung zu den Großen“ und die davon ausgehende Wertschätzung (Boltanski und Thévenot 2007, S. 230). Kulturproduktion würde somit ihren Wert im Rahmen einer bestimmten Tradition erhalten.

  • Nochmals anders als die industrielle und die handwerkliche Rechtfertigung organisiert die Konvention der Inspiration eine Produktion: Hier sind es Kreativität und Genialität, die auf einer Spontanität beruhen (und bisweilen auch Irrationalität) und so zu Wertigkeit führen. „Größe besitzt in dieser Welt das, was sich nicht beherrschen lässt und sich gegen eine Messung, vor allem in ihren industriellen Formen, sperrt“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 223). Obschon eine solche Rechtfertigung augenscheinlich in der Kulturproduktion eine Rolle spielt, findet sich die Konvention auch mehr und mehr im „regulären“ kapitalistischen Produktionskontext, wie dies etwa die Verbreitung der „Creatives Economies“ aufzeigen (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 153 f.; siehe oben).

  • Zentraler Bezugspunkt für die Konvention der Bekanntheit sind die Meinungen von anderen. Wertigkeit wird durch das Ausmaß des Ruhms abgeleitet, denn hier bedeutet „Berühmtheit“ Größe (Boltanski und Thévenot 2007, S. 246). Die Idee in der Konvention ist es, dass eine aus der Bekanntheit resultierte Sichtbarkeit zu Überzeugung führt (und deshalb etwa auf „Geheimnisse“ verzichtet wird, Boltanski und Thévenot 2007, S. 249). „[I]m Umkehrschluss ist das angreifbar, was bei der großen Masse nicht bekannt ist […]“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 253). Resultate der Kulturproduktion wären somit wertvoll, weil sie von einer breiten Masse rezipiert werden.

  • Ein vergleichbarer Bezugspunkt im Sinne der Öffentlichkeit ist zentral für die staatsbürgerliche Konvention. Sie beruht auf den Vorstellungen von Solidarität, (Grund-)Rechten und einem Gesellschaftsvertrag. Wertigkeit entsteht über ein Engagement für kollektive Anliegen und durch Vertretung von Kollektivinteressen. „Die Einzelpersonen oder Kollektive gewinnen an Größe hinzu, wenn sie an der Einigung arbeiten, wenn sie sich zu Verfolgung gemeinsamer Ziele vereinigt haben […]“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 255). Kulturproduktion, die von einem Kollektiv ausgeht und sich gesamtgesellschaftlichen Interessen widmet, wäre in diesem Sinne wertvoll.

  • Die sechs in Über die Rechtfertigung (Boltanski und Thévenot 2007) herausgearbeiteten Qualitätskonventionen wurden im Anschluss um zwei ergänzt.Footnote 14 Dies ist auf der einen Seite die ökologische Konvention, in welcher die Integrität der Umwelt im Zentrum steht: „Handlungen und Entitäten wird, bezugnehmend auf solche ‘grünen’ Rechtfertigungen, Größe (Wertigkeit) beigemessen, wenn sie Umweltprinzipien oder eben ‘Grünsein’ dienen und entsprechen, also zum Beispiel sauber oder umweltfreundlich, erneuerbar, wiederverwertbar oder nachhaltig sind und im Einklang mit der Natur stehen“ (Thévenot et al. 2011, S. 157). Wertigkeit entsteht dann aufgrund der Ausrichtung der Produktionsweise auf dieses Ideal – und weniger aufgrund der Produkte selbst (Diaz-Bone 2018a, S. 157). Auch Kulturproduktion müsste dementsprechend vor allem ökologisch ausgerichtet sein, um wertvoll zu sein.

  • Im bereits erwähnten Werk Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski und Chiapello 2003) wurde schließlich die Netzwerkkonvention herausgearbeitet. In dieser projektförmigen Welt geht es um die Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz, wobei die Mobilisation von Netzwerkstrukturen zentral wird (und nicht etwa Standardisierung). Zentraler Bezugspunkt für einen Wert ist hier die Idee der Vermittlung: „[D]ie Mittlertätigkeit ist ein Wert an sich bzw. […] eine spezifische Wertigkeit, auf die jeder Akteur verweisen kann, wenn er ‘Verbindungen knüpft’, ‘Kontakte herstellt’ und ‘netzbildend’ wirkt“ (Boltanski und Chiapello 2003, S. 152 f.). Es ist dann eine „Fähigkeit, sich in einem Projekt zu engagieren, sich rückhaltlos einzubringen“, die das Zeichen für einen Wertigkeitsstatus ausmacht (Boltanski und Chiapello 2003, S. 158). Resultate der Kulturproduktion hätten dann einen Wert, wenn ihre Herstellung ein solches netzwerkartiges Projekt etabliert hätten.

Die Qualitätskonventionen weisen im Kontext der Valorisierung darauf hin, dass ein konkreter „Wert“ sich auf die verschiedensten Arten und Weisen zeigen kann, wobei aber eine begrenzte Anzahl von gesellschaftlich legitimierten Varianten konzeptualisiert ist (und immer wieder empirisch überprüft wurde, vgl. Diaz-Bone und de Larquier 2022; Heinich 2000). Die verschiedenen Konventionen können zudem kombiniert werden und treten nicht per se einzeln auf (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 168), wobei gewisse Kombinationen sich besser etablieren lassen als andere. Diese Konzeptualisierung von Wert wird für die vorliegende Arbeit so übertragen, dass davon ausgegangen wird, dass auch die theoretischen Konzepte einer oder mehrerer solcher Konventionen entsprechen und damit eine bestimmte Qualität für die Akteur*innen vorgeben. Als Teil des Arrangements der Valorisierung eines kulturellen Gutes kann dieser theorieimmanente „Wert“ letztlich zu demjenigen des kulturellen Gutes werden. Das Ziel, einen solchen Wert in Theorien anhand der Qualitätskonventionen aufzuzeigen, ist bereits selbst in mehrfacher Weise in der EC angelegt.Footnote 15 So hebt Thévenot hervor, dass ein „Konstruktionseffekt“ der Sozialwissenschaften für das Soziale mitzubestimmen sei (Thévenot 1986). In mit der Idee der Performativität vergleichbaren Weise geht es darum, dass die Akteur*innen die von den Sozialwissenschaften erarbeiteten Konzepte selbst in den Alltagssituationen einbringen (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 96).Footnote 16 Die verschiedenen Sozialwissenschaften und deren Theorien bringen somit unterschiedliche Konzeptionen des Sozialen mit ein – und bestimmen damit die soziale Konstruktion von „Wertigkeiten“ mit. Die Idee einer theorieimmanenten Wertigkeit findet sich weiter in der Anlage von Über die Rechtfertigung (Boltanski und Thévenot 2007): Auch einige der Texte, anhand derer Boltanski und Thévenot ihre Rechtfertigungsordnungen und Konventionen ableiteten, können als kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien aufgefasst werden (2007, S. 28 ff.).

2.2.5 Ermöglichung von Valorisierung: Parapraktik und Form

Der Prozess einer Valorisierung, durch den die Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien erfolgen kann, findet nicht etwa in einem „luftleeren Raum“ statt. Er wird vielmehr durch bestimmte Praktiken nicht nur begleitet, sondern erst ermöglicht. In Anlehnung an Gérard Genette (1989 [2014]) können mit dem Begriff des „Paratextes“ beziehungsweise der Parapraktiken genau diese Tätigkeiten bezeichnet werden, die einen Übergang zwischen einem theoretischen Konzept und den Wertigkeiten für ein kulturelles Produkt ermöglichen. Es sind diese Praktiken, die ein jeweiliges Produkt und damit dessen Wert „umgeben und verlängern […], um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren; ihn präsent zu machen“ (Genette 2014, S. 9). Diese Parapraktiken können das Schreiben von Pressetexten, das Führen von Interviews, das Halten von Vorträgen und viele weitere Dinge sein. Erst solche begleitenden Prozesse ermöglichen die Valorisierung: Durch sie werden die erzählenden und erklärenden Elemente beigefügt, es findet eine Bereicherung statt und eine Originalität oder Rarität kann festgemacht werden. Es sind diese Paratexte und Parapraktiken, die „Transaktion“ und „Einwirkung“ (Genette 2014, S. 10) zwischen der Produktion und der Herausstellung des Wertes eines Produktes ermöglichen (im Erleben und im Rezipieren). Sie und die Kommunikationsinstanz und -situation, mit denen sie zusammenhängen, verdeutlichen immer auch einen „pragmatischen“ Status des Kulturproduktes (Genette 2014, S. 15): Es muss als ein offenes, unfertiges Etwas aufgefasst werden, dessen Interpretation von weiteren Aspekten angeleitet wird. Obschon Genette seine Klassifizierung von den begleitenden und vermittelnden Praktiken vor allem auf Texte bzw. textbegleitendes Material bezieht, kann eine von ihm vorgeschlagene Gliederung solcher Parapraktiken übernommen werden.

