Menschen sind Gruppenwesen – sie sind bis heute existenziell auf das Zusammenleben in Gruppen angewiesen (Stevens & Fiske, 1995). Deshalb ist der menschliche Geist „truly social“ (Caporael, 1997, S. 277), also untrennbar mit seinem sozialen Umfeld verbunden. In diesem Zusammenhang existiert nicht nur in der Philosophie (z. B. Hegel, 1807) und der öffentlichen Debatte (z. B. Sunstein, 2008), sondern auch in der Wissenschaft die Vorstellung, dass größere und kleinere Gruppen als eigene denkende und handelnde Einheiten betrachtet werden können. In diese Richtung deuten beispielsweise die sozialpsychologischen Konzepte der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986) und Social Sharedness (Tindale & Kameda, 2000) oder das soziologische Konzept der kollektiven Identität (Melucci, 2003). Sie alle gehen im Kern davon aus, dass Menschen in Gruppen geteilte Wahrnehmungen haben können. Dies lässt sich durch verhaltensbezogene, physiologische und neurologische Messungen empirisch belegen (Van Bavel et al., 2014).

Kollektive Informationsverarbeitung – wie das Phänomen im Folgenden genannt wird – ist auch und gerade mit Blick auf Medien relevant. Die kollektive Verarbeitung von Medieninformationen wird im Folgenden als kollektive Medienrezeption bezeichnet (siehe 2.1.2) und steht im Fokus dieser Arbeit. In den USA fand 2018 zum Beispiel fast die Hälfte der gesamten Fernsehnutzungszeit in Gemeinschaft statt. Insbesondere bei den unter 35-Jährigen zeichnet sich sogar ein Trend zu noch mehr gemeinsamer Nutzung ab (GfK, 2019). Wie eine Studie aus Deutschland zeigte, unterhalten sich Menschen auch nach der Nutzung regelmäßig in ihrem sozialen Umfeld über Medieninhalte und verarbeiten sie auf diese Weise gemeinsam. Dabei ist im Längsschnitt ebenfalls ein Trend nach oben erkennbar (Gehrau, 2019). Zusätzlich gewinnen onlinevermittelte Gespräche über Medien – z. B. über private Messenger – international zunehmend an Bedeutung (Nee & Barker, 2020).

Vor dem Hintergrund ihrer weiten Verbreitung sind die Auswirkungen kollektiver Medienrezeption auf Mikro-, Meso- und Makroebene umso relevanter: Es wurde z. B. gezeigt, dass sie sich auf politische Einstellungen, Informiertheit und Wahlverhalten (z. B. Druckman, 2004; Haas, 2014; Sommer, 2010), auf Einstellungen und Verhalten gegenüber In- und Outgroups (z. B. Paluck, 2009, 2010; Rojas et al., 2005; Tal-Or, 2020) sowie auf gesundheitsbezogene Einstellungen, Informiertheit und Verhaltensweisen auswirken können (Meta-Analyse: Jeong & Bae, 2018). Die brisantesten gesellschaftlichen Probleme – wie z. B. politische Polarisierungsprozesse und fundamentale Differenzen im Umgang mit globalen Krisen und Konflikten – sind somit eng mit kollektiven Identitäten und Informationsverarbeitungsprozessen verknüpft. Sie können nur umfassend verstanden werden, wenn neben der Individual- auch die Gruppenebene betrachtet wird.

Trotz ihrer großen gesellschaftlichen Relevanz ist die (Klein-)Gruppenforschung aber sowohl in der Kommunikationswissenschaft als auch interdisziplinär ein relativ vernachlässigtes und fragmentiertes Gebiet (Überblicke: Brauner & Scholl, 2000; Poole et al., 2004). Zum einen fehlen ihr umfassende theoretische Grundlagen. Obwohl zum Beispiel viele Ansätze aus der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschung interpersonale Kommunikation berücksichtigen (z. B. Cho et al., 2009; Lazarsfeld et al., 1944; Ruggiero, 2000; Slater, 2007), bleibt deren Fokus meist auf der Individualebene. Auch in der primär sozialpsychologischen Kleingruppenforschung überwiegt eine individualistische Perspektive auf soziale Phänomene (Brauner & Scholl, 2000). Zum anderen ist die Erforschung kollektiver Prozesse in der Kommunikationswissenschaft wie in anderen Disziplinen mit besonderen methodischen Herausforderungen verbunden. Quantitative Herangehensweisen scheinen kaum in der Lage, den Gruppenprozess als solchen in seiner besonderen Komplexität zu erfassen. Qualitative Ansätze – etwa die qualitative Analyse transkribierter Videoaufzeichnungen – sind bei Gruppen dagegen mit besonders großem Aufwand verbunden und führen zu weniger generalisierbaren Ergebnissen. Das Dilemma der Gruppenforschung scheint somit zu sein, dass ihre theoretischen und methodischen Herausforderungen einen Mangel an empirischen Erkenntnissen bedingen und umgekehrt.

