Um, dem hier gesetzten Forschungsziel folgend, Geschäftsmodellinnovation als proaktiven Ansatz zur Krisenbewältigung vorzuschlagen und daher Krisenmanagement an touristischen Destinationen und Entrepreneurship-Forschung zu integrieren, teilt sich auch das Ergebniskapitel in die Themenbereiche 5.1 Krisenmanagement und 5.2 Geschäftsmodellinnovation.

Abschnitt 5.1 beschreibt Krisenwahrnehmung und -bewältigung der untersuchten Akteure an der Flusskreuzfahrtdestination. Erörtert werden die Wahrnehmung der Krise, ihre Auswirkungen sowie die zur Bewältigung ergriffenen Maßnahmen in zwei Betrachtungszeiträumen. Einerseits wurden die Studienteilnehmer zu vergangenen touristischen Krisen befragt, andererseits zur Situation während der COVID-19-Pandemie. Dieser Abschnitt folgt damit der ersten Forschungsfrage: „Inwiefern nehmen Akteure einer Flusskreuzfahrtdestination die COVID-19-Pandemie als Krise wahr und ergreifen (Sofort-)Maßnahmen, um deren Auswirkungen entgegenzuwirken?“. Abschnitt 5.2 beschreibt daraufhin, inwiefern Geschäftsmodellinnovation zu den gewählten Maßnahmen der Akteure in der Krise gehört. Dabei wird einerseits die Rolle der Krise als Auslöser und andererseits die Bedeutung der Digitalisierung im Gesamtkontext untersucht. Somit folgt dieser Abschnitt der zweiten Forschungsfrage: „Wie und in welcher Weise wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf Geschäftsmodelle von Akteuren an einer Flusskreuzfahrtdestination aus?“.

Abschließend erfolgen Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse aus 5.1 und 5.2 innerhalb des dargestellten theoretischen Rahmens der Kapitel 2 und 3. Im ersten Schritt werden Krisenwahrnehmung, Krisenbewältigung und Maßnahmen der Akteure zusammengefasst und die Situationen vor und seit Beginn der COVID-19-Krise verglichen. Im zweiten Schritt werden BMI und temporäre BMI als Maßnahmen der Akteure in der Krise identifiziert. Im dritten Schritt werden die Ergebnisse aus Schritt 1 und 2 in den strategischen Rahmen des touristischen Krisenmanagements integriert und temporäre BMI als proaktiver Ansatz vorgeschlagen. Im vierten Schritt wird erst die Rolle der COVID-19-Krise als Auslöser von Geschäftsmodellinnovation und dann im fünften und letzten Schritt die Bedeutung der Digitalisierung in diesem Gesamtkontext erörtert.

5.1 Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung

5.1.1 Touristische Krisen vor der COVID-19-Pandemie

In den durchgeführten Interviews wurden die Teilnehmer zunächst gebeten, über ihre Wahrnehmung von Krisen zu berichten, die sich in der Vergangenheit auf ihre touristische Berufspraxis ausgewirkt haben. Dabei sollten sie konkrete Ereignisse, deren finanzielle Auswirkungen auf ihre Tätigkeit sowie ihre Erfahrungen und Vermeidungsstrategien im Umgang mit solchen Ereignissen beschreiben.

5.1.1.1 Wahrnehmung von Ereignissen als Krise

Abbildung 5.1 zeigt eine Visualisierung aller codierten Sequenzen bestimmter Kategorien im sogenannten Code-Matrix-Browser aus dem MAXQDA-Projekt. Die Spalten repräsentieren die Interviews aller Studienteilnehmer, während die Zeilen die Kategorien hierarchisieren. Die Punkte stehen für positiv codierte Segmente der jeweiligen Kategorie pro Interview bzw. Studienteilnehmer, wobei die Größe der Punkte die Häufigkeit der Codierung widerspiegelt.

Abbildung 5.1
figure 1

Kategorie B. „Erfahrung aus vergangenen Krisen“ (Code-Matrix-Browser). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Tatsächlich gaben alle Teilnehmer an, mindestens eine Krisensituation in ihrer touristischen Laufbahn erlebt zu haben – deutlich zu erkennen in der Zeile der Kategorie B.1. von Abbildung 5.1, hervorgehoben mit einem roten Pfeil. Gut zu erkennen sind in dieser Darstellung auch die induktiv aus den genannten Ereignissen entstandenen Unterkategorien und ihre Zuordnung zu drei Hauptgruppen bzw. ordnenden Kategorien: politische, medizinische und durch Naturereignisse bedingte Krisen (vgl. blaue Pfeile in Abbildung 5.1).

In der ordnenden Kategorie der politischen Krisen ließen sich genannte Ereignisse in Kriege, Terroranschläge und Wirtschaftskrisen kategorisieren. Explizit erwähnt wurden als Beispiele der Irakkrieg 2003–2011 (G01, Pos. 116–118), die Terroranschläge vom 11.09.2001 sowie die Anschläge vom 13.11.2015 in Paris (G03, Pos. 77–78), vom 22.03.2016 auf den Flughafen Brüssel-Zaventem (G15, Pos. 104–108), vom 14.07.2016 in Nizza (G03, Pos. 77–78). Auch der Anschlag vom 19.12.2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin war allgemein unter den Befragten noch sehr präsent. Als Wirtschaftskrisen wurden die Dotcom-Blase 2000 (G13, Pos. 109–118) und die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 aufgezählt (u. a. G08, Pos. 68; G12, Pos. 153–154). Terroranschläge und Wirtschaftskrisen bildeten den Schwerpunkt der Nennungen und wurden vor allem von Gästeführern und DMO aufgeführt.

In der ordnenden Kategorie Naturereignisse wurden überwiegend die Hoch- und Niedrigwasser-Problematik am Rhein und der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im März 2010 angesprochen (HMG02, Pos. 58). Die Dominanz der Nennungen von Hoch- und Niedrigwasserereignissen (Rheinhochwasser Mai 1999, Rheinniedrigwasser August bis Oktober 2003 und 2018) ist bei einer Stichprobe mit intendiertem intensiven Bezug zur Flusskreuzfahrt jedoch nicht als besondere Auffälligkeit zu werten (vgl. Abbildung 5.1, Kategorie B.1.a.ii.1.). Ähnliches gilt für die Nennung des isländischen Vulkans, aufgrund dessen Aschewolke über mehrere Wochen hinweg der Flugverkehr aus den USA, mithin ein großer Quellmarkt der Flusskreuzfahrt, unterbrochen war (vgl. ausführlich Kapitel 1).

Auch im Zusammenhang mit medizinischen Ereignissen wird der starke Bezug zur Flusskreuzfahrt sichtbar. Hier wurden explizit die englische Schweinepest (2000) und SARS (2003) genannt (G01, Pos. 115), aber besonders auf Norovirus-Ausbrüche Bezug genommen (G10, Pos. 85; G15, Pos. 102–104), nämlich diejenigen im Oktober 2012 und Juli 2018, bei denen Flusskreuzfahrtschiffe auf dem Rhein in Quarantäne festgesetzt wurden. Letzteres ergibt sich aus der Triangulation der Aussagen mit dem Inhalt von Zeitungsartikeln zu dieser Zeit in der Region (Bung, 2018, S. 1; Kaiser, 2012, S. 1–2).

Hinsichtlich der Wahrnehmung der genannten vergangenen Ereignisse als Krisen ergibt sich ein differenziertes Bild. Grundsätzlich teilen nahezu alle Interviewpartner die Ansicht, dass Tourismus eine krisenanfällige Branche sei: „Tourismus ist sehr anfällig.“ (G10, Pos. 86), „[…] ich bin ja in dieser Branche aufgewachsen. Ich weiß, dass es von heute auf morgen sehr schnell gehen kann. […] wenn so Krisen kommen, klar schlägt es auf die Reisebranche“ (B04, Pos. 94), „Gut, also wir sind natürlich im Tourismus, da schwankt es eh.“ (B02, Pos. 98) oder auch „[…] die ganze Reisebranche ist sehr sensibel auf Kriege, auf Krisen, auf Vulkane und die ganzen Krankheiten, Pesten, was da auch immer alles kommt“ (B03 Pos. 79–82), „Wenn ich einen krisensicheren Job haben will, dann gehe ich ins Bestattungswesen. Ich meine, was soll ich sagen?“ (G09, Pos. 184). Derartige Einschätzungen Befragter finden sich ähnlich in anderen Studien zu Krisenmanagement in der Tourismusbranche (Faulkner, 2001, S. 135–147; Ghaderi et al., 2014, S. 638; Ritchie, 2004, S. 669–683; Sigala, 2020, S. 312).

Es überwiegt zwar die Bewertung unterschiedlicher Ereignisse als Krise, die persönliche Einschätzung der von diesen Ereignissen ausgehenden Gefahr ist dagegen gering. In den Aussagen der Befragten erfolgen Relativierungen der Auswirkungen genannter Krisen. Sie nehmen Bezug auf die Krisengeneigtheit der Branche: „[…] im Tourismus, da schwankt es eh. […] plus/minus zehn Prozent war es eigentlich ein Level, was du halten konntest, mit Krise oder ohne Krise, das schwankt ja immer ein bisschen“, (B02, Pos. 98) oder verweisen auf eigene Strategien: „[…] Krisen waren zwar alle da, aber wenn man gut vernetzt ist […] und mit vielen Vermittlern zusammenarbeitet, dann ist das aufzufangen […]. Also insofern hatte ich nie das Gefühl, dass mich das unmittelbar betroffen hätte […]“ (G01, Pos. 124). Zudem antworteten einige Teilnehmer auf die Frage nach Krisenauswirkungen überraschend mit Hinweisen, die auf den ersten Blick übliche Veränderungen von Markt oder Wettbewerb beschreiben: „Ich sage mal, dass die Anforderungen von den Gästen immer höher werden, das ist der eine Punkt, und gleichzeitig das Kundenpotenzial wesentlich älter geworden ist“ (G13, Pos. 101–108), „Du musst immer mit Schwankungen rechnen. […] Das kann nach zwei Jahren noch gut gehen, es kann auch ein drittes Jahr gut gehen, aber plötzlich ist halt irgendetwas und es war halt einer unzufrieden, hat es fünf Mann weitererzählt, fehlen fünf Gruppen oder was, weißt du nicht. Oder bei den Gruppen wechselt mal derjenige, der es organisiert, plötzlich fehlt es wieder, weil der kennt jemand anderes gut und dann ist der weg“ (B02, Pos. 104).

Im Gegensatz zu der grundsätzlichen Aussage, dass die Tourismusbranche krisenanfällig ist, fallen die Bewertungen der persönlichen Auswirkungen im Kontext der genannten Ereignisse im Detail positiv aus. Sie reichen von Äußerungen wie beispielsweise „Ich habe den Tourismus immer als ausgesprochen stabil erlebt mit fast zuverlässigen Wachstumsraten jedes Jahr“ (SSG01, Pos. 60) über „Also die Kurve ging immer nach oben“ (G09, Pos. 128) bis zu „[…] das Niedrigwasser habe ich natürlich gemerkt […] überraschend […] für MICH zumindest, […] dass […] es eher die Auswirkung gehabt [hat], dass ich MEHR gearbeitet habe […], teilweise 18 Stunden unterwegs waren mit Abholung irgendwo hinter Koblenz […]“ (G18, Pos. 80–82). Unabhängig von der Akteursgruppe wird durchgängig auf Ausgleichseffekte verwiesen.

Dennoch gab es sowohl in den Akteursgruppen der DMO als auch der Gästeführer Teilnehmer, die bereits vergangene Krisen als einschneidend erlebt haben (SSG02, Pos. 86; G11, Pos. 104–108; G14 Pos. 88–94). Bemerkenswert ist in diesem Kontext die Einschätzung eines leitenden Angestellten einer DMO, der neben der Tatsache, dass er seit 25 Jahren Statistik über Krisenauswirkungen führt, erklärte: „Diese Ereignisse, das führt immer zu einem massiven Einschnitt […]“ (SSG02, Pos. 86). Diese Aussage ist deshalb bemerkenswert, weil das Ausbleiben von Touristen bei ihm als leitendem Angestellten nicht zu den gleichen direkten finanziellen Einbußen führt wie bei den selbstständigen Gästeführern oder Busunternehmern.