Dem Ansatz Genettes folgend können in Bezug auf solche Praktiken vier Aspekte unterschieden werden (2014, S. 12 ff.): (1) Eine Parapraktik zeichnet sich einmal durch eine bestimmte Stellung aus. Ein kulturelles Produkt kann etwa direkt anhand eines beiliegenden Pressetextes eine Valorisierung erfahren. Neben diesem örtlichen Wo kann ebenfalls eine zeitliche Komponente bei der Verortung der Parapraktiken unterschieden werden, also ob die Praktik vor der Produktion bereits vorhanden ist oder erst auf ein vorhandenes Resultat der Kulturproduktion folgt. (2) Weiter können die begleitenden Parapraktiken dahingehend unterschieden werden, wie sie sich genau zeigen. Die Valorisierungen können etwa anhand eines schriftlichen Textes erfolgen oder die Praktik erfolgt in einer verbalen Weise, etwa im Sinne eines Vortrags, wo wiederum auf theoretische Konzepte verwiesen wird. Mehr und mehr zeigt sich ein solches Wie in digitalen Medien: angehängte Links oder weiteres Material, das im Zusammenhang mit dem Resultat der Kulturproduktion auf sozialen Medien verbreitet wird. (3) Zudem verfügen die verschiedenen Prozesse der Valorisierung über bestimmte sendende Adressanten und empfangende Adressatinnen. Das heißt, dass beispielsweise ein Vortrag, der in Zusammenhang zu einem kulturellen Produkt steht, sowohl von einer Künstlerin gehalten werden kann als auch von jemand anderem als der „Produzentin“. Zudem kann unterschieden werden, an wen sich die Parapraktik richtet und die Differenzen bei Adressaten trägt dazu bei, wie mit einer theoretischen Referenz bei der Valorisierung umgegangen wird. (4) Als letztes Unterscheidungsmerkmal dient der Grund für eine Parapraktik. So kann etwa in einem sehr allgemeinen Sinne versucht werden, anhand der Parapraktik eine bestimmte Information zu vermitteln. Oder aber die Praktik zielt ganz konkret darauf ab, eine Anleitung zum Konsum des kulturellen Produktes zu geben (Genette 2014, S. 17 f.).

Über diese erste Systematisierung hinaus lassen sich im Hinblick auf Performativität noch Spezifizierungen vornehmen: So können die Ausprägungskombination der vier zuvor genannten Aspekte in den Blick genommen werden, um ihre Rollen für Performativität zu bestimmten. Hierbei wäre von Interesse, in was für Ausprägungen der Parapraktiken die theoretischen Referenzen überhaupt auftauchen. Es sind dann die Praktiken, die eine Wertkonstruktion mitbestimmen, indem sie es „erlauben“, dass eine theoretische Referenz überhaupt auftaucht. Eine solche Verwendung von Parapraktiken bewegt sich bisweilen weg von einer Ausgangslage, in der lediglich die Beschreibungen der Theorien „performen“, und ergänzt dies mit der Vorstellung, dass eben auch die Praktiken eine Leistung erbringen (vgl. Cochoy 2007). Damit geht zudem einher, dass bestimmte Parapraktiken die Performativität erst gar nicht ermöglichen oder im Verlauf der Produktion scheitern lassen (vgl. Licoppe 2010). Als weitere Spezifizierung kann die Ausgangslage nochmals umgedreht werden: Anstelle der Vorstellung, dass die Parapraktiken in der sozialen Realität bereits vorhanden sind, kann nämlich die Möglichkeit betrachtet werden, wie die theoretischen Konzepte selbst gewisse Praktiken etablieren. Sie erschaffen dann eine sozio-materielle Infrastruktur, in welcher eine Valorisierung von kulturellen Gütern erfolgen kann. Dabei wird nicht die Wirkungsrichtung der Ausprägungen von Parapraktiken auf Performativität betrachtet, sondern die Wirkung der Performativität auf die Ausprägungen von Parapraktiken aufgezeigt.

Unabhängig von den Ausprägungen und der Wirkungsrichtung kann die Etablierung einer jeweiligen Praktik als „Forminvestition“ aufgefasst werden (Eymard-Duvernay und Thévenot 1983; Thévenot 1984). Allgemein beschreibt das Konzept, wie Koordinationsabläufe und die dabei vorhandenen Qualitätsvorstellungen stabilisiert werden. Diese Konzeptualisierung dreht also eine gängige Verbindung von kognitiver Struktur und Handlungen um und versucht zu erklären, wie Handlungen nicht durch Strukturen beeinflusst sind, sondern wie die Handlungen selbst überhaupt erst die Strukturen schaffen (vgl. Araujo und Kjellberg 2015, S. 71). Die Investitionen, welche die Handlungen verdeutlichen und Strukturen etablieren, zeigen sich einerseits im Sinne von ganz konkreten, physisch-materiellen Objekten wie bei der Anschaffung von Maschinen für die Produktion von Gütern (vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 18). So müsste eben eine bestimmte Investition getätigt werden, damit ein Pressetext zu einem Kulturprodukt gedruckt werden könnte. Gleichzeitig gehen die materiellen Formen immer einher mit Standardisierung, der Definition von Normen und der Kodierung von Input und Output (Thévenot 1984, S. 8 f.). Investitionen können daher andererseits im Sinne einer symbolischen Arbeit getätigt werden, sowohl in Bezug auf materielle Prozesse als auch (mehr oder weniger) unabhängig davon. Es gilt, nicht nur einen Pressetext zu drucken, sondern auch in die Vorstellung eines solchen Textes und in dessen Inhalt zu investieren: Es benötigt eine Forminvestition, damit die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften als „gängige“ Referenz in solchen Pressetexten auftauchen.

Versteht man die Etablierung von Parapraktiken als Forminvestition, lässt sich Genettes Ansatz auch in den weiteren Rahmen der Frage nach Wertigkeiten sowie der Qualitätskonventionen stellen. Was dann erfasst wird, ist nämlich nicht nur die Etablierung der Praktik per se, sondern auch die damit ermöglichte Weise der Valorisierung: „Die Investition, die hierbei betrachtet wird, ist die Investition in die Gültigkeit (Validität im Sinne einer Anerkennung) einer Form hinsichtlich einer bestimmten (sachlich-sozialen) Reichweite und für eine bestimmte zeitliche Dauer“ (Diaz-Bone 2018a, S. 18). Eine bestimmte Qualität wird über die Investition in eine Praktik validiert und über eine spezifische Situation hinaus erweitert. Die Forminvestitionen schaffen die Prinzipien, um Vergleichbarkeit mittels der Qualitätsvorstellung zu ermöglichen. Es entstehen die Äquivalenzen, mit denen Personen und Dinge auf einer „Ebene der Allgemeinheit“ gefasst werden, indem Charakterisierungen, Klassifikationen und Standards bestimmt werden (Boltanski und Thévenot 2007, S. 21; vgl. Diaz-Bone 2018a, S. 86). Was sowohl in den Spezifizierungen der Parapraktiken als auch mit dem Konzept der Forminvestition deutlich wird, ist, dass Valorisierung nicht mit einer simplen Ursache- und Wirkungsbeziehung erfasst wird (Thévenot 1984, 2001). Vielmehr ist es ein komplexer Zusammenhang, der durch eine Investition in Praktiken ermöglicht wird und im Rahmen dessen wiederum neue Praktiken und Formen gebildet und verändert werden (Araujo und Kjellberg 2015, S. 76 f.). Es sind parallele und sich ergänzende Handlungen, die das Äquivalenzmaß gemeinsam schaffen.

2.2.6 Schlussfolgerung: Die Auslegung von Wertigkeiten durch Akteur*innen

Die vergangenen Abschnitte [2.2.12.2.5] haben aufgezeigt, wie die möglichen „Blaupausen“ der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien konzeptualisiert werden können: Aussagen von Theorien, die nicht mehr nur Beschreibungen repräsentieren, sondern die soziale Realität beeinflussen. Es wurde dargestellt, im Rahmen welcher Prozesse die Konzepte durch die gesellschaftlichen Akteur*innen angewendet werden können und wo dann eine performative Wirkung erfolgen würde. Hierbei wurden sowohl verschiedene, eher allgemein-theoretische Gesellschaftsdiagnosen im Hinblick auf den Prozess der Valorisierung vorgestellt als auch detailliertere theoretische Überlegungen erläutert, wie zuletzt zu Parapraktiken und Forminvestitionen. Zudem wurde mit den Qualitätskonventionen ein theoretisches Modell eingeführt, das eine konzeptionelle Fassung von in Theorien vorhandenen „Wertigkeiten“ ermöglicht. Was jedoch im Rahmen der Einführung dieses Modell unterlassen wurde, war Folgendes: Es wurden keine Beispiele für Theorien aus den Kultur- und Sozialwissenschaften genannt, die den jeweiligen Konventionen zugeordnet werden können. Diese Zuordnung darf nämlich nicht theoretisch festgelegt werden, sondern sie muss empirisch überprüft werden. Es gilt danach zu fragen, welche Wertigkeiten die Akteur*innen in den Theorien festmachen (und dann natürlich auch, wie das eine jeweilige Kulturproduktion verändert). Die Rezeption der Theorien und die je eigene Leistung in Bezug auf das Festmachen einer Wertigkeit durch die Akteur*innen ist ein zentraler Punkt, wenn die Performativität der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien betrachtet wird.

