Zum Abschluss wird der zentrale theoretische, methodische und empirische Beitrag der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und diskutiert (siehe 7.1). Danach werden die Einschränkungen ihrer Beiträge reflektiert (siehe 7.2) und ein allgemeiner Ausblick gegeben (siehe 7.3).

7.1 Zusammenfassung

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war, dass kollektive Medienrezeptions- bzw. Informationsverarbeitungsprozesse von besonderer gesellschaftlicher Relevanz sind, die (Klein-)Gruppenforschung aber ein im Verhältnis zur Individualforschung relativ vernachlässigtes Gebiet ist. Gründe dafür sind unter anderem theoretische und methodische Herausforderungen. Deshalb will die Arbeit einen zusammenhängenden theoretischen, methodischen und empirischen Beitrag zum Verständnis kollektiver Informationsverarbeitungsprozesse leisten. Dabei wurden konsequent Gruppen als Untersuchungseinheiten betrachtet.

Theoretischer Beitrag : Model of Collective Information Processing (MCIP)

Den theoretischen Beitrag der Arbeit stellt das Model of Collective Information Processing (MCIP) dar (siehe 3.3.1 für eine ausführliche Zusammenfassung). Das Modell verknüpft Erkenntnisse aus der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung und der Forschung zu individueller Informationsverarbeitung. Es soll dabei helfen, kollektive Informationsverarbeitungsprozesse zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen.

Das MCIP baut auf sechs zentralen Annahmen auf: Die ersten drei Annahmen beziehen sich auf die Grundlagen kollektiver Informationsverarbeitung. Annahme 1 geht davon aus, dass Menschen die soziale Identität einer Gruppe internalisieren können. Annahme 2 besagt, dass Gruppen als eigenes informationsverarbeitendes System funktionieren können: Wenn unter den Gruppenmitgliedern ein Mindestmaß an gemeinsamen Einstellungen, Vorstellungen, Vorgängen etc. vorliegt (Social Sharedness), können sie individuelle Beiträge zu einem kollektiven Prozess verbinden (Combinations of Contributions). Annahme 3 betrachtet soziale Einflüsse in der Gruppe – z. B. durch Normen, Mehrheiten und Meinungsführer:innen – und entsprechende Konformität als Bestandteil des kollektiven Prozesses.

Annahmen 4–6 eröffnen eine Mehrprozess-Perspektive auf kollektive Informationsverarbeitung, die bisher von verschiedenen Modellen zur Informationsverarbeitung auf Individualebene eingenommen wird (z. B. Forgas, 1995; Kunda, 1990; Petty & Cacioppo, 1986). Annahme 4 geht davon aus, dass Gruppen Informationen einfacher und oberflächlicher (automatisch) oder aufwändiger und sorgfältiger (systematisch) verarbeiten können. Annahme 5 vermutet, dass Gruppen Informationen eher mit Blick auf ein bereits festgelegtes Ergebnis (geschlossen) oder eher ergebnisoffen (offen) verarbeiten können. Annahme 6 geht schließlich davon aus, dass die beiden Verarbeitungsdimensionen Systematik und Offenheit quer zueinander liegen. Dafür spricht, dass ihre verschiedenen Ausprägungen in einer Vierfeldermatrix zu sinnvollen prototypischen Verarbeitungsmodi kombiniert werden können (siehe Abbildung 3.1 unter 3.2.3.2). Nach dem MCIP müssten systematische bzw. offene kollektive Informationsverarbeitung mit spezifischen Einflussfaktoren, Eigenschaften und Auswirkungen verbunden sein, die sich aus der Logik der jeweiligen Verarbeitungsdimension ergeben (siehe Abbildung 3.2 bzw. Abbildung 3.3 unter 3.3.1).

Mit dem MCIP konnten verschiedene bisherige theoretische Ansätze und empirische Befunde zu einem neuen kohärenten Bild zusammengefügt werden. Studie I und II konnten die Modellannahmen zu den Grundlagen kollektiver Informationsverarbeitung und zu den Verarbeitungsdimensionen Systematik und Offenheit grundsätzlich empirisch bestätigen (s. u.). Das spricht dafür, dass das MCIP tatsächlich vergleichbar mit Modellen zur Informationsverarbeitung von Individuen (z. B. Chaiken et al., 1989; Forgas, 1995; Petty & Cacioppo, 1986) dazu in der Lage ist, kollektive Informationsverarbeitungsprozesse möglichst generalisierbar abzubilden. Mithilfe des MCIP könnte so besser erklärt werden, warum Medieninhalte ganz unterschiedliche und teils gegensätzliche Effekte haben können, wenn sie in Gesprächen kollektiv verarbeitet werden (Gehrau et al., 2014; Southwell & Yzer, 2009). Aus den Ergebnissen lässt sich zudem im Umkehrschluss ableiten, dass es sich auch auf Individualebene lohnen könnte, die gängige Unterscheidung zwischen automatischer und systematischer Informationsverarbeitung häufiger um die Dimension geschlossener vs. offener Informationsverarbeitung zu ergänzen.

