In diesem Kapitel werden die Ergebnisse von Studie I vorgestellt. In dieser Studie sollte der unter 4.2 vorgestellte standardisierte Gruppenfragebogen getestet, validiert und weiterentwickelt werden. Zu diesem Zweck wurde eine qualitative Beobachtung von acht natürlichen Gruppen beim Ausfüllen des Fragebogens durchgeführt und um eine Gruppendiskussion zur Gestaltung des Fragebogens ergänzt (siehe 4.3 zu Teilnehmer:innengruppen, Ablauf, Auswertungsstrategie und Weiterentwicklung des Fragebogens). Im Folgenden wird zunächst FF1 zur Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses beantwortet (siehe 5.1). Anschließend wird FF2 zum Abgleich zwischen gemessenem und tatsächlich beobachtbarem Verhalten bei der Gruppenbefragung beantwortet (siehe 5.2). Am Schluss werden die Ergebnisse mit Bezug auf die Forschungsfragen zusammengefasst und diskutiert (siehe 5.3). Die zentralen Ergebnisse der Gruppendiskussion zur Fragebogengestaltung wurden unter 4.3.4 zusammengefasst.

5.1 Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses

Um FF1 nach der Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses und die dazugehörigen Unterfragen zu beantworten (siehe 3.3.2), wurde ein deduktiv-induktiv entwickeltes Kategoriensystem verwendet (siehe Tabelle 4.2 unter 4.3.3). In der Ergebnisdarstellung werden die einzelnen Kategorien vorgestellt und anhand von Beispielen veranschaulicht. Darüber hinaus werden als Indikator für die Verbreitung verschiedener kollektiver Antwortmuster auch ihre absoluten bzw. relativen Häufigkeiten berücksichtigt. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Codings zu Einigkeit und Uneinigkeit im Ausfüllprozess gegeben (siehe 5.1.1). Anschließend wird auf die Fälle eingegangen, in denen die Gruppenmitglieder von Beginn an mit einer gemeinsamen Antwort einverstanden waren (FF1a, siehe 5.1.2), im Verlauf des Ausfüllprozesses eine Einigung erzielten (FF1b, siehe 5.1.3) und keine Einigung erzielten (FF1c, siehe 5.1.4). Danach wird beleuchtet, welche Rolle die den Fragebogen ausfüllende Person eingenommen hat (FF1d, siehe 5.1.5). Abschließend wird betrachtet, inwieweit der gemeinsame Ausfüllprozess der Qualität der Messungen zuträglich war (FF1e, siehe 5.1.6) und inwieweit das verwendete Untersuchungsdesign zu Reaktivität geführt haben könnte (FF1f, siehe 5.1.7).

5.1.1 Überblick: Einigkeit und Uneinigkeit im Ausfüllprozess

Zunächst lohnt sich ein Überblick über die verschiedenen Wege, auf denen die Gruppen zu einer kollektiven Antwort kommen konnten. Tabelle 5.1 fasst die Häufigkeiten der entsprechenden Codings zusammen. Die Codings wurden auf Ebene von insgesamt 326 einzelnen kollektiven Antwortentscheidungen (pro Item bzw. Frage) vorgenommen.

Betrachtet man das Verhältnis zwischen Ausgangslage und Ergebnis, ergaben sich drei Möglichkeiten, durch die eine Gruppenantwort zustandekommen konnte: Als erste Möglichkeit konnten sich die Gruppenmitglieder von Beginn an einig sein und als Ergebnis die entsprechende gemeinsame Antwortoption wählen. Sie konnten ihr Einverständnis dabei auf verschiedene Arten deutlich machen, auf die unter 5.1.2 näher eingegangen wird. Bei den hier untersuchten Gruppen war dies der mit Abstand häufigste Fall (insgesamt in 247 von 326 Fällen bzw. 76 %). Eine Ausnahme bildete Gruppe 2 (Patchworkfamilie).

Deutlich seltener waren sich die Gruppenmitglieder zu Beginn des Antwortprozesses uneinig, welche Antwortoption sie wählen wollten (bei den hier untersuchten Gruppen in 79 von 326 Fällen bzw. 24 %). Soweit diese Abweichungen in der vorliegenden Untersuchung quantifizierbar waren, handelte es sich meist nur um kleinere Abweichungen von ein oder zwei Punkten auf einer siebenstufigen Skala (in 33 von 38 Fällen bzw. 87 %). Dabei kamen Abweichungen tendenziell häufiger in Familien und seltener bei Freund:innen bzw. Mitbewohner:innen und Paaren vor. Gruppe 6 – das seit über 30 Jahren verheiratete Rentner:innen-Ehepaar – war sich als einzige Gruppe bei jeder Antwort von Beginn an einig. Dass Abweichungen häufiger in den Familien beobachtet werden konnten, könnte zum einen durch ihre in dieser Untersuchung höhere Mitgliederzahl, zum anderen aber auch durch ihre naturgemäß heterogenere Zusammensetzung bedingt sein. Im Falle einer Abweichung ergaben sich die beiden weiteren Möglichkeiten, wie Gruppen zu einer kollektiven Antwort kommen konnten:

Tabelle 5.1 Häufigkeit der Codings zu Einigkeit und Uneinigkeit im Ausfüllprozess

Als zweite Möglichkeit konnten die Gruppenmitglieder zu Beginn abweichende Antwortpräferenzen haben, dann aber durch einen Einigungsprozess auf ein gemeinsames Ergebnis kommen. Diese Einigung konnte auf verschiedene Arten erzielt werden, die unter 5.1.3 genauer dargestellt werden. Wenn die Antwortvorschläge der hier untersuchten Gruppenmitglieder initial voneinander abwichen, war eine Einigung das mit Abstand häufigste Ergebnis (in 71 von 79 Fällen bzw. 90 %Footnote 1) – insbesondere, wenn es sich um kleinere Abweichungen handelte.

Als dritte Möglichkeit konnten die Gruppenmitglieder ihre von Beginn an abweichenden Antwortpräferenzen beibehalten und als Ergebnis die Antwortoption „Wir sind uns nicht einig“ wählen (siehe 4.2.1). In der vorliegenden Studie wurde diese Möglichkeit – trotz expliziten Hinweises – nur vereinzelt und tendenziell bei größeren Abweichungen genutzt (in 8 von 79 Fällen bzw. 10 % der Fälle mit initialen Abweichungen). Auf diese Fälle wird unter 5.1.4 genauer eingegangen.

Angesichts dieser drei grundlegenden Möglichkeiten werden Abweichungen zu Beginn des Antwortprozesses nicht in einem eigenen Gliederungspunkt behandelt, sondern jeweils im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ergebnis (Einigung oder Uneinigkeit).

Insgesamt zeichnete sich bereits hier ab, dass die Gruppen gut in der Lage waren, den Gruppenfragebogen zu beantworten. Dafür sprechen auch die Zeiten, die sie für die komplette Teilnahme (inklusive nachfolgender Einzelbefragung) benötigten: Sechs Gruppen brauchten ungefähr 30 Minuten und zwei Gruppen ungefähr eine Stunde. Die längeren Ausfüllzeiten dieser beiden Gruppen lagen weniger an Schwierigkeiten bei den Antworten, sondern hauptsächlich daran, dass sich die Gruppen bei der Teilnahme Zeit ließen und sich zwischendurch immer wieder über andere Themen unterhielten.

5.1.2 Einigkeit durch Einverständnis

Wie unter 5.1.1 gezeigt, waren sich die hier untersuchten Gruppen bei ca. drei Viertel der Antwortentscheidungen von Beginn an einig, welche gemeinsame Antwort sie wählen wollten (247 von 326). Im Folgenden wird genauer darauf eingegangen, wie häufig und auf welche Weise die Gruppenmitglieder ihr Einverständnis explizit (siehe 5.1.2.1), implizit (siehe 5.1.2.2) und auf Rückfrage (siehe 5.1.2.3) deutlich machten.

5.1.2.1 Explizit

In den meisten Fällen zeigte jedes einzelne Gruppenmitglied explizit seine Zustimmung zu einer kollektiven Antwort (in 178 von 247 Fällen bzw. 72 %). Mit Ausnahme von Gruppe 2 (Patchworkfamilie) kam dieser Modus auch in den einzelnen Gruppen jeweils am häufigsten vor. Insbesondere bei den Messungen von Einstellung und Themenbedeutung ließ sich mit Ausnahme einer Wiederholungsmessung ausschließlich dieser Modus beobachten. Dabei handelte es sich um Konstrukte, deren individuelle Ausprägung für die anderen Gruppenmitglieder nicht automatisch explizit wurde, aber relevant für den Gruppenprozess war (siehe 3.2.1.2 und 3.2.2.2). Bei Konstrukten, die für die Gruppenmitglieder besser beobachtbar waren – wie z. B. Affekte oder Arten der Verständigung – gaben Gruppenmitglieder dagegen häufiger „nur“ ihr implizites Einverständnis für eine gemeinsame Antwort (siehe 5.1.2.2). Daraus lässt sich schließen, dass die Gruppen und ihre Mitglieder intuitiv berücksichtigten, welche kollektiven Antworten besonders voraussetzungsreich waren und einen besonders gewissenhaften Einbezug jedes einzelnen Gruppenmitglieds erforderten.

