Zusammenfassung
Kap. 1 leistet zunächst eine kurze problemgeschichtliche Einführung, welche die gesellschaftspolitische Relevanz des Forschungsthemas nachweist, um dann die begrifflichen sowie theoretisch-konzeptuelle Grundlagen der Repräsentation, Rekrutierung und Integration von Eliten zu thematisieren. Dabei werden unterschiedliche Formierungstypen, Zirkulationstypen sowie Strata erläutert. Zudem werden die Relevanz, Differenziertheit und die grundsätzlichen Zusammenhänge von Repräsentation, Eliten- und sozialer Integration sowie Wirkungskomplexe von Unterrepräsentation thematisiert. Anschließend erfolgt eine knappe Darstellung der empirischen Forschungslage und Ursachenforschung zur Eliten(unter-)repräsentation der beiden Bevölkerungsgruppen Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund, um dann Forschungsziele und Forschungsdesign des Projektes zu umreißen.
Ich danke allen Mitherausgeber*innen und Mitarbeitenden am Forschungsprojekt „Soziale Integration ohne Eliten? Ausmaß, Ursachen und Folgen personeller Unterrepräsentation der ostdeutschen und migrantischen Bevölkerung in den bundesdeutschen Eliten“ (2018–2021; siehe die Beschreibungen im Folgenden) und am vorliegenden Band für die Unterstützung und Hinweise zu diesem einleitenden Kapitel. Wesentliche Gehalte verdanken sich dem kollektiven Erarbeitungsprozess des Projektantrages und des Projektberichtes; die Verantwortung für die konkreten Aussagen und Formulierungen im Text liegt bei mir.
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Notes
- 1.
Vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder („Ostbeauftragter“) sind im letzten Jahr (2022) weitere Forschungen zum Thema der Ostdeutschen in den bundesdeutschen Eliten angestoßen worden und werden gegenwärtig – auch unter Beteiligung von Autor*innen des vorliegenden Bandes – gefördert.
- 2.
Was aus theoretisch-konzeptueller Perspektive genauer unter Eliten verstanden wird und wie diese Kategorie in den empirischen Analysen methodisch begriffen, operationalisiert und erhoben wurde, wird später im Detail erläutert (siehe 1.3). Für die problemgeschichtliche Annäherung reicht ein Verständnis, das unter Eliten die entscheidenden Führungsgruppen und Individuen („Funktionsträger“, „Spitzen“, „Entscheider*innen“ usw.) in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsbereichen (Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Massenmedien usw.) fasst.
- 3.
Die komplexe Frage, wer mit Blick auf die jeweils konkreten Untersuchungsziele als Ostdeutsche/r zu bezeichnen ist, wird im Folgenden (Kap. 2, 3) noch ausführlicher diskutiert und definiert. Für den Moment und als erste Arbeitsdefinition sollen all diejenigen Bürger*innen als Ostdeutsche begriffen werden, die entweder in der DDR oder nach 1990 in den fünf neuen Ländern geboren und/oder dort wesentlich aufgewachsen sind und leben.
- 4.
Folgt man Norbert F. Pötzl (2019, S. 100–115), dann gab es nach 1992 kein einziges ostdeutsches Vorstandsmitglied und nur noch einen Direktor (D. Scheunert), der aus den neuen Bundesländern stammte. Ebenso gab es – jenseits der institutionellen Vertreter der neuen Länder (formell die Ministerpräsidenten) – auch nur noch einen Ostdeutschen im Verwaltungsrat. Darüber hinaus waren von den Abteilungsleiter*innen (nach einer Umfrage 1992/93) 19 % ostdeutscher Herkunft.
- 5.
Diese Studie war keineswegs ausschließlich oder auch nur in hohem Maße der Ost-West-Problematik gewidmet (Bürklin 1997). Allerdings wurde angesichts der zeitgeschichtlichen Umstände die Repräsentation und Integration Ostdeutscher relativ ausführlich behandelt. Demgegenüber – siehe unten – spielten migrantische Gruppen und deren Nachfahren in der Studie keinerlei Rolle. Das erscheint heute verstörend, entspricht aber dem damals herrschenden Zeitgeist in weiten Teilen der politischen Klasse, aber auch der Wissenschaft – siehe die Problematisierung in folgendem Abschn. 1.2.