Vor allem aber kann das MCIP vor diesem Hintergrund weiter theoretisch ausgearbeitet und empirisch geprüft werden. In einem ersten Schritt lag der Fokus auf kurzfristigen Episoden der Informationsverarbeitung in natürlichen Kleingruppen. Wie unter 3.3.1 angeregt, könnte das MCIP auf der einen Seite auf Informationsverarbeitung in anderen und insbesondere größeren Gruppenformen übertragen werden und auf der anderen Seite mit Ansätzen zu Individuen verbunden werden. Dabei unterliegt es verschiedenen Einschränkungen, die unter 7.2 zusammengefasst werden.

Methodischer Beitrag: Standardisiertes Befragungsinstrument für Kleingruppen

Aufbauend auf den Annahmen des MCIP und als methodischer Beitrag wurde im Rahmen eines Mixed-Methods-Designs ein standardisiertes Befragungsinstrument für Kleingruppen entwickelt (siehe 4.1). Der eingesetzte Gruppenfragebogen bezog sich auf kollektive Medienrezeption und beinhaltete einen Videostimulus, über den sich die Gruppe anschließend unterhalten sollte. Ihre Mitglieder konnten die Fragen gemeinsam beantworten oder die Option „uneinig“ auswählen und individuell unterschiedlich antworten.

Um den Gruppenfragebogen zu testen, zu validieren und weiterzuentwickeln, wurde in Studie I eine qualitative Beobachtung von acht natürlichen Kleingruppen beim gemeinsamen Ausfüllen durchgeführt. Diese wurde um eine Gruppendiskussion zur Fragebogengestaltung ergänzt (siehe 5.3. für eine ausführliche Zusammenfassung). Mit Blick auf den gemeinsamen Ausfüllprozess zeigte sich, dass sich die Gruppen in ca. drei Viertel der Antwortentscheidungen von Beginn an einig waren. In den anderen Fällen einigten sie sich meist anhand von Argumenten oder des „Mittelwertes“ bzw. der Mehrheit auf eine gemeinsame Antwort und verwendeten nur selten und bei größeren Abweichungen die Option „uneinig“. Während der gemeinsamen Teilnahme gab es prägende Gruppenmitglieder bzw. Meinungsführer:innen, die aber konsistent im Dienste der Gruppe agierten und einen möglichst praktikablen und korrekten Ablauf der Befragung sicherstellten. Durch gegenseitige Unterstützung beim Frageverständnis und die Kontrolle von Antwortvorschlägen fand zudem eine Art kollektive Qualitätssicherung der Messungen statt. Gleichzeitig schien sich die Reaktivität der Gruppenbefragung im Rahmen zu halten. Diese Befunde stehen somit in Einklang mit den Annahmen des MCIP zu den Grundlagen kollektiver Informationsverarbeitung, wonach Individuen eine soziale Identität annehmen können, Gruppen durch Kollaboration ihrer Mitglieder als informationsverarbeitendes System funktionieren können und soziale Einflüsse – z. B. durch Meinungsführer:innen – Teil des kollektiven Prozesses sind (s. o.). In Bezug auf die Validität im engeren Sinne zeigte sich, dass das beobachtbare Verhalten der Gruppen bei der gemeinsamen Medienrezeption in der Regel mit den Messungen im Gruppenfragebogen übereinstimmte. Offensichtliche Abweichungen traten nur in Einzelfällen auf und schienen teils durch Missverständnisse und teils durch die Motivation der Gruppen zur Wahrung eines bestimmten Fremd- bzw. Selbstbildes erklärbar.

In Studie II wurde der Gruppenfragebogen für eine Befragung von n = 182 Kleingruppen aus insgesamt 438 Individuen eingesetzt (siehe 4.4 für das Vorgehen bei der Datenerhebung). In den Daten bestätigten sich die in Studie I beobachteten Muster: Die Gruppen wählten selten die Option „uneinig“ und schienen dabei tatsächlich im Sinne aller Mitglieder geantwortet zu haben. So äußerten in einer nachfolgenden Einzelbefragung 94,7 Prozent der Mitglieder ihr Einverständnis mit den gemeinsamen Antworten aus der Gruppenbefragung während 4,9 Prozent eine neutrale Haltung dazu hatten und lediglich 0,6 Prozent nicht einverstanden waren. Nicht zuletzt sprechen die inhaltlich plausiblen Ergebnisse aus Studie II für die Validität der Messungen der standardisierten Gruppenbefragung (s. u.).

Insgesamt zeichnet sich also ab, dass (natürliche) Kleingruppen tatsächlich valide standardisiert befragt werden können. Ihre ausgeprägte Neigung zu homogenen Antworten lässt sich nicht auf Fehler der Methode zurückführen, sondern bildet eine empirische Realität ab, wonach Individuen soziale Identitäten internalisieren und je nach Salienz verschiedener Gruppenzugehörigkeiten verschiedene Einstellungen und Wahrnehmungen haben können (siehe 3.1.1.2). Gleichzeitig erwies sich in Studie II aber auch die Heterogenität verschiedener Merkmale innerhalb der Gruppe als relevante Variable (s. u.). Eine standardisierte Gruppenbefragung ist in der Lage, sowohl homogen als auch heterogen verteilte Merkmale und Prozesse in Gruppen abzubilden. In Kombination mit einer Einzelbefragung können zudem Daten auf Gruppenebene mit Daten auf Individualebene verknüpft werden. Trotzdem bedarf die Methode weiterer Validierung und ist gerade in ihrem Anfangsstadium mit besonderen Herausforderungen bei der Umsetzung verbunden. Unter 7.2 wird genauer auf diese Einschränkungen eingegangen.