Insgesamt ist zu bemerken, dass die Aussagen der Befragten zur Wahrnehmung vergangener Ereignisse als Krise meist nahtlos in die Schilderung persönlich empfundener Auswirkungen (vgl. Abschnitt 5.1.1.2) und ergriffener (Präventions-)Maßnahmen oder Strategien (vgl. Abschnitt 5.1.1.3) übergehen. Dies könnte auf ein Verhältnis zwischen (finanzieller) Betroffenheit und Ausgleichsstrategien hinweisen, so beispielsweise bei einem Gästeführer: „Gemerkt [die Krise] schon, weil, es gibt die Stornierungen. […] Ich habe versucht, meine Aktivitäten zu verbreitern, also woanders andere Kunden zu suchen, nicht nur zum Beispiel Heidelberg“ (G11, Pos. 104–108).

Es kann festgehalten werden, dass die Tourismusbranche grundsätzlich als krisenanfällig wahrgenommen wird, vergangene Krisen hingegen von der Mehrheit der Teilnehmer nicht als bedrohend empfunden wurden. Sofern vergangene Krisen jedoch von den Befragten als bedrohend empfunden wurden, ging die Schilderung der Wahrnehmung nahtlos in Berichte über Auswirkungen und ergriffene (Präventions-)Maßnahmen über. Daher lag es nahe, die Auswirkungen vergangener Krisen auch im Hinblick auf eine spätere Kontrastierung mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie differenzierter auszuwerten.

5.1.1.2 Auswirkungen

Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen der als Krise bezeichneten vergangenen Ereignisse teilen sich in zwei Gruppen: (1) keine/keine extreme Auswirkung und (2) eindeutige/graduelle Auswirkungen. Auch hier handelt es sich nicht um von den Teilnehmern benannte Begriffe, sondern um Begriffe, die sich induktiv aus den Aussagen der Teilnehmer ergeben (vgl. Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2
figure 2

Kategorie B.3. „Auswirkungen“ (Paraphrasen). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

5.1.1.2.1 Kaum wirtschaftliche Auswirkungen

Die Auswirkungen vergangener Krisen verneinte ein Gästeführer besonders deutlich: „[…] die sind nie so umfassend gewesen, sodass es wirklich irgendwelche Überlegungen, Veränderungen in der Lebensführung, so etwas gab […].“ Auf die explizite Nachfrage hinsichtlich konkreter Auswirkungen antwortete er: „Eigentlich nicht, nein. Für mich persönlich“ (G04. Pos. 80–82). Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich bei G04 um einen selbstständigen Gästeführer im Haupterwerb und mit relativ langer Berufserfahrung von 17 Jahren handelt, bei dem Flusskreuzfahrtgäste nach eigenen Angaben 90 % der Kunden ausmachen (vgl. Tabelle 4.1). Aufgrund der Arbeitsjahre und des hohen Kreuzfahrtanteils wären hinsichtlich der häufigen Nennungen von Niedrigwasser, des isländischen Vulkanausbruchs oder von Noroviren mehr spürbare Auswirkungen vorstellbar gewesen.

Dies deckt sich jedoch mit den Aussagen weiterer Gästeführer, die ebenfalls Auswirkungen der bisherigen Krisen verneinen und konkret zu diesen Punkten weiter ausführten, „Niedrigwasser [habe] eher die Auswirkung gehabt, dass ich MEHR gearbeitet habe […]“ (G18, Pos. 80–82), sowie: „[Norovirus] Hatten wir, aber hat sich nicht ausgewirkt“ (G02, Pos. 100–103; ähnlich G15, Pos. 109–110). Bei G02 handelt es sich um einen selbstständigen Gästeführer im Haupterwerb, dagegen bei G15 um einen Gästeführer im Nebenerwerb mit Rentenbezug. Mithin lässt sich in diesem Kontext nicht klar sagen, ob unterschiedliche finanzielle Betroffenheiten Auswirkung auf den Erklärungswert der Aussage haben.

Insgesamt fallen die Aussagen von vier Gästeführern besonders auf, weil sie unmittelbar mit „relativierenden“ Zusätzen versehen sind. Diese relativierenden Anmerkungen beziehen sich entweder auf das Gewicht der touristischen Tätigkeit für das gesamte Einkommen des Befragten: „[…] damals war ich noch berufstätig […], dass es ein Zubrot war für mich. […] Ich musste nie davon leben und das war jetzt ganz gut so“ (G17, Pos. 95–104), oder auf deren kurze Branchenzugehörigkeit: „[…] ich habe erst angefangen und hatte noch keinen Vergleich richtig.“ (G09, Pos. 109–110). Der relativierende Hinweis auf das Einkommen und damit die finanzielle Betroffenheit durch die Befragten selbst unterstützten einen bereits in Abschnitt 5.1.1.1 vermuteten Zusammenhang zwischen (finanzieller) Betroffenheit und Ausgleichsstrategien.

Der relativierende Kommentar der Befragten, die Auswirkungen der Krisen aufgrund mangelnder Berufserfahrung (Dauer) nicht richtig einschätzen zu können, wurde daraufhin für weitere Untersuchungen der Aussagen zum Anlass genommen. Dabei ging es darum zu klären, warum die Befragten zwischen „graduellen Auswirkungen“ und „eindeutigen Auswirkungen“ differenzieren.

5.1.1.2.2 Deutliche wirtschaftliche Auswirkungen

Von denjenigen Teilnehmern die eindeutige oder graduelle Auswirkungen der benannten Krisen wahrgenommen haben, beschreibt nachfolgende Aussage eines Gästeführers den Zusammenhang besonders gut: „Also für mich war so ein Einschnitt dieses Attentat in Paris, Bataclan […], da kam eine altgediente Kollegin auf mich zu und sagte zu mir: ,Pass mal auf, wenn hier in Deutschland ein Anschlag passiert, dann kommen die Amerikaner nicht. Hast du Rücklagen?‘ […] ,Nein, habe ich eigentlich nicht.‘ – ,Bau welche auf! Ich bin 40 Jahre im Tourismus. Du kannst dich darauf nicht verlassen.‘ Und da habe ich dann begonnen, mich vorzubereiten […]“ (G14 Pos. 88–94). Trianguliert man die Aussagen der Teilnehmer, die deutliche oder zumindest graduelle Auswirkungen von Krisen beschreiben, mit der Länge ihrer Berufserfahrung, fällt auf, dass es sich auch um diejenigen handelt, die sehr lange in der Tourismusbranche aktiv sind (G13, Pos. 110–132; G05, Pos. 78–84; G14, Pos. 94–97; SSG02, Pos. 97–100), nämlich G13 (32 Jahre), G5 (27 Jahre), G14 (21 Jahre) und SSG02 (10 Jahre) (vgl. Tabelle 4.1). Somit liegt nahe, dass sie bereits mehr Krisen miterlebt haben als die befragten Kollegen.

Inwiefern wirtschaftliche Auswirkungen die Entscheidung für oder gegen Maßnahmen zur Krisenprävention beeinflussen, wird in den nachfolgenden Abschnitten näher untersucht.

5.1.1.3 Maßnahmen

Im Anschluss an die Betrachtung der Auswirkungen vergangener Krisen wurden die Aussagen der Teilnehmer daraufhin untersucht, ob und welche Maßnahmen sie im Detail aufgrund vergangener Ereignisse ergriffen hatten. Die klare Gruppierung in „keine Maßnahmen“ oder „Diversifikation“ lässt sich anhand der Paraphrasen nachvollziehen. Die Wahl des in den Paraphrasen verwendeten Stichworts „Diversifikation“ wurde induktiv aus dem Gesagten abgeleitet, wogegen die Befragten inhaltlich auch andere Wachstumsstrategien wie Markt- und Produktentwicklung damit beschreiben.

5.1.1.3.1 Keine Maßnahmen

Es fällt auf, dass die Mehrheit der Teilnehmer keine Maßnahmen zur Krisenprävention aufgrund vergangener Krisen ergriffen hat.

Aufgrund der Aussage eines Teilnehmers: „Ich habe das eigentlich […] immer so ein bisschen, […] als Zubrot gesehen. Ich hätte vielleicht anders reagiert, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass meine ganze Existenz, meine finanzielle Existenz, nur davon abhängt“ (G15, Pos. 111–114; ähnlich G17, Pos. 96), wurde der Zusammenhang zwischen Erwerbssituation und fehlenden Maßnahmen näher untersucht. Die Triangulation mit den sozioökonomischen Daten (vgl. Tabelle 4.1) ergab jedoch keinen zwingenden Zusammenhang, da in dieser Gruppe gleichermaßen sowohl Selbstständige im Haupterwerb als auch Rentner im Nebenerwerb vertreten sind. Eher lässt sich das Phänomen möglicherweise durch folgende Schilderung eines Befragten beschreiben, der auf gezielte Nachfrage äußerte: „Aber die [Auswirkungen vergangener Krisen] sind nie so umfassend gewesen, sodass es wirklich irgendwelche Überlegungen, Veränderungen in der Lebensführung, so etwas gab“ (G04, Pos. 80–82). In diese Richtung geht auch der Beitrag eines leitenden DMO-Angestellten: „Da ist keine Vorsorge getroffen worden und ist auch kein Konzept erarbeitet worden, […] mal ganz brutal, man hat einfach gesagt: ‚Heidelberg läuft, brauchst du dich nicht groß darum zu kümmern […] ‘“ (SSG02, Pos. 104).

5.1.1.3.1.1 Aufgrund von Ausgleichseffekten

Der überwiegende Teil der Befragten, der keine extremen Auswirkungen vergangener Krisen feststellen konnte, sie aber im Kontext bestimmter Ereignisse (meist mit Beispiel) wahrgenommen hat, verweist unabhängig von der Akteursgruppe in den Aussagen erneut auf Ausgleichseffekte durch andere Märkte oder Produkte (vgl. Maßnahmen aus Abschnitt 5.1.1.3.2) und gute Vernetzung in diesem Kontext (AG01, Pos. 140–142; HMG01, Pos. 63–64; G01, Pos. 124; G06, Pos. 109–110; B01, Pos. 108–112): „[…] Meine Erfahrung bisher war: Gibt es irgendwo einen Engpass oder eine krisenhafte Erscheinung, gibt es einen anderen Teilbereich, der das wieder ausgleicht.“ (SSG01, Pos. 60), „Du hast nicht immer das gleiche Level […], da ist es mal ein bisschen weniger geworden, das hat sich durch etwas anderes wieder etwas ausgeglichen“ (B02, Pos. 98), „[…] das Phänomen in unserer Branche ist ja, dass die Aufträge meistens gleichzeitig kommen und oft zur gleichen Zeit am gleichen Tag fünf Anfragen für einen Zeitraum. Und wenn eben die Nummer fünf nicht kommt, hat man dafür die Chance vier und umgekehrt dafür die Chance drei, zwei oder eins. Also insofern hatte ich nie das Gefühl, dass mich das unmittelbar betroffen hätte, weil ich dann […] Perspektive hatte, für andere Vermittler […] zu arbeiten […].“ (G01, Pos. 124). Dabei beschreiben die Befragten mit „Ausgleichseffekt“ ein aus ihrer Sicht externes und zufälliges Phänomen, das im Gesamtkontext sehr einer Form der Marktdurchdringung ähnelt (Ansoff, 1957, S. 114).

5.1.1.3.1.2 Aufgrund von temporären und lokalen Krisen

Anhaltspunkt für die von den Befragten gewählte Nuancierung zwischen „keine Auswirkung“ und „keine extreme Auswirkung“ könnte die Aussage von CAF01 geben, der mit 25 Jahren Berufserfahrung auch länger in der Branche tätig ist. So erklärt er, dass es sich bei den Ereignissen vergangener Krisen bisher um ein „[…] überschaubares Zeitfenster“ (CAF01, Pos. 86–90) gehandelt habe. Er führt weiter aus: „[…] jetzt ist Hochwasser, das fließt ja dann auch wieder ab“ (CAF01, Pos. 86–90). Einen genaueren Bezug zu finanziellen Einbußen und deren Kurzfristigkeit stellt er dann im Folgenden her: „Es schlägt sich in dem Monat dann schon nieder, [aber] Krisen [hatten] sehr temporären […] und sehr lokalen Charakter […]“ (CAF01, Pos. 86–90). Ähnlich bemerkt ein Gästeführer: „Aber natürlich die Terroranschläge. Ich denke, vielleicht hat es sich nicht in den Zahlen gezeigt. Es war kurzfristig“ (G10, Pos. 94).