Das folgende Beispiel zeigt einen prototypischen Fall expliziten Einverständnisses, in dem alle Gruppenmitglieder die gleiche Antwort nannten und diese dann auswählten:

Sophia::

…(liest vor) „Was ist mit dem Begriff Verkehrswende gemeint? (…)“

Lisa::

d) würde ich sagen…

Melissa::

…d)…

Sophia::

…d), ja…

[Gruppe 1: Nachhaltige WG; Messung: Wissen]

In diese Kategorie fiel auch, wenn sich bei skalierten Messungen alle Gruppenmitglieder von Anfang an in der allgemeinen Stoßrichtung einig waren und sich daraufhin ohne Abweichungen auf einen konkreten Wert abstimmen konnten:

Jakob::

…“Wir haben ausführlich“-, also…

Luise::

…ja, so ausführlich war das jetzt nicht, nicht?…

Jakob::

…ne…

Luise::

…eher so, ja…

Jakob::

…insofern ist da eigentlich eher wenig, nicht?…

Luise::

…ja…

Jakob::

…so drei?…

Luise::

…ja, mhm…

[Gruppe 5: Jurist:innen-Paar; Messung: Systematik der Informationsverarbeitung – standardisiert]

Die Zustimmung der einzelnen Gruppenmitglieder konnte auch nonverbal erfolgen:

Gabi::

…(liest vor) „Wie wichtig ist Ihnen Ihre Position zum Thema ‚Autofreie Stadt‘? (…)“ – also wir sind, nehmen wir sieben, weil wenn…

Manfred::

(nickt)

Gabi::

…okay…

[Gruppe 6: Rentner:innen-Ehepaar; Messung: Themenbedeutung]

Auch bei offenen Messungen ließ sich beobachten, dass alle Gruppenmitglieder von Beginn an mit einer Antwort einverstanden waren und das jeweils deutlich machten. Im folgenden Beispiel feilten drei Familienmitglieder gemeinsam an der Formulierung eines offen gemessenen Punktes und auch das vierte Familienmitglied äußerte durch ein „mhm“ seine Zustimmung. Wie im vorangegangenen Beispiel variierte also auch hier das Ausmaß der Beteiligung, es äußerte aber jedes Gruppenmitglied sein Einverständnis:

Christian::

…(zu Karin) was war das jetzt gerade nochmal?…

Karin::

…dass Frauen besser…

Christian::

…Frauen könnten…

Karin::

…können besser umgehen…

Roland::

…könnten bessere Eltern…

Karin::

…bessere Eltern sein…

Christian::

…Frauen sind vielleicht bessere Eltern – also, ähm…

Jenara::

…mhm…

Christian::

…puh, wie kann man das…

Roland::

…Frauen haben die sozialere (überlegt)…

Karin::

…Ader…

Christian::

…“Ader“ (tippt), ich weiß jetzt auch nicht, aber, passt schon…

[Gruppe 7: Familie vom Land; Messung: Systematik und Offenheit – offen]

Schließlich konnten einzelne Gruppenmitglieder auch auf weniger konventionelle Weise ihr Einverständnis mit einer gemeinsamen Antwort äußern. Im folgenden Beispiel äußerten sich die beiden Eltern durch eine Aussage bzw. das Ankreuzen der entsprechenden Antwort zu der Frage. Die beiden Söhne äußerten sich ironisch und humorvoll und machten damit deutlich, dass die Antwort für sie so klar war, dass sie nicht noch einmal ausgesprochen werden musste. Dieses Muster, das sich in verschiedenen Gruppen zeigte, wurde deshalb als explizites Einverständnis gewertet:

Andreas::

…(liest vor) „die Stimmung in unserem Gespräch war wegen Meinungsverschiedenheiten angespannt“…

Barbara::

…ne, überhaupt nicht…

Fabian::

…(ironisch) ooh, mmh…

Tobias::

…also die Mama fährt jetzt, wir haben schon ausgemacht, dass die Mama jetzt mit dem Fahrrad fährt, oder? (…)

Andreas::

…(füllt aus) also…

[Gruppe 4: Autoaffine Familie; Messung: Affekte als Eigenschaft der Informationsverarbeitung]

5.1.2.2 Implizit

In manchen Fällen zeigte mindestens ein Gruppenmitglied seine Zustimmung zu einer gemeinsamen Antwort nur implizit durch stilles Einverständnis (in 54 von 247 Fällen bzw. 22 %). Dieser Modus ließ sich in den Gruppen unterschiedlich häufig beobachten: Während er in Gruppe 3 (Internationale WG) und Gruppe 5 (Jurist:innen-Paar) kein einziges Mal vorkam, machte er in Gruppe 2 (Patchworkfamilie), Gruppe 4 (Autoaffine Familie) und Gruppe 6 (Rentner:innen-Ehepaar) ca. ein Drittel bis mehr als die Hälfte der Fälle aus. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass es in größeren Gruppen (wie Gruppe 2 und 4) weniger praktikabel ist, wenn sich jede:r einzelne explizit zu jede:r einzelnen Frage äußert. Darüber hinaus könnten neben Persönlichkeitseigenschaften auch die Rollenverteilung und der jeweilige Vertrautheitsgrad innerhalb der Gruppe eine Erklärung dafür sein, warum in den beiden Familien und der langjährigen Partnerschaft häufiger implizites Einverständnis beobachtet werden konnte.

Im folgenden Beispiel ist dieses Phänomen besonders stark ausgeprägt: Gabi füllte den Fragebogen für das seit über 30 Jahren verheiratete Ehepaar aus, dabei laß sie ihrem Mann jedes Item vor und kommentierte kurz, wie sie es beantwortete. Er sagte nichts, schien einverstanden und lachte lediglich kurz über eine Anmerkung von ihr:

Gabi::

…(liest vor) „Im Gespräch haben wir gemeinsam neue Ideen entwickelt“ auch nicht, „Wir haben das Gespräch mit viel Humor aufgelockert“, hm, ja (sieht zu Manfred), viel Humor gibt’s da nicht zum Auflockern…

Manfred::

(lacht kurz)

Gabi::

…“Unsere Diskussion war leidenschaftlich“ – es gibt Leidenschaftlicheres, „Die Stimmung im Gespräch war teilweise wegen Meinungsverschiedenheiten angespannt“ nein, „Jeder von uns hat sich gleich stark ins Gespräch eingebracht“, ja, „Im Gespräch haben wir uns an einer Person orientiert, die sich gut mit dem Thema auskennt“, ne, „Im Gespräch wurden gute Argumente aufgebracht, die uns überzeugt haben“, ne, weiter…

[Gruppe 6: Rentner:innen-Ehepaar; Messungen: Offenheit standardisiert, Arten der Verständigung, Affekte als Eigenschaft der Informationsverarbeitung]

Meist ließ sich dieser Modus aber in der Form beobachten, dass sich ein Gruppenmitglied zwischenzeitlich bei einem Item oder einer Frage nicht explizit äußerte, aber – unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts – einverstanden mit der Antwort der Gruppe schien. Dass fehlender Widerspruch in solchen Fällen tatsächlich als implizites Einverständnis gewertet werden kann, zeigt die umgekehrte Beobachtung, dass einzelne Gruppenmitglieder bei Bedarf durchaus ihr Veto gegen eine Antwort einlegten. Im folgenden Beispiel reagierte die 14-jährige Tochter, die sich ansonsten häufiger nicht explizit zu den gemeinsamen Antworten geäußert hatte, sofort und deutlich, als sie mit einer vorgeschlagenen Antwort nicht einverstanden war:

Claudia::

…(liest vor) „über den Beitrag geärgert“ – eigentlich auch nicht…

Thomas::

…nö, nö…

Amelie::

…nö…

Claudia::

…also eher vier…

Amelie::

…VIER?…

Thomas::

…NEIN!…

Amelie::

…wieso vier? Nein!…

Thomas::

…wir stimmen NICHT zu! „Wir haben uns über den Beitrag geärgert“ – da musst du doch einen Einser sagen, weil wir uns NICHT geärgert haben, sonst haben wir uns ein bisschen geärgert…

Claudia::

…überhaupt nicht, wir haben uns nicht geärgert, stimmt…

[Gruppe 2: Patchworkfamilie; Messung: Affekte als Einflussfaktor]

5.1.2.3 Auf Rückfrage

Hin und wieder äußerten einzelne Gruppenmitglieder ihr Einverständnis zu einer gemeinsamen Antwort erst auf Rückfrage (in 15 von 247 Fällen bzw. 6 %). In diesen Fällen versicherte sich meist die Person, die den Fragebogen für die Gruppe ausfüllte (siehe auch 5.1.5 zur Rolle der ausfüllenden Person), bei einem Gruppenmitglied, das sich nicht explizit geäußert hatte, ob es mit der gemeinsamen Antwort einverstanden war. Naturgemäß wurde diese Rückversicherung in der Regel bei Gruppenmitgliedern eingeholt, die sich verhältnismäßig weniger aktiv am Gruppenprozess beteiligt hatten und generell eher introvertiert wirkten. Im folgenden Beispiel erkundigen sich zwei Mitbewohner durch fragende Blicke bei ihrem dritten Mitbewohner, ob er mit der gemeinsamen Antwort einverstanden war:

Philipp::

…ja (klickt) und „berufliche Verpflichtungen“…

Julian::

…spricht eigentlich auch dagegen…

(Julian und Philipp sehen zu Pascal)

Pascal::

…ja, ja…

[Gruppe 8: Freunde-WG; Messung: Systematik und Offenheit – offen]

5.1.3 Einigkeit durch Einigungsprozess

Unter 5.1.1 wurde gezeigt, dass die Gruppen bei initial unterschiedlichen Antwortpräferenzen meist in einem Einigungsprozess eine gemeinsame Antwort fanden. Dieser Modus machte ca. ein Fünftel aller beobachteten Fälle (71 von 326) und 90 Prozent der Fälle mit Abweichungen zu Beginn des Antwortprozesses aus in (71 von 79). Dabei ging es häufig nur um eine Feinabstimmung der Antwort, da die Abweichungen zwischen den individuell präferierten Antwortoptionen in der Regel klein waren. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Gruppen jeweils zu einer Einigung kamen. Dabei wird auf Argumente (siehe 5.1.3.1), den „Mittelwert“ bzw. die Mehrheit (siehe 5.1.3.2), Meinungsführer:innen (siehe 5.1.3.3) und die Verwendung unterschiedlicher Modi (siehe 5.1.3.4) eingegangen. Teilweise wurden verschiedene Prinzipien gleichzeitig angewendet, indem z. B. Argumente ausgetauscht wurden und dann ein grober Mittelwert gebildet wurde. Auch hier zeigten einzelne Gruppenmitglieder auf die unter 5.1.2 beschriebenen Arten ihr Einverständnis zu den endgültigen Antworten.

5.1.3.1 Argumente

In fast der Hälfte der Fälle (38 von 80)Footnote 2, in denen sich die Gruppen auf eine gemeinsame Antwort einigten, geschah dies ganz oder teilweise auf Basis von Argumenten. Mit Ausnahme von Gruppe 2 (Patchworkfamilie) war dies auch in den einzelnen Gruppen der häufigste Modus. Im folgenden Beispiel war sich Gruppe 5 (Jurist:innen-Paar) zunächst nicht ganz einig, welche Antwort sie wählen wollten. Sie überlegten sich daraufhin gemeinsam Argumente zu Inhalt und genauer Formulierung der Frage und kamen so doch auf eine gemeinsame Antwort:

Luise::

…ja, da würde ich auch sagen „Stimme voll und ganz zu“…

Jakob::

…(nickt, sieht zu Luise) ja?…

Luise::

…ja, du nicht? Würdest du nicht sagen?…

Jakob::

…(nachdenklich) doch, eigentlich schon, aber – ich meine, fehlt dann nicht so das andere Geschlecht als Rollenvorbild manchmal?…

Luise::

…ja, aber ich finde das kommt immer sehr darauf an, wie das Geschlecht das konkret (…) ausfüllt und wie das kompensiert wird. Ich finde nicht, dass man das pauschal sagen kann. Gut, ich kann natürlich auch sagen, dass, äh, es nicht pauschal so ist, dass homosexuelle Paare dann besser sind…

Jakob::

…also nicht alle, aber ja (…) aber es steht ja auch nur „können“…

Luise::

…können, ja das würde ich auf-, ja stimmt. Das würde ich auf jeden Fall bejahen…

[Gruppe 5: Jurist:innen-Paar; Messung: Einstellung]

Mitunter genügte – wie im folgenden Beispiel – auch nur ein kleiner Einwurf, um die ganze Gruppe von einer bestimmten gemeinsamen Antwort zu überzeugen:

Sophia::

(liest vor) „Wir haben gemeinsam abgewogen, welche Argumente dafür und dagegen sprechen“, mh, haben wir eher nicht so gemacht…

Melissa::

…ne…

Sophia::

…wir haben eigentlich nur gesagt (lacht)…

Melissa::

…wir haben nur was dafür spricht…

Lisa::

…ja ein bisschen haben wir es schon gemacht, oder, dass wir gesagt haben ganz ohne…

Sophia::

…ja okay, stimmt (undeutlich) drei? Oder zwei?