- 6.
Hier wurde sogar eine deutliche Überrepräsentation mit über 30 % erhoben (Bürklin und Rebenstorf et al. 1997, S. 65 f.). Dazu später mehr.
- 7.
Diese,Variablen‘ in den empirischen Erhebungen ostdeutscher (aber auch aller anderen spezifischen) Elitenangehörigen – Stichprobenumfang, Sektorengewichtung, Positionsauswahl – erklären maßgeblich, warum die Anteile selbst bei Erhebungen, die nur wenige Jahre auseinander liegen, teils gravierend voneinander abweichen – also etwa 5 % vs. über 10 %. Darauf wird später (1.3) noch genauer eingegangen.
- 8.
Das lässt sich im Übrigen gut an den Wahlprogrammen der PDS und ab 2005 der Partei DIE LINKE studieren (siehe die archivierten Programme ab 1990 unter: https://www.rosalux.de/stiftung/historisches-zentrum/archiv/download; letzter Zugriff am 12.05.2023). In den Programmen von 2005, 2009 und 2013 ist das Thema nicht unmittelbar präsent.
- 9.
Tatsächlich findet sich erstmalig im Wahlprogramm 2017 der Partei DIE LINKE eine direkte Aussage zur Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten und die Forderung einer Abhilfe (siehe https://www.rosalux.de/stiftung/historisches-zentrum/archiv/download; letzter Zugriff am 12.05.2023).
- 10.
Das Statistische Bundesamt definierte 2018 Personen mit Migrationshintergrund als solche, bei denen sie „selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“. Die Gruppe umfasst „1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer/*innen, 2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, 3. (Spät-)Aussiedler/*innen, 4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben, 5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen“. Für eine Problematisierung dieser Begrifflichkeit siehe Kap. 5.
- 11.
Dabei lebten die Armeeangehörigen selbst (bis 1989/1993) kaserniert und nur die Offiziersdienstgrade konnten sich in ihrer Freizeit an den Standorten relativ frei bewegen, waren aber dennoch in die Öffentlichkeit kaum präsent. Die Familien der Offiziere und Berufssoldaten lebten in eigenen Siedlungen (mit speziellen Einkaufsmöglichkeiten, Schulen usw.) und hatten ebenfalls nur sehr geringen Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Kommunikationsmöglichkeiten, -formen und -inhalte wurden durch die sowjetische Armeeführung und den DDR-Staat in hohem Maße reguliert und konzentrierten sich auf Anlässe der „deutsch-sowjetischen Freundschaft“ und der Kinder- und Jugenderziehung.
- 12.
Dass es zwischen beiden Gruppen Überlappungen gibt, die Statistik aber jeweils gesondert erhebt und nachweist, ist hier – um Missverständnisse zu vermeiden – noch einmal klarzustellen. Einwohner*innen Ostdeutschlands mit vietnamesischer Herkunft werden insofern zweimal erhoben und in ihrer Gruppenzugehörigkeit kategorial erfasst. Daher können beide Gruppengrößen (Anteile an der Bevölkerung) auch nicht einfach addiert werden.
- 13.
Diese begrifflich idealtypische Polarisierung von „Elite“ und „Masse“ existiert im realen sozialen Prozess selbstverständlich nicht. Darauf wird sowohl mit Blick auf die wechselseitigen Einbettungs- und Repräsentationsbeziehungen wie hinsichtlich der Rekrutierung bzw. Zirkulation im Folgenden noch eingegangen.
- 14.
Eben deshalb werden Eliten empirisch vor allem als Positionseliten analysiert (vgl. Hoffmann-Lange 1992, S. 39–43, 85–90; Kaina 2009, S. 394–397). Die Entscheidungsmacht wird also an sozialstrukturelle und institutionelle Positionen, herausragend: Ämter, gekoppelt. Inhaber höchster Positionen – wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts oder der Vorstandssprecher der Deutschen Bank – gehören unter Absehung von der konkreten Person, ihres Charakters und Einflusshandelns zur Elite (siehe auch 1.4 zum Forschungsdesign).
- 15.