Zunächst mögen diese Aussagen in Bezug auf Hochwasser oder Terroranschläge überraschen. Der Hinweis auf den temporären und lokalen Charakter der Krisen ist jedoch vor dem Hintergrund der für die Befragten wichtigen Ereignisse „Niedrigwasser/Hochwasser“, „Terroranschläge“, „Vulkanausbruch“ und „Norovirus“ zu verstehen. Diese stellen für die besonders mit der Flusskreuzfahrt verbundene Stichprobe dieser Arbeit durchweg zeitlich und örtlich begrenzte Krisenereignisse dar, die regelmäßig ein paar Wochen, nicht jedoch eine ganze Tourismussaison betreffen.

5.1.1.3.2 Wachstumsstrategien

Die wenigen Teilnehmer, die bejahen, Maßnahmen als Reaktion auf vergangene Krisen ergriffen zu haben, beschreiben (unternehmens-)strategische Vorgehensweisen. Solche strategischen Fragen werden in Wissenschaft und Praxis schon seit langer Zeit diskutiert, beispielsweise Wachstumsstrategien nach Ansoff und Wettbewerbsstrategien nach Porter, die auch in der Tourismus-Literatur berücksichtigt werden (Ansoff, 1957, S. 114; Porter, 2013, S. 79). Strategien können grundsätzlich danach differenziert werden, ob sie für einzelne Geschäftseinheiten oder für das gesamte Unternehmen konzipiert werden. Porter bezeichnet Strategien für das gesamte Unternehmen als Gesamtunternehmensstrategien (corporate strategy) und verortet Wettbewerbsstrategien (competitive strategy) auf Geschäftseinheitsebene (Porter, 1987, S. 43–46). Da die Stichprobe dieser Studie überwiegend aus Soloselbstständigen und Kleinstunternehmern besteht, existiert insbesondere bei diesen Befragten de facto nur eine Entscheidungsebene, statt einer Hierarchie von Unternehmensstrategien. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass beispielsweise Gästeführer gleichermaßen Unternehmer und Produkt sein können.

Grundsätzlich lassen sich Unternehmensstrategien in Überlebens- und Wachstumsstrategien unterteilen, wobei sich Überlebensstrategien auf wirtschaftliche oder branchenspezifische Probleme beziehen, während Wachstumsstrategien auf Marktanteile und Marktbeteiligung ausgerichtet sind (Nagl, 2020, S. 18; Thommen et al., 2020, S. 603).

Die Aussagen der Befragten hinsichtlich der von ihnen ergriffenen Maßnahmen können den Produkt-Markt-Wachstumsstrategien (Ansoff, 1957, S. 114) zugeordnet werden. Ansoffs vier Norm- bzw. Basisstrategien (Marktdurchdringung, Marktentwicklung, Produktentwicklung und Diversifikation) werden in der Unternehmenspraxis parallel und interdependent angewandt (Swoboda et al., 2019, S. 257).

5.1.1.3.2.1 Diversifikation

Eindeutige Diversifikation durch eine „neue Tätigkeit“ in einer „neuen Branche“ betreiben vier Gästeführer, die auch in der Gruppe derer vertreten waren, die die Auswirkungen vergangener Krisen als einschneidend empfunden hatten. So beschreibt G05, dass er eine Lehrtätigkeit verfolgt habe, um unabhängig vom Tourismus als Branche zu sein, obwohl er sein Angebot auch auf andere Sprachen (Englisch), Destinationen und dadurch andere Agenturen oder Kunden hätte erweitern können (G05, Pos. 85–88). Dementsprechend äußert sich auch G14: „Ich habe mich versucht, vom Tourismus unabhängiger zu machen, ganz bewusst“ (G14, Pos. 98–108). Mit der gleichen Begründung, vom Tourismus unabhängig zu sein, verfolgte auch G10 seine Tätigkeit als Übersetzer (G10, Pos. 95–108). Dies und fehlende Renten- und Krankenkassenabdeckung waren bei G14 und G16 treibende Faktoren (G14, Pos. 98–108; G16, Pos. 93–106). In einem Bereich zwischen Produktentwicklung und Diversifikation war beispielsweise eine Gästeführerin mit ihrer Aussage, dass sie „[…] bei einer Tageszeitung, bei einer Lokalzeitung, als Betriebsführerin [arbeite, was] durchaus mit den Gästeführungen zu vergleichen ist, es ist ja nur ein anderer fachlicher Inhalt, den man sich da erarbeitet hat, […] nicht unbedingt die Saisonmonate im Tourismus […]“ (G01, Pos. 124–146).

Die weiteren Befragten, die angaben, Maßnahmen infolge der vergangenen Krisen ergriffen zu haben, schilderten über alle Akteursgruppen hinweg Marktentwicklung oder Produktentwicklungen innerhalb derselben Branche (B01, B02, B04, G01, G05, G06, G10, G11, G16, AG01, HMG01, SSG01).

5.1.1.3.2.2 Marktentwicklung

Die Marktentwicklung (bestehendes Produkt, neuer Markt) erfolgt z. B. durch die Zusammenarbeit mit anderen/weiteren Agenturen oder Destinationen, um mit dem gleichen Produkt andere Kundengruppen zu erreichen. Dazu führt ein Gästeführer näher aus: „[…] ich habe immer darauf Wert gelegt, auch für verschiedene Agenturen zu arbeiten, […] auch Themenführungen in Mannheim. Das ist natürlich ein ganz anderes Publikum. Wenn ich durch den Jungbusch in Mannheim führe oder durch die Neckarstadt oder durch den Lindenhof oder die Graffitis […]. Es war mir wichtig, dass ich […] da so ein bisschen gestreut habe, dass ich mir mehrere Standbeine genommen habe, dass ich für verschiedene Agenturen führe, dass ich ein breites Portfolio anbiete.“ (G06, Pos. 111–130) Ähnlich äußert sich ein Busunternehmer, der aufzählt, sie bedienen „[…] verschiedene Reisegruppen, Reiseveranstalter, Zielgruppen […], von dem kleinen Privaten, der seine Hochzeitsfeier plant, über die Kollegen, die Hilfe brauchen […], Firmenfeiern oder […] Mitarbeiterschulungen vom Arbeitsamt und so weiter“ (B01, Pos. 110–114). Annähernd ein weiterer Busunternehmer: „Linie ein bisschen, bisschen für Schüler und sonst etwas. Du musst einen gescheiten Mix haben, aber das bewahrt dich auch vor nix“ (B02, Pos. 109–113). Mit „Linie“ sind von Gemeinden ausgeschriebene Buslinien gemeint, die von der Privatwirtschaft betrieben und der Gemeinde finanziert werden. Ähnlich bezieht sich der Ausdruck „Schüler“ auf Busfahrten für Schulen in Sporthallen, Schwimmbäder, Ausflüge oder Schullandheime, die entweder von der Schule oder der Gemeinde bezahlt werden. Explizit gegen Diversifikation sprach sich nur ein Busunternehmer aus: „Man kann sich nicht vorbereiten auf unser Business. Das ist halt so […]. Ich glaube nicht, dass Linie die Lösung ist. […] viele Unternehmen, die Linie machen, […] die teilweise Knebelverträge bekommen auf fünf, sechs, acht, neun Jahre. Und ’15/’16, wie der Sprit teilweise 1,50 Euro war, da lassen die Linienunternehmen auch nicht mit sich reden. Also wenn der Diesel da 20 Cent mehr ist, man kriegt da nicht mehr“ (B03, Pos. 92–100).

5.1.1.3.2.3 Produktentwicklung

Produktentwicklung (neues Produkt, bestehender Markt) wird durch das Angebot von anderen bzw. mehreren Sprachen für die bereits bestehenden Führungen in der bereits bedienten Destination oder durch das Angebot von speziellen thematischen Führungen mit verändertem Inhalt in der gleichen Destination erreicht. Dazu AG01: „Also so die kleinen, so diese [Stadtführung Heidelberg Abwandlung 1] und [Stadtführung Heidelberg Abwandlung 2] und [Stadtführung Heidelberg Abwandlung 3], dass ich abseits des GROSSEN Geschäfts, also des Massengeschäfts, immer so kleine Nischenprodukte hatte“ (AG01, Pos. 143–146). Ebenso merkt ein Vertreter der DMO an: „Durch das, dass wir ein bisschen breiter aufgestellt sind […], Veranstaltungen und das klassische touristische Geschäft, aber auch die Beratung haben, hat es Teilbereiche betroffen, [aber] hatte noch keine existenzgefährdenden Auswirkungen auf die GmbH [die DMO] gehabt, weil es doch immer Bereiche gab, die trotzdem noch gut funktioniert haben […]“ (HMG01, Pos. 64–66).

5.1.1.4 Zusammenfassung

Dieser erste Teil der Auswertung der Interviews zielte auf die Wahrnehmungen, Auswirkungen und Strategien der befragten Akteure infolge vergangener Krisen im Tourismus. Dabei kann festgestellt werden, dass alle Teilnehmer mindestens eine Krisensituation in ihrer touristischen Laufbahn erlebt haben. Explizit als Krisen wahrgenommen wurden insbesondere der Irakkrieg und die 9/11-Terroranschläge, die Terrorattacken im Bataclan in Paris, am Zaventem-Flughafen Belgien, in Nizza und am Breitscheidplatz in Berlin. Als Wirtschaftskrisen wurden die Dotcom-Blase und die Finanz- und Wirtschaftskrise genannt. Durch den Bezug zur Flusskreuzfahrt spielten Naturereignisse wie Hoch- und Niedrigwasser am Rhein und der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull eine besondere Rolle sowie im Kontext medizinischer Ereignisse Norovirus-Ausbrüche auf Flusskreuzfahrtschiffen, aber auch Schweinepest und SARS.

Insgesamt lässt sich eine Klassifizierung der Ereignisse in die drei Hauptkategorien politische Krisen, medizinische Krisen und durch Naturereignisse bedingte Krisen feststellen. Diese Kategorien bestätigen bisherige Ergebnisse in der Literatur (de Sausmarez, 2004, S. 219; Ghaderi et al., 2014, S. 637; Lean & Smyth, 2009, S. 306–308) und fügen sich in Typologien touristischer Krisen an Destinationen von Mitroff (1987) und Santana (2004) ein. Die Ergebnisse dieses Abschnitts ergänzen diese Typologien mit Wirtschaftskrisen und dem Vulkanausbruch (vgl. Bhati et al., 2016 [Wirtschaftskrisen]; Ritchie & Jiang, 2019 [Vulkanausbruch]). Diese Kategorien und Ergebnisse erweisen sich auch als inhaltlich konsistent mit den Erkenntnissen anderer Studien zu Krisen im Tourismus, zumal sie an in vielerlei Hinsicht verschiedenen Destinationen, wie beispielsweise Malaysia, durchgeführt wurden (de Sausmarez, 2004, S. 219; Ghaderi et al., 2014, S. 637; Lean & Smyth, 2009, S. 306–308). Ebenso lassen sich die induktiv entstandenen Kategorien in bestehende Typologien der Fachliteratur eingliedern.

Die Aussagen der Teilnehmer lassen sich durch Triangulation mit den von den DMO zur Verfügung gestellten Statistiken gut für die Destination nachvollziehen und zur Erklärung von Besucherrückgängen in der Statistik verwenden (vgl. Abbildung 5.3). Sie bestätigen im Wesentlichen den aktuellen Stand der Forschung, der Zusammenhänge zwischen den erwähnten Ereignissen und Besucherrückgängen herstellt (Aldao et al., 2021, S. 932; Ritchie & Jiang, 2019, S. 102813).