Empirischer Beitrag: Ergebnisse zur Funktionsweise kollektiver Medienrezeption

Als empirischer Beitrag wurde schließlich eine standardisierte Gruppenbefragung (s. o.) von n = 182 Kleingruppen aus insgesamt 438 Individuen zur Funktionsweise kollektiver Medienrezeption durchgeführt (siehe 6.5 für eine ausführliche Zusammenfassung). Mit den Daten konnten die Annahmen des MCIP (s. o.) erstmals empirisch geprüft werden. Bei den Gruppen handelte es sich um Paare, Familien und Freund:innen, die jeweils entweder einen Stimulus zum Thema „Autofreie Stadt“ oder „Regenbogenfamilien“ sahen.

Es zeigte sich, dass Systematik und Offenheit als Dimensionen kollektiver Informationsverarbeitung anhand reliabler standardisierter Indizes auf Gruppenebene operationalisiert werden konnten. Die beiden Indizes waren – wie theoretisch vermutet – unabhängig voneinander und hielten ersten Validitätsprüfungen durch den Abgleich mit anderen Messungen und Konstrukten stand.

Systematische kollektive Informationsverarbeitung kennzeichnete sich im Vergleich zu automatischer Verarbeitung durch besonders breite, tiefe und motivierte Gespräche. In diesem Modus war der kollektive Prozess insbesondere von der gleichen Beteiligung aller Mitglieder, der Orientierung an Argumenten und von Leidenschaft geprägt. Die Gruppen verarbeiteten die Stimuli insbesondere dann systematisch, wenn das jeweilige Thema eine hohe Bedeutung für sie hatte und sie gleichzeitig grundsätzlich mit der Botschaft übereinstimmten, wenn sie sich im Verhältnis zum gesellschaftlichen Meinungsklima als konservativer einschätzten, wenn sie bei der Nutzung besonders aufmerksam waren und/oder wenn sie emotional bewegt wurden. Ein systematischer Modus konnte eine positive – also mit dem Stimulus übereinstimmende – Einstellungsänderung und eine Steigerung der Themenbedeutung auf Gruppenebene begünstigen.

Offene kollektive Informationsverarbeitung bestand im Vergleich zu geschlossener Verarbeitung in der Aufgeschlossenheit der Gruppe gegenüber verschiedenen Meinungen, Argumenten und Informationen. In einem geschlossenen Modus war der kollektive Prozess vor allem durch die Orientierung an der Mehrheit und von der gleichen Beteiligung aller Mitglieder geprägt. In einem offenen Modus tendierten die Gruppen dagegen zu einer angespannteren Stimmung. Offene kollektive Informationsverarbeitung fand vor allem in Gruppen statt, die moderatere und heterogenere Einstellungen sowie geringeres Vorwissen hatten. Bei Gruppen mit extremeren Einstellungen wurde die Neigung zu einem geschlossenen Modus durch eine hohe Themenbedeutung zusätzlich verstärkt. Offene Informationsverarbeitung konnte sowohl eine positive oder negative Einstellungsänderung der ganzen Gruppe als auch eine Veränderung der Heterogenität der Einstellungen innerhalb der Gruppe begünstigen. Ein geschlossener Modus führte dagegen eher zu extremeren Einstellungen, also einer Polarisierung der Gruppe.

In der anschließenden Einzelbefragung gaben die Gruppenmitglieder meist die gleiche oder eine ähnliche Einstellung und Themenbedeutung an wie im Kontext der Gruppenbefragung. Das bedeutet, dass die Auswirkungen der kollektiven Verarbeitungsprozesse im Wesentlichen wohl auch auf Individualebene vorhanden waren. Wenn Abweichungen zwischen der Messung in Gruppen- und Einzelbefragung vorlagen, waren diese meist gering. Sie ließen sich überwiegend durch eine Anpassung der einzelnen Mitglieder an ihre Gruppe erklären. Hintergrund könnten sowohl die für Gruppenprozesse typische Konformität (s. o.) als auch vorübergehende Kompromisse zugunsten gemeinsamer Antworten (s. o.) gewesen sein.

In der Summe decken sich die Befunde mit den Annahmen des MCIP zu kollektiver Informationsverarbeitung im Allgemeinen und zu den Einflussfaktoren, Eigenschaften und Auswirkungen systematischer bzw. offener kollektiver Informationsverarbeitung im Speziellen (siehe Abbildung 6.9 und Abbildung 6.10 unter 6.5). Diese Muster kollektiver Informationsverarbeitung wurden selten durch Typ, Größe und Soziodemographie der Gruppen beeinflusst. Dass einzelne Zusammenhänge nur bei einem der beiden Themen beobachtbar waren, ließ sich jeweils plausibel durch die Eigenschaften des jeweiligen Themas erklären. Teils variierte auch ihre Stärke je nach Thema, sie wiesen aber grundsätzlich in dieselbe Richtung. Das deutet darauf hin, dass das MCIP tatsächlich universelle Muster der Informationsverarbeitung in Kleingruppen abbildet. Studie II liefert darüber hinaus unabhängig vom MCIP neue Erkenntnisse, die zu einem besseren Verständnis kollektiver Informationsverarbeitung bzw. Medienrezeption beitragen könnten. Gleichzeitig konnte sie bei Weitem nicht alle Fragen beantworten. Ihre Einschränkungen werden unter 7.2 diskutiert.