Ziel der Arbeit

Die vorliegende Arbeit setzt deshalb an mehreren Punkten gleichzeitig an, um neue Erkenntnisse zur Funktionsweise der kollektiven Verarbeitung von Medieninformationen zu generieren: Ihr Ziel ist, einen zusammenhängenden theoretischen, methodischen und empirischen Beitrag zum Verständnis kollektiver Informationsverarbeitungsprozesse zu leisten. Dabei nimmt sie konsequent und durchgehend eine auf die Gruppenebene gerichtete Perspektive ein. Ihr 1) theoretischer Beitrag besteht aus dem Model of Collective Information Processing (MCIP). Das Modell verbindet Erkenntnisse aus der (Klein-)gruppenforschung und der Forschung zu individueller Informationsverarbeitung. Es unterscheidet zwischen verschiedenen kollektiven Verarbeitungsmodi. Auf diese Weise soll das MCIP dabei helfen, kollektive Informationsverarbeitungsprozesse zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Als 2) methodischer Beitrag wurde ein standardisiertes Befragungsinstrument für Kleingruppen als Untersuchungseinheiten entwickelt. Dieses wurde im Rahmen eines Mixed-Methods-Designs mithilfe qualitativer Beobachtungen und Gruppendiskussionen getestet, validiert und weiterentwickelt (Studie I). Standardisierte Gruppenbefragungen wären nicht nur aus theoretischer Perspektive konsequent. Sie könnten auch dabei helfen, methodischen Schwierigkeiten der Gruppenforschung zu begegnen und würden umfangreichere Mehrebenen-, Längsschnitt- und experimentelle Untersuchungen mit Kleingruppen möglich machen. Der zentrale 3) empirische Beitrag sind schließlich Ergebnisse zur Funktionsweise der kollektiven Verarbeitung von Medienbotschaften in Kleingruppen. Zur Datenerhebung wurde das entwickelte standardisierte Befragungsinstrument eingesetzt (s. o.), um eine Onlinebefragung von n = 182 natürlichen Kleingruppen und Dyaden zu Einflussfaktoren, Eigenschaften und Auswirkungen kollektiver Medienrezeption durchzuführen (Studie II). Die entsprechenden Forschungsfragen leiteten sich aus dem MCIP ab und ermöglichten eine empirische Prüfung des Modells.

Insgesamt versucht die vorliegende Arbeit damit nicht nur, unmittelbar Wissen über Medienrezeption in Gruppen zu generieren, sondern auch mittelbar zu mehr Gruppenforschung zu inspirieren und motivieren. Auch wenn ihr Fokus auf einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive und der Untersuchung der kollektiven Verarbeitung von Medieninformationen liegt, beziehen sich ihre theoretischen Annahmen, methodischen Ansätze und empirischen Erkenntnisse auf kollektive Informationsverarbeitung im Allgemeinen.

Vorgehen der Arbeit

Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: In Kapitel 2 wird zunächst ein Überblick über die Grundlagen zur Untersuchung kollektiver Medienrezeption gegeben. Dazu wird auf relevante Begriffe rund um kollektive Medienrezeption (siehe 2.1), ihre Relevanz (siehe 2.2) sowie auf Forschungsstand und -herausforderungen des Feldes eingegangen (siehe 2.3). Abschließend werden diese Punkte noch einmal zusammengefasst und die Ziele der Arbeit genauer vorgestellt (siehe 2.4).