Abbildung 5.3
figure 3

Besucherstatistik Schloss Heidelberg mit Einordnung vergangener Krisen. (Quelle: Eigene Darstellung; Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg)

Obwohl der überwiegende Teil der Befragten zahlreiche Krisenbeispiele aus der Vergangenheit nennen konnte, hatten diese für die Mehrheit keine nennenswerten Auswirkungen (vgl. Abbildung 5.4). Begründet wurde dies zum einen mit Ausgleichseffekten durch andere Quellenmärkte bzw. Dienstleistungen und einer guter Vernetzung in diesem Zusammenhang, zum anderen mit dem sehr temporären und lokal begrenzten Charakter der Krisen. Die von den Teilnehmern beschriebenen Ausgleichseffekten sind aus ihrer Sicht ein externes und zufälliges Phänomen, das jedoch im Gesamtkontext einer Form der Marktdurchdringung ähnelt. Der temporäre und lokale Charakter der Krisen sowie erwähnte Ausgleichseffekte führten dazu, dass die meisten der Befragten keine finanzielle oder unternehmerische Notwendigkeit für Krisenmanagement oder spezifische Präventionsmaßnahmen sahen.

Abbildung 5.4
figure 4

Ergebnisse Abschnitt 5.1.1. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wurden in diesem Zusammenhang dennoch von einigen Teilnehmern explizit Maßnahmen beschrieben, so handelte es sich um Wachstumsstrategien innerhalb der Branche. Unabhängig von den Akteursgruppen handelte es sich um Diversifikation, Marktentwicklung oder Produktentwicklungen.

Die Ergebnisse lassen allerdings vermuten, dass die Dauer der Berufserfahrung und mithin vermutlich die Anzahl erlebter Krisenereignisse bei der Wahrnehmung der Befragten eine Rolle spielen und die Erhebung verzerren könnten. Dies erklärt möglicherweise auch, warum die bereits erwähnten Ausgleichseffekte als häufigste Begründung für fehlende Präventionsmaßnahmen angegeben wurden (G02, Pos. 179–180; G07, Pos. 159–162; G13, Pos. 133–144; G18, Pos. 99–106). Zudem wird Tourismus mehrheitlich als „krisengeneigte Branche“ wahrgenommen, was die unter Abschnitt 5.1.1.1 als auffällig markierten Antworten Befragter erklären könnte, die auf die Frage nach den Auswirkungen der Krise mit Beschreibungen üblicher Marktschwankungen geantwortet haben (G13, Pos. 101–108, B02, Pos. 104).

Für diese dem Anschein nach indifferente Reaktion auf Krisenereignisse finden sich jedoch auch in der Literatur Beispiele. So beschreibt exemplarisch Henderson (2007) ausführlich, wie Terroranschläge das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Vorbereitung auf künftige Anschläge in Destinationen nicht geschärft haben (Henderson, 2007, S. 52–68). Eine Ursache dafür könnte das in der KMU-Forschung häufig angesprochene Problem begrenzten Wissens von Führungskräften sein, das in der Regel nur kurzfristige Planung auf operativer Ebene bewirkt und eben keine Maßnahmen in Gang setzt, die auf die taktische und strategische Ebene ausgerichtet sind (Todesco & Klein, 2021, S. 123).

5.1.2 COVID-19-Pandemie als touristische Krise

Anschließend wurden die Teilnehmer in den Interviews gebeten, über ihre Wahrnehmung der aktuellen COVID-19-Pandemie als Krise zu berichten und darüber, welche gegenwärtigen Auswirkungen sie auf ihre touristische Berufspraxis erleben. Sie sollten konkrete Ereignisse, deren finanzielle Auswirkungen für ihre Tätigkeit sowie ihre Erfahrungen und Strategien im Umgang mit diesen Ereignissen beschreiben. Es wurde sowohl nach konkreten Einbußen als auch nach Rahmendaten der üblichen touristischen Saison gefragt, um die Aussagen im Nachgang vergleichbar gestalten zu können. Fragen nach konkreten Sofortmaßnahmen adressierten auch staatliche Corona-Hilfen und entsprechende Antragsverfahren.

Der gegenüber Abschnitt 5.1.1 strukturell ähnliche Aufbau der Fragestellung und der Auswertung dient der Kontrastierung der Auswirkungen und Maßnahmen früherer Krisen mit denjenigen der COVID-19-Pandemie, um darauf aufbauend sowohl die Veränderung im Krisenmanagement (vgl. Abschnitt 5.1) als auch deren Wirkung als Auslöser für Geschäftsmodellinnovation (vgl. Abschnitt 5.2) zu ermitteln.

5.1.2.1 Wahrnehmung der COVID-19-Pandemie als Krise

Die Teilnehmer waren überwiegend, ob auf beruflicher oder persönlicher Ebene, durch den Lockdown und die damit verbundenen Einschränkungen sehr betroffen. Das wirkt sich besonders auf ihre Aussagen zur „Wahrnehmung“ der COVID-19-Pandemie als Krise aus. Es bereitet den Teilnehmern bei der ersten Frage noch Schwierigkeiten, persönliche und geschäftliche Betroffenheit zu trennen. So fielen Worte wie „Gesundheitskrieg“ (G01, Pos. 78), „Metastörungen“ (G06, Pos. 116) und „Schockstarre“ (B03, Pos. 82). Aus der Befragungssituation inmitten des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 heraus gestaltete sich dieser Teil der Interviews einerseits besonders emotional, daher aber auch sehr detailreich, da die Teilnehmer mit wenig Bedacht auf sozialadäquates Verhalten sehr ungefiltert antworteten. Aufgrund der im unmittelbaren Kontext erwähnten Themen lassen sich die persönliche Betroffenheit und die Charakteristika, mit denen die Befragten ihre Wahrnehmung der Situation als Krise konkret verbinden, näher beschreiben. Die hier geschilderte „persönliche Betroffenheit“ ist allerdings von der Darstellung der „Auswirkung der Krise auf ihre touristische Tätigkeit“ im Abschnitt 5.1.2.2 mit eindeutig wirtschaftlichem Fokus klar zu differenzieren.

Der weitaus größere Anteil der Befragten war „sehr betroffen“, sie schildern das Ereignis als „so noch nie da gewesen“ (SSG02, G03, G09), nennen im Kontext Betroffenheit sowohl im persönlichen als auch im psychischen Bereich (G01, G02, G13, G15, G17, G18) oder beziehen sich direkt auf Auswirkungen wie Einkommens- oder Umsatzverluste (B01, B02, B03, B04, BPP01, SSG01, G04, G05, G07, G10, G11, G14). Zwei Teilnehmer fassen die Gesamtsituation dabei sehr anschaulich zusammen: „Der Einfluss des Corona-Virus […] begann vor Ostern […], traditionell Start der Saison. […] NULL Arbeit, null Gäste, kein Einkommen, was abgesehen von der finanziellen wirtschaftlichen Situation auch die psychologische Situation, […] schwierig macht. […] wie es aussieht durch die Absagen, die bereits hereingekommen sind, wird es auch so bleiben, und zwar während der gesamten Saison“ (G04, Pos. 50), „Was mache ich wegen Einkommen finanziell? Was mache ich wegen mentaler Gesundheit?“ (G10, Pos. 66). An diesen Aussagen lässt sich bereits gut erkennen, dass die Befragten die Wahrnehmung eines Ereignisses als Krise mit den Auswirkungen auf ihr Einkommen und ihren persönlichen bzw. psychischen Bereich verknüpfen und als Bedrohung empfinden.

Als Gegenprobe begründet dagegen der kleine Anteil der „kaum betroffenen“ Teilnehmer fehlende Betroffenheit auch mit dem Fehlen von Einkommensverlusten (HMG01, HMG02, G06, G08, G12, G16). Bemerkenswert ist, dass trotz der Wahrnehmung als „kaum betroffen“ beide DMO-Akteure unabhängig voneinander eine „Lösung der Situation nur durch nachhaltige Strategie“ sehen und im Kontext auf die „Einstellung des touristischen Betriebs“ hinweisen (HMG01, HMG02). Als einzige in der Stichprobe sind sie leitende Angestellte in der öffentlichen Verwaltung und daher tatsächlich in Bezug auf ihre Einkommensverhältnisse wenig von der Situation betroffen.

Dass hingegen die Befragten G01, G02, G13, G15, G17 und G18 den Schwerpunkt ihrer Betroffenheit eher im persönlichen bzw. psychischen Bereich verorten, wurde mit einer Triangulation ihrer sozialdemografischen Daten näher untersucht (vgl. Tabelle 4.1). Auffallend war, dass es sich bei dieser Gruppe entweder um Rentner oder nebenberufliche Gästeführer handelt. Das könnte ihre stärkere Gewichtung sozialer Aspekte der Tätigkeit anstelle der Relevanz des Einkommens begründen. So erklären aus dieser Gruppe zwei Gästeführer: „Es kommt auf alles, die ganzen Lebensrahmenbedingungen, an. Ich komme nicht weg, ich kann nicht fortfahren, es gibt keine Kulturveranstaltungen, wo man hinkann. Es gibt keine Vorträge, ja? Alles, was mir auch im Leben sonst Spaß macht, ist alles weg. […] Ich kann nicht den ganzen Tag daheimsitzen“ (G13, Pos. 146–148), „Das Schwierige für mich oder das Unangenehme an der Situation, dass ich eben mich nicht wie gewohnt bewegen kann. Ich kann nicht wie gewohnt die Leute umarmen oder begrüßen oder einladen oder auf Einladungen gehen, weil das alles nicht möglich ist. Das ist für mich der negative Aspekt dieser Corona-Krise“ (G15, Pos. 56).

Weiter schildern die Befragten: „Das ist eine Situation, die vorher so noch nie da gewesen ist“ (G04, Pos. 98), „Also so krass habe ich das noch nie erlebt“ (G14, Pos. 64). Ähnlich deutlich ein DMO-Mitarbeiter: „[…] ich führe da Statistik, also für die letzten 20–25 Jahre […] Einschnitte nie in so einer Dramatik […] und auch nie über so einen langen Zeitraum […]“ (SSG02, Pos. 86). Ein Busunternehmer äußert: „Mit dem VIRUS jetzt, das hat ja noch keiner erlebt und da weiß keiner, wie er damit umgehen kann“ (B04, Pos. 94). Die insgesamt feststellbare Fassungslosigkeit der Befragten gegenüber der Situation und ihrer Wahrnehmung als Krise beschreiben nachfolgende Aussagen besonders gut: „Mit SO ETWAS hat ja nun irgendwie überhaupt keiner gerechnet […]“ (G09, Pos. 112), „Also die Gefahren wie das, was JETZT gekommen ist, die waren mir nie bewusst“ (G01, Pos. 150), auch hier wieder mit dem Hinweis auf, in diesem Fall fehlende, Ausgleichseffekte (vgl. Abschnitt 5.1.1.4): „Die Situation, dass mir kein Mauseloch bleibt, um zusätzliche Besucher und Einnahmen zu generieren, die ist für mich neu. Also ich habe kein Mittel, Teile der Verluste aufzufangen“ (SSG01, Pos. 60). Die Bedrohlichkeit der Situation spiegelt sich hier in der Wortwahl „Mauseloch“ wider (vgl. dazu Kunkel-Razum et al., 2020: „in ein Mauseloch verkriechen“ umgangssprachlich für „aus Angst oder Verlegenheit verstecken“). Besonders entmutigt zeigt sich ein Teilnehmer, der aufgrund früherer Krisen explizit Maßnahmen ergriffen hat (vgl. Abschnitt 5.1.1.3): „[Ich] bin extra […] vom Tourismus weggegangen, […] habe dann die Lehrtätigkeit genommen, die ist […] jetzt genauso betroffen von dem Corona“ (G05, Pos. 88).

Damit erfüllen die Aussagen der Teilnehmer gleich mehrere der in Abschnitt 2.3 dargestellten Definitionen für Krisen. So beschreiben die Aussagen, „dass mit einer derartigen Situation und diesen Auswirkungen keiner gerechnet hat“, genau die von Pearson und Clair (1998) beschriebene „Situation mit geringer Wahrscheinlichkeit und großer Auswirkung, die von kritischen Interessengruppen als Bedrohung wahrgenommen wird“ (Pearson & Clair, 1998, S. 66). So schildert ein Busunternehmer seine Wahrnehmung einer Bedrohung wie folgt: „[…] so wie jetzt das COVID-19. Hat ja im Winter noch niemand daran gedacht, dass das mal so Ausmaße nimmt […]. Innerhalb von zwei Wochen waren da vier Monate komplett leer an Aufträgen. Da haben wir fast eine siebenstellige Summe verloren. Da sind wir teilweise auch richtig in die Schockstarre verfallen, weil, mein Gott, was passiert jetzt mit uns?“ (B03, Pos. 82).