7.2 Einschränkungen und Anknüpfungspunkte

Schließlich soll ein Überblick über die zentralen Einschränkungen des theoretischen, methodischen und empirischen Beitrags der vorliegenden Arbeit gegeben werden. Die aus ihr gewonnenen neuen Erkenntnisse konnten nur durch ein exploratives Vorgehen und um den Preis diverser Kompromisse und Beschränkungen erlangt werden. Aus ihnen ergeben sich Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschung.

Theoretischer Beitrag: Model of Collective Information Processing (MCIP)

Wie unter 3.3.1 schon in Teilen ausgeführt wurde, unterliegt das MCIP klaren Grenzen, bietet aber auch verschiedene theoretische Anknüpfungspunkte. Seine Annahmen gelten nur für genuin kollektive – d. h. kollaborative – Informationsverarbeitung in Gruppen. Das bedeutet, dass sich die Mitglieder grundsätzlich über Zweck und Vorgehen des kollektiven Prozesses einig sein müssen – also miteinander und nicht gegeneinander agieren.

Durch den Fokus auf die Gruppe als Analyseeinheit werden Eigenschaften und Prozesse bei einzelnen Mitgliedern oder Teilen der Gruppe im MCIP nur am Rande berücksichtigt (für die Betrachtung von Individuen bei kollektiver Medienrezeption siehe z. B. Cohen, 2016; Tal-Or, 2021). In diese Richtung ist das MCIP aber insofern anschlussfähig, als es z. B. über das Konzept der Heterogenität mit Ansätzen auf Individualebene verbunden werden kann.

Das MCIP wurde in einer ersten Ausarbeitung mit Blick auf kurzfristige Episoden der Informationsverarbeitung in natürlichen Kleingruppen entwickelt. Deshalb müsste in Zukunft genauer beleuchtet werden, ob seine Annahmen wie vermutet auch auf die Längerfristige Informationsverarbeitung in anderen Arten von Gruppen auf Mikro-, Meso- und Makroebene übertragbar sind (siehe Neuberger et al., 2019, 2023 für eine Anwendung der Verarbeitungsdimensionen auf gesellschaftliche Wissensprozesse; und Schindler, 2022 für eine Ausarbeitung zu kollektiver Informationsverarbeitung im Internet). Dafür spricht, dass Menschen bereits auf Basis minimaler Gemeinsamkeiten soziale Identitäten bilden und kollaborieren können (Tajfel et al., 1971; siehe Balliet et al., 2014 für eine Meta-Analyse). Da das MCIP primär auf theoretischen Ansätzen und empirischen Befunden aus der Sozialpsychologie beruht, könnte es in diesem Zusammenhang um weitere Perspektiven z. B. aus der Soziologie ergänzt werden. Mit Blick auf höhere Analyseebenen könnte etwa spannend sein, inwieweit kollektive Informationsverarbeitung in größeren Netzwerken ohne Verbindungen zwischen allen Mitgliedern stattfinden kann (Fuhse, 2006).

Darüber hinaus gibt es eine Reihe relevanter Aspekte, die im MCIP bisher nur ansatzweise oder gar nicht berücksichtigt wurden: Zunächst einmal wurden Dyaden und Gruppen ab drei Personen zusammengefasst, sodass ihre Gemeinsamkeiten bei der kollektiven Informationsverarbeitung im Zentrum standen (z. B. K. D. Williams, 2010). Aufgrund der besonderen Eigenschaften von Dyaden (z. B. Moreland, 2010) könnte es aber auch Unterschiede geben, die in zukünftigen Arbeiten theoretisch konzeptualisiert werden müssten.

Die Einteilung verschiedener Konstrukte in Einflussfaktoren, Eigenschaften und Auswirkungen kollektiver Informationsverarbeitung stellt eine Vereinfachung dar. Zukünftige theoretische und empirische Arbeiten könnten Wechselwirkungen bzw. sich selbst verstärkende Prozesse dieser Variablen berücksichtigen (auf Individualebene: Slater, 2007). So wurde bereits deutlich, dass z. B. eine höhere kollektive Themenbedeutung systematische Verarbeitung begünstigt, die wiederum zu einer gesteigerten Themenbedeutung führt. Ebenso könnte systematische Informationsverarbeitung in Gruppen nicht nur durch eine erhöhte Aufmerksamkeit und emotionale Bewegtheit unterstützt werden, sondern diese auch umgekehrt verstärken. Derartige Dynamiken wären insbesondere mit Blick auf geschlossene kollektive Informationsverarbeitung und gesellschaftliche Polarisierung relevant.