Die eigene Leistung von Akteur*innen muss nicht nur in der Rezeption der Theorie verdeutlicht werden, sondern sie kann auch auf die Rezeptionspraktiken der valorisierten Kulturprodukte erweitert werden. Die bisherigen Konzeptualisierungen implizierten, dass lediglich die Produktion von Kultur im engeren Sinne unter einer Valorisierungsperspektive betrachtet würde: Unter Bezugnahme auf Theorien würden die Wertigkeiten von Produzent*innen „vorgegeben“, während Rezipient*innen genau diese Wertigkeiten lediglich „annehmen“ würden. Dieser Prozess der Wertzuschreibung kann jedoch auch von Rezipient*innen ausgehen. Michel de Certeau (1988) folgend wird dann die Valorisierung mittels theoretischer Konzepte als eine Aneignungspraktik im Konsum angesehen. Darin zeigen sich sowohl widerständige Praktiken, die womöglich den implizierten Weisen der Produktionen widersprechen, als auch Konsumpraktiken, die den Vorgaben folgen (Certeau 1988, S. 13/19). In jedem Fall muss ein situativer Eigensinn in der Rezeption mitbetrachtet werden, der womöglich alltäglich und unabhängig von der Kulturproduktion im engeren Sinne erst deutlich wird. Die Rezipientinnen oder Konsumenten sind nicht lediglich der Valorisierung von Produktion ausgelieferten, sondern sie können selbst aktiv sein. Dabei wird eine Analogie zwischen der Theorie performativer Sprachakte und der Perspektive der Performativität deutlich (siehe [2.1.1]). Das Handeln im Konsum und im Alltag wird zu einem performativen Akt der Aneignung: zu einer eigenen Valorisierung, die womöglich mit der ursprünglichen Intention der Wertigkeit von Produzent*innen nicht übereinstimmt (vgl. Füssel 2018, S. 102 f.).

Sowohl bei der eigentlichen Produktion der Kulturprodukte als auch bei deren Rezeption zeigt sich aber dieselbe Schwierigkeit, nämlich die Bestimmung ihrer Funktion. Dieser Schwierigkeit wird mit der Valorisierung begegnet und hierfür liefern die Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften eine Art passgenaue Ressource. Den hier präsentierten theoretischen Überlegungen folgend werden die Resultate der Kulturproduktion über Konzepte auf eine spezifische Authentizität ausgerichtet, erhalten eine Langfristigkeit und werden allgemeiner beziehungsweise von ihrem Kontext unabhängiger. Performativität erfolgt dann im Rahmen eines Arrangements, mit dem ein Wert herausgearbeitet wird. Für dessen Herausarbeitung liefern die kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien ein „Frame“: einen Rahmen, der mitbestimmt, was hinzugezogen wird, was dazugehört und was nicht. Dies erfolgt sowohl im Sinne einer bereits in der Produktion angelegten Arbeit als auch in einer anschließenden Valorisierung. Zentral für die Performativität in der Valorisierung sind Parapraktiken: Diese bestimmen ein Gelingen beziehungsweise ein Scheitern von Performativität und sie können auch selbst erst durch die theoretischen Referenzen geschaffen werden. Diese verschiedenen theoretischen Überlegungen sollen nun aber nicht so weit getrieben werden, um bereits die Effektstärken von Performativität (siehe [2.1.4]) abzuleiten. Ziel ist es vielmehr, die Effekte in den empirischen Zusammenhängen aufzuzeigen. Die Idee der Zusammenhänge nimmt Überlegungen der pragmatischen Soziologie allgemein (Barthe et al. 2016) und Erkenntnisse aus Untersuchungen zu Forminvestitionen auf (Thévenot 1984, 2001): Es soll nicht ein Modell vorausgesetzt werden, das bereits eine Ursache-Wirkungsbeziehung einfach festschreibt. Vielmehr müssen sowohl die von den Theorien ausgehenden Prozesse als auch die auf diese Prozesse einwirkenden Konsequenzen erfasst werden und das Modell der Valorisierung mittels Theorien empirisch ausgearbeitet werden.

2.3 Die Herkunft der Theorien

2.3.1 Die Auswirkungen von Universitäten und Fachhochschulen

Nachdem das Konzept der Performativität eingeführt [2.1] und anschließend auf Fragen der Valorisierung bezogen wurde [2.2], soll in einem weiteren Unterkapitel aufgezeigt werden, wie die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften eine Verbreitung erfahren haben. Damit die theoretischen Konzepte überhaupt als Ressourcen in breiten sozialen Zusammenhängen auftauchen können, müssen die Akteur*innen über ein theoretisches Wissen verfügen und die Konzepte kennengelernt haben. Hierzu wird im vorliegenden Unterkapitel auf drei Achsen verwiesen, die aufzeigen, „dass die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen mit ihren Forschungen und Diagnosen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ungemein weite öffentliche Verbreitung gefunden haben“ (Keller 2012, S. 16). Die offensichtlichste Achse, welche eine Verbreitung aufzeigen kann, ist diejenige der Universitäten und Fachhochschulen sowie der dortigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge. Es soll daher versucht werden, einen „Impact“ zu beschreiben, der von diesen Institutionen ausgeht. Diese Beschreibung erfolgt allerdings nicht systematisch, sondern vielmehr als Skizze, um grundsätzlich aufzuzeigen, wie breit eine Wirkung der entsprechenden Institutionen aufzufassen ist. Das ermöglicht es jedoch bereits, Hinweise zu geben, wie die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften eine ihrer wichtigsten Verbreitungen erfahren haben. Denn diese Disziplinen zeichnet aus, dass sie „keine Maschinen, keine handfesten Daten, keine technischen Ratschläge anzubieten haben, sondern einzig und allein das vergängliche Gut ‚Interpretationen‘“ (Beck und Bonß 1989b, S. 25) – oder eben: Theorien.

Einer der zentralsten Faktoren für die Verbreitung der Kultur- und Sozialwissenschaften und ihrer theoretischen Konzepte ist die allgemeine Bildungsexpansion (Behrmann 2006, S. 400 ff.). In den 1960er und 1970er Jahren hat sich die Anzahl der Studienabgänger*innen in verschiedensten westlichen und insbesondere europäischen Ländern um ein Vielfaches erhöht. Dies kann zuerst für die Soziologie in Deutschland beschrieben werden: Bis in die 1980er Jahre erfolgte ein „beispielloser Ausbau“ von Lehr- und Forschungseinrichtungen an den deutschen Universitäten (Viehoff 1984, S. 264). Dies führte natürlich zu einer entsprechenden Zunahme der Absolvent*innen. Uwe Marquart beschreibt, wie sich deren Zahl von den 1960er zu den 1980er Jahren von knapp 500 auf über 10.000 erhöhte und auch danach weiter zunahm, bis im Jahr 2010 rund 60.000 Personen einen Abschluss in Soziologie machten (2011, S. 1). Eine ähnliche Zunahme kann für die Schweiz aufgezeigt werden: Hier hat sich beispielsweise seit den 1980er Jahren die Zahl der an Universitäten und Fachhochschulen eingeschriebenen Personen verdoppelt (während die Bevölkerungsgröße rund um das Eineinhalbfache zunahm). In demselben Zeitraum vervierfachte sich aber die Zahl der in sozialwissenschaftlichen Fächern eingeschriebenen Personen: Während sich 1980 rund 6000 Personen für ein solches Studium eingeschrieben hatten, waren dies 2018 bereits 24.000 Personen (SHIS-studex 2020). Gemeinsam mit den Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften machen die Sozialwissenschaftler*innen so fast zwei Drittel der in der Schweiz an Hochschulen erfassten Personen aus (SBFI 2020, S. 171) und bilden auch die größte Gruppe an Absolvent*innen auf der Masterstufe (BfS 2015, S. 6). Die genannten Zahlen dürften das Phänomen womöglich noch unterschätzen, da die entsprechenden Befragungen oftmals auf den Hauptfächern der Studierenden beruhen und Kombinationen mit anderen Bereichen ignorieren könnten (vgl. Behrmann 2006, S. 402). Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass ein Aufwärtstrend der Absolvent*innen aus den Sozialwissenschaften seit den 2010er Jahren nicht mehr feststellbar ist und sich deren Zahlen (auf dem hohen Niveau) stabilisieren (Diaz-Bone 2019a, S. 5 f.).