Diese Aussagen entsprechen der Definition der Krise als „ein extremes, unerwartetes oder unvorhersehbares Ereignis, das von Organisationen eine dringende Reaktion erfordert und sie vor Herausforderungen stellt – indem es ihre Abläufe beeinträchtigt, ihre Entscheidungsprozesse unklar macht, ihre Ziele und Werte bedroht, ihr öffentliches Image und ihren Gewinn schädigt“ (Dutton, 1986, S. 502–503; Fink, 2002, S. 15–20; Hills, 1998, S. 162–163). Selbst das von Doern et al. kritisierte Kriterium „wenig wahrscheinliche, unerwartete oder unvorhersehbare Ereignisse“ wird erfüllt (Doern et al., 2019, S. 401).

Die Tatsache, dass einige wenige Befragte sich als „kaum betroffen“ wahrnehmen, schadet der Einordung der Wahrnehmung der COVID-19-Pandemie als Krise nicht, selbst wenn man Doerns et al. kritischer Ansicht folgt, wonach Situationen auch dann Krisen darstellen, „wenn sie für die Personen, Organisationen oder Gemeinschaften, die sie erleben, Ereignisse unterschiedlichen Ausmaßes darstellen und unterschiedlich starke Reaktionen hervorrufen“ (Doern et al., 2019, S. 401). Billings et al. führen insbesondere aus, „dass ein wichtiges Mitglied der Organisation eine Krise sieht und dann erst andere dazu bringen muss, diese Wahrnehmung zu teilen, bevor die Organisation reagieren kann“ (Billings et al., 1980, S. 300). Die Aussage eines DMO-Vertreters verdeutlicht dies sehr anschaulich: „Also ich habe schon am Anfang der Corona-Krise angefangen, strategisch zu jammern, und habe gleich mal vier Millionen Mindereinnahmen in den Raum gestellt“ (SSG01, Pos. 54).

Insgesamt kann festgehalten werden, dass alle Teilnehmer die COVID-19-Pandemie, verknüpft mit Einkommensverlusten oder persönlichen bzw. psychischen Belastungen, unterschiedlich stark betroffen, im Unterschied zu den Ergebnissen aus Abschnitt 5.1.1 nicht nur punktuell, sondern auch dauerhaft als bedrohliche Krise wahrnehmen. Des Weiteren lassen die Schilderungen der Befragten durch Übereinstimmung mit gängigen Krisendefinitionen der Forschung die Einstufung der COVID-19-Pandemie als Krise zu. Bei der Darstellung (vgl. Abbildung 5.5) fallen in den mit der Krisenwahrnehmung verknüpften Themen wiederkehrend einerseits finanzielle Auswirkungen und damit verbundene Restriktionen wie das Berufsverbot (vgl. Abschnitt 5.1.2.2.2), andererseits konkrete Maßnahmen (vgl. Abschnitt 5.1.2.3) wie aktive Jobsuche, aber auch die Hinweise auf das Fehlen der sonst gewohnten Ausgleichseffekte auf. Diese werden daher in den nächsten Abschnitten detaillierter ausgearbeitet (analog zu Abschnitt 5.1.1).

Abbildung 5.5
figure 5

Kategorien A.1. und A.2. „Auswirkungen“ (Kategoriensystem). (Quelle: Eigene Darstellung)

5.1.2.2 Auswirkungen

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die touristische Tätigkeit der befragten Akteure lassen sich überblicksartig bereits gut an den induktiv entstandenen Haupt- und Unterkategorien erkennen, deren Bezeichnungen überwiegend selbsterklärend sind (vgl. Abbildung 5.5).

Im Wesentlichen ergaben sich aus den in Abschnitt 5.1.2.1 gut erkennbaren Punkten „Einkommenseinbußen“ und „Berufsverbot/Auflagen“ (vgl. Abbildung 5.5) die ausdifferenzierten Kategorien A.1. „Wirtschaftliche Einbußen“ und A.2. „COVID-Restriktionen“.

Am besten beschreibt die Gesamtsituation und die verknüpften Themenbereiche die Aussage des DMC-Vertreters: „Also [die] Saison hätte begonnen am 17.03., Pandemiebeginn offiziell war der 11.03.[2020]. Die Saison hätte geendet am 03.01.2021. Stornierungen begannen, die kamen stückweise, also grad so die Kreuzfahrer, unser Hauptklientel, zunächst bis Ende Mai [2020], dann bis Ende Juni, das ging so progressiv weiter, geht jetzt grad bei den Amerikanern bis 31.08.[2020], wobei das große Problem ist, dass es uns nichts nützt, wenn die Kunden auf dem Rhein schippern können, aber wir sie von den Häfen nicht nach Baden-Württemberg, sprich nach Heidelberg, kriegen, weil […] es die Verordnung [gibt], dass keine touristischen Fahrten stattfinden dürfen“ (AG01, Pos. 86). Im Nachgang stellt er klar: „Ich musste jetzt auch die ersten [Firma-]Touren, die Buchungen sind da, das sind Kunden, die kommen aus Deutschland, […] die musste ich stornieren, weil die Auflagen […]“ (AG01, Pos. 114). Diese Aussage verbindet explizit Saison- und Pandemiezeitraum, staatliche Auflagen und wirtschaftliche Auswirkungen, beispielsweise durch Stornierungen.

5.1.2.2.1 Deutliche wirtschaftliche Einbußen

Zur besseren Nachvollziehbarkeit der Aussagen der Befragten ist an dieser Stelle besonders auf den Einfluss des Erhebungszeitraums der Interviews hinzuweisen. Zum Zeitpunkt der ersten Interviews Anfang Mai 2020 waren noch nicht alle Aufträge durch nationale und internationale Kunden storniert, da der Verlauf der Pandemie für die folgenden Monate der Saison noch unbekannt war. Daher finden sich in der Gesamtheit aller Antworten insgesamt sechs der „frühen“ Interviews mit Angaben von Verlusten im Bereich von „noch“ 33–75 %. Bei den näher zu Juni bis Juli 2020 geführten Interviews dominieren klar Verluste von 95 bis 100 %. Zu diesem späteren Zeitpunkt war absehbar, dass sich trotz Aufhebung des Lockdowns keine touristische Saison entwickeln würde und auch die Aufträge bis Jahresende von den Veranstaltern storniert würden. In Bezug auf das Gesamtbild der Aussagen bedeutet dies auch, dass ein Teil der Befragten sowohl von der Situation im Lockdown selbst als auch von der Zeit danach berichtet, in der die Auflagen etwas gelockert waren.

In der Saison 2020 zwischen dem ersten Lockdown im Frühjahr und dem zweiten Lockdown ab Herbst 2020 war einige Monate unter strengen Auflagen touristischer Betrieb möglich. Internationale Reisebeschränkungen und versetzte Entwicklungen des Infektionsgeschehens in Anrainerländern verhinderten jedoch nennenswerte touristische Aktivität, insbesondere Flusskreuzfahrten (Buchmüller, 2021; Destatis, 2021). So schildert es auch Maren Richter, Vorsitzende des BVGD: „Ohnehin läuft das Geschäft nur langsam wieder an […]. Vor allem in den großen Städten die vor zwei Jahren noch enorm nachgefragt waren, sei das Interesse weiterhin sehr gering, es fehlen die Busreisen und die internationalen Gruppen“ (Dignös, 2021, S. 1–2). Ähnlich äußert sich auch ein Interviewpartner der DMO in der vorliegenden Studie: „[…] wir haben im Stadtmarketing, egal, weltweit gar keinen Einfluss darauf. Sobald Firmen wie [Firma] eine weltweite Reisesperre haben, ist es klar, dass grad solche Firmen keine Buchungen machen“ (HMG02, Pos. 46). Ähnliches findet sich daher auch im letzten Interview der Studie mit dem Betreiber des Reisebusparkplatzes, der dazu näher erläutert: „Inzwischen dürfen wieder Busse fahren […]. Allerdings wirkt sich das nur bedingt auf die Buchungen aus, weil die ganzen ausländischen Touristen halt keine Kreuzfahrten machen oder sich nicht trauen, Reisen zu unternehmen, oder nicht dürfen“ (BPP01, Pos. 46).

Einhellig beschreiben die Teilnehmer desaströse Umsatzeinbußen über alle Akteursgruppen hinweg unabhängig von Haupt- oder Nebenverdienst. Besonders die Aussagen der DMO- und DMC-Vertreter verdeutlichen das Gesamtausmaß der Tourismuskrise an der Destination: „Ich habe jetzt einfach ein Loch von 2,7 Millionen“ (SSG01, Pos. 48), „Null Besucher hatten wir, seit wir Statistik führen, noch nie. Ich habe jetzt das Privileg, die erste Null schreiben zu dürfen“ (SSG02, Pos. 46), „Ökonomisch bleibt mir im Grunde wirklich gar nichts“ (AG01, Pos. 114), „Nur was dann kam im März, April, Mai, das ist dann katastrophal, das ist dann wirklich von 200 auf null eine Bremsung. Also wir hatten dann Rückgänge bis zu hundert Prozent“ (HMG02, Pos. 42). Aussagen zu konkreten wirtschaftlichen Einbußen wurden von allen Teilnehmern branchentypisch in erster Linie in Eurobeträgen, mit der Anzahl stornierter Touren oder deren Anteil angegeben (vgl. Kategorie A.1.a.). Zur Konsolidierung dieser Aussagen wurden die Angaben im Vergleich zur Vorsaison 2019 oder zu Anfang 2020 bereits vorhandenen Vorbuchungen der laufenden Saison (vgl. Kategorie A.1.b.) sowie Beschreibungen typischer Saisons herangezogen (vgl. Kategorie A.1.c.).

Die Schwierigkeit, nicht auf vor der COVID-19-Pandemie bekannte Strategien und Ausgleichseffekte zurückgreifen zu können, schildert ein DMO-Vertreter: „Ich darf […] niemanden in Kurzarbeit schicken, ich darf auch niemanden entlassen“ (SSG01, Pos. 50), „Die Situation, dass mir kein Mauseloch bleibt, um zusätzliche Besucher und Einnahmen zu generieren, die ist für mich neu“ (SSG01, Pos. 60). Er präzisiert: „Und das hat uns immer geholfen, wenn ein Teilbereich schwächelte, den auszugleichen. Aber jetzt schwächelt alles […] das Besuchergeschäft, […] Veranstaltungen und Vermietungen, Shop und Parkplatzvermietungen. […] ich verliere einfach in allen Bereichen. […] ich kann meine Pachteinnahmen von den Gastronomen auch nicht einfordern. […] Wir verzichten teilweise auf Monatspacht, weil ich weiß, wenn es wieder losgeht, brauche ich die Gastronomen. […] ich tue alles, um meine Gastronomen zu halten. […] Ich habe nur Ausgaben, ich habe keine Einnahmen in keinem Geschäftsfeld“ (SSG01, Pos. 64).

Den besonderen Bezug zur Saisonalität des Geschäfts (vgl. Abschnitt 2.1.3) beschreiben die Busunternehmer in ihren Antworten am deutlichsten: „[…] bei uns steht ja seit Mitte März alles komplett […], März, April, Mai, Juni sind die umsatzstärksten Monate […], das Geld bräuchten wir eigentlich, um […] dann über die schwache Zeit, über den Winter, wieder ins Frühjahr zu kommen“ (B03, Pos. 52), „Da haben wir fast eine siebenstellige Summe verloren“ (B03, Pos. 82). Dies bestätigt ein Kollege: „Also unsere Saison startet im April. Da fängt es eigentlich an mit den Schiffen und mit den Mehrtagesfahrten bei uns und endet Oktober, Mitte November, je nachdem, […] dann kommt ja die Wintersaison von November […] bis Januar, Februar. […] Das ist unsere Saison. Die aktuelle Situation, […] Mitte März […] von hundert auf null gefahren worden und es war ja so, dass uns die komplette wirtschaftliche Perspektive genommen wurde. Es hat ja geheißen, wir dürfen ab Tag X nicht mehr fahren“ (B04, Pos. 68), „Momentan haben wir Stornierungen im Reiseverkehr von 80 Prozent bis 90 Prozent. […] Bis September auf jeden Fall, sind wir komplett bei 100 Prozent fast“ (B01, Pos. 66–68). Und ähnlich: „Wir sind heruntergefahren auf null, wenn du keinen Linienverkehr hast, gar nichts, und über Incoming, dann hast du da auch nichts“ (B02, Pos. 62).