Lisa::

…ja, zwei…

Melissa::

…zwei.

[Gruppe 1: Nachhaltige WG; Messung: Offenheit standardisiert]

5.1.3.2 „Mittelwert“/Mehrheit

Ein ähnlich verbreiteter Modus, um sich auf eine gemeinsame Antwort zu einigen, war die Bildung des ungefähren Mittelwertes (bei skalierten Antworten) oder die Anwendung des Mehrheitsprinzips – also die Bildung eines Aggregates aus Einzelangaben. Bei den untersuchten Gruppen spielten diese Arten der Einigung in mehr als einem Drittel der Fälle (31 von 80) eine Rolle und wurden häufig angewendet, um kleinere Abweichungen zu überwinden, nachdem bereits Argumente ausgetauscht worden waren. Dabei war es teils schwer zu unterscheiden, ob eine Gruppe auf Basis des Mittelwerts oder der Mehrheit entschied, da mitunter beides zum selben Ergebnis führte und das verwendete Prinzip nicht explizit gemacht wurde. Es kann ohnehin vermutet werden, dass den Gruppen das zugrundeliegende Prinzip teils nicht bewusst war, sondern intuitiv und nach Augenmaß angewendet wurde. Im folgenden Beispiel einigte sich die Gruppe auf eine gemeinsame Antwort, die sowohl dem Mittelwert als auch der Mehrheit der individuellen Antwortpräferenzen entsprach:

Philipp::

…(liest vor) „Das Video war schlecht gemacht, gut gemacht“ – doch schon ne gute Fünf, es war jetzt kein Blockbuster, ach, ne Vier, es war jetzt kein Blockbuster…

Pascal::

…nö, ich würde schon besser geben, gib ihm ne Fünf, ich bin bei der Fünf…

Julian::

…Fünf…

Philipp::

…okay, gut, ne, machen wir…

[Gruppe 8: Freunde-WG; Messung: Bewertung des Stimulus]

Die Bildung eines „Mittelwertes“ für die Gruppe funktionierte, indem sich Mitglieder mit unterschiedlichen Antwortpräferenzen aneinander annäherten und so auf Gruppenebene eine Antwort fanden, in die jede einzelne Position gleichermaßen mit eingeflossen waren. Im folgenden Beispiel plädierten jeweils zwei Gruppenmitglieder für einen niedrigeren und zwei für einen höheren Skalenpunkt. Nachdem ein Gruppenmitglied aber eine Tendenz nach oben signalisierte, entschied sich die Gruppe für den höheren Wert, der unter Berücksichtigung dieser Tendenz dem Mittelwert entsprach:

Christian::

…also, ich bin bei vier (sieht in die Runde)…

Karin::

…ich auch bei vier…

Roland::

…ich bei fünf, sechs, bei fünf…

Jenara::

…mmh, fünf vielleicht…

Christian::

…also dann würde ich vorschlagen wir nehmen…

Karin::

…fünf…

Christian::

…fünf…

Roland::

…fünf, gut…

Christian::

…okay (tippt ein) weiter…

[Gruppe 7: Familie vom Land; Messung: Themenbedeutung vorher]

Bei Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip wurde dagegen ein Gruppenmitglied von der Mehrheit überstimmt und zeigte sich dann mit der kollektiven Antwort einverstanden (siehe auch 5.1.2 zum Einverständnis). Im folgenden Beispiel ließ sich der Partner der Mutter letztendlich von den beiden anderen Familienmitgliedern überstimmen, nachdem er zunächst für eine bestimmte Formulierung in einer offenen Messung plädiert hatte:

Thomas::

…also dann füll mal aus warum das ein Filmchen ist und zweitens (…) warum da aufgeräumt war (…)…

Claudia::

…(tippt ein) „typisches kurzes“…

Amelie::

…Video…

Thomas::

…nein, ne, nenn das Filmchen…

Amelie::

…das auf ein Ziel aus- und dann, dass halt noch Studien da waren…

Thomas::

…(mit Blick auf den Bildschirm) wir haben das abwertend gesagt, wir haben Filmchen gesagt, wir haben nicht gesagt Film…

Claudia::

…(verbessert) „Fernsehfilm“…

Amelie::

…natürlich ist es ein Film…

Thomas::

…aber wir haben es abwertend gemeint…

Amelie::

…ein Kurzfilm…

(Anmerkung: Claudia trägt letztendlich „typischer kurzer Fernsehfilm“ ein)

[Gruppe 2: Patchworkfamilie; Messung: Systematik und Offenheit – offen]

In Gruppe 2 (Patchworkfamilie) war die Mehrheitsentscheidung der häufigste Modus der Einigung, während in den anderen Gruppen Argumente die wichtigste Rolle einnahmen (siehe 5.1.3.1). Das dürfte sich zum einen damit erklären lassen, dass die Denk- und Antwortmuster der Mitglieder dieser Gruppe besonders heterogen waren (Patchworkfamilie, Tochter im Teenageralter, eine generell eher kritische und ironisierende Haltung der Mitglieder). Zum anderen dürfte eine Rolle gespielt haben, dass das Thema des Fragebogens für die Gruppe eine geringe Bedeutung hatte. Aufgrund dieser beider Faktoren gab es viele Abweichungen in der Gruppe und ihre Mitglieder waren gleichzeitig wenig motiviert, sich argumentativ zu einigen oder auch im Fragebogen einzeln Position zu beziehen. Dass sich die Gruppe tatsächlich vom Mehrheitsprinzip und nicht von einem:r Meinungsführer:in leiten ließ, wird durch die Beobachtung gestützt, dass es keine feste Rollenverteilung gab, sondern jede:r hin und wieder zur Minderheit gehörte. Ob und wie stark ein Einwand eines einzelnen Gruppenmitglieds die gemeinsame Antwort beeinflusste, schien weniger davon abzuhängen, von wem er kam als vielmehr davon, wie wichtig er dem jeweiligen Gruppenmitglied war. Je wichtiger ein Punkt für ein Gruppenmitglied schien, desto eher verschaffte es sich Gehör und desto eher schlossen sich andere Gruppenmitglieder ihm an (siehe auch das Beispiel zu implizitem Einverständnis aus Gruppe 2 unter 5.1.2.2).

5.1.3.3 Meinungsführer:in

Schließlich konnten sich die Gruppen auch mithilfe von Meinungsführer:innen auf eine gemeinsame Antwort einigen. Dieser Modus ließ sich am seltensten beobachten (in 11 von 80 Fällen bzw. 14 %). Meist handelte es sich dabei um Mitglieder, die im Einverständnis mit ihrer Gruppe als Expert:innen auf die Wissensfragen antworteten (in 8 von 11 Fällen). Bei ihnen handelte es sich also um eine Unterkategorie von Meinungsführer:innen (siehe 3.1.3.1). Die Gruppen griffen auf diesen Entscheidungsmodus zurück, wenn sich ihre Mitglieder unterschiedlich gut informiert fühlten. Die effiziente Entscheidung über Meinungsführer:innen dürfte zudem durch die begrenzte Antwortzeit von 30 Sekunden begünstigt worden sein. Im folgenden Beispiel beantwortete ein schwuler Mitbewohner mit Einverständnis seiner heterosexuellen Mitbewohnerin als Experte die Frage, wann die Ehe für alle in Deutschland eingeführt wurde:

Alessio::

(undeutlich) 2015, oder? Das war 17, heiraten, 17 würde ich sagen, weißt du? (Pause) Ich bin fast sicher. Seit drei Jahren. Weißt du nicht, oder?

Dana::

Ich glaube eher, das weiß ich jetzt nicht, aber…

Alessio::

…aber ich bin sicher, 2017…

Dana::

…okay…

[Gruppe 3: Internationale WG; Messung: Wissen]

In den übrigen drei Fällen wurde die Antwortentscheidung der Gruppe durch eine:n Meinungsführer:in im allgemeinen Sinne – also ein in diesem Moment besonders einflussreiches Gruppenmitglied (siehe 3.1.3.1) – herbeigeführt. Dieser Einigungsmodus kam nur sehr vereinzelt in insgesamt vier Prozent der Fälle vor. In der Regel schloss sich nicht die Gruppe einem einzelnen Mitglied, sondern ein einzelnes Mitglied der Gruppe an (siehe auch 5.1.3.2 zur Entscheidung nach „Mittelwert“ bzw. Mehrheit). Die wenigen beobachteten Fälle schienen vor allem der Effizienz in größeren Gruppen zu dienen (siehe auch 5.1.5 zur Rolle der ausfüllenden Person). Im folgenden Beispiel diskutierte die Familie länger über die Interpretation eines (später überarbeiteten) Items und konnte sich für keine Richtung entscheiden. Der Vater, der den Fragebogen für die Familie ausfüllte, wählte schließlich einfach die Mitte aus und ging zum nächsten Item, womit die sich anderen Familienmitglieder letztendlich einverstanden zeigten. In Einklang mit den theoretischen Annahmen des MCIP dient er damit als Meinungsführer tatsächlich viel mehr der Gruppe als die Gruppe ihm (siehe 3.1.3.1):

Andreas::

…also, (liest vor) „im Gespräch kamen gute Argumente auf, die uns überzeugt haben“ (…)

Fabian::

…hä, was gab es denn für Argumente? (…)

Barbara::

…(deutet auf den Bildschirm, zu Andreas) das stimmt nicht zu, da kannst du eher zwei, drei machen (…)

Fabian::

…ja wir haben uns doch immer gegenseitig überzeugt, das passt doch…

Andreas::

…“im Gespräch kamen gute Argumente, die UNS überzeugt haben“ (…)

Fabian::

…aber da wir kein gegen und gegen sind, äh…

Tobias::

…ja eben…

Barbara::