Weiterhin wurden die Verarbeitungsdimensionen Systematik und Offenheit vor allem für sich genommen beleuchtet. Ihr Zusammenspiel wurde dagegen nur ansatzweise durch das 4-Modi-Modell – also eine Vierfeldermatrix aus den Kombinationsmöglichkeiten aller Ausprägungen – betrachtet (siehe Abbildung 3.1 unter 3.2.3.2). Auf diese Weise konnte das MCIP schrittweise und systematisch ausgearbeitet werden. Das besondere Potenzial der Mehrprozessperspektive steckt aber auch und gerade in der Interaktion beider Dimensionen. Deshalb müsste dieser Aspekt des MCIP noch weiterentwickelt werden.

Auch bei der isolierten Betrachtung der beiden Verarbeitungsdimensionen gibt es eine Reihe an Bestandteilen des MCIP, die in Zukunft einer genaueren Betrachtung bedürfen. Insbesondere wurden in der vorliegenden Arbeit Meinungsführer:innen ganz allgemein betrachtet und mit Expert:innen zusammengefasst. Um ihre Rollen bzw. Funktionen im kollektiven Verarbeitungsprozess besser verstehen zu können, müssten diese in Zukunft genauer ausdifferenziert werden. Ähnlich könnte zwischen verschiedenen Funktionen von Humor und Wissensformen unterschieden werden.

Andere Faktoren wurden bisher überhaupt nicht berücksichtigt, könnten das MCIP aber bereichern: Als zusätzliche Einflussfaktoren auf kollektive Informationsverarbeitung könnten z. B. bisherige Informationsverarbeitung, die kollektive Intelligenz (Woolley et al., 2010) und weitere Affekte der Gruppe sowie die Konformitätsneigung der Mitglieder betrachtet werden. Mit Blick auf die Eigenschaften könnten z. B. Verifizierungs- und Konfliktlösestrategien der Gruppe beleuchtet werden. Bei den Auswirkungen wäre z. B. die Betrachtung weiterer Informationsverarbeitung, Medienselektion oder politischer Aktivitäten auf Gruppen- und Individualebene interessant. Bei vielen dieser Variablen könnte außerdem zusätzlich die Heterogenität innerhalb der Gruppe einbezogen werden.

Schließlich soll noch angemerkt werden, dass die beiden Verarbeitungsdimensionen des MCIP eine normative Konnotation haben. Die Unterscheidungen zwischen systematischer und automatischer bzw. offener und geschlossener Informationsverarbeitung sind zwar deskriptiv angelegt, systematische und offene Modi können aber leicht als wünschenswerter interpretiert werden. Je nach Kontext und Standpunkt kann dies sicherlich zutreffen – bei dieser Wertung sollte aber reflektiert werden, dass automatische und geschlossene Informationsverarbeitung für Menschen bis zu einem gewissen Grad unverzichtbar sind, um sich trotz eingeschränkter Ressourcen in einer komplexen sozialen Umwelt zurechtfinden zu können (Pendry, 2007).

Methodischer Beitrag: Standardisiertes Befragungsinstrument für Kleingruppen

Die standardisierte Gruppenbefragung unterliegt ebenfalls verschiedenen Einschränkungen. Allen voran kann sie lediglich als Ergänzung – und nicht als Ersatz – für qualitative Methoden eingesetzt werden. Analog zu quantitativen Befragungen auf Individualebene liegen ihre Vorteile in ihrem verhältnismäßig geringeren Aufwand und der Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse. Dafür sind qualitative Verfahren besser in der Lage, die volle Komplexität und den jeweiligen Kontext eines Gruppenprozesses zu erfassen. Je nach Forschungsfrage könnte die standardisierte Gruppenbefragung aber wertvolle zusätzliche Möglichkeiten der Datenerhebung und -analyse auf Gruppenebene eröffnen.

Dabei dürften standardisierte Gruppenbefragungen im Wesentlichen den gleichen Risiken der Verzerrung unterliegen wie standardisierte Einzelbefragungen: Sie bauen beispielsweise auf Selbstauskünfte und sind potenziell reaktiv, indem sie soziale Erwünschtheit auslösen oder durch ihre Fragen einekünstliche Reflexion über die zu messenden Konstrukte anregen. Wie in Studie I gezeigt wurde, dürften Gruppenbefragungen darüber hinaus den Vorteil haben, dass im gemeinsamen Ausfüllprozess eine zusätzliche Qualitätssicherung stattfindet. Gleichzeitig stehen sie entsprechend den Annahmen des MCIP (s. o.) unter der Voraussetzung, dass alle Gruppenmitglieder gemeinsam an der Befragung teilnehmen wollen. Solange ein grundsätzlicher Konsens über die kollektive Teilnahme besteht, können Gruppenbefragungen aber auch inhaltliche Differenzen zwischen den Gruppenmitgliedern erfassen.