In Kapitel 3 wird dann das Model of Collective Information Processing (MCIP) ausgearbeitet. Das Modell baut auf sechs zentralen Annahmen auf. Annahmen 1–3 beziehen sich auf die Grundlagen kollektiver Informationsverarbeitung. Sie gehen davon aus, dass Menschen die soziale Identität einer Gruppe internalisieren können, dass Gruppen als eigenes informationsverarbeitendes System funktionieren können und dass soziale Einflüsse innerhalb der Gruppe Bestandteil des kollektiven Prozesses sind (siehe 3.1). Anschließend wird in Annahmen 4–6 eine Mehrprozess-Perspektive auf kollektive Informationsverarbeitung angewandt. Demnach können Gruppen Informationen zum einen einfach vs. aufwändig verarbeiten (automatisch vs. systematisch). Zum anderen können sie Informationen mit festgelegtem Ergebnis oder ergebnisoffen verarbeiten (geschlossen vs. offen). Dabei wird angenommen, dass beide Verarbeitungsdimensionen quer zueinander liegen, ihre jeweiligen Ausprägungen also miteinander kombinierbar sind (siehe 3.2). Nach einer Zusammenfassung des MCIP werden daraus die Forschungsfragen für die folgenden beiden empirischen Studien hergeleitet (siehe 3.3). Sie beziehen sich auf die Umsetzbarkeit bzw. Validität einer standardisierten Gruppenbefragung (FF1–2, Studie I) und die Funktionsweise kollektiver Medienrezeption (FF3–12, Studie II)

Kapitel 4 stellt die methodische Vorgehensweise der Arbeit vor. Dazu wird zunächst ein Überblick über das gewählte Mixed-Methods-Design gegeben (siehe 4.1). Anschließend wird das für diese Arbeit ausgearbeitete standardisierte Befragungsinstrument für Kleingruppen vorgestellt, das die Grundlage für Studie I und II darstellt (siehe 4.2). Als Nächstes wird das methodische Vorgehen für Studie I beschrieben, in der der Gruppenfragebogen mithilfe einer qualitativen Beobachtung und Gruppendiskussion getestet, validiert und weiterentwickelt wurde (siehe 4.3). Schließlich wird das methodische Vorgehen für Studie II beschrieben, in der n = 182 Kleingruppen mithilfe des Gruppenfragebogens online zu kollektiver Medienrezeption befragt wurden (siehe 4.4).

In Kapitel 5 werden dann die qualitativen Ergebnisse von Studie I zur Validität der standardisierten Gruppenbefragung (s. o.) vorgestellt. Dazu wird zum einen die Funktionsweise des kollektiven Ausfüllprozesses nachgezeichnet (siehe 5.1). Zum anderen werden qualitative Beobachtungen und standardisierte Messungen des kollektiven Rezeptionsprozesses miteinander abgeglichen (siehe 5.2). Abschließend werden die Ergebnisse von Studie I zusammengefasst und diskutiert (siehe 5.3).

In Kapitel 6 werden die Ergebnisse von Studie II zur Funktionsweise der kollektiven Verarbeitung von Medienbotschaften (s. o.) vorgestellt. Zunächst wird auf die Eigenschaften von Systematik und Offenheit als Dimensionen kollektiver Informationsverarbeitung eingegangen (siehe 6.1). Als Nächstes werden empirische Einflussfaktoren auf systematische bzw. offene Verarbeitung beleuchtet (siehe 6.2). Danach werden die Auswirkungen systematischer bzw. offener kollektiver Informationsverarbeitung auf Gruppenebene (siehe 6.3) und auf Individualebene (siehe 6.4) betrachtet. Abschließend werden auch die Ergebnisse von Studie II zusammengefasst und diskutiert (siehe 6.5).

Kapitel 7 stellt schließlich das Fazit der Arbeit dar. Dazu werden zunächst die Erkenntnisse der Arbeit insgesamt zusammengefasst und diskutiert (siehe 7.1). Schließlich werden die Einschränkungen und Anknüpfungspunkte der Arbeit reflektiert (siehe 7.2) und ein allgemeiner Ausblick gegeben (siehe 7.3).