…ja, das ist schwierig…

Fabian::

…für eins sind, kann man das eigentlich nicht beantworten…

Barbara::

…und trotzdem gab es natürlich Arg-, Nuancen – mittelmäßig würde ich…

Andreas::

…also…

Tobias::

…im Gespräch kamen gute Argumente auf – ja, die uns überzeugt haben – ja…

Fabian::

…ja…

Tobias::

(lacht)

Andreas::

…(liest vor) „im Gespräch haben wir uns auf die Position geeinigt“…

Tobias::

…(zu Andreas) warum hast du jetzt vier gemacht?…

Andreas::

…ja was dann?…

Tobias::

…ja, keine Ahnung (lacht)…

Barbara::

(lacht)

[Gruppe 4: Autoaffine Familie; Messung: Offenheit standardisiert]

5.1.3.4 Verwendung unterschiedlicher Einigungsstrategien

Der Überblick über die Codings zur Einigung (siehe 5.1.1) macht deutlich, dass keine der hier beobachteten Gruppen exklusiv eine Strategie verwendete, um sich auf eine gemeinsame Antwort zu einigen. Stattdessen wechselten die Gruppen zwischen verschiedenen Strategien. Dabei schienen sie jeweils gezielt auf die Strategie zurückzugreifen, die am besten zu ihrer jeweiligen Situation passte. Im folgenden Beispiel wird dies besonders deutlich: In Vorbereitung auf den Wissenstest mit begrenzter Antwortzeit besprach einer der Söhne aus Gruppe 4 mit seinen Eltern, wie sie sich jeweils verhalten sollten, damit sich die Familie möglichst effektiv einigen und antworten konnte. Die ganze Familie musste über seine Anweisungen lachen, was dafür spricht, dass sie sich der individuellen Antwortmuster ihrer Mitglieder bewusst waren und diese zielgerichtet auf Gruppenebene kombinieren konnten:

Barbara::

…(zu dem Hinweis, dass man die Antworten bitte nicht im Internet suchen soll) achso, auf die Idee wären wir jetzt gar nicht gekommen (lacht) (zur Begrenzung auf 30 Sekunden) puh, da muss man ja schnell sein…

Tobias::

…(zu Andreas) also wird-, noch nicht, warte, noch nicht auf Start drücken…

Barbara::

…warte, noch nicht, noch nicht, noch nicht…

Tobias::

…so, also wir müssen jetzt, Mama, wir können jetzt nicht so lange diskutieren…

Andreas::

…genau…

Barbara::

…nein…

Tobias::

…und Papa, du klickt nicht einfach mal schnell drauf damit was ausgewählt ist, okay?…

(Alle lachen)

[Gruppe 4: Autoaffine Familie; Messung: Wissen]

5.1.4 Uneinigkeit

Deutlich seltener als sich zu einigen (siehe 5.1.3) nutzten die hier beobachteten Gruppen bei unterschiedlichen Antwortpräferenzen die Option „Wir sind uns nicht einig“ (siehe 4.2.1). Dies kam nur in ca. zwei Prozent aller beobachteten Fälle (8 von 326) und zehn Prozent der Fälle mit Abweichungen zu Beginn des Antwortprozesses vor (8 von 79). Die Option „Wir sind uns nicht einig“ wurde von den verschiedenen Gruppenarten gleichermaßen genutzt. Sie wurde insbesondere gewählt, wenn größere Abweichungen zwischen den Gruppenmitgliedern vorlagen und/oder wenn einem oder mehreren Mitgliedern seine individuelle Position besonders wichtig war. Letzteres war im folgenden Beispiel aus Gruppe 8 der Fall:

Philipp::

…“Städte können auch ohne Autos gut funktionieren“…

Pascal::

…ja, stimmt…

Philipp::

…sechs – oder sieben, Julian, was meinst du?…

Julian::

…ich bin sogar bei der Sieben…

Philipp::

…ja ich bin bei der Sechs. Weil ganz ohne funktioniert es eben nicht…

Pascal::

…stimmt, da wollten wir eben auch getrennt auf-, bewerten (…)

Philipp::

…also ich mach ähm- sieben (zu Pascal) was machst du?…

Pascal::

…äh, ich mach auch ne Sechs. Ganz geht es nicht…

[Gruppe 8: Freunde-WG; Messung: Themenbedeutung nachher]

Verschiedene Gruppen reflektierten durchaus, dass sie bei Abweichungen auch die Option „Wir sind uns nicht einig“ wählen konnten, entschieden sich häufig aber trotzdem – insbesondere bei kleinen Abweichungen – bewusst für eine gemeinsame Antwort. Das folgende Beispiel zeigt, wie Gruppe 1 diese Entscheidung, die von jedem ihrer Mitglieder getragen wurde, explizit machte. Sie verwiesen dabei auf die geringen Abweichungen ihrer Haltungen und legten Wert auf eine gemeinsame Position:

Sophia::

…machen wir sechs…

Melissa::

…ja…

Lisa::

…ja wir nehmen sechs…

Melissa::

…wir sind uns nicht einig (lacht)…

Sophia::

…kann man das anklicken?

Melissa::

…ja, war vorher, aber ist ja Wurst…

Lisa::

(lacht)

Melissa::

…wir sind uns ja immer fast einig…

Lisa::

…ja ich würde auch sagen, wir machen Kompromisse….

Sophia::

…das war ja nur ein Minimales (lacht)…

Melissa::

…ja nur um einen Punkt, mei…

[Gruppe 1: Nachhaltige WG; Messung: Themenbedeutung vorher]

5.1.5 Rolle der ausfüllenden Person

Um die Rolle der den Fragebogen ausfüllenden Personen zu erfassen, wurden exemplarisch Passagen codiert, in denen diese besonders deutlich wurde. Der Fragebogen wurde in allen hier untersuchten Gruppen überwiegend oder vollständig durch ein Mitglied gesteuert und ausgefüllt. In sechs der acht Gruppen handelte es sich dabei um die Person, über die die Gruppe rekrutiert worden war und sich dadurch vermutlich besonders verantwortlich für ihren Ablauf fühlte. Dieses Kriterium schien relevanter zu sein als eine bestimmte, etwa über das Geschlecht oder die Position in der Familie definierte Rolle. Die Fragebögen wurden also z. B. sowohl von Männern als auch von Frauen und sowohl von Eltern als auch von Kindern gesteuert. Die den Fragebogen ausfüllenden Personen übernahmen dabei alle eine Art Stellvertreter:innen- bzw. Moderator:innen-Rolle für die ganze Gruppe und waren besonders engagiert, um einen praktikablen und korrekten Ablauf der Befragung zu gewährleisten.

Dafür boten sie ihrer Gruppe zum einen einen Service, indem sie z. B. die Fragen laut vorlasen, bei Bedarf erklärten (siehe auch 5.1.6.1 zur Unterstützung beim Frageverständnis) oder für den Stimulus den Ton einschalteten. Um zu gemeinsamen Antworten zu kommen, stimmten sie ihr Vorgehen und die einzelnen Antworten mit den anderen Gruppenmitgliedern ab und bezogen ruhigere Gruppenmitglieder durch Rückfragen mit ein (siehe auch 5.1.2.3 zu Rückfragen). Im Folgenden stimmte beispielsweise der den Fragebogen ausfüllende Mitbewohner aus Gruppe 8 sein Vorgehen bei der Beantwortung einer offenen Frage zunächst mit den anderen Mitbewohnern ab:

Philipp::

…ähm, „wurde sowohl ein autofr“- (zu den anderen) also ich fange jetzt einfach mal an…

Pascal::

…jaja…

Philipp::

…und ihr sagt einfach, ob es euch passt oder nicht, oder?…

Julian::

(nickt)

Pascal::

…leg los…

[Gruppe 8: Freunde-WG; Messung: Verständnis des Stimulus]

Zum anderen übernahmen die den Fragebogen ausfüllenden Personen bei Bedarf auch eine proaktivere Anleitung der Gruppe beim Ausfüllen des Fragebogens. Dabei schienen sie aber nicht darauf abzuzielen, als inhaltliche Meinungsführer:innen und aufgrund individueller Einstellungen über die Antworten der Gruppe oder einzelner Mitglieder zu bestimmen. Stattdessen achteten sie darauf, dass der gemeinsame Antwortprozess im Sinne aller Mitglieder ablief und die Antworten korrekt waren (siehe auch 5.1.3.3 zu Meinungsführer:innen und 5.1.6.2 zur Kontrolle der Antworten). Ein entsprechendes Beispiel aus Gruppe 4 zeigt, wie der den Fragebogen ausfüllende Vater sich selbst auf inhaltlicher Ebene zurückhielt, bei Abweichungen in der Gruppe die Option „Wir sind uns nicht einig“ vorschlug und dann darauf achtete, dass die Einzelangaben tatsächlich von jedem Gruppenmitglied einzeln gemacht wurden:

Andreas::

…dann sind wir uns nicht einig…

Tobias::

…ja, Mensch…

Andreas::

…also, Fabi ist es unwichtig (tippt ein) (…) (zu Tobias) wie wichtig ist die Frage für dich, jetzt? Jetzt jeder einzelne Meinung. Tobi, für dich ist sie?…

Tobias::

…ja, schon wichtig. (Zeigt auf den Bildschirm) Ne, mach mal sechs. Oder sieben, passt auch…

Barbara::

…(nachdenklich) aah, ist die Frage wichtig?…

Tobias::

…du stellst dir die Frage nicht, ja, aber was ist jetzt, wenn die jetzt- es ist SCHON wichtig, du willst das Recht haben ein Auto zu behalten, willst du haben. Deswegen ist es SCHON wichtig für dich, dass es…

Andreas::

…also, das soll die Mama jetzt entscheiden was, ob sie jetzt eins oder sieben ist…

Barbara::

…keine Ahnung, mach vier…

[Gruppe 4: Autoaffine Familie; Messung: Themenbedeutung nachher]

In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Kontrollfragen interessant, die im Anschluss an die offenen Messungen zur Informationsverarbeitung (siehe 4.2.3.1) und dem Verständnis des Stimulus (siehe 4.2.3.3) gestellt wurden. Dabei wurde jeweils gefragt, ob alle Teilnehmenden mit der Antwort der Gruppe einverstanden waren. In den hier untersuchten Gruppen wurde diese Frage von dem ausfüllenden Gruppenmitglied in der Regel als Anlass für eine (häufig erneute) Rückfrage in die Runde genommen. Dabei wurde sie in keinem Fall verneint oder führte zu einer Änderung der entsprechenden Antwort. Die Gruppen hatten sich – unabhängig von der Kontrollfrage – immer schon vorher auf eine gemeinsame Antwort verständigt.