Ähnlich schildern es die Gästeführer: „Dadurch, dass ich Kreuzfahrten mache, ich mache vorwiegend Amerikaner, Engländer, was auch immer, Franzosen, die alle nicht mehr kommen, das bedeutet für mich einen hundertprozentigen Verdienstausfall“ (G15, Pos. 52), „Also, na ja, wegfallen tut ja alles im Moment, also deswegen, das ist hundert Prozent, was wegfällt“ (G12, Pos. 136), „Also sämtliche Buchungen, die ich hatte, habe ich storniert bekommen“ (G18, Pos. 56), „Bei mir ist, kann ich sagen, etwa für die Monate April, Mai, Juni ein ungefähres Einkommen, ein VERDIENST von circa 14 000 Euro weggefallen“ (G04, Pos. 54), „[…] am 15.03. […], danach wurden […] alle […] storniert. Ich hatte einen Umsatzeinbruch [von] 100 Prozent […] in Zahlen: […] über 10 000 Euro, […] Buchungen, die […] storniert wurden“ (G10, Pos. 50).

Dabei wurden die Themenbereiche „wirtschaftliche Einbußen“ und „COVID-Restriktionen“ von den Befragten in den Interviews ausnahmslos sowohl inhaltlich als auch syntaktisch miteinander verknüpft, aus Sicht der Teilnehmer bestand hier also eine kausale Beziehung. Diesen Zusammenhang schildert ein Busunternehmer dabei insbesondere im direkten Vergleich zu den Maßnahmen in vergangenen Krisen wie folgt: „Dann kannst du Diversifikation betreiben bis zum Gehtnichtmehr. Wenn du halt komplettes Berufsverbot hast, dann ist tot. So, was will ich jetzt für Strategien entwickeln? Ich darf gar nichts machen“ (B02, Pos. 112). Ähnlich ein Kollege: „Deswegen harren wir eigentlich der Dinge aus, bis die Regierung endlich mal sagt: ‚Okay, heute ist der Stichtag. Ab dann dürft ihr wieder fahren.‘“ (B03, Pos. 106) Aber auch der Vertreter der DMO stellt den Zusammenhang deutlich dar: „Ja, also es gibt sehr starke Rückgänge. Das liegt bei den Gästeführungen an dem Kontaktverbot, das jetzt schon seit den verschärften Maßnahmen gilt, werden keine Gästeführungen mehr durchgeführt, weil das in der Regel mehr wie fünf Personen waren. Es könnten tatsächlich auch Einzelpersonen Gästeführungen buchen, aber derzeit liegt das Geschäft vollkommen brach“ (HMG01, Pos. 44). So führt der DMC-Vertreter weiter aus: „[…] die Buchungen sind da, das sind Kunden, die kommen aus Deutschland, das ist mein Krimi- und meine Kuli-[narische]-Führung, die musste ich stornieren, weil die Auflagen [es erfordern]“ (AG01, Pos. 114).

5.1.2.2.2 Staatliche Restriktionen

Die ordnende Kategorie „COVID-Restriktionen“ fasst Aussagen zusammen, die sich auf internationale, staatliche, gesetzliche Regulierungen zur Eindämmung und zum Schutz gegen die COVID-19-Pandemie beziehen. Sie umfasst insgesamt drei induktiv gebildete Subkategorien: A.2.a. „Auflagen“, A.2.b. „Betriebsverbot“ und A.2.c. „Wechselnde COVID-Verordnungen“ (vgl. Abbildung 5.5). Das spiegelt die Themen wider, die von den Befragten mit den wirtschaftlichen Einbußen in direkten Bezug gesetzt wurden.

A.2.b. „Betriebs- oder Fahrverbot“ bildet eine eigene Kategorie, da es spezifisch und annähernd vollständig während des Lockdowns galt. So zeigte sich neben allgemeiner Betroffenheit aller Akteure auch deren in der Forschung beschriebene Interdependenz an der Flusskreuzfahrtdestination, empirisch belegt durch den theoretischen Ansatz eines Flusskreuzfahrt-Destinations-Clusters (vgl. Abschnitt 2.2.3). So erklärt einer der Gästeführer deutlich: „Also Busunternehmen, die Transportunternehmen, sind auch ein Schlüsselelement in diesem Tourismus, in diesen Tourismusphasen, das muss man einfach sehen, gerade für Heidelberg“ (G04, Pos. 174), und: „Man spürt, dass in der Reisebranche momentan alle abhängig voneinander sind“ (B03, Pos. 122).

Während Busunternehmer ausführen, dass sie „momentan, was die touristischen Busse angeht, gar nicht fahren [dürfen]“ (B01, Pos. 98), und erklären, dass ihnen dadurch die „komplette wirtschaftliche Perspektive genommen wurde“ (B04, Pos. 68), äußern sie auch ihr Unverständnis bezüglich dieser Auflagen, denn „die Bahn darf fahren, […]. Also was jetzt die so anders da machen können oder andere Instrumente haben wie wir, das ist mir nicht klar, […] ob der jetzt von Freiburg nach Hamburg fährt, macht auch nichts anderes, wie wenn ich von Heidelberg mit der Seniorengruppe nach Frankfurt fahre“ (B03, Pos. 124). Ebenso vom Verbot betroffen waren die Gästeführer: „Bis 06.[06.2020] dürfen gar keine Gästeführungen stattfinden“ (G18, Pos. 176), „[…] die Altstadt-Rundfahrt nicht, weil man darf nicht in einem geschlossenen Bus sitzen, und Schloss[-Führung] null“ (G17, Pos. 68). Auch die Gastronomie am Busterminal erlitt „natürlich Totaleinbruch. Wir sind eine Gastronomie, wir hatten Betriebsverbot“ (CAF01, Pos. 60).

Die Subkategorie A.2.a. „Auflagen“ fasst Bezüge zu allgemeinen Hygieneauflagen wie Maskenpflicht, Abstandsregelungen und damit verbundene Dokumentationspflichten zusammen, die nach dem Betriebs- oder Fahrverbot (Kategorie A.2.b.) des Lockdowns umgesetzt werden mussten. Auch hier schildern DMO-Vertreter aufgrund ihres breiten Tätigkeitsbereichs (vgl. Abschnitt 2.2.4.1) die Gesamtsituation am anschaulichsten: „Ich kann relativ wenig beeinflussen. […] Pro zehn Quadratmetern darf ich einen Besucher hereinlassen. Also da gibt es ein Reglement, das ich nicht ändern kann. […] das muss ich überwachen, muss es dokumentieren, muss die Hygienevorgaben einhalten, überwachen, bereitstellen […]“ (SSG02, Pos. 68) und die aufgrund von Auflagen fehlende Wirtschaftlichkeit des Betriebs wird deutlich hervorgehoben: „Vielleicht gibt es da mal wieder eine Entspannung, dass man dann auch halbwegs wirtschaftlich Veranstaltungen durchführen kann oder halbwegs wirtschaftlich auch Führungen durchführen kann“ (SSG02, Pos. 170). Bezogen auf touristische Veranstaltungen an der Destination wie Stadtfest, Weihnachtsmarkt und Ähnliches erklärt ein weiterer DMO-Vertreter die wirtschaftliche Auswirkung der Auflagen wie folgt: „Ich [glaube] fast nicht, dass das sinnvoll ist, so etwas mit Kontaktbeschränkung und mit großen Abständen zu realisieren, weil es ja […] nicht wirtschaftlich abbildbar ist, das Ganze. Das wird […] sehr schwer werden […], entsprechende Einnahmen [zu] generieren, dass sich die Aufwendung oder auch der Personaleinsatz dann noch rentiert […]“ (HMG01, Pos. 126). Sein Kollege ergänzt nachfrageseitige Bedenken: „[…] durch die Beschränkungen von der Bundesregierung, dass nur gewisse Zimmer belegt werden dürfen und, und, und, bleiben natürlich auch viele Leute zu Hause, die sagen: ,Den Stress tun wir uns nicht an. Wir gehen erst wieder, wenn man weiß, man wird wieder bedient ohne Maske‘“ (HMG02, Pos. 46), und führt mit Blick auf die weitere Saison aus: „[…] es ist alles ein bisschen mit Bedacht, was auf der einen Seite natürlich auch richtig ist, weil keiner weiß, was mit der zweiten Welle ist, weil die kommt meistens, wenn es kälter wird, im September/Oktober“ (HMG02, Pos. 48).

Die Busunternehmer und Gästeführer hatten dagegen mehr mit den praktischen und organisatorischen Auswirkungen der Auflagen zu kämpfen. So schildert ein Busunternehmer die Situation wie folgt: „Und ich stelle mir jetzt eine Fahrt vor mit 20 Leuten, die mit Mundschutz drinsitzen und sich unterhalten wollen mit 1,50 Metern Abstand. Das Geschrei [der Gäste] will ich gar nicht hören. Das ist doch keine Gruppenreise. Stell dir eine Stadtführung vor, 1,50 Meter Abstand, 20–25 Leute“ (B02, Pos. 142). Dazu führt ein Reiseleiter konkret aus: „Gruppen von fünf Leuten und mit Abstand und Mundschutz und so weiter. Es ist […] eine einzige Qual“ (G05, Pos. 98), und ein Kollege erklärt in Bezug auf mobilitätseingeschränkte, ältere Gäste, dass es schlicht unmöglich sei, eine Gästeführung unter Social-Distancing-Regeln umzusetzen: „Wie kann ich mit zwölf Rollatoren […] Bergbahn fahren? Das muss mir einer mal erklären. Und die Leute die Treppe hoch mit dem Rollator? Ich habe ja keinen Fahrstuhl, weil ich darf da nicht herein [gemeint: aufgrund der Auflagen]“ (G13, Pos. 272–274). Konkret auf die wirtschaftlichen Einbußen und organisatorischen Schwierigkeiten geht die folgende Aussage eines Interviewteilnehmers ein: „Es kommt nicht mehr [Umsatz] herein und trotzdem entstehen mehr Komplikationen durch diese Vorschriften, die ja auch gerechtfertigt sind. […] Aber es wird alles viel länger dauern. […] vom Schiff und dann nach Heidelberg, die Busse, und dann wieder zurück, das wird alles länger dauern“ (G15, Pos. 274).

Da einige der Teilnehmer unklare oder wechselnde COVID-Verordnungen nachdrücklich als „Hauptproblem“ bezeichnen, wurde diese Kategorie als eigene Subkategorie aufgeführt. Überwiegend äußert sich dazu die Akteursgruppe der Busunternehmer, die besonders durch wechselnde Verordnungen betroffen zu sein scheint. So schildert ein Teilnehmer: „Und das Problem ist ja auch, du weißt gar nicht, wenn du etwas machst, wie machst du es? Was kriegen wir für Abstandsregelungen? Wie viele Leute dürfen in den Bus herein?“ (B02, Pos. 114), und erklärt, dass die betreffenden Regelungen erhebliche Auswirkungen auf seine Aufträge haben, da er den Kunden nicht verbindlich sagen kann: „Ihr fahrt mit einem Bus“, oder: „Ihr fahrt mit zwei [Bussen]“ (B02, Pos. 122). Setzt man für einen Reisebus eine durchschnittliche Kapazität von 50 bis 55 Sitzplätzen und einen durchschnittlichen Tagespreis von ca. 1000 Euro pro Bus und Tag an, werden die Dimensionen des Problems deutlich. So schildert der Busunternehmer, dass er Kunden Folgendes nahebringen musste: „Gut, für 100 Leute werdet ihr sieben Busse brauchen“ (B02, Pos. 114). Statt 2000 Euro für zwei Busse steigen die Kosten eines Auftrags für 100 Personen aufgrund der Auflagen auf 7000 Euro für sieben Busse. Das entspricht Kosten von 70 Euro statt 10 Euro pro Person. Der Busunternehmer erklärt die Konsequenzen: „Wer will denn das machen? Also lässt er [der Kunde] die ganze Fahrt fallen“ (B02, Pos. 114).