Studie I und II lieferten zwar erste empirische Hinweise auf die Validität standardisierter Gruppenbefragungen, diese müssten aber noch ergänzt werden: Da sich beide Studien auf Paare, Familien und Freund:innen und maximal vier Personen beschränkten, könnten zukünftige Studien andere und größere Gruppen betrachten. Durch die qualitative Beobachtung in Studie I wurden der gemeinsame Ausfüllprozess und die Validität der Antworten zudem nur von außen betrachtet. Als Nächstes könnten ausführlichere Gruppendiskussionen im Anschluss an die Teilnahme durchgeführt werden, um die Innensicht der Gruppen stärker mit einzubeziehen und so ein nuancierteres Bild zu bekommen. Auf Individualebene könnten Leitfadeninterviews mit den einzelnen Gruppenmitgliedern ergänzt werden, um die kollektive Teilnahme aus ihrer individuellen Perspektive zu beleuchten. Darüber hinaus könnten vor allem qualitative Analysen davon profitieren, wenn sie von unterschiedlichen Forscher:innen durchgeführt werden. Auch die quantitative Validierung der Messungen auf Gruppenebene könnte weiter vorangetrieben werden. In Studie II wurden die Skalen für Systematik und Offenheit kollektiver Informationsverarbeitung in einem ersten Versuch nur ansatzweise validiert und viele Konstrukte lediglich über einzelne Items gemessen. In Zukunft könnten für Kleingruppen grundsätzlich die gleichen Verfahren zur Skalenkonstruktion und -validierung angewendet werden wie für Individuen (Hartmann & Reinecke, 2013).

Schließlich verweisen die ersten Erfahrungen aus Studie II auf verschiedene Herausforderungen bei der Durchführung standardisierter Gruppenbefragungen: Zunächst einmal ist die Grundgesamtheit bei Kleingruppen häufig nicht klar definierbar, sondern praktisch unendlich. In der vorliegenden Untersuchung wurden Signifikanztests durchgeführt, da die Stichprobe heterogen und ihre Verteilung prototypisch für kollektive Medienrezeption war (siehe 4.4.3). Zukünftige Arbeiten könnten sich genauer damit beschäftigen, wie und wann eine Stichprobenziehung und Inferenzschlüsse bei Gruppenbefragungen sinnvoll sind.

Darüber hinaus gestaltet sich die Rekrutierung von Kleingruppen schwieriger als die von Individuen. Für Studie II konnten insbesondere Paare, aber auch Familien in kleineren Gruppen relativ gut über ein kommerzielles Online-Panel erreicht werden. Befreundete und größere Gruppen waren dagegen schwierig zu rekrutieren. Dieses Problem dürfte sich neben der COVID-19-Pandemie durch den besonderen Organisationsaufwand für diese Gruppen ergeben – und könnte durch eine hohe Incentivierung oder andere Motivationsstrategien verringert werden.

Attraktive Incentives können allerdings dazu führen, dass Individuen Gruppenfragebögen fälschen. In Studie II konnten solche Fälle anhand verschiedener Indikatoren vermutlich relativ gut identifiziert und ausgefiltert werden (siehe 4.4.2). In Zukunft sollten aber effizientere und noch zuverlässigere Verfahren entwickelt werden, um die ausschließliche Teilnahme von Gruppen und damit eine hinreichende Datenqualität sicherzustellen. Beispielsweise könnte die Teilnahme mehrerer unterschiedlicher Gruppenmitglieder anonym über ihre Smartphones verifiziert werden.

Nicht zuletzt sind die technische Umsetzung eines Gruppenfragebogens mit individuellen Antwortmöglichkeiten und die Aufbereitung der Daten immer noch relativ aufwändig. Diese Schritte könnten zukünftig aber durch entsprechende Forschungssoftware erleichtert werden.

Empirischer Beitrag: Ergebnisse zur Funktionsweise kollektiver Medienrezeption

Aus den Anmerkungen zum MCIP und zu der standardisierten Gruppenbefragung ergeben sich bereits viele der kritischen Punkte zu Studie II. Sie sollen aber an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst und um weitere Aspekte ergänzt werden.

Zunächst einmal wurden für Studie II trotz konkreter theoretischer Vermutungen und ihres quantitativen Designs keine Hypothesen formuliert. Aufgrund der immer noch sehr explorativen Anlage der Untersuchung erschienen in diesem ersten Schritt offene Forschungsfragen angebrachter. In Zukunft könnten Kleingruppen aber anhand klarer Hypothesen und auch präregistrierter Studien untersucht werden.

Weiterhin kann an der Stichprobe kritisiert werden, dass sie relativ wenige befreundete und größere Gruppen von vier Personen enthielt – auch wenn sie damit den typischen Konstellationen gemeinsamer Mediennutzung entspricht (GfK, 2019; Kessler & Kupferschmitt, 2012). Zudem wurde die Stichprobe auf zwei unterschiedlichen Wegen rekrutiert. Durch die oben genannten Vorschläge zur Rekrutierung könnten in Zukunft ausgeglichenere Stichproben erreicht werden.