Schließlich gab es vereinzelt auch Wechsel der den Fragebogen ausfüllenden Person. Der Fragebogen schien dabei grundsätzlich von dem Mitglied ausgefüllt zu werden, das gerade die größte Motivation und die entsprechenden Fähigkeiten hatte, um die oben beschriebene Rolle als Stellvertreter:in der Gruppe zu übernehmen. Das wird im folgenden Beispiel aus Gruppe 2 deutlich: Als die im Ausfüllprozess ansonsten eher zurückhaltende Tochter sah, dass ihre Mutter bei der Beantwortung einer offenen Frage nicht auf Groß- und Kleinschreibung achtete, übernahm sie die Steuerung des Fragebogens:

Amelie::

…(sieht auf den Bildschirm, zu Claudia) du musst schon großschreiben!

Thomas::

…ne, komm, das geht schon…

Claudia::

…macht es das von selber? (Tippt weiter) „Mutter“…

Thomas::

…ne…

Amelie::

…natürlich macht es das nicht - (sieht wieder auf den Bildschirm) Mama, du- (seufzt)…

Claudia::

…ja das kann ich jetzt nicht mehr ändern…

Thomas::

…Pech gehabt…

Amelie::

(greift zur Tastatur und verbessert den Text)

Thomas::

…da schau her, das Kind weiß das, das ist Mediennutzung…

Amelie::

…genau (lacht)…

[Gruppe 2: Patchworkfamilie; Messung: Verständnis des Stimulus]

5.1.6 Kollektive Qualitätssicherung

Ein Phänomen, dass sich ebenfalls in allen hier untersuchten Gruppen zeigte, war die gegenseitige Unterstützung und Kontrolle bei Verständnis und Beantwortung des Fragebogens. Auf diese Weise fand eine Art kollektive Qualitätssicherung der Messungen statt, da diese so seltener durch Missverständnisse, Ungenauigkeiten etc. verzerrt wurden. Im Folgenden werden die gegenseitige Unterstützung beim Frageverständnis (siehe 5.1.6.1) und die Kontrolle der Antworten (siehe 5.1.6.2) genauer beleuchtet. Beide Phänomene zeigten sich – entsprechend ihrer speziellen Rolle – insbesondere bei der den Fragebogen ausfüllenden Person (siehe 5.1.5), aber auch bei anderen Gruppenmitgliedern.

5.1.6.1 Unterstützung beim Frageverständnis

Kollektive Qualitätssicherung fand vor allem statt, indem sich die Gruppenmitglieder gegenseitig beim Verständnis einer Frage unterstützten. Im Verlauf von Studie I wurde dieses Phänomen aufgrund der Überarbeitung des Fragebogens weniger, blieb in geringem Umfang aber bis zum Schluss bestehen (0–5 Mal pro Gruppenbefragung in den Gruppen 5–8; siehe 4.3.4). Die Gruppenmitglieder machten deutlich, wenn sie selbst etwas nicht verstanden hatten und erklärten anderen Gruppenmitgliedern, was diesen unklar war. Dabei ging es z. B. um die Deutung von Fragen, das Verständnis von Begriffen, die korrekte Beantwortung invertierter Items oder die Verwendung der Option „Wir sind uns nicht einig“. Dadurch verstanden die Gruppen die entsprechenden Teile des Fragebogens in der Regel richtig, auch wenn sie einzelne oder mehrere Gruppenmitglieder alleine missverstanden hätten. Im folgenden Beispiel aus Gruppe 7 hatte zunächst nur eines von vier Mitgliedern die Frage richtig verstanden. Nachdem die Freundin den Sohn beim Verständnis unterstützt hatte, konnte er die Frage anschaulich seinen Eltern erklären, sodass sie am Ende alle vier Mitglieder verstanden:

Christian::

…(liest nochmal langsam vor) „Es geht darum, wie WICHTIG Ihnen Ihre Position ist und nicht, welche Position Sie haben. Wenn Ihnen z. B. sehr wichtig ist, dass homosexuelle Paare Kinder haben dürfen, wählen Sie bitte 7 aus. Wenn Ihnen sehr wichtig ist, dass homosexuelle Paare keine Kinder haben dürfen, wählen Sie bitte ebenfalls 7 aus.“

Jenara::

…nicht WELCHE Position, aber wie WICHTIG ist für dich (…)

Christian::

…ACHSO, jetzt verstehe ich es! Okay. Zum Beispiel zu mir, genau, jetzt verstehe ich es. Alles klar…

Roland::

…ja ich muss es auch verstehen…

Karin::

…ich auch, ich auch (lacht)…

Christian::

…ja, also wenn jetzt du sagst, zum Beispiel, also so verstehe es ich, ähm, wenn du dafür einfach auch einstehst, dass homosexuelle Paare Kinder haben sollten, dass du sagst „ich will das unbedingt, ich stehe für diese Meinung ein“ (…) oder sagst du (zuckt mit den Schultern) „ja“-…

Jenara::

…“mir ist egal“ (…)

Roland::

…wie wichtig ist was? Dass sie…

Jenara::

…es ist einfach, wenn es ist sehr wichtig-…

Christian::

…(zu Roland) ja stehst du, stehst du für diese Position, die du da hast, ein? Sagst du, würdest du dafür auf die Straße gehen, so ungefähr (…) dass diese, dass jetzt die Regenbo-, dass jetzt die homosexuellen Paare Kinder haben dürfen (…)?

Roland::

…ja wenn es jetzt Kinder gibt, die gar keine Eltern haben…

Jenara::

…jaa, das ist auch…

Roland::

…dann ist es doch wichtig, dass sie, dass jemand sich die Kinder annimmt. Aber auf die Straße würde ich jetzt auch nicht gehen…

[Gruppe 7: Familie vom Land; Messung: Themenbedeutung vorher]

5.1.6.2 Kontrolle der Antworten

Die kollektive Qualitätssicherung bestand aber auch darin, dass die Gruppenmitglieder automatisch die Antwortvorschläge der Gruppe kontrollierten. In fünf der acht Gruppen intervenierte mindestens einmal ein Mitglied, weil die anderen Mitglieder z. B. eine Frage missverstanden, übersehen oder ungenau oder erkennbar unzutreffend beantwortet hatten. Im ersten Fall überschneidet sich diese Kategorie mit der Unterstützung beim Frageverständnis (siehe 5.1.6.1), grenzt sich aber insofern von ihr ab, als sie sich spezifisch auf die Kontrolle bereits formulierter Antworten bezieht. Im folgenden Beispiel aus Gruppe 6 wollte beispielsweise der Mann in einem offenen Antwortfeld Anmerkungen machen, die sich nicht auf die eigentliche Fragestellung bezogen. Seine Frau bemerkte dies und verwies auf die genaue Frageformulierung:

Gabi::

…jetzt, (liest vor) „Bevor wir zu den letzten Fragen kommen (…)“ äh, wir würden jemandem erzählen, jetzt sollen wir das kommentieren, äh (tippt) „autofreie Stadt, ein besonderes Thema“ (tippt) „unserer Meinung nach nicht realisierbar“, oder? (sieht zu Manfred)…

Manfred::

…(schüttelt den Kopf) schreib mal rein „warum sieht man in dem Video nichts Negatives, nur Positives?“ das kann es nicht sein (…) weil jede Seite hat ein Plus und ein Minus, egal…

Gabi::

…ja das hätten wir woanders, müssen wir woanders reinschreiben. Wir sollen jetzt nur schreiben, worüber es ging…

[Gruppe 6: Rentner:innen-Ehepaar; Messung: Verständnis des Stimulus]

5.1.7 Reaktivität der Messungen

Schließlich wurden Passagen codiert, die auf Reaktivität durch das gewählte Untersuchungsdesign (siehe 4.1) hindeuten. Dieser Aspekt wird im Folgenden sowohl für die standardisierte Gruppenbefragung (siehe 5.1.7.1) als auch für die Beobachtung (siehe 5.1.7.2) betrachtet.

5.1.7.1 Durch die Befragung

Bei einer standardisierten Gruppenbefragung sind grundsätzlich die gleichen Reaktivitätseffekte denkbar wie bei einer Einzelbefragung (Scholl, 2013). Deshalb wurde z. B. versucht, reaktives Antwortverhalten durch neutrale Formulierungen und Ausweichmöglichkeiten zu reduzieren. Darüber hinaus sind durch die gruppenspezifische Ausrichtung des Fragebogens zusätzlichen Reaktivitätseffekte denkbar, die an dieser Stelle von besonderem Interesse sind. Abgesehen von einigen Unklarheiten in früheren Versionen des Fragebogens, der daraufhin überarbeitet wurde (siehe 4.3.4), brauchten drei Gruppen kurz Zeit, um auf Anweisung in ein Gespräch über den Stimulus zu kommen. Letztendlich hatte aber jede beobachtete Gruppe in irgendeiner Form Gesprächsbedarf und es entwickelte sich eine natürlich wirkende Unterhaltung. Das folgende Beispiel zeigt, wie die beiden Mitbewohner:innen aus Gruppe 3 kurz zögerten, dann aber in ein Gespräch fanden:

(beide lesen die Anweisung)

Alessio::

(lacht) Wir…

Dana::

(lacht)

Alessio::

…(lacht) okay (liest weiter, lehnt sich danach zurück und sieht zu Dana) was denkst du über diese Familien?

Dana::

(lächelt) süüüß…

Alessio::

…(lacht laut) süß…

Dana::

…ich finde es süß. Und ich finde es toll für die Kinder…

Alessio::

…ja. So ich denke so in Ländern wie Deutschland zum Beispiel ist, da ist das ganz normal. Aber in Italien kann ich mir vorstellen, wenn Kinder zwei Männer so als Eltern haben, so, wäre es schon schwieriger…

Dana::

…ja…

Alessio::

… …weil so eine Gesellschaft muss so ein bisschen bereit sein für sowas. Aber ich finde die Leute, die sowas wollen, sind ganz viel mutig, oder?