Die Bildungsexpansion liefert erste Hinweise auf einen Impact der Universitäten und Fachhochschulen, muss aber anhand weiterer Aspekte spezifiziert werden: So landen die vielen ausgebildeten Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen nach ihrem Studium in den verschiedensten gesellschaftlichen Sphären. Es findet sich kein eindeutiger Karrierepfad für die Absolvent*innen dieser Disziplinen, im Rahmen dessen ihr Wissen zur Anwendung kommen sollte und der eine klare Berufsperspektive verdeutlichen würde (Diaz-Bone und Jann 2019). Im Gegensatz zu den vorgegebenen Berufsfeldern der Medizin, Pädagogik oder Rechtswissenschaft, bei denen ein Arbeitsmarkt sichtbar ist, bleibt die genaue professionelle Identität der Kultur- und Sozialwissenschaften unklar: „As soon as sociologists leave the higher education system […], step by step, they ‘invisibilize’ themselves as graduates of their discipline“ (Diaz-Bone 2021a, S. 278). Die Absolvent*innen identifizieren sich nämlich im weiteren Verlauf ihrer Karriere mehr und mehr mit Kategorien, die nicht ihre ehemalige universitäre Disziplin signalisieren (Diaz-Bone 2019a, S. 9). Die Bildungsexpansion hat also nicht nur zu viel mehr Abgänger*innen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften geführt. Im Sinne eines begleitenden Effektes zeigt sich zudem, dass die so ausgebildeten Personen in verschiedensten Sphären auftauchen können, ohne dass dies wirklich nachvollzogen werden kann: „Aus Soziologen werden dann zum Beispiel Projektmanager, Gruppenleiter, Consultants, Regierungsangestellte, Amtsleiterinnen. Je mehr sich Soziologinnen und Soziologen etablieren, umso mehr verlieren sie einen Teil ihrer fachlichen Identität, ohne sie jemals ganz aufzugeben“ (Mai 2017, S. 8). Daher kann auch das theoretische Wissen dieser Disziplinen durch die Abgänger*innen in eine große Anzahl professioneller Felder getragen werden, auch in die Kulturproduktion (Dürkop-Henseling 2018).

Als Spezifizierung kann zudem danach gefragt werden, welche Rolle die Forschungsergebnisse der Kultur- und Sozialwissenschaften im Sinne eines „Impacts“ haben. Denn die Bildungsexpansion führte nicht nur zu mehr Absolvent*innen, sondern auch zu mehr produzierten Ergebnissen. Diese sollen zu einem wirtschaftlichen Wachstum in einer Region führen, so zumindest eine allgemeine Implikation in Bezug auf die Auswirkungen von Forschung (Lendel et al. 2009, S. 393). In den entsprechenden Untersuchungen, die ein stärkeres Wachstum aufgrund einer höheren Forschungstätigkeit nachweisen, wird die positive Wirkung vor allem auf die Ergebnisse der Natur- und Technikwissenschaften zurückgeführt. Die Situation für die Kultur- und Sozialwissenschaften ist hingegen komplexer und viele der üblichen Indizes zur Messung der Auswirkungen von Forschungsergebnissen können kaum übertragen werden (Bastow et al. 2014, S. 22 f.). Diese Komplexität etablierte einen grundsätzlichen Zweifel über mögliche Verwendungszwecke der Ergebnisse aus den Kultur- und Sozialwissenschaften, was sowohl von Akteur*innen der Politik als auch durch die Wissenschaftler*innen selbst diskutiert wurde (vgl. Beck und Bonß 1989b, S. 8; Bastow et al. 2014, S. 23). Der Zweifel mag immer noch vorhanden sein bei einigen gesellschaftlichen Akteur*innen. Gleichzeitig finden sich aber Positionen, welche die Relevanz von kultur- und sozialwissenschaftlichen Ergebnissen für wirtschaftliche Entwicklung anerkannt haben (vgl. SBFI 2020, S. 171). Trotz der verschiedensten Schwierigkeiten beim Messen der Auswirkungen von Ergebnissen (Beck und Bonß 1989b) wird daher das Wissen dieser Disziplinen als etwas Erstrebenswertes angesehen, das Wachstum in einer Region fördern könnte. Der eben bereits zitierte Bericht des Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hebt daher heraus: „Selbstverständlich benötigt die Wirtschaft, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben will, eine ständige industrielle und technologische Erneuerung. Doch nur wenn diese neuen Technologien Sinn machen, werden sie akzeptiert und können umgesetzt werden. Den Geistes- und Sozialwissenschaften kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu“ (SBFI 2020, S. 171).

Als weiterer die Bildungsexpansion spezifizierender Aspekt kann auf die sogenannte „Third Mission“ verwiesen werden. Der Begriff bezeichnet bestimmte Aktivitäten von Universitäten und Fachhochschulen, die nicht den üblichen Kernaufgaben von Lehre und Forschung zugeordnet werden können: Sie betreffen das „unmittelbare Wirksamwerden der Wissenschaft in außerwissenschaftlichen Kontexten“, während hingegen das Wirken der Wissenschaft in der Lehre und Forschung als „mittelbar“ aufgefasst werden kann (Henke und Pasternack 2020, S. 163). Im Rahmen der dritten Mission werden bewusst Interaktionen mit Akteur*innen außerhalb des universitären Kontextes gesucht, um gesellschaftliche Entwicklungsinteressen zu bedienen und dabei auf Forschungs- oder Lehrressourcen zurückzugreifen (vgl. Henke und Pasternack 2020, S. 164). Es geht um eine Vernetzung mit den gesellschaftlichen Partner*innen, wodurch die Entwicklungen aktiv und mit den eigenen Evidenzen gestaltet werden sollen. Diese dritte Mission wird immer mehr auch systematisch an Universitäten und Fachhochschulen institutionalisiert (vgl. Valero und Van Reenen 2019, S. 54; Spiel et al. 2020, S. 251 f.). Im Rahmen von solchen Vernetzungsaktivitäten und dem damit verbundenen Engagement können die theoretischen Konzepte der Kultur- und Sozialwissenschaften verbreitet werden. Die „Unmittelbarkeit“ der entsprechenden Aktivitäten könnte diesen Aspekt noch befördern, da die Anwendung des Wissens aus den Disziplinen durch wissenschaftliche Akteur*innen stärker „kontrolliert“ wird. Denn bei der Verbreitung von Ergebnissen ohne die aktive Beteiligung von Wissenschaftler*innen werden eher andere Aspekte als die theoretischen betont und eigene Interpretationen vorgenommen (Beck und Bonß 1989b, S. 10 f.).

2.3.2 Ein „Turn to the Social“ in der Kulturproduktion

Neben den zuvor beschriebenen Auswirkungen der Kultur- und Sozialwissenschaften selbst gilt es, eine weitere Achse zu skizzieren, anhand derer eine mögliche Verbreitung der Theorien verdeutlicht werden kann. Parallel zum Aufschwung dieser Disziplinen sind nämlich deren Wissensbestände in diverse andere Fachbereiche eingeflossen (vgl. Beck und Bonß 1989b, S. 8). Dies verdeutlichen etwa Gale Miller und Kathryn Fox für den Sozialkonstruktivismus (1999, S. 56): Seit den 1980er Jahren wurde dieses Paradigma in Bereichen wie der Psychologie, den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, dem Management, der Medizin und dem Gesundheitswesen sowie in der Sozialen Arbeit etabliert. Statt die Verbreitung in diversen Bereichen aufzuzeigen (wie Miller und Fox), wird hier dargestellt, wie kultur- und sozialwissenschaftliches Wissen in der Kulturproduktion Anklang fand (auch wenn dieser Bereich natürlich sehr vielfältig ist). Die Etablierung dieses Wissens soll als ein „Turn to the Social“ aufgefasst werden: Soziale Faktoren werden zu einem zentralen Punkt in der Betrachtung der Prozesse in einem anderem Bereich.Footnote 17 Wiederum erfolgen die Hinweise zu diesem Turn nicht durchsystematisiert, sondern in einer Art und Weise, die auf eine mögliche Verbreitung der Theorien verweist. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei die Akademisierung der Ausbildung an Kunsthochschulen.