Die Reputation reicht also über bloße Prominenz hinaus und erlangt erst dann elitären Status, wenn sie realiter zur Beeinflussung relevanter Bevölkerungsgruppen mit gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen führt – entweder unmittelbar im Sinne einer Mobilisierung oder Handlungsorientierung oder mittelbar, namentlich über die Mitsetzung legitimer sozialer oder kultureller Werte und Normen (speziell dazu: Dreitzel 1962, Dahrendorf 1965).
- 16.
Um das auch hier klarzustellen: Nicht jeder, der sehr viel besitzt (wie Unternehmensanteile, Land- oder Kunstbesitz oder Geldvermögen als solches) ist kraft des Besitzes selbst Teil der Elite. Vielmehr müssen die o.g. Bedingungen der mittel- oder unmittelbaren Machtausübung erfüllt sein. Daher sind keineswegs alle ,Superreichen‘ Angehörige der Elite, sondern nur die, welche den Reichtum machtorientiert und machteffektiv einsetzen wollen und in Machtverhältnissen einsetzen.
- 17.
Das Folgende betrifft offenkundig nur die Positions- nicht aber Reputationseliten. Allerdings bilden auch diese keine homogene Gruppe. Es gibt Reputationseliten mit dem höchsten nationalen Einfluss – wenn z. B. für die heutige Bundesrepublik an Rezo, Luisa Neubauer oder Toni Kroos für den Bereich der social media influencer gedacht wird, deren Followerzahlen sich im sechs- bis siebenstelligen Bereich bewegen. Für die Hochkultur könnte auf den Philosophen Richard David Precht oder Jürgen Habermas verwiesen werden; für die schöngeistige Literatur auf Juli Zeh oder Frank Schätzing. Es ist evident, dass es auch hier eine zweite und dritte Reihe gibt sowie regionale und sektoral (Politik, Sport, Kunst, Kultur usw.) spezifische Reputationseliten. Ob auch die Letztgenannten über einen gesamtgesellschaftlich relevanten Einfluss verfügen, ist nur empirisch zu klären; ggf. sind sie aus funktionaler Perspektive zwar regional einflussreich, können aber nicht zu den nationalen Eliten gerechnet werden.
- 18.
Die folgenden exemplarischen realen Positionen folgen dem Sample unserer empirischen Studie (siehe Kap. 2). Aus theoretisch-konzeptueller Perspektive sind aber auch weitere bzw. andere Positionen sowie insgesamt ein erweitertes oder engeres Sample denkbar.
- 19.
Detaillierte Angaben zu den konkreten Positionen in allen Sektoren, wie sie in den großen Elitestudien (1981, 1995/97) definiert und erhoben wurden, wobei diese 3600–4000 Positionen umfassten, finden sich bei: Hoffmann-Lange 1992, S. 86–113 sowie Bürklin und Rebenstorf et al. 1997, S. 37–63. Die Differenzierung zwischen Top-Elite und (restlicher) Elite kann im Einzelfall durchaus problematisch sein, insbesondere dann, wenn es sich um kollektive Entscheidungsorgane handelt.
- 20.
Das gilt selbst dann, wenn beide personell identisch sind, d. h. wenn etwa eine konkrete Lohnarbeitende sich in politischen Arenen selbst repräsentiert (als Lohnarbeitende, ökologisch Orientierte oder als Frau). Mit der Repräsentationspraxis selbst, d. h. den Logiken der Repräsentation, welche interaktiv verortet, fokussiert, reduziert, performiert usw., löst sich der/die bzw. das Repräsentierende vom Repräsentierten.
- 21.
Allerdings und offensichtlich gilt diese idealtypische Scheidung nicht nur für demokratische, sondern auch nicht-demokratische Systeme. Diese werden im Folgenden aber nicht weiter thematisiert.
- 22.
Da wir uns im Forschungsprojekt zwar mit der Repräsentation der beiden minoritären Gruppen in den Eliten und dabei auch differenziert nach den Teileliten befassen, die Beziehungen der Teileliten im Projekt aber keine Rolle spielen, gehen wir auf diesen in der Eliteforschung sonst prominenten Aspekt im Weiteren nicht näher ein (als Überblick dazu: siehe Kaina 2009).
- 23.
Der Modus und die sozialstrukturellen Ergebnisse der Rekrutierung neuer Eliteangehöriger (Öffnung bzw. Schließung gegenüber bestimmten sozialen Gruppen) kann als ein Aspekt der vertikalen Integration begriffen werden.