Dana::

…ja, das stimmt…

[Gruppe 3: Internationale WG; Gespräch nach dem Stimulus]

5.1.7.2 Durch die Beobachtung

In Studie I könnte zudem die Beobachtung per Kamera zu Reaktivität geführt haben. Wie unter 4.3.2 erwähnt, gerät die Kamera durch die Interaktion in der Gruppe meist in den Hintergrund. Das schien über weite Strecken auch bei den hier beobachteten Gruppen der Fall zu sein: Es gab kleinere Konflikte und Neckereien zwischen ihren Mitgliedern, sie machten Witze und äußerten ihre Einstellungen mitunter sehr deutlich – die Atmosphäre wirkte also natürlich. Es wurde aber auch deutlich, dass zumindest ein Teil der Teilnehmenden die Kamera im Bewusstsein behielt. Sie achteten etwa darauf, dass die Gruppe gut im Bild blieb oder reflektierten zwischendurch darüber, dass sie gefilmt wurden. So blickte etwa einer der Söhne aus Gruppe 4 nach einer langen Diskussion in die Kamera und wünschte „viel Spaß“ bei der Auswertung. Insgesamt schienen die Gruppen dennoch den anfänglichen Hinweis zu beherzigen, dass es um ihr natürliches Verhalten gehe und ihr Verhalten aufgrund von sozialer Erwünschtheit nur leicht an die Beobachtung durch die Kamera anzupassen. Dies könnte z. B. zu moderateren Positionen, einer vorsichtigeren Wortwahl oder einer disziplinierteren Diskussionskultur geführt haben. Reaktanz gegenüber dem Gruppenfragebogen ließ sich dagegen nicht beobachten. Im folgenden Beispiel setzte sich Gruppe 2 ironisch und selbstreflektiert mit Effekten sozialer Erwünschtheit durch die Kamera auseinander:

Thomas::

…[über den Stimulus] ja, aber es ist doch so, es ist eine geschönte Welt, alle reißen sich für den Film zusammen, wie wir uns auch zusammenreißen…

Amelie::

…nein…

Thomas::

…jetzt da (…) normalerweise würdest du ganz andere Sachen zu mir sagen…

Thomas::

…ist doch so, verstehst du, also das ist…

Claudia::

…aber wir werden ja gefilmt…

Amelie::

…du bist nicht sehr kamerafreundlich, Thomas (lacht)…

Thomas::

…die Kamera ist gar nicht da (lacht)…

[Gruppe 2: Patchworkfamilie; Gespräch nach dem Stimulus]

5.2 Abgleich von Beobachtungen und Messungen

Nun soll FF2 beantwortet werden, indem geprüft wird, ob das beobachtbare Verhalten der Gruppen im gemeinsamen Rezeptionsprozess mit ihren Antworten im Gruppenfragebogen übereinstimmt (siehe 3.3.2). Dafür wurden erstens Indikatorpassagen für beobachtbare Konstrukte codiert (Einflussfaktoren: Aufmerksamkeit, Affekte; Eigenschaften: Systematik, Offenheit, Arten der Verständigung, Affekte). Zweitens wurde codiert, ob die Messungen aus dem Gruppenfragebogen mit den Beobachtungen aus diesen Passagen übereinstimmten (siehe Tabelle 4.3 unter 4.3.3). Im Folgenden wird anhand von Beispielen auf die Übereinstimmungen (siehe 5.2.1) und Abweichungen (siehe 5.2.2) zwischen Beobachtungen und Messungen eingegangen. Da insgesamt 168 Messungen auf Ebene einzelner Items abgeglichen wurden, erschien es dabei sinnvoll, auch die Häufigkeiten der Codings zu betrachten, um auf die Qualität der Messungen schließen zu können.

5.2.1 Übereinstimmungen

Die überwiegende Mehrzahl der abgeglichenen Messungen ließ sich mit dem beobachtbaren Verhalten der Gruppen vereinbaren (161 von 168 Fälle bzw. 96 %). Wie unter 4.3.3 ausgeführt, wurden Übereinstimmungen aus Rücksicht auf die Besonderheiten jeder Gruppe großzügig und vor allem mit Blick auf die allgemeine Stoßrichtung codiert. Im Folgenden sollen die Übereinstimmungen an vier Beispielen zu unterschiedlichen Konstrukten illustriert werden.

Das erste Beispiel steht exemplarisch für die Messungen zu den Einflussfaktoren auf kollektive Medienrezeption. Es zeigt, wie die Mitglieder aus Gruppe 3 während der Rezeption des Stimulus emotionale Bewegtheit deutlich machten und später die Frage dazu entsprechend beantworteten:

Indikatorpassage

Alessio::

(Als eines der Kinder im Video sagt, dass es mit vier Jahren realisiert hat, dass seine Familie ein bisschen anders ist) süß…

Dana::

…ja.

Messung [Affekte als Einflussfaktor]

„Das Video hat uns emotional bewegt.“ = 7

Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 3: Internationale WG]

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Messungen von Systematik und Offenheit der kollektiven Informationsverarbeitung und stammt aus dem Gespräch nach dem Stimulus in Gruppe 6. Indikatorpassage 1 impliziert einen systematischen Verarbeitungsprozess, in dem die Gruppe ausführlich und motiviert über das Thema „Autofreie Stadt“ sprach. Indikatorpassage 2 zeigt dagegen, wie die Gruppe kurze Zeit später kein Interesse mehr an einem weiteren und tiefergehenden Austausch hatte (siehe 3.2.1.1). Dazu passen die Antworten zu den entsprechenden Items 1–4. Weiterhin zeigt Indikatorpassage 1, dass sich die Mitbewohner in im Wesentlichen einig waren, was für einen geschlossenen Verarbeitungsprozess auf Ebene der Meinung spricht (siehe 3.2.2.1) und sich so auch in den Antworten zu Items 5–6 zeigte. Doch auch wenn die Gruppe für die autofreie Stadt war, sprach sie hauptsächlich über Argumente dagegen und antwortete entsprechend auf Items 7–8. Philipp reflektierte und erklärte dieses zunächst kontraintuitive Muster später mit dem Satz: „So richtige deutsche Ingenieure, nur Probleme gesehen“. Insgesamt wird an diesem Beispiel gut sichtbar, wie die verschiedenen Verarbeitungsmodi in der Praxis wechselten und in Mischformen auftraten (siehe 3.2.3.2). Gleichzeitig zeigt sich, wie solche Mischformen durch die verschiedenen Items und die siebenstufigen Skalen erfasst werden konnten:

Indikatorpassage 1

Julian::

…aber man muss dabei halt irgendwie berücksichtigen, dass es sich dabei immer nur noch um Wohnviertel handelt. Um einzukaufen haben die Bewohner ja auch gesagt müssen sie an den Rand des Viertels, um dort in die Läden zu gehen, das heißt so Warentransport für Gastronomie oder auch Supermärkte ist ohne Autos, ganz ohne Autos glaube ich nicht zu machen…

Philipp::

…ja was ich auch-, also was ich auch finde, was man da nicht vergessen darf ist-, grundsätzlich ist es eine gute Idee und es ist auch bestimmt in einem großen Maße umsetzbar, aber ich glaube dass es eben, also genau was du meinst, Gastronomie, Handwerksbetriebe zum Beispiel, oder auch so-, oder auch einfach körperliche, also Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sei es jetzt aufgrund Alter oder auch Behinderung…

Julian::

(nickt)

Indikatorpassage 2

Philipp::

…ja das stimmt. Und wann kann man sonst noch sagen? Ahja, guck, jetzt sind wir bei den zwei Minuten schon. Ich würde einfach mal auf weiter drücken (lacht), oder wollt ihr noch was sagen dazu?…

Pascal::

…(grinst, schüttelt den Kopf) ne das passt…

Julian::

…(schüttelt den Kopf) das ist ja ein Fass ohne Boden…

Philipp::

…stimmt…

Messungen [Systematik und Offenheit der Informationsverarbeitung – standardisiert]

  1. 1.

    „Wir haben ausführlich diskutiert.“ = 5

  2. 2.

    „Über einige Aspekte haben wir uns besonders gründlich ausgetauscht.“ = 1

  3. 3.

    „Es gab bestimmte Punkte, die uns im Gespräch besonders wichtig waren.“ = 1

  4. 4.

    „Wir hatten wenig Gesprächsbedarf.“ = 1

  5. 5.

    „Im Gespräch waren wir fast immer einer Meinung.“ = 6

  6. 6.

    „Wir waren immer wieder unterschiedlicher Meinung und haben darüber diskutiert.“ = 2

  7. 7.

    „Wir haben hauptsächlich über Punkte gesprochen, die uns in unserer Meinung bestätigen. = 4

  8. 8.

    „Wir haben sowohl Argumente für die eine als auch für die andere Seite ausgetauscht.“ = 2

Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 8: Freunde-WG]

In einem dritten Beispiel geht es um die Messungen der Arten der Verständigung im kollektiven Verarbeitungsprozess. In der Indikatorpassage aus Gruppe 5 wird exemplarisch deutlich, wie die beiden Partner:innen sich im Gespräch über den Stimulus gleichmäßig abwechselten und sich an Argumenten orientierten, was sie schließlich auch in der entsprechenden Messung angaben:

Indikatorpassage

Luise::

…genau, jaja, das meine ich, also von daher finde ich es eigentlich schön. Ich finde es ganz nachvollziehbar und habe mich nochmal bestärkt (nickt), dass ich so denke…

Jakob::

…ich war tatsächlich auch noch ein bisschen unentschlossen…

Luise::

…mit dem Können jetzt, ob die das, ob die gleich gut sozusagen sein können?…

Jakob::

…ob das, also – aber wenn man jetzt halt bedenkt, dass bei normalen Eltern ja auch nicht nur Top-Eltern dabei sind, sondern auch nicht so gute…

Luise::

…ja…

Jakob::

…glaube ich schon dass das statistisch nicht auffällig ist…

Luise::

…vor allem wenn es kein Wunschkind ist…

Jakob::

…jaja, vielleicht ist das Wunschkind tatsächlich der ausschlaggebende Faktor…

Messungen [Arten der Verständigung]

  1. 12.

    „Jeder von uns hat sich gleich stark ins Gespräch mit eingebracht.“ = 7

  2. 13.

    „ Im Gespräch haben wir uns an einer Person orientiert, die sich gut mit dem Thema auskennt.“ = 1

  3. 14.

    „ Im Gespräch wurden gute Argumente aufgebracht, die uns überzeugt haben.“ = 7

Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 5: Jurist:innen-Paar]

Schließlich soll noch ein Beispiel zur Messung von Affekten als Eigenschaft des kollektiven Verarbeitungsprozesses präsentiert werden. Die Indikatorpassage aus Gruppe 4 zeigt, wie sich die Familienmitglieder nach der Rezeption des Stimulus engagiert darüber unterhielten, Witze machten und durcheinanderredeten. Später gaben sie damit übereinstimmend an, leidenschaftlich diskutiert zu haben:

Indikatorpassage

Barbara::

…so lange brauchst du glaube ich nicht, wenn du mit dem Rennrad fährst, frag die (Name), die fährt von (Stadtteil) jeden Tag nach (Stadtteil) mit dem Fahrrad. Die fährt mit dem Rennrad (…) im Sommer denke ich…

Fabian::

…ja hab ich ein Rennrad? Nein!…

Andreas::

…(zu Fabian) haha…

Tobias::

…drum nehme ich lieber das Rennauto (lacht)…

Barbara::

…(lacht laut) das habe ich, oder?…

(Alle reden durcheinander)

Messung [Affekte als Eigenschaft der Informationsverarbeitung]

17. „Unsere Diskussion war leidenschaftlich.“ = 6

Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 4: Autoaffine Familie]

5.2.2 Abweichungen

Abweichungen zwischen den Messungen aus dem Gruppenfragebogen und den Beobachtungen des kollektiven Rezeptionsprozesses traten dagegen nur vereinzelt auf (in 7 von 186 Fällen bzw. 4 %). Sie waren gleichmäßig über die verschiedenen Gruppen verteilt und kamen in manchen Gruppen gar nicht und in anderen maximal zwei Mal vor. Abweichungen wurden nur codiert, wenn sie von außen deutlich als solche erkennbar waren (siehe 4.3.3).