Ein Kollege weist zudem auf die Unterschiede zwischen den Bundesländern hin: „Die Politik sagt ja auch, die fahren alle auf Sicht. Das ist so ein Wort, wo sich bei mir die Nackenhaare stellen. Und es kann eben keiner definitiv sagen, wie es weitergeht. Es ist von Bundesland zu Bundesland verschieden.“ (B04, Pos. 92) Ein weiterer Busunternehmer führt im Detail aus: „Solange es da keine einheitliche und aussagekräftige Ankündigung geben wird […] von der Landes- oder Bundesregierung, […], solange das nicht alles irgendwo klar geregelt ist, wird nicht viel passieren. Deswegen habe ich auch vorhin erwähnt, dass die Neubuchungen bis Ende des Jahres relativ mau sind, die eigentlich jetzt kommen müssten. […] viele Gruppen sagen: ‚Nein, wir bleiben zu Hause. Uns ist das Risiko zu groß‘“ (B01, Pos. 162).

Gästeführer legen den Schwerpunkt hingegen weniger auf nationale COVID-Restriktionen, sondern verorten die Hindernisse im Bereich unklarer und wechselnder internationaler Reisebeschränkungen. So schildert ein Gästeführer explizit: „Wenn einer Einreiseverbote macht für Europäer, […] dann wird die EU sich umgekehrt auch sagen: für die dann auch keine Einreise nach Europa. Und dann hängt es, was Europa betrifft, [an] den nationalen Regierungen, was die machen“ (G13, Pos. 220). Von schnell wechselnden nationalen Auflagen unmittelbar betroffen zu sein, beschreibt ein Gästeführer wie folgt: „Dieses Visier also da, diese Plexiglasscheibe, […] habe mir […] besorgt […] mit dem Mikrofon, das ist ja viel angenehmer […]. Jetzt habe ich aber erfahren gerade eben bei der Corona-Schulung, dass es […] nicht mehr erlaubt sei, nur der Mundschutz“ (G14, Pos. 130). Aber auch indirekt sind Gästeführer durch wechselnde Auflagen beispielsweise bei Hotelbuchungen betroffen. So führt der DMC-Vertreter aus: „Die Sache ist die, es gibt auch auf der Website der Stadt keine Vorgaben. […] ich habe Absagen von Kongressen, von Tagungsgästen, die jedes Jahr kommen […], die haben alle storniert, weil sie nicht wussten, wie sie damit [unklaren/wechselnden Auflagen] umgehen sollen, ob sie die Hotels kriegen“ (AG01, Pos. 182). Im Hinblick auf die in Abschnitt 5.2 zu beantwortende Fragestellung deutet die Aussage eines Teilnehmers bereits an dieser Stelle auf die Rolle der Innovation in der Krise hin: „[…] in den letzten vier Wochen [geht] […] viel Zeit […] dafür drauf, sich ständig wechselnden Regulationen anzupassen und quasi wieder neu zu erfinden, um irgendwie den Betrieb aufrechtzuerhalten“ (CAF01, Pos. 68).

Zusammenfassend lassen sich die einhellig von allen Akteursgruppen und Teilnehmern als „katastrophal“ beschriebenen Umsatzeinbußen durch die COVID-19-Krise festhalten. Die DMO-Vertreter beziffern das Gesamtmaß der Tourismuskrise an der Destination auf ein Minus von 2,7 Millionen und dem erstmaligen Ausbleiben von Gästen, seit sie Statistik führen. Aus Sicht der Teilnehmer besteht zudem ein deutlicher Zusammenhang zwischen den COVID-Restriktionen und Einbußen. Dieser liegt bei Betriebs- und Fahrverboten auf der Hand, wurde aber auch in der Zeit nach dem Lockdown festgestellt.

Im Kontext der Fahrverbote zeigte sich zudem die in der Theorie bereits dargelegte Interdependenz der Akteure der Flusskreuzfahrtdestination (vgl. Abschnitt 2.2.3), die den theoretischen Ansatz eines Flusskreuzfahrt-Destinations-Clusters (vgl. Abschnitt 2.2.3) empirisch belegt.

Staatliche Restriktionen beeinträchtigen in Form von Hygienevorgaben, Flächenbeschränkungen, Überwachungs- und Dokumentationspflichten die Wirtschaftlichkeit touristischer Aktivitäten an der Destination erheblich. Insbesondere Busunternehmer leiden insofern unter häufig wechselnden bundes- und landesrechtlichen Auflagen, als sie ihrer Kundschaft infolgedessen keine verbindlichen Angebote machen können. Aber auch Gästeführer sind direkt wie indirekt von nationalen und auch internationalen Reisebeschränkungen betroffen, da sowohl Binnen- als auch Quellenmärkte aufgrund der Regelungen verunsichert sind und daher nicht buchen. Fairlie (2020), Kraus und Clauss (2020) und weitere beschreiben in ihren frühen Einschätzungen von Auswirkungen der COVID-Restriktionen auf KMU ähnliche Zusammenhänge (Fairlie, 2020, S. 737–738; Kraus et al., 2020, S. 1070; Kuckertz et al., 2020, S. e00205; Marx & Klotz, 2021, S. 9).

5.1.2.3 Maßnahmen

In Bezug auf die im letzten Abschnitt betrachteten einschneidenden wirtschaftlichen Einbußen durch die COVID-Krise wurden die Interviewteilnehmer befragt, inwieweit sie aufgrund der COVID-19-Pandemie Maßnahmen ergriffen haben, um Einbußen entgegenzuwirken. Abgezielt wurde mit den Fragen auf konkrete Sofortmaßnahmen in der Krise (vgl. Abschnitt 2.4). Durch die darauffolgenden, insbesondere auf Geschäftsmodellinnovation gerichteten Fragen sollte gewährleistet werden, dass beide Bereiche in der Auswertung gut voneinander differenziert werden können. Dennoch lassen sich bereits an der Liste der Kategorien (vgl. Abbildung 5.6) Querverweise zu den Themenbereichen Geschäftsmodellinnovation, temporäre Geschäftsmodellinnovation und Digitalisierung erkennen, die auch den Querverbindungen der Forschungsrichtungen entsprechen (Todesco & Klein, 2021, S. 127, Figure 2). Auch in diesem Abschnitt konnten die induktiv entstandenen Unterkategorien zwei ordnenden Kategorien A.4. „Selbsthilfe“ und A.5. „Fremdhilfe“ sowie zusätzlich den eigenständigen Kategorien A.3. „Keine“ und A.6. „Hinweise: fehlende Unterstützung“ zugeordnet werden. In die Kategorie Selbsthilfe fielen Maßnahmen im eigenen Wirkungsfeld der Befragten, die zum Abmildern, Auffangen oder Verhindern finanzieller Konsequenzen realisiert wurden. Dagegen wurde der Rückgriff auf die Hilfe Dritter, auch staatliche Förderprogramme, der Kategorie A.5. „Fremdhilfe“ zugeordnet.

Abbildung 5.6
figure 6

Kategorien A.3. bis A.6. „Maßnahmen“ (Kategoriensystem). (Quelle: Eigene Darstellung)

Diese Einteilung orientiert sich, der beschriebenen Auswertungsmethode folgend (vgl. Abschnitt 4.6), an den Wertungen und Unterscheidungen der Studienteilnehmer selbst und insbesondere aus Aussagen der Kategorie A.4.e. lässt sich ableiten, wie wichtig diese Unterscheidung den Teilnehmern selbst war: „Also ich habe eigentlich keine Hilfe bekommen von auswärts. Ich habe mir das selber geholt, was ich brauche“ (G09, Pos. 222), oder aus dem betonenden Zusatz: „[…] ich habe mich da sehr viel selber informiert“ (G18, Pos. 108), bis hin zu leichter Empörung über die Interviewfrage „[…] ich bin ja auch informiert!“ (G15, Pos. 124). Explizite Hinweise auf fehlende Unterstützung durch Dritte werden der Kategorie A.6. zugeordnet (vgl. Abbildung 5.6). Begründete Erklärungen, überhaupt keine Maßnahme getroffen zu haben, werden in der Kategorie A.3. festgehalten.

5.1.2.3.1 Keine Maßnahmen

Insgesamt äußern sich von allen Befragten insgesamt sechs (Gästeführer) dahingehend, trotz spürbarer wirtschaftlicher Einbußen gar keine Maßnahmen ergriffen zu haben (G02, G12, G13, G15, G16, G17). Die Aussagen reichen von einem lapidaren „Nichts im Moment“ (G02, Pos. 82) über „Meine Rente ist zwar nicht besonders umfangreich, aber ich kann gut leben“ (G12, Pos. 146), und „mit meiner relativ guten Rente konnte ich so etwas nicht beantragen“ (G17, Pos. 80) sowie „Ich habe auch noch einen Lebenspartner, der verdient, und so weiter“ (G15, Pos. 84) bis zu „Wenn es wirklich dramatisch werden sollte, würde ich vielleicht wieder mal Übersetzungen machen“ (G13, Pos. 96), und lassen mit einem Blick auf die sozioökonomischen Daten erkennen (vgl. Kapitel 4), dass es sich bei fünf der sechs Antwortenden um Rentner handelt. Daher lässt sich der Mangel einer finanziellen Not oder Notwendigkeit als Motivation vermuten. In diesem Kontext fällt die Antwort der einzigen Teilnehmerin auf, die keine Rente bezieht und kurz vor Pandemiebeginn von Gästeführungen zu einer festen Anstellung gewechselt ist. Auch sie gibt an, mangels finanzieller Motivation keine Maßnahmen ergriffen zu haben: „Weil ich die Stelle habe und weil ich meinen Mann habe. Wenn ich alleine von dieser Stelle abhängig wäre, müsste ich einen anderen Job suchen“ (G16, Pos. 78).

Somit begründen im Kontext der COVID-19-Krise diejenigen Befragten, die angeben, „keine Maßnahmen“ getroffen zu haben, dies mit dem „Fehlen einer finanziellen Notwendigkeit“ für Krisenmanagement. Auffallend ist, dass dieselbe Begründung bereits von den Studienteilnehmern, die in früheren Krisen keine Maßnahme zum Krisenmanagement getroffen haben, geäußert wurde (vgl. Abschnitt 5.1.1.4).

5.1.2.3.2 Auflösung von Rücklagen

Ausführlicher und deutlicher sind die Erläuterungen der Teilnehmer zu Sofortmaßnahmen im Rahmen einer Selbsthilfe (vgl. Abbildung 5.6). So werden insgesamt neben A.4.e. „Eigene Information in den Medien“ vor allem A.4.a. „Rückgriff auf Erspartes“, A.4.b. „Sparmaßnahmen“ und die aktiven Bestrebungen in Bezug auf A.4.d. „Werbung/Investitionen“ genannt, die abgerundet mit Aussagen zu A.4.c. „Auftrags- und Jobsuche“ sich bereits langsam in Richtung von Geschäftsmodellinnovation bewegen.

So berichten die Befragten unabhängig von der Akteursgruppe überwiegend, dass sie „[…] von Erspartem leben“ (G04, Pos. 68); ebenso indirekt ein Kollege: „[…] also ich bin immer noch im Plus, aber ich rutsche halt ganz langsam ins Minus jetzt“ (G14, Pos. 76). Deutlich, wenn auch positiver schildern es der Gastronom: „Da leben wir beide vom Ersparten“ (CAF01, Pos. 68), und der Busunternehmer: „[…] wir haben halt auch die letzten Jahrzehnte wirklich gut gewirtschaftet, damit wir jetzt von dem Ersparten leben können“ (B03, Pos. 52).