Howard Singerman beschreibt diese Entwicklung für die USA und zeigt auf, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Master in Bildender Kunst verändert wurde (1999): Anstelle einer Lehre, die Produktionstechniken vermittelt, etablierte sich immer mehr eine universitäre Ausbildung, im Rahmen derer ein Denkstil erlernt werden sollte.Footnote 18 Dabei wurden Texte geschrieben, Vorträge gehalten und im Rahmen von Diskussionen die eigenen und andere Werke verhandelt. Als Modell hierfür diente den Kunstdepartementen die Kultur- und Sozialwissenschaften: „Theorie“ und ein damit verbundenes Forschungsinteresse wurde zu einem zentralen Aspekt der Ausbildung (Singerman 1999, S. 193 f.). Die Curricula bezogen sich insbesondere auf die sogenannte poststrukturalistische Theorie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich entstand. Einige dieser Werke wurden kurz nach ihrer Veröffentlichung womöglich selbst noch als Kunstkritik aufgefasst, sind aber jetzt Teil des Kanons der Kultur- und Sozialwissenschaften (Prinz und Wuggenig 2012, S. 209 f.).

Die theoretischen Vorstellungen, welche den Denkstil der auszubildenden Kulturproduzent*innen prägen sollten, waren dementsprechend nicht nur Ästhetiken im eigentlichen Sinne, sondern auch die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften (vgl. Singerman 1999, S. 2; siehe [2.2.1]). Die damit einhergehende Änderung der Ausbildung an Kunsthochschulen ist weiterhin aktuell und Diskussionen darum werden geführt: Antje Krause-Wahl verdeutlicht dies spezifisch für eine Hochschule in Deutschland (2008, S. 93, 2014), eine andere Studie verweist auf die weiter stattfindenden Diskussionen um die Akademisierung in der Schweiz (Saner et al. 2016, S. 117), Gary Fine zeigt Konsequenzen daraus für die USA auf (2018, S. 124 f.) und Georgina Born beschreibt den Prozess für die Kunsthochschulen in Großbritannien (2021, S. 46). Zudem wird mit der Akademisierung und dem neuen Primat der Theorien nicht nur ein Wechsel der Ausbildung selbst, sondern eine breite Veränderung im Feld deutlich. Die an den Institutionen erlernte Sprache und Denkart verknüpfen die ausgebildeten Künstlerinnen, Händler, Kuratorinnen, Kritiker und mehr:

A network of discursive and professional practices by artists, critics, teachers, and students raises some questions as credible and pressing, as the legitimate objects of disciplinary research; as those issues construct the field of practice, they have real effects in and on the community of makers. As feminism, for example, has become part of the professional discourse of recent art, and gender an “issue” around which art can be made and critical writing be done, reading lists have changed, and so too have rosters of visiting artists and, more slowly, the hiring practices of university departments as they seek to be at the forefront of disciplinary change, of advancing disciplinary knowledge. (Singerman 1999, S. 202)

Die theoretische Sprache, die im Zusammenhang mit Kulturproduktion verwendet wird, ermöglicht so teilweise eine Statusmarkierung und die Studierenden an Kunsthochschulen sehen sich verpflichtet, die Konzepte zu verwenden (Fine 2018, S. 128 f.). Gleichzeitig ändern sich damit die Praktiken der Kulturproduzierenden. Krause-Wahl verdeutlicht eine konkretere Veränderung, nämlich dass ein Vortrag selbst zu einem künstlerischen Akt wird: Die Künstler*innen-Vorträge „sind die Konsequenz einer veränderten Kunstpraxis, in der Ideen und Sprache im Zentrum stehen, und Anzeichen eines neuen künstlerischen Selbstbewusstseins, in dem die Künstler ihr Wissen über die den Werken zugrunde liegenden Ideen, ihre Kontexte und Diskurse selbst vermitteln“ (Krause-Wahl 2014, S. 270). Fine beschreibt dies sehr allgemein als ein politisches Engagement, das mit der Theorie einhergeht: „[T]hese artists as thinkers of the world […] attempt to engage, merging pure theory with praxis, and linking to other forms of activism on campus, embracing the civic engagement of social practice“ (Fine 2018, S. 136).

Die Änderungen der Ausbildungen verdeutlichen ein anderes Verhältnis zwischen Kulturproduktion und Wissenschaft. Grundsätzlich kann zwar darauf verwiesen werden, dass vergleichbare Beeinflussungen bereits viel früher auftraten. So kann weit bis ins 18. Jahrhundert von einer strukturellen Abhängigkeit von Kunst und Wissenschaften gesprochen werden, etwa wenn die Musiker*innen ihre Tonmetrik von Mathematik ableiteten (Weber 2004; Sørensen 2005). Vergleichbare Beeinflussungen zeigen sich auch noch im 20. Jahrhundert (Bauer 2010). Mit der hier eingeführten Perspektive wird jedoch deutlich, dass ein völlig anderes Spektrum von wissenschaftlichen Konzepten für Kulturproduktion hinzugezogen wird: Dieses entspricht kaum noch einem Wissen, das direkt ästhetische Praktiken ausrichten und anleiten kann [2.2.1]. Vielmehr werden völlig andere Fragen durch die Konzepte angesprochen. Es geht nicht mehr nur um eine jeweilige eigene ästhetische Praktik, sondern um die ästhetische Praktik in der Rolle als Künstler*in, in Bezug zur Kunst und in deren weiteren sozialen Bedeutung (vgl. Singerman 1999, S. 2). Dies macht eine weitere Veränderung des Verhältnisses zwischen Kulturproduktion und Wissenschaft deutlich: Zwar kann bereits für das frühe 20. Jahrhundert aufgezeigt werden, dass sich die Kunstbewegungen auch an kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepten orientierten (Schmidt-Wulffen 2016; vgl. Diaz-Bone und Schwegler 2021, S. 141 f.). Aber diese Beeinflussung wurde über die oben beschriebenen Veränderungen der Kunstausbildung breit institutionalisiert und auf ein Selbstverständnis als Fach und dann auch als Profession bezogen. Anstelle einer historisch fortschreitenden Differenzierung der Kulturproduktion kann daher vielmehr eine stärkere Entdifferenzierung zwischen Kunst und Wissenschaft hervorgehoben werden (Diaz-Bone und Schwegler 2021).

Auch das bereits kurz erwähnte Phänomen der „Artistic Research“ [2.1.1] kann als weitere Konsequenz der veränderten Ausbildung von den Kulturproduzierenden betrachtet werden. Unter dem Schlagwort etabliert sich seit der Jahrtausendwende eine Beeinflussung von Kulturproduktion durch Wissenschaft, bei der weitere Ausbildungs- und Forschungsprogramme sowie eine besondere Form der Interdisziplinarität etabliert werden (vgl. Diaz-Bone und Schwegler 2021, S. 144). Günter Mey folgend kann diese künstlerische Forschung verstanden werden als „in den Kunstwissenschaften verankert[e] Variante, bei der künstlerische Praktiken auch zur Erkundung von Phänomenen genutzt werden“ (Mey 2018, S. 2). Die genaue Definition im Feld selbst bleibt eher umstritten. So wird etwa von einer „institutionellen Nähe“ zu den Geisteswissenschaften gesprochen, welche diese Forschung in der Kunst besitzt, oder auch eine „Verwandtschaft“ mit den Sozialwissenschaften hervorgehoben (Borgdorff 2012, S. 71/74). Eine relevante Gemeinsamkeit verschiedener Projekte aus dem Bereich „Artistic Research“ ist aber folgende (Diaz-Bone und Schwegler 2021, S. 144): Die eigentliche Forschungstätigkeit und die Phänomene, die nun mit künstlerischen Praktiken angegangen werden sollen, scheinen oftmals aus den Natur- und Technikwissenschaften zu stammen (vgl. Born 2021, S. 43). So verdeutlicht etwa Michael Lüthy: „Dem eigenen Anspruch nach ersetzt Artistic Research die herkömmlichen künstlerischen Verfahren wie Mimesis, Fiktion oder Spiel durch die experimentellen Verfahren der Natur- und Ingenieurwissenschaften, um in produktiver Weise Wissenschaft und Kunst zu verbinden“ (Lüthy 2014, S. 223, Hervorhebung i. O.). Die oben skizzierte Veränderung der Ausbildung, die ja alle auch bereits zu einer Art „Artistic Research“ und einer Interdisziplinarität geführt haben, scheinen hingegen kaum hinterfragt zu werden: Die kultur- und sozialwissenschaftliche Akademisierung gehört bereits selbstverständlich zur Kunst.