Betrachtet man die insgesamt sieben Fälle genauer, lassen sie sich in zwei grobe Kategorien einteilen: Zum einen gab es vier Abweichungen, die vermutlich aufgrund von Missverständnissen entstanden sind. Dazu gehörten die versehentlich falsche Beantwortung eines invertierten Items (1 Fall aus Gruppe 2), das Missverständnis eines Begriffes (1 Fall aus Gruppe 3) sowie die falsche Interpretation bzw. missverständliche Formulierung von Items (2 Fälle aus Gruppe 1 und 4). Soweit möglich wurde der Fragebogen auf Basis dieser Fälle überarbeitet (siehe 4.3.4). Das folgende Beispiel aus Gruppe 4 zeigt einen solchen Fall. Die Familie hatte während der Rezeption des Stimulus – wie z. B. in der Indikatorpassage – Witze gemacht, dies später aber nicht angegeben. In der Gruppendiskussion erklärte sie dies durch die zu negativ wirkende Formulierung des Items („Wir haben uns über das Video lustig gemacht“), die anschließend abgeschwächt wurde („Wir haben Witze über das Video gemacht“):

Indikatorpassage

Barbara::

…(als Kinder gezeigt werden, die im autofreien Viertel mit Tretautos und -traktoren fahren) aber alle fahren sie Fahrgeräte, gell?…

Fabian::

…ja…

Tobias::

(lacht)

Barbara::

(lacht)

Messung [Affekte bei der Rezeption]

„Wir haben uns über das Video lustig gemacht.“ = 1 Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 4: Autoaffine Familie]

Zum anderen gibt es die Kategorie der Abweichungen von Beobachtung und Messung, die sich wohl eher mit der Motivation der Gruppen erklären lassen. So wollten die Gruppen aufgrund der Beobachtungssituation womöglich ein bestimmtes Fremdbild wahren – was auf einen klassischen Effekt sozialer Erwünschtheit verweist (siehe auch 5.1.7.2). Die Gruppen könnten alternativ (oder zusätzlich) aber auch motiviert gewesen sein, im Sinne geschlossener Informationsverarbeitung ein bestimmtes Selbstbild zu wahren – und damit kognitive Dissonanz zu reduzieren (siehe 3.2.2.1). In diesen Bereich fallen vermutlich drei der insgesamt sieben beobachteten Fälle (einmal aus Gruppe 2 und zweimal aus Gruppe 6). Im folgenden Beispiel aus Gruppe 6 lässt sich etwa beobachten, wie die Frau im Gesrpäch nach der Stimulus kurz einige Argumente gegen die autofreie Stadt andeutete, das Ehepaar diese daraufhin aber nicht weiter vertiefte oder abwog, sondern sich sofort und endgültig gegen die autofreie Stadt positionierte. Später gab das Paar an, Argumente für beide Seiten miteinander abgewogen zu haben, was sowohl mit dem Bedürfnis nach einem positiven Fremd- als auch Selbstbild erklärt werden könnte. Nachdem das „Abwägen“ von Argumenten als besonders sozial erwünscht wahrgenommen werden dürfte und – je nach Definition – auch Teil geschlossener Verarbeitungsprozesse sein könnte, wurde später auch dieses Item angepasst („Wir haben sowohl Argumente für die eine als auch für die andere Seite ausgetauscht.“):

Indikatorpassage

Gabi::

… aber autofrei, ne, also- sicher ist es, ist es schön. Wir sind, ich weiß auch nur, wo ich aufgewachsen bin, wie viel Autos gab es da? Oder du – auf dem Land? Aber wir haben eine andere Zeit. Und sicher, auch jetzt, aufgrund von Corona, wir haben es hier schon gemerkt, wir wohnen an einer Hauptverkehrsstraße, dass natürlich das um einiges weniger war, aber (sieht zu Manfred)…

Manfred::

…wenn die Leute wieder mit Respekt miteinander umgehen täten, auch jeder Rücksicht nehmen, nachher hätte sich das Problem auch gelöst, fertig…

Gabi::

…(nickt) ja, genau, das- man kann das einfach nicht so verallgemeinern…

Manfred::

…mach weiter…

Gabi::

…kann ich nicht. Kommt erst der Weiter-Button. Wir müssen uns zwei Minuten drüber unterhalten (lacht)…

Manfred::

…hm…

Gabi::

…mei, wir-, ich weiß, wir sind uns dort einig in diesen Geschichten, wir brauchen da nicht diskutieren, weil wir also selber die gleiche Meinung haben. So und jetzt ist der Weiter-Button da, jetzt drücken wir auf Weiter…

Messung [Informationsverarbeitung standardisiert]

„Wir haben gemeinsam abgewogen, welche Argumente für die eine und die andere Seite sprechen.“ = 5

Skala von 1 = „Stimmen überhaupt nicht zu“ bis 7 = „Stimmen voll und ganz zu“

[Gruppe 6: Rentner:innen-Ehepaar]

5.3 Zusammenfassung und Diskussion

Studie I beschäftigte sich mit der Validität einer standardisierten Gruppenbefragung. In ihr sollte der unter 4.2 vorgestellte standardisierte Gruppenfragebogen getestet, validiert und weiterentwickelt werden. Dazu wurden acht natürliche Gruppen beim gemeinsamen Ausfüllen des Gruppenfragebogens beobachtet. Die Transkripte des gemeinsamen Ausfüllprozesses wurden auf der Ebene einzelner Antwortentscheidungen – d. h. pro Item bzw. Frage – ausgewertet (siehe 4.3 für das methodische Vorgehen). Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse aus der Beobachtung entlang der Forschungsfragen zusammengefasst und diskutiert werden. Sie beziehen sich auf die acht untersuchten Gruppen – aufgrund der heterogenen Stichprobenzusammensetzung kann aber vermutet werden, dass sie im Wesentlichen auch auf natürliche Kleingruppen im Allgemeinen zutreffen.

Ergänzend dazu wurde eine Gruppendiskussion zur Gestaltung des Fragebogens durchgeführt. Auf die daraus resultierenden Anpassungen des Gruppenfragebogens wurde unter 4.3.4 bzw. an entsprechender Stelle unter 4.2.3 eingegangen.

Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses

Mit FF1 wurde nach der Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses gefragt (siehe 3.3.2). Ihre untergeordneten Forschungsfragen bezogen sich insbesondere darauf, wie häufig und auf welche Weise die Gruppenmitglieder von Beginn an ihr Einverständnis mit einer gemeinsamen Antwort zeigten (FF1a), über einen Einigungsprozess auf eine gemeinsame Antwort kamen (FF1b) und unter welchen Umständen sie die Option „uneinig“ wählten (FF1c).

Die hier untersuchten Gruppen trafen insgesamt mehr als 300 Antwortentscheidungen. Dabei waren sie sich meist von Beginn an über eine gemeinsame Antwort einig (in insgesamt 76 % der Fälle). In der Regel zeigte sich jedes einzelne Gruppenmitglied explizit mit der gemeinsamen Antwort einverstanden. In ca. einem Fünftel der Fälle stimmte dagegen mindestens ein Gruppenmitglied nur implizit zu. Das war insbesondere in größeren und besonders vertrauten Gruppen der Fall und dürfte sich dementsprechend vor allem durch die Praktikabilität des Antwortprozesses, eine eingespielte Rollenverteilung und einen hohen Vertrautheitsgrad erklären lassen. Vereinzelt versicherte sich die Gruppe oder die den Fragebogen ausfüllende Person zudem durch eine Rückfrage über das Einverständnis von Gruppenmitgliedern, die sich nicht explizit geäußert hatten.

Selbst wenn die Gruppenmitglieder zunächst unterschiedliche Antwortoptionen präferierten, einigten sie sich im Ergebnis meist auf eine gemeinsame Antwort (in 90 % der Fälle mit initialer Uneinigkeit bzw. in 22 % aller beobachteten Fälle). Dieses Muster kam insbesondere bei kleineren Abweichungen vor. Die Gruppen einigten sich dabei in jeweils ca. der Hälfte der Fälle durch Argumente und/oder in mehr als einem Drittel der Fälle durch einen grob gebildeten „Mittelwert“ bzw. die Mehrheit. Durch die Orientierung an Meinungsführer:innen einigten sie sich hingegen nur vereinzelt. Meist handelte es sich dabei um Expert:innen, die für die Gruppe die Fragen zum Wissen beantworteten. Im Verlauf der Gruppenbefragung nutzten alle beobachteten Gruppen unterschiedliche Einigungsstrategien, die sie offenbar gezielt an ihre jeweilige Situation anpassten.

Viel seltener nutzten die Gruppen die Option „Wir sind uns nicht einig“ (in insgesamt 2 % der Fälle). Die Gruppen legten in der Regel Wert auf eine gemeinsame Position und mussten dafür meist – wenn überhaupt – nur eine Feinabstimmung ihrer Antwort vornehmen (s. o.). Sie wählten die Option „uneinig“ insbesondere bei größeren Abweichungen untereinander und/oder wenn Mitgliedern ihre individuelle Position besonders wichtig war.