Die Daten aus Studie II beziehen sich zudem auf kollektive Medienrezeption als Unterform kollektiver Informationsverarbeitung und auf zwei spezifische Themen und Stimuli, nämlich Videoclips der Sendung „W wie Wissen“ zu den Themen „Autofreie Stadt“ und „Regenbogenfamilien“. Die Auswertungen wurden für beide Themen zusammen vorgenommen, beide Stichprobenteile aber zusätzlich einzeln betrachtet oder die Themen kontrolliert. Auch wenn die zentralen Muster kollektiver Informationsverarbeitung themenübergreifend auftraten, zeichneten sich doch immer wieder – insbesondere bei den Auswirkungen – Unterschiede ab. Diese könnten auf unterschiedliche Eigenschaften der Stimuli zurückzuführen sein, die sich bereits im Pretest gezeigt hatten (siehe 4.2.2). Nachfolgende Studien könnten die Annahmen des MCIP deshalb mit weiteren Themen, Stimuli und in anderen Kontexten als gemeinsamer Medienrezeption untersuchen, um den Einfluss verschiedener Rahmenbedingungen genauer zu beleuchten. Analog dazu könnten weitere Gruppentypen und -größen untersucht und verglichen werden (s. o.). Auch wenn Studie I keine Hinweise auf ausgeprägte Reaktivität gab, könnten die Verarbeitungsprozesse darüber hinaus durch das gewählte Studiendesign beeinflusst worden sein (s. o.). Deshalb könnten in Zukunft ergänzend nicht-reaktive Verfahren wie (automatisierte) Inhaltsanalysen angewandt werden, um z. B. kollektive Informationsverarbeitung in Messenger-Chats (z. B. Knop-Hülß, 2023) oder im Internet zu untersuchen.

Weiterhin war die Stichprobe mit n = 182 Gruppen relativ knapp bemessen – insbesondere da die Themen trotz zufälliger Zuordnung ungleichmäßig verteilt waren (105 vs. 77 Gruppen; siehe 4.4.3). Dass sich viele Zusammenhänge trotzdem deutlich und themenübergreifend abzeichneten, spricht für die Annahmen des MCIP. Es gab aber auch weniger robuste Zusammenhänge, die in Zukunft in größeren Stichproben überprüft werden sollten.

Außerdem könnten verschiedene Messungen aus Studie II optimiert werden. Vor allem die Messung des kollektiven Verständnisses des Stimulus erschien rückblickend als verbesserungswürdig. Das Verständnis wurde durch einen Summenindex aus relevanten inhaltlichen Aspekten aus einer freien Zusammenfassung operationalisiert – zukünftige Messungen könnten z. B. auf die Fähigkeit zur Kontextualisierung von Inhalten anstatt einer bloßen Auflistung abzielen. Auch kollektives Wissen könnte zukünftig umfassender gemessen werden als über vier Single Choice-Fragen zu einfachem Faktenwissen. Wie bereits im Kontext der standardisierten Gruppenbefragung allgemein diskutiert, könnten die in Studie II häufig verwendeten Messungen über einzelne Items langfristig durch validierte Skalen auf Gruppenebene ersetzt werden.

Nachdem in der vorliegenden Arbeit die Gruppenebene im Mittelpunkt stand, wurden die Auswirkungen kollektiver Informationsverarbeitungsprozesse auf Individualebene nur am Rande untersucht. Dafür wurden die Abweichungen zwischen den Angaben der Gruppenmitglieder in der Gruppen- und in der Einzelbefragung betrachtet. Geringere Abweichungen wurden als Indikator dafür betrachtet, dass die Auswirkungen auf Gruppenebene mit vergleichbaren Auswirkungen auf Individualebene einhergingen. In Zukunft müsste das Zusammenspiel beider Ebenen genauer untersucht werden, indem bei den Gruppenmitgliedern nicht nur Nachher- sondern auch Vorhermessungen über Einzelbefragungen vorgenommen werden. Außerdem könnten die einzelnen Gruppenmitglieder qualitativ und quantitativ genauer dazu befragt werden, welche Bedeutung die kollektiven Informationsverarbeitungsprozesse für sie haben.

Generell ist kritisch anzumerken, dass in Studie II nur kurzfristige Auswirkungen auf Gruppen- und Individualebene betrachtet wurden. In zukünftigen Studien könnte wie erwähnt über Längsschnittdesigns untersucht werden, unter welchen Umständen kollektive Informationsverarbeitung nachhaltige Effekte auf Gruppen und ihre Mitglieder hat.

Darüber hinaus könnten sich zukünftige Studien empirisch mit den Fragen beschäftigen, die das MCIP bisher offengelassen hat (s. o.). Dazu gehört insbesondere das Zusammenspiel der Verarbeitungsdimensionen Systematik und Offenheit und das 4-Modi-Modell. In den Daten aus Studie II waren die vier prototypischen Verarbeitungsmodi ungleichmäßig repräsentiert, was aber nicht zwangsläufig auf ihre Verteilung im Alltag zurückzuführen ist, sondern auch durch das Studiendesign bedingt gewesen sein könnte. Nachfolgende Studien könnten die verschiedenen Verarbeitungsmodi gezielt mithilfe experimenteller Variationen untersuchen. Außerdem könnten in Zukunft die Besonderheiten kollektiver Informationsverarbeitung in Dyaden genauer beleuchtet werden. Schließlich könnten zukünftige empirische Untersuchungen – wie oben bereits auf theoretischer Ebene ausgeführt – Konstrukte auf Individual- und Gruppenebene ausdifferenzieren oder ergänzen. In Bezug auf Meinungsführer:innen könnten Gruppen oder ihre Mitglieder dabei gebeten werden, Gruppenmitglieder anhand ihrer Pseudonyme als Meinungsführer:innen einzuordnen, deren Eigenschaften und Rolle dann genauer untersucht werden könnten. Um die Bedeutung der Heterogenität verschiedener Variablen genauer beleuchten zu können, müssten vermutlich gezielt geeignete Gruppentypen und/oder Themen untersucht werden, da die Antworten in Studie I und II sehr homogen ausfielen.