Neben der veränderten Ausbildung und Forschung an Fachhochschulen lassen sich weitere Aspekte in Bezug zur Kulturproduktion verdeutlichen, die auf einen entsprechenden „Turn to the Social“ verweisen (und die natürlich nicht völlig unabhängig von der Akademisierung der Fachhochschulen zu sehen sind). Nathalie Heinich hebt hervor, dass die Bezüge zu den Kultur- und Sozialwissenschaften auch dem Streben nach Singularität zuzuordnen sind (2014): Das beständige Experimentieren mit Form und Inhalt zur Abgrenzung der eigenen Praktik gegenüber anderen geht so weit, dass die Produzierenden sich gezwungen sehen, mit den Ideen und Materialien aus einem anderen Feld zu hantieren (vgl. Peters und Roose 2020, S. 955). Diese Ideen und Materialien können theoretische Konzepte sein oder auch die Legitimierung der eigenen Praktik durch ein bestimmtes soziales und/oder kritisches Engagement. In Bezug zu Letzteres finden sich verschiedenste Vorstellungen im Feld wieder, die hier nur kurz angedeutet werden sollen: So sollen die unter dem Schlagwort „Institutionenkritik“ laufenden Praktiken die Rolle der Galerien und Museen für Kunst hinterfragen sowie das Konzept und die soziale Funktion der Kulturproduktion selbst kritisch reflektieren (Alberro und Stimson 2009). Ein weiterer Ansatz in der Kulturproduktion versteht sich als „relationale Ästhetik“. Hierbei soll sich Kunst nicht mehr um Ästhetik selbst kümmern, sondern um deren Bedeutung für soziale Interaktion (Bourriaud 2010). Ein sehr spezifischer Ansatz ist das Genre der Autosoziobiographie: Dort wird versucht, mittels der literarischen Darstellung der eigenen Biografie auf gesellschaftliche Problemlagen hinzuweisen und dabei Aspekte wie soziale Herkunft und Klasse zu verhandeln (Blome et al. 2022). Unabhängig von der jeweiligen Ausprägung ist den Ansätzen gemein, dass mit dem sozial-kritischen Engagement immer auch theoretische Konzepte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften mitverbreitet werden. So beschreibt etwa Niccolas Bourriaud, dass die relationale Ästhetik durch einen bestimmten theoretischen Rahmen eine Veränderungen herbeiführen möchte: “[A]n art taking as its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context […]” (Bourriaud 2010, S. 14 eigene Hervorhebung).

Die bisher erläuterten Ausführungen zu einem „Turn to the Social“ haben sich mit wenigen Ausnahmen wie zuvor die Literatur insbesondere auf die Bildende Kunst bezogen. Singerman hebt hervor, dass in diesen beiden Bereichen eine Akademisierung und die damit zusammenhängende Integration von Theorien sehr einfach erfolgen konnten: „The private practices of painting and writing, historically imagined as interior and individual endeavors, were more readily adaptable to the causes of general education and universal creative expression than were those of the collaborative – and more expensive and technically and architecturally demanding – arts of music, film, and theater“ (Singerman 1999, S. 195). Insbesondere in der Musik und damit in dem Feld, in welchem die vorliegende Arbeit ihre empirische Analyse hauptsächlich durchführt, muss der „Turn to the Social“ differenzierter betrachtet werden. Obschon in den USA etwa die Musikausbildung zur selben Zeit wie die Kunstausbildungen an Universitäten etabliert wurde, betont der erste Bereich viel stärker noch die Rolle klassischer Instrumentation und Tonalität sowie die dabei „prüfbaren“ handwerklichen Fähigkeiten (Singerman 1999, S. 196). Singermans Beschreibungen liegen zwar mehr als zwei Jahrzehnte zurück, trotzdem scheint diese Ausbildungsweise an vielen Musikhochschulen immer noch sehr dominant zu sein (Reitsamer und Prokop 2018). Nico Thom zeigt etwa für den deutschen Sprachraum auf, dass in praxisorientierten Studiengängen kaum kultur- und sozialwissenschaftliche Themen gelehrt werden, die auf einen „Turn to the Social“ hinweisen würden (2019a, S. 217, b, S. 222 f.). Gleichzeitig finden sich Bereiche in der musikalischen Ausbildung wieder, die einen vergleichbaren „Turn“ erlebt haben: Dies können auf der einen Seite eher forschungsorientierte Studiengänge zur Musik sein, die teilweise an denselben Instituten ansässig sind und eine stärker interdisziplinäre, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive auf Musik einnehmen (vgl. Thom 2019b, S. 223 f.). Auf der anderen Seite findet sich aber eine Vielzahl von „Musiker*innen“, die eine Ausbildung in der bildenden Kunst genossen haben (vgl. Fine 2018, S. 75). Daher kann in einigen Bereichen der Musik davon ausgegangen werden, dass eine Verbreitung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien stattgefunden hat (wie das im eigentlichen empirischen Fall der vorliegenden Arbeit deutlich werden wird).

2.3.3 Theorien als Alltagsressourcen

Das theoretische Wissen der Kultur- und Sozialwissenschaften hat nicht nur eine Verbreitung über die Studienabgänger*innen dieser Disziplinen sowie über den zuvor erläuterten „Turn to the Social“ von Praxisdisziplinen der Kulturproduktion erfahren. Anhand eines dritten Bereichs kann verdeutlicht werden, dass ein Eindringen von kultur- und sozialwissenschaftlichem Wissen in den Alltag stattgefunden hat. So verweist eine Erhebung zu Ausstellungsbesucher*innen etwa darauf, dass nicht nur die Künstlerinnen oder Kuratoren über ein Wissen um Theorie verfügen (Prinz und Wuggenig 2012, S. 219 f.). Auch die Gelegenheitsbesucher*innen der untersuchten Ausstellungen kannten die Namen von Theoretiker*innen und wiesen Präferenzen auf, was theoretische Konzepte angeht. Nochmals allgemeiner und „alltäglicher“ zeigt sich die Verbreitung der Kultur- und Sozialwissenschaften darin, dass die Themen und Theorien dieser Disziplinen in den Tageszeitungen aufgenommen und dort besprochen werden (insbesondere im sogenannten „Feuilleton“, vgl. Korte 2021, S. 225/230). Der vorliegende Abschnitt führt deshalb in verschiedene Ansätze ein, die aufzeigen, wie die Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften im Alltag der Akteur*innen auftauchen, statt deren Relevanz nur in Bezug zu Hochschulen und der Kulturproduktion selbst zu suchen.

Bevor auf die spezifische Verbreitung von theoretischen Konzepten eingegangen wird, kann allgemein aufgezeigt werden, dass das Wissen der Kultur- und Sozialwissenschaften eine Verbreitung im Alltag der Akteur*innen erfahren hat. Dies zeigt sich etwa an bestimmten Fachbegriffen und wie diese in der Alltagssprache einer breiteren Kultur verwendet werden (Merton und Wolfe 1995): „Habitus“, „Abhängigkeitsverhältnis“ oder auch „Legitimationskrise“ können heute durchaus als alltagstaugliche Konzepte angesehen werden. Die drei Begriffe wurden von Merton und Alan Wolfe in ihrer Studie von 1995 noch als Gegenbeispiele gebraucht: „Recent terms – habitus, dependency, legitimation crisis – will have to rattle about in the academy for some time before, if ever, they enter the general culture“ (Merton und Wolfe 1995, S. 19). Die Verwendung dieser Begriffe mag bestimmten Moden unterliegen, Unklarheiten aufweisen und womöglich nicht immer einen weiteren Einfluss haben. Trotzdem sind dies erste Hinweise darauf, wie die Wissenschaft eine andere Relevanz für Alltagsprobleme erhält (vgl. Beck und Bonß 1989b, S. 33). Die Konzeptualisierung von Ulrich Oevermann zur Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformation (1985) beschreibt bereits in konkreter(er) Weise, wie solche Begriffe und ihre Perspektiven auf die Alltagsakteur*innen wirken können. Das Konzept und die damit erfassten Phänomene verdeutlichen, dass bestimmtes Wissen nicht etwa lebenspraktisch angewendet werden könnte. Sondern die eigene Lebenspraxis wird von den entsprechenden Akteur*innen unter den kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepten subsumiert: Die eigene Realität wird von einer analysierenden, sozialwissenschaftlichen Perspektive aus betrachtet (Oevermann 1988, S. 245 f.).