- 24.
Bei diesem Typus verschmelzen die drei Grundbestimmungen der Elite, wie sie oben definiert wurden. Die Eliten werden nicht mehr von Dritten ausgelesen, sondern selegieren sich selbst, so wie sie damit ihrer eigenen Leistungskriterien definieren. Umgekehrt kann formuliert werden, dass jede demokratische Herrschaftselite – einem Gedanken Max Webers zum „demokratischen Herrschaftstypus“ folgend (Weber 1922: Erster Teil, III., 7./§ 14, 10./§ 19) – sich eben durch die Trennung dieser Bestimmtheiten auszeichnet. Zwar verfügen diese Eliten über erhebliche Entscheidungsmacht; diese wird ihnen aber nicht nur durch die „Beherrschten“ (auf Zeit) übertragen. Vielmehr sind Letztere auch diejenigen, welche die Leistungen oder Erfolge der Elite definieren und ,messen‘, mithin die Herrschaft der Elite legitimieren.
- 25.
Auch wenn dabei – wie oben diskutiert – eine umfassende Repräsentationsnorm in Gesellschaften des demokratischen Wohlfahrtskapitalismus nur für das politisch-administrative System (und seine Randbereiche – zwischen Zivilgesellschaft und Fachbehörden aller Art) allgemein anerkannt ist, wird von den meisten gesellschaftspolitischen Akteuren mindestens die Grundorientierung einer Chancengleichheit und realen personellen Repräsentation aller sozialen Großgruppen auch in den anderen Sektoren (namentlich: Wirtschaft, Kultur/Kunst, Massenmedien) geteilt.
- 26.
- 27.
Die Interpretation dieser Einstellungsdaten ist allerdings nicht trivial. Was z. B. die Befragten unter „Marktwirtschaft" verstehen (jedwede, eine reine oder die „soziale“) bleibt ebenso offen, wie die Alternativen. Letztere können von einer erweitert wohlfahrtsstaatlichen über ein liberalisiertere bis hin zu einer Plan- oder einer Subsistenzwirtschaft reichen.
- 28.
Es handelt sich hierbei um ein virtuelles Sample, das unter Kombination und leichter Korrektur der beiden großen Erhebungen (Potsdamer Elite-Studie sowie WZB-Studie) sowie eigener Recherchen und vorliegenden Erhebungen (Kollmorgen 2015; Bluhm und Jacobs 2016) gebildet wurde. Es umfasst ca. 4.000 (Brutto-)Positionen, wobei die Sektoren folgende Anteile aufweisen: Staatspolitik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (einschließlich Verbände, Vereine, Kirchen und Kultur) jeweils ca. 20 %, (Massen-)Medien 10 %, Militär, Justiz und Wissenschaft je 3,3 %. Zur Diskussion: Kollmorgen 2015.
- 29.
Ein ideales Forschungsdesign zur Ermittlung kausaler Entwicklungszusammenhänge zwischen der Struktur- und der Individualebene würde eine bevölkerungsrepräsentative Longitudinalstudie einschließen. Derartige Studien sind aber nicht nur finanziell und organisatorisch höchst aufwendig, sondern erbringen für den vorliegenden Erkenntniszweck (Beobachtung und Erklärungsfaktoren für Rekrutierungs- und Karrierewege) erst in zehn oder sogar zwanzig Jahren gehaltvolle Ergebnisse. Angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Brisanz des Themas erscheint daher ein biographisch-rekonstruierender Ansatz bei sekundäranalytischer Nutzung vorhandener Datensätze der einzig sinnvolle Weg (siehe Abschn. 1.4 sowie Kap. 2 und 3).
- 30.
Im Fall der Muslime stimmten im Jahr 2011 57,1 % der Befragten in Deutschland der folgenden Aussage überwiegend oder voll und ganz zu: „Muslime und ihre Religion sind so verschieden von uns, dass es blauäugig wäre, einen gleichen Zugang zu allen gesellschaftlichen Positionen zu fordern“ (Decker et al. 2012, S. 92).
- 31.
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Kollmorgen, R. (2024). Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund in den Eliten. Eine Einführung. In: Kollmorgen, R., Vogel, L., Zajak, S. (eds) Ferne Eliten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42492-3_1
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