Insgesamt lässt sich also ein sehr hohes Maß an Einigkeit bzw. Einigung beobachten: Die Gruppenmitglieder antworteten in 98 Prozent der Fälle einheitlich, ohne dass sie durch den Fragebogen dazu angeleitet worden wären. Wenn sie nicht von vornherein eine gemeinsame Position hatten, versuchten sie diese durch gegenseitige Abstimmung zu erreichen. Gleichzeitig nutzten unterschiedliche Gruppen bei Bedarf auch die Option „uneinig“ – ihre Mitglieder entschieden sich also durchaus bewusst für überwiegend gemeinsame Antworten. Dieser Befund passt zu den grundlegenden Annahmen des MCIP (siehe 3.3.1): Es geht davon aus, dass Menschen auf das Leben in Gruppen ausgerichtet sind und eine entsprechende internalisierte soziale Identität annehmen können (Annahme 1) und dass Konformität Teil des Informationsverarbeitungsprozesses auf Gruppenebene ist (Annahme 3). Die Annahmen stützen sich auf gut belegte Erkenntnisse der Kleingruppenforschung. Das spricht dafür, dass die ausgeprägte Neigung zu homogenen Wahrnehmungen und Einstellungen nicht spezifisch für das Setting der Gruppenbefragung, sondern generell typisch für Menschen in natürlichen Kleingruppen ist. Wenn sich Gruppenmitglieder also im Rahmen einer Gruppenbefragung einheitlich zu einem Thema äußern, dürfte dies tatsächlich die soziale Realität abbilden. Sie würden dann vermutlich auch in anderen Kontexten – z. B. dem politischen Diskurs – einheitlich als Gruppe auftreten und agieren, selbst wenn einzelne Gruppenmitglieder individuell (leicht) abweichende Positionen einnehmen würden. Damit unterstreicht dieser Befund die besondere gesellschaftliche Relevanz von Studien auf Gruppenebene.

Das MCIP geht weiter davon aus, dass Gruppen bei der kollektiven Informationsverarbeitung im Rahmen von Combinations of Contributions auf verschiedene Arten der Verständigung zurückgreifen und dass diese je nach Verarbeitungsmodus variieren (Annahmen 2, 4 und 5; siehe 3.3.1). In Studie I wurde deutlich, dass Gruppen dieselben Arten der Verständigung (Argumente, Mehrheit, Meinungsführer:innen) nutzen, um sich auf eine gemeinsame Antwort im Gruppenfragebogen zu einigen. Das spricht dafür, dass es sich tatsächlich um universelle Muster kollektiver Informationsverarbeitung handelt. Im MCIP wird darüber hinaus der Aspekt der gleichen Beteiligung bei der Verständigung thematisiert – dieser wurde in Studie I nicht gesondert behandelt, lässt sich aber aus den Auswertungen zur expliziten Zustimmung jedes Gruppenmitglieds ableiten (s. o.). Demnach beteiligten sich die Gruppenmitglieder meist ähnlich stark an den gemeinsamen Antworten – insbesondere, wenn es sich um kleinere und/oder im Verhältnis weniger vertraute Gruppen handelte. Wie oben erwähnt ließ sich außerdem beobachten, dass alle Gruppen zwischen den verschiedenen Einigungsstrategien wechselten und sie – wie im MCIP angenommen – an die jeweilige Situation anpassten. Auf diese Weise konnten sie flexibel und unter Berücksichtigung der Motivationen und Fähigkeiten ihrer Mitglieder als Gruppe auf die Fragen antworten.

Neben der Struktur der kollektiven Antwortentscheidungen im Allgemeinen wurde in Studie I auch genauer beleuchtet, welche Rolle die den Fragebogen ausfüllende Person einnahm (FF1d). Der Gruppenfragebogen wurde in der Regel von dem Mitglied ausgefüllt, über das die Gruppe rekrutiert wurde und das sich offenbar besonders verantwortlich für die Umsetzung der Befragung fühlte – andere Aspekte (z. B. das Geschlecht oder die Rolle in der Familie) schienen dafür weniger relevant. Das den Fragebogen steuernde Mitglied übernahm in allen Gruppen eine ähnliche gruppenorientierte Stellvertreter:innen- bzw. Moderator:innen-Rolle. Dabei hielt es sich auf inhaltlicher Ebene zurück und unterstützte die Gruppe dabei, den Fragebogen korrekt und im Sinne aller Mitglieder auszufüllen. Je nach Motivationen und Fähigkeiten wurde die Steuerung des Fragebogens vereinzelt auch von wechselnden Mitgliedern übernommen.

Die Ergebnisse zu Meinungsführer:innen (s. o.) und zur den Fragebogen ausfüllenden Person zeigen, dass einzelne Gruppenmitglieder nicht ein einziges Mal versuchten, auf Basis individueller Interessen über die Antworten anderer Gruppenmitglieder oder der ganzen Gruppe zu bestimmen. Diese Beobachtung kann teilweise mit der Option „uneinig“ und individuellen Antwortmöglichkeiten erklärt werden (siehe 4.2.1). Sie lässt sich aber auch darüber hinaus gut mit den Annahmen das MCIP in Einklang bringen: Demnach sind soziale Einflüsse durch Meinungsführer:innen – also durch besonders einflussreiche Gruppenmitglieder – Bestandteil des kollektiven Prozesses. Dabei stehen diese vielmehr im Dienste der Gruppe als umgekehrt (Annahme 3; siehe 3.3.1). In den kollektiven Antwortprozessen zeigte sich dieses Muster sehr deutlich und konsistent: Die Mitglieder, die eine besonders prägende Rolle einnahmen, gingen im Sinne der Gruppe vor, indem sie zu einem effizienten und effektiven kollektiven Ausfüllprozess beitrugen. Dass dieser in allen Gruppen so reibungslos ablief, passt wieder zur menschlichen Ausrichtung auf das Leben in Gruppen (Annahme 1; siehe 3.3.1). Die hier beobachteten Gruppen waren als Paare, Familien und Mitbewohner:innen sicherlich besonders gut eingespielt und aus ihrem gemeinsamen Alltag auf spontanes und wirkungsvolles arbeitsteiliges Zusammenwirken spezialisiert.

Weiterhin wurde in Studie I untersucht, inwieweit die Messungen durch kollektive Qualitätssicherung im Ausfüllprozess verbessert werden (FF1e). Tatsächlich unterstützten sich die Gruppenmitglieder gegenseitig beim Frageverständnis. Dabei setzte sich in der Regel die intendierte Interpretation der Fragen durch, sodass es nur wenige Missverständnisse gab. Außerdem kontrollierten die Mitglieder automatisch die Antwortvorschläge der Gruppe und intervenierten, wenn diese beispielsweise ungenau oder erkennbar unzutreffend waren. Durch das Mehraugenprinzip schienen die Gruppen die Befragung somit präziser beantworten zu können als einzelne Mitglieder.

Dieser Befund deckt sich mit der Erkenntnis, dass Gruppen Informationen anders verarbeiten als jedes ihrer Mitglieder (siehe 2.2.2.1) und dabei eine besondere kollektive Intelligenz aufweisen können (siehe 3.2.1.1). Der Aspekt gegenseitiger Kontrolle könnte außerdem eine zusätzliche Erklärung dafür sein, dass in den hier beobachteten kollektiven Ausfüllprozessen keine einzelnen Gruppenmitglieder versuchten, über andere Gruppenmitglieder zu bestimmen (s. o.). Ein derartiges Vorgehen hätte nicht nur deren Interessen widersprochen, sondern der Gruppenbefragung offensichtlich ihren Sinn genommen und sich deshalb vermutlich nicht auf Gruppenebene durchsetzen können.

Schließlich beschäftigte sich Studie I auch mit der Frage, inwieweit ihr Untersuchungsdesign zu Reaktivität führen kann (FF1f). Im Rahmen der Gruppenbefragung hatten einige Gruppen anfänglich kurz Schwierigkeiten, auf Anweisung in ein natürliches Gespräch über den Medienstimulus zu kommen. Nach kurzer Zeit gelang dies aber allen beobachteten Gruppen. Auch die zusätzliche Beobachtung per Kamera wirkte sich teilweise auf die Gruppen und ihre Mitglieder aus, die zwischenzeitlich auf ein gutes Bild achteten oder die Kamera thematisierten. Da sie sich aber meist spontan und natürlich zu verhalten schienen, dürfte soziale Erwünschtheit sich höchstens leicht auf ihr Verhalten ausgewirkt haben.

Insgesamt dürfte also insbesondere die Beobachtung zu moderater Reaktivität geführt haben. Im eigentlichen Setting einer standardisierten Gruppenbefragung würde diese keine Rolle mehr spielen, sodass nur noch leichte Reaktivitätseffekte aufgrund der Befragungssituation blieben. Diese könnten teils durch gegenseitige Kontrolle der Antworten (s. o.) und die Gruppendynamik abgeschwächt werden, sodass eine Gruppenbefragung nicht reaktiver sein dürfte als eine Einzelbefragung.

Abgleich von Beobachtung und Messung

FF2 bezog sich auf die Validität der Gruppenbefragung im engeren Sinn und fragte nach dem Abgleich zwischen gemessenem und tatsächlich beobachtbarem Verhalten bei der Gruppenbefragung (siehe 3.3.2). Um sie zu beantworten, wurde nur der Teil der Konstrukte betrachtet, auf den über eine Beobachtung geschlossen werden konnte.

Insgesamt konnten so 168 kollektive Antwortentscheidungen mit der Beobachtung über entsprechende Indikatorpassagen abgeglichen werden. Dabei ließ sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Messung feststellen (in 96 % der Fälle). Das bedeutet, dass die Beobachtung der Gruppe mit der jeweiligen Stoßrichtung ihrer Antwort vereinbaren war.

Nur in wenigen Einzelfällen gab es dagegen offensichtliche Abweichungen zwischen Beobachtung und Messung (4 % der Fälle). Diese schienen ungefähr zur Hälfte aus Missverständnissen zu resultieren. Die andere Hälfte könnte durch die Motivation der Gruppe erklärt werden, ein bestimmtes Fremd- und/oder Selbstbild zu wahren.

Bei der Einordnung dieser Befunde muss berücksichtigt werden, dass der Abgleich zwischen Beobachtung und Messung vorsichtig und im Zweifel im Sinne der Gruppe vorgenommen wurde. Auf diese Weise sollte gruppenspezifischen Wahrnehmungs- und Kommunikationsmustern Rechnung getragen werden. In dieser Hinsicht dürfte das Ausmaß tatsächlicher Abweichungen größer gewesen sein. Gleichzeitig würde im eigentlichen Setting einer standardisierten Gruppenbefragung der Teil der Abweichungen wegfallen, der durch Reaktivität aufgrund der Beobachtung in Studie I begründet war.

Insgesamt sprechen die qualitativen Befunde dafür, dass eine standardisierte Gruppenbefragung tatsächlich dazu in der Lage ist, Informationsverarbeitungsprozesse in Gruppen valide abzubilden. Die Ergebnisse zur Funktionsweise des Ausfüllprozesses (s. o.) zeigen, dass die Gruppen den Fragebogen aufgrund einer Reihe von Mechanismen gemeinsam und korrekt ausfüllen konnten. Insofern ist es keine Überraschung, dass Beobachtungen und Messungen so häufig übereinstimmen, sondern die logische Konsequenz der im MCIP theoretisch angenommenen und in Studie I empirisch beobachteten Mustern kollektiver Informationsverarbeitung. Vor diesem Hintergrund konnte der entwickelte Gruppenfragebogen in Studie II eingesetzt werden (siehe Kapitel 6).