Neben einem allgemeinen Einfluss von kultur- und sozialwissenschaftlichem Wissen kann konkreter nach der Relevanz von spezifischen theoretischen Konzepten im Alltag gefragt werden. Dies tun etwa Klaus Geiselhart und Tobias Häberer (2019) und erläutern hierzu ein Subjektverständnis, das auf dem Poststrukturalismus beruht. Diese Theorieströmung beschreibt eine Dekonstruktion des Subjektstatus, mit der deutlich gemacht wird, wie sich Individuen unbewusst den kulturellen Ordnungen ihrer Gemeinschaften unterwerfen (Reckwitz 2008). Dies, so Geiselhart und Häberer, kann konkreten Einfluss auf die eigene Subjektvorstellung nehmen: „Das poststrukturalistische Subjekt wird von den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, denn sowohl seine Überzeugungen wie auch seine Wünsche sind von diesen bestimmt. Letztlich ist das poststrukturalistische Individuum damit auch jeglicher Verantwortung enthoben“ (Geiselhart und Häberer 2019, S. 120). Die von einer solchen Theorieströmung beeinflussten Personen verneinen die „Vorstellung des Menschen als autonomen Schöpfer seiner Selbst“, um so strategisch eine Verantwortung für das eigene Handeln abzulehnen (Geiselhart und Häberer 2019, S. 115). Obschon die beiden Autoren empirische Hinweise hierfür vorbringen (ebd.), lässt sich natürlich fragen, wie breit sich solch konkrete theoretische Vorstellungen im Alltag manifestieren können. Grundsätzlich aber wird bereits deutlich, wie im alltäglichen Tun theoretische Vorstellungen eine Relevanz erfahren können.

Ein Beispiel eines sozialen Umfelds, das durch poststrukturalistische Theoriekonzepte beeinflusst wurde, beschreibt Dominic Boyer (2001): Im Ostberlin der 1980er Jahren fand sich ein Kreis von Personen, die alle solche Theorieansätze als Teil ihrer Identität auffassten und diese nicht im Rahmen einer institutionellen Ausbildung kennenlernten. Für den Personenkreis ermöglichten die theoretischen Konzepte ein anderes Verständnis für Sprache und Kommunikation: „Post-structuralist theory was thus engaged in the Prenzlauer Berg as a communicative code that could effect a truly ontological renewal of human culture providing that its ideational messages were explored through a fundamental shift in the way one experienced the relationship of language to life“ (Boyer 2001, S. 212). Obwohl die Akteur*innen die Theoriekonzepte im Rahmen von Kulturproduktion verwendeten (insbesondere Literatur), muss die Relevanz der Konzepte in Bezug zum Alltag gesehen werden. Der im letzten Zitat erwähnte „fundamentale Wandel“ im Erleben von Sprache erfolgte nämlich in Bezug zum Alltag in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik. Die Szene im Prenzlauer Berg wollte eine andere Sprache als diejenige finden, die von staatlichen Stellen ausging und der sie in ihrem täglichen Leben im stark überwachten Staat begegneten. Hierfür boten die poststrukturalistischen Konzepte einen Rahmen, um verschiedenste Erfahrungen gemeinsam zu fassen und zu kritisieren: „[T]he analytical vocabularies of post-structuralist theory were resonant in East Berlin not solely on the basis of their analytical sophistication, rather because the texts were recognized to offer an accredited cosmopolitan language with which to articulate an alienation from the state’s public language and public culture“ (Boyer 2001, S. 216).

Die von Boyer untersuchte Szene stellt ein historisches Beispiel eines sehr spezifischen sozialen Umfelds dar. Andere Autor*innen und die von ihnen untersuchten Phänomene verdeutlichen, dass eine vergleichbare Relevanz von theoretischen Konzepten im Alltag auch in breiten sozialen Milieus gefunden werden konnte. Ein solches beschreibt etwa Sven Reichardt (2014) für die späten 1970er und frühen 1980er Jahre in Westdeutschland: das sogenannte linksalternative Milieu. Im Zentrum dieses Milieus stand eine „Suche nach der Überwindung von ‚Entfremdung‘ in kommodifizierten, durchrationalisierten und verbürokratisierten Lebenswelten“ sowie das Verfolgen einer besonderen solidarischen Nähe und den dadurch ermöglichten „echten“ Erfahrungen (Reichardt 2014, S. 55 f.). Um dieses Ziel zu erreichen, waren theoretische Konzepte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften ein zentrales Element, denn die Mitglieder des Milieus strebten eine „selbstreflexive Soziologisierung oder Psychologisierung ihrer Erfahrung“ an (Reichardt 2014, S. 92 f.). Zwar erfolgte hierbei auch ein Bruch mit dem dogmatischen Umgang mit marxistischen Theoriekonzepten, der von damaligen kommunistischen Gruppen ausging (Reichardt 2014, S. 56). Dies führte aber keineswegs zu einer vollkommen „Theorielosigkeit“, sondern theoretische Konzepte wurden kreativ neu kombiniert und in den alltäglichen Lebenserfahrungen angewendet (Reichardt 2014, S. 51/583 ff.). Was zuerst wie ein spezifisches und eingeschränktes Phänomen erscheint, darf keineswegs unterschätzt werden. Das linksalternative Milieu repräsentierte einen beachtlichen Teil der Gesellschaft und rund 10 % der jungen Erwachsenen rechneten sich dem Milieu zu (Reichardt 2014, S. 41 ff.). Die Etablierung von Theoriekenntnissen in diesem sozialen Umfeld stand zudem nicht nur im Zusammenhang mit Bildungsinstitutionen (vgl. Reichardt 2014, S. 119). Und Kulturproduktion spielte zwar eine zentrale Rolle, aber der Umgang mit theoretischen Konzepten war immer etwas Alltägliches.

Auch in Philipp Felschs Studie des Merve Verlag zwischen 1960 und 1990 wird deutlich, dass ein ganzes Milieu sich im Alltag dem Lesen von theoretischen Texten widmete (2015). Der Verlag verbreitete insbesondere die Theorieansätze aus dem bereits mehrfach erwähnten Poststrukturalismus, also die Arbeiten von Roland Barthes, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Anderen. Merve erlebte selbst einen ähnlichen Übergang wie er im linksalternativen Milieu erfolgte (Reichardt 2014, S. 588 f.), also weg von der neomarxistischen Theorie der 1960er Jahre und hin zu den zuvor erwähnten Strömungen. Zudem landeten die Merve Bücher in der von Boyer beschriebenen Szene im Prenzlauer Berg (2001, S. 214). Mit der Distribution dieser Texte setzte sich der Verlag auch von akademischen Kontexten ab (Felsch 2015, S. 114), wodurch eine Verbreitung von Theorie außerhalb von Hochschulen deutlich wird. Dabei mag Merve zwar als Kleinstverlag in den 1970er Jahren begonnen haben, wurde dann aber immer größer und etablierte ein bestimmtes Interesse: „Theorie verkaufte sich plötzlich wie Schallplatten“ (Felsch 2015, S. 115) und wurde zum Accessoire im Alltag. Die Blütezeit des Verlags mag nun einige Jahre zurückliegen. Gleichzeitig gilt es, das von Felsch beschriebene Phänomen der Theorierezeption im Alltag zu erweitern: Die spezifische Auswahl von und der entsprechende Umgang mit Theorie, der von Merve ausging, habe sich nämlich in den 1990er Jahren in die Kunstwelten verschoben, so Felsch (2015, S. 172). Und die von Merve veröffentlichten poststrukturalistischen Theoriekonzepte sind auch im Literaturkanon der Kultur- und Sozialwissenschaften zu finden (siehe [2.3.2]). Die Relevanz der verbreiteten Konzepte hat daher nicht etwa abgenommen, sondern eher zugenommen. Zudem muss die Verbreitung von Theorie nicht allein auf den Merve Verlag zurückgeführt werden: In den USA war es etwa Semiotext(e), der ab den 1980er in vergleichbarer Weise poststrukturalistische Theoriekonzepte in den Alltag der Menschen und in die Kulturproduktion trug (Schwarz und Balsamo 1996). Im deutschsprachigen Raum kann das Phänomen zudem nochmals breiter gefasst werden: Der Begriff der „Suhrkamp-Kultur“ beschreibt etwa, wie der gleichnamige Verlag einem nochmals viel breiteren Publikum die verschiedensten kultur- und sozialwissenschaftlichen Werke zugänglich gemacht hat (vgl. Suhrkamp Verlag 2000).

Begleitet und gefördert wird die Theoretisierung der Alltagswelt nicht nur durch die Massenmedien, bestimmte Milieus oder Verlage, sondern auch durch Medien, die sich auf spezifische Interessen spezialisiert haben und gleichzeitig auf Theorie verweisen. In den 1990er Jahren entstanden etwa im Kunstfeld diverse Zeitschriften, die sich an den Kultur- und Sozialwissenschaften ausrichteten und deren „Intellektualisierung“ der Sprache mit der Verwendung von Theorie einherging (Prinz und Wuggenig 2012, S. 206). Vergleichbare, theorie-informierte Zeitschriften sind auch in anderen Kulturbereichen entstanden: bereits Ende der 1960er Jahre in Frankreich für den Film (Fairfax 2021)und Ende der 1970er Jahre in England in der Musik (Brennan 2019), während etwa in Deutschland verschiedenste Bereiche der Kulturproduktion von einer Vielzahl theoretisch-informierter Zeitschriften ab den 1990er Jahre diskutiert wurden (vgl. Hinz 1998, S. 16). Zwar mögen diverse dieser Zeitschriften mit der schwindenden Relevanz von gedruckten Medien und der neuen Dominanz des Onlinebereichs ihren Einfluss verloren haben (oder deren Produktion wurde ganz eingestellt). Aber es etablierten sich vergleichbare Phänomene auch in online publizierten Zeitschriften oder sogenannten Blogs: Auch hier wird zu spezifischen Interessen geschrieben und dabei auf Theorien der Kultur- und Sozialwissenschaften verwiesen. Ein Alltagsbezug von Theorien zeigt sich in anderer Form durch die neue Relevanz des Internets und dessen medialen Möglichkeiten.