7.3 Ausblick

Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass es erstens möglich ist und sich zweitens lohnt, Gruppen mit aller Konsequenz als eigene Untersuchungseinheiten zu betrachten. Gruppen verschiedener Größe waren, sind und bleiben die zentrale Daseinsform des Menschen (Caporael, 1997). Um in Zukunft ein noch umfassenderes Verständnis gesellschaftlicher Phänomene erlangen zu können, müssten sie stärker in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt werden – es müsste also nicht weniger als ein „Collective Turn“ stattfinden. Vor dem Hintergrund sich ständig weiterentwickelnder Möglichkeiten zur digitalen Vernetzung und Kommunikation ist diese Perspektive auch und gerade für die Kommunikationswissenschaft relevant. Mit dieser Arbeit sollen deshalb neue Anregungen und Ansätze zur Untersuchung kollektiver Informationsverarbeitung geliefert werden, die neben der Kommunikationswissenschaft auch für andere Sozialwissenschaften wie z. B. die Sozialpsychologie, Soziologie, Pädagogik, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften interessant sein könnten.

Auf theoretischer Ebene kann das in dieser Arbeit entwickelte Model of Collective Information Processing (MCIP) helfen, das Denken und Handeln von Gruppen als eigene, sinnvolle Einheiten zu fassen. Damit eröffnet es neue Perspektiven auf gesellschaftliche Phänomene, die bisher meist mit Fokus auf Individuen untersucht wurden. Beispielsweise könnten mit dem MCIP kollektive Informationsverarbeitung bzw. Entscheidungsprozesse in Journalismus oder Politik genauer beleuchtet werden. Außerdem könnte politische und gesellschaftliche Polarisierung – z. B. mit Blick auf die Klimakrise, die COVID-19-Pandemie oder Minderheiten – als genuin kollektiver Prozess mit Gruppen unterschiedlicher Größe als Akteur:innen betrachtet und analysiert werden. Daraus könnten sich neue Ansatzpunkte für Interventionen zur Depolarisierung bzw. Verständigung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ergeben. Das MCIP könnte zudem einen theoretischen Rahmen bieten, um das Zusammenspiel kollektiver Informationsverarbeitung mit den technischen Möglichkeiten des Internets – wie z. B. Algorithmen und künstlicher Intelligenz – besser zu verstehen. Normativ betrachtet bergen Online-Umgebungen gerade mit Blick auf geschlossene kollektive Informationsverarbeitung – z. B. im Kontext kollektiver Radikalisierungsprozesse und Desinformation – besondere gesellschaftliche Risiken. Sie könnten aber gleichzeitig dabei helfen, das volle Potenzial systematischer und offener kollektiver Informationsverarbeitung – also z. B. kollektiver Intelligenz und Deliberation – auszuschöpfen (Schindler, 2022). Aus der theoretischen Betrachtung könnten schließlich weitere methodische Ansätze zur Gruppenforschung entwickelt werden – etwa zur Identifikation und Charakterisierung kollektiver Informationsverarbeitungsprozesse durch computationale Methoden. Bei alldem bleibt das MCIP anschlussfähig für theoretische Ansätze auf Individualebene und könnte somit auch helfen, die Interaktion individueller und kollektiver Prozesse besser zu verstehen.

Aus methodischer Perspektive erleichtert die in dieser Arbeit entwickelte und validierte standardisierte Gruppenbefragung die quantitative Erforschung von Kleingruppen. Sie ebnet den Weg für Mehrebenen-, Längsschnitt- und experimentelle Untersuchungen von Kleingruppen außerhalb des Labors. In experimentellen Studien könnte die Wirkung unterschiedlicher Medienstimuli oder anderer Interventionen z. B. auf politische, umwelt- oder gesundheitsbezogene kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen bei Paaren, Familien, Freund:innen oder weiteren Gruppenarten beleuchtet werden. Durch Längsschnitt-Designs könnte z. B. untersucht werden, wie sich entsprechende kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen über die Zeit entwickeln und welche Rolle dabei Einigkeit oder Uneinigkeit in der Gruppe, Art und Ausmaß der gemeinsamen Beschäftigung oder der Verlauf der gesellschaftlichen bzw. medialen Debatte spielen. In Mehrebenen-Designs mit ergänzenden Einzelbefragungen könnte das Zusammenspiel zwischen Individual- und Gruppenebene genauer beleuchtet werden, um z. B. herauszufinden, wie Gruppen und ihre Mitglieder mit ideologischen Differenzen umgehen oder wie Gruppen die Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer Mitglieder beeinflussen und umgekehrt.

Für diese und weitere Anwendungsfelder bietet die vorliegende Arbeit theoretische und methodische Impulse, die es auszubauen und weiterzuentwickeln gilt, um Gruppenforschung zu erleichtern und voranzutreiben.