2.3.4 Schlussfolgerung: Eine Durchdringung mit Theorien

Das Unterkapitel verdeutlichte, dass eine Verbreitung von kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien auf eine mannigfaltige Weise erfolgt ist. Für die Prozesse der Valorisierung, im Rahmen derer eine Performativität der theoretischen Konzepte erfolgen kann [2.2.22.2.3], bildet ohne Zweifel die Bildungsexpansion eine fundamentale Grundlage. Mit der weitverbreiteten Bildung geht auch eine Nachfrage einher nach genau einer solchen Bildung sowie dem Wissen, das von den akademisch ausgebildeten Personen produziert wird (vgl. Boltanski und Esquerre 2018, S. 587 ff.). Reckwitz folgend kann festgehalten werden, dass ein Prozess in der Moderne die „Infrastruktur“ für einen Prozess in der Spätmoderne bildet (2017, S. 182 f.). Gleichzeitig muss aber diese Infrastruktur komplexer betrachtet werden und ist nicht lediglich eine Zunahme von Bildungsabschlüssen in den Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaft. Grundsätzlich ist nämlich nur schwer erfassbar, wo überall die theoretischen Konzepte zur Anwendung kommen könnten, da ausgebildete Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen in verschiedensten gesellschaftlichen Sphären tätig sind. Der beschriebene „Turn to the Social“ zeigte weiter auf, dass die Verbreitung der theoretischen Konzepte nochmals durch die Kulturproduktion und deren Ausbildungsstätten verdoppelt wird. Anhand der Hinweise zu „Artistic Research“ wurde zudem deutlich, dass die bereits stattgefundene Akademisierung und Theoretisierung teilweise schon so selbstverständlich ist, dass sie kaum noch hinterfragt wird. Schlussendlich wurde mit den Überlegungen zur Verbreitung theoretischer Konzepte in bestimmten sozialen Milieus aufgezeigt, dass im Zusammenhang mit Theorien gar nicht immer Fragen von „Forschung“ oder „Produktion“ behandelt werden müssen. Genauso wie die Valorisierung in alltäglichen Praktiken erfolgen kann (siehe [2.2.6]), können auch die theoretischen Konzepte eine Selbstverständlichkeit im Alltag erhalten. Unabhängig von Institutionen fassen die Personen die Theorien dann als Teil ihres jeweiligen Lebensstils auf.

Die mannigfaltige und komplexe Verbreitung von Theorien und Theoretisierungen kann nicht nur als historischer Prozess aufgefasst werden (dessen Resultat nun betrachtet wird), sondern auch als gegenwärtiges Phänomen in Gesellschaften. Ein aktuelles Beispiel, das zwar aus dem US-amerikanischen Kontext stammt, aber auch eine weitere Verbreitung im europäischen Raum erfahren hat, ist die Diskussion um die sogenannte „Critical Race Theory“ (Crenshaw et al. 1995; vgl. Adams 2016).Footnote 19 Grundsätzlich wird bei dem Beispiel deutlich, wie theoretische Vorstellungen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften innerhalb verschiedener Studiengänge eine Verbreitung erfahren haben, insbesondere im Bereich von Recht oder in der Bildungsforschung. Die Fragen nach der diskursiven Realität einer Rechtsprechung und der sozialen Konstruktion von „Race“ werden so in immer mehr Bereichen verhandelt. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Konsequenzen dieses „Mainstreamings“ der Critical Race Theory (Adams 2016, S. 13) könnten aber kaum größer sein, da die theoretischen Vorstellungen nicht nur in akademischen Kontexten und verschiedenen Professionen diskutiert werden. Sie sind ein Thema, das für Furore sorgt bei Politiker*innen, während die entsprechenden Diskussionen in verschiedensten Medien aufgenommen, verbreitet und diskutiert werden. Auch sehen sich Personen in ihrem Alltag dazu genötigt, sich zu Critical Race Theory zu äußern, wenn etwa theoretisch-informierte Reformen an Schulen implementiert werden. Nicht zuletzt verweisen auch Kulturproduzent*innen auf diese Konzepte. Das Beispiel zeigt auf, wie eine theoretische Vorstellung aus der Kultur- und Sozialwissenschaft in anderen Disziplinen, in ein Berufsleben, in die Politik und in den Alltag von Personen eindringt: Entsprechende Grenzen zwischen den Bereichen lösen sich auf und es erfolgt eine Art Durchdringung durch ein Theoriekonzept.

Diese Durchdringung von Lebenswelten mit Theorien, die in der Spätmoderne teilweise erwartet werden kann, steht in Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten. So muss mit der Bildungsexpansion immer auch eine Öffnung des sozialen Raums mitbetrachtet werden: Ein ehemals exklusives Wissen ist heute einer breiten gesellschaftlichen Basis zugänglich. Insbesondere in Frankreich, aber ebenfalls in weiteren Ländern, stand diese Bildungsexpansion im Zusammenhang mit den Studierendenprotesten der 1960er Jahre. Die stärkere Verbreitung der theoretischen Konzepte war daher Teil von weiteren sozialpolitischen Forderungen (vgl. Füssel 2018, S. 9 f./95 f.; Certeau 2005). Die beständige Durchdringung mit Theorien führt zudem dazu, dass der Umgang mit den theoretischen Konzepten womöglich gar nicht mehr in expliziter Weise erfolgen muss: Zu Beginn der Entwicklung konnte den Theorien noch ein besonders starker symbolischer Gehalt zugeschrieben werden, wie dies beim Umgang mit frühen Veröffentlichungen des Merve Verlag deutlich wird (Felsch 2015). Ein vergleichbares „Zur-Schau-Stellen“ der Konzepte und Ähnliches ist heute womöglich gar nicht mehr nötig, da die Verwendung der theoretischen Konzepte bereits in vielen Bereichen gang und gäbe ist. Die Durchdringung kann somit als Hybridisierung von Wissenschaft, Beruf, Alltag und Freizeit aufgefasst werden, wobei die theoretischen Konzepte nur einen kleinen Aspekt eines viel größeren Prozesses darstellen. So wird diese Hybridisierung ohne Zweifel durch die neuen Onlinemedien und die Sättigung des Alltags mit den entsprechenden Technologien getragen (vgl. Castells 2017, S. xxxiii). Die Kultur- und Sozialwissenschaften und deren Theoriekonzepte scheinen in eine Art „Mitte“ dieser ganzen Gleichzeitigkeit von Aspekten zu fallen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass zwar eine Wirkungsrichtung im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Fokus liegt, nämlich von der Wissenschaft (und deren Theorien) auf die Gesellschaft (und deren Kulturproduktion). Die Durchdringung erfolgt aber ebenso in die andere Richtung: So haben die Aspekte aus der Kulturproduktion sowie deren „Turn to the Social“ wiederum die Wissenschaft beeinflusst (Diaz-Bone und Schwegler 2021).

Die als Durchdringung zusammengefasste Entdifferenzierung, Hybridisierungen und gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und gesellschaftlichen Bereichen zeigt sich daher anhand verschiedener Pfade. Die oben eingeführten drei Achsen, anhand derer eine Verbreitung der Theorien aufgezeigt wurde, sind lediglich makrosoziale Trends. Sie können kaum die genaue Analyse der ablaufenden Prozesse leisten (weshalb sie im Rahmen des ersten Theoriekapitels eingeführt wurden). Es ist zunächst eine grundsätzliche Annahme, dass eine Spätmoderne vorausgesetzt werden kann, in der Wissenschaft und Gesellschaft wechselseitig „invasiv“ werden (Nowotny et al. 2001, S. 47) und in der Fachwissen über verschiedenste professionelle Kontexte und neue soziale Gruppen verteilt ist. Diese Annahme der Durchdringung verlangt nach einem bestimmten Umgang mit ihr: Es geht darum, die neuen Formen der Durchmischung und deren Konsequenzen zu identifizieren und zu analysieren, ohne bestimmte Achsen, Trennungen oder Ähnliches vorauszusetzen (vgl. Born und Barry 2013, S. 247 f.). Situationen müssen fokussiert werden, in denen sich die Durchmischung zeigt, um dann aus der Performativitätsperspektive nach den Konsequenzen zu fragen.