5.1.2.3.3 Sicherung des Umlaufvermögens

Für die jeweilige Akteursgruppe spezifisch stellten sich dagegen die von den Studienteilnehmern unter „Sparmaßnahmen“ zusammengefassten Möglichkeiten, aber auch Tücken dar. Betriebswirtschaftlich beschreiben die Befragten dabei, in ihren Worten als Sparmaßnahmen, etliche Möglichkeiten zur Sicherung von Cashflow und Umlaufvermögen.

Einige der wenigen Sparmaßnahmen, die den Gästeführern möglich waren, schildert eine Teilnehmerin wie folgt: „Was kann man machen? Wie kann man Krankenversicherung zurücksetzen, Steuervorauszahlungen verschieben? Alles solche Sachen, die man dann natürlich sofort machen konnte“ (G10, Pos. 114). Allerdings erklärt ein Kollege sowohl den Grund als auch die Problematik insgesamt recht anschaulich: „Ich meine, als Gästeführer, was hat der gewöhnliche Gästeführer für Betriebskosten? Die sind nicht groß. Wir haben ja keine Mieten und keine Büros und so weiter, die wir bezahlen müssen für unseren Solobetrieb“ (G09, Pos. 80), und beschreibt dazu das Prekäre an saisonaler Arbeit, dass nämlich das bisher für die Wintermonate Ersparte durch die COVID-Krise aufgebraucht wird: „Wir arbeiten ja das ganze Jahr über, damit wir im Winter noch etwas haben, um zur nächsten Saison überzuleiten“ (G09, Pos. 106).

Busunternehmer die dagegen durch Mitarbeiter, Fahrzeuge, Unterhalt und deren Finanzierung nicht nur einen größeren Betrieb, sondern naturgemäß auch höhere Betriebskosten haben, schildern die Maßnahmen differenzierter und beschreiben die Verminderung von Fixkosten durch Abmelden der Fahrzeuge, wodurch sie Steuern und Versicherungsbeiträge reduzieren konnten. Ein großer Posten waren zudem Personalkosten, die sowohl durch Kündigungen als auch den Antrag auf Kurzarbeitergeld (vgl. Abschnitt 5.1.2.3.2) gesenkt werden konnten. Bei denjenigen, die Neufahrzeuge finanziert hatten, kamen dazu Gespräche mit Bank und Finanzamt zur Stundung von Zins- und Tilgungszahlungen für die Fahrzeugkredite. So schildern sie neben einfachen Lösungen: „Ich habe von den ganzen Busfahrern momentan einen einzigen […], die restlichen […] sind alle in Kurzarbeit […] und ich fahre […] halt hauptsächlich mit, damit ich […] Fahrerkosten spare. […] wir haben Gespräche mit den Banken gesucht, um die Tilgung zu stunden. Die Zinsen werden zwar weitergezahlt, aber es findet momentan keine Tilgung statt“ (B01, Pos. 80). Im Zusammenhang mit der drohenden Kündigung von Mitarbeitern wird auch geäußert: „Wir haben also die Busse abgemeldet, wir haben die Versicherungen angerufen, wir haben mit den Fahrern gesprochen, das ist sehr, sehr wichtig. Wir wollten sie nicht entlassen aus dem einfachen Grund, es sind also alles lange, altgediente Fahrer und da versuchen wir, noch so lange wie möglich daran zu halten“ (B04, Pos. 80). Mit der Stundung der Kredite sind wiederum sich auftürmende Schuldenberg verbunden: „[…] die Fahrzeuge sind vorübergehend abgemeldet worden. Wir haben auch mit dem Finanzamt um Stundung gebeten. Teilweise die Fahrzeuge, die finanziert sind, haben wir mit den Banken gesprochen, damit wir drei Monate die Zinsen und Tilgung aussetzen, aber das kommt ja dann später alles on top drauf. Der Vertrag läuft ja dann nicht drei Monate weiter, sondern die Summe wird ja dann aufgerechnet auf die verbleibende Zeit dann“ (B03, Pos. 64). Ähnlich fassen es auch der Betreiber des Busparkplatzes und der Gastronom zusammen: „Verträge kündigen […], Mitarbeiterstruktur so schaffen, […] dass man [nicht] zu viele Mitarbeiter […] verliert, die man später wieder braucht“ (BPP01, Pos. 74), „[…] reduziere ich massiv meine Fixkosten durch Einsparung von Personal“ (CAF01, Pos. 194).

Alle befragten Unternehmer schildern explizit ihr Problem, zusätzlich zur schwierigen Finanzierungssituation auch langjähriges, erfahrenes und qualifiziertes Personal kündigen zu müssen, was das Unternehmen extrem verwundbar macht (Todesco & Klein, 2021, S. 123) und genau das von Freeman et al. mit liability of smallness beschriebene Phänomen der Belastung des „Kleinseins“ von KMU trifft (Freeman et al., 1983, S. 692).

Ganz anders stellten sich sowohl Maßnahmen als auch Herausforderungen der DMO dar. Hier waren offensichtlich die Rechtsform (GmbH versus Anstalt öffentlichen Rechts) sowie die Querfinanzierung durch Stadt oder Land Baden-Württemberg entscheidend. So beklagt sich der Vertreter des staatlichen Betriebs dahingehend, dass er „niemanden in Kurzarbeit schicken, […] auch niemanden entlassen [dürfe]“ (SSG01, Pos. 50) und „[daher] kein Mittel [habe], Teile der Verluste aufzufangen. […] wir legen nur drauf, weil einfach der Aufwand so wesentlich höher ist“ (SSG01, Pos. 60), allerdings mit der Sicherheit: „Das Ministerium wird schon gucken, dass wir zum Schluss unsere Rechnungen bezahlen können. Wir sind ja letztendlich auch unverschuldet in diese Situation gelangt, klar“ (SSG02, Pos. 66).

Dagegen stellt der Vertreter des städtisch finanzierten Betriebs deutlich schärfer klar: „[…] wir überlegen uns […], das zu kompensieren, weil die Höhe des städtischen Zuschusses ist ja flexibel. Das entscheidet letztlich der Gemeinderat der Stadt […]. Als Dienstleistungsunternehmen sind wir sehr stark personalkostenlastig und über die Kurzarbeit können wir einen Teil der Arbeitsplätze finanzieren, aber mittelfristig gesehen wären große Einsparungen bei uns auch mit Einschnitten in den Personalbereich verbunden“ (HMG01, Pos. 60). Andererseits äußert sich ein Kollege positiv: „Also wir brauchen schon mal sehr, sehr wenig von der Bezuschussung und dieses Geld haben wir […] für die nächste Zeit als Reserven. […] da mache ich mir jetzt […] gar keine Sorgen, weil durch die Kurzarbeit, durch Abbau von Überstunden, durch Abbau von Resturlauben haben wir uns eigentlich ganz gut über Wasser gehalten“ (HMG02, Pos. 50). Zudem seien durch die fehlenden Fachmessen auch viele Kosten weggefallen.

5.1.2.3.4 Investition in Digitalisierung

Neben sofortigen Sparmaßnahmen werden von Interviewteilnehmern insbesondere noch Maßnahmen in Form von „Investitionen in die Zukunft“, Werbe- und Marketingmaßnahmen genannt. Auffällig ist, dass außer dem Gastronomen, der schildert, die „Zeit für fällige Renovierungsarbeiten, Überholungen, Streichen“ genutzt zu haben (CAF01, Pos. 68), alle weiteren Nennungen der Befragten auf Investitionen im Bereich Social-Media-Marketing, mittelbar also Digitalisierung abzielen. Selbst der sich als „Digitalmuffel“ (CAF01, Pos. 98) bezeichnende Gastronom berichtet, „soziale Netzwerke mehr bemüht“ zu haben, nicht für Werbung, aber um die Anpassung an aktuelle COVID-Auflagen „[…] zeitnah an unsere potenziellen Gäste […]“ zu kommunizieren (CAF01, Pos. 102).

DMO, DMC wie auch Gästeführer äußern sich dahingehend, verstärkt Werbemaßnahmen über soziale Medien durchgeführt zu haben, um „präsent zu bleiben“. So erklärt der Vertreter der Agentur: „Das Einzige, was ich mache, was aber keine Einkünfte bringt, sind diese YouTube-Videos“ (AG01, Pos. 120), „Social Media […] habe ich aufgestockt […]. Du kannst ja jetzt nicht ins Loch gehen und nichts machen. Einfach präsent sein“ (AG01, Pos. 128). Ähnlich auch ein Vertreter der DMO, der erklärt, er habe „Digitalisierung extrem genutzt zur Kundenbindung und um im Gespräch zu bleiben“. Sein Kollege führt dazu im Detail aus: „YouTube, da müssen jetzt, glaube, von mir so 15 oder 16 Filmchen […] sein“, „Wir sind ganz massiv in die sozialen Medien gegangen“ (SSG01 Pos. 72). Zudem erklärt er, letztlich sei es „[…] Strategie […], wenn man an die ausländischen Gäste nicht herankommt, verstärkt an den heimischen Gast zu gehen, sprich die Besucher aus dem näheren Umfeld eher anzusprechen bzw. aus ganz Deutschland […]“ (SSG02, Pos. 102). Doch nicht nur die etwas größeren Stakeholder mit Budget und technischer Ausstattung, auch einzelne Gästeführer haben diese Maßnahmen ergriffen und schildern: „[…] was wir jetzt […] machen […], für uns werben, […] Einblicke geben in unsere touristischen Ziele und werben […]. Ich habe auch ein kleines Filmchen in Mannheim gemacht, um für unseren Berufsstand [zu] werben“ (G06, Pos. 144). Es sei so, „[…] dass wir gesagt haben, wir müssen agieren, wir müssen kleine Videoclips drehen. […] Wir müssen uns zeigen, wir müssen in die Presse“ (G01, Pos. 179). Keine Bemühungen hinsichtlich Digitalisierung fanden sich hingegen bei den Busunternehmern.

5.1.2.3.5 Sonstige strategische Ansätze

Vor allem die Akteursgruppe der Busunternehmer versuchte, im Rahmen der Auflagen über Linienverkehr in der bisherigen Branche noch Einkünfte zu generieren (B01, B03, B04, BPP01). So berichte ein Unternehmer: „Ich habe meine Stadtlinie, die das ganze Jahr noch durchfahren wird, und ich habe meinen Schülerverkehr, den ich noch bis Ende des Schuljahres fahre“ (B01, Pos. 78), und erklärt dazu: „Ich habe keinen großen Gestaltungsfreiraum. Das Einzige, was [noch] drin ist, […] für die Bundeswehr tätig zu sein“ (B01, Pos. 96). Und auch der Parkplatzbetreiber schilderte seine Versuche, die „Parkplätze irgendwie [zu] füllen. [Beispielsweise mit] PKWs, die jetzt da teilweise darauf parken, von Inlandstouristen. Aber das ist dann auch das Einzige“ (BPP01, Pos. 68).

Alle anderen, allesamt aus der Akteursgruppe Gästeführer, sehen dagegen nur noch die Lösung im Job- bzw. Nebenjobwechsel in eine andere Branche und fallen dabei meist auf ihren ursprünglichen Ausbildungsberuf zurück (G04, G06, G07, G10, G11, G14, G18).

Eine der befragten Gästeführerinnen berichtet, zurzeit bei einer Organisation gegen die Ausbreitung der Tigermücke in Deutschland zu arbeiten. Ihre Tätigkeit bestehe darin, Menschen anzusprechen und aufzuklären. Dazu führt sie aus: „[…] das ist eigentlich so ein bisschen ähnlich wie mein eigentlicher [Gästeführer-]Job“ (G18, Pos. 64). Ein anderer versucht nach Jahren an seine Berufsausbildung anzuknüpfen: „[…] alte Verbindungen zum Textgewerbe noch mal aktivieren“, mit der Herausforderung, dass dies „[…] natürlich schwierig ist und […] so kurzfristig nicht möglich […], da wieder einzusteigen“ (G04, Pos. 68). Ähnlich äußern sich zwei Kolleginnen, die auch an ihre Berufsausbildung anknüpfen wollen: „[…] Könnte ich mich vielleicht doch noch mal woanders bewerben […] als Geologin oder so?“ (G07, Pos. 166), und Schwierigkeiten beschreiben: „[Ich habe] gleich […] Kontakte zu […] Übersetzungsagenturen aktiviert [und mich] auch […] beworben […,] aber […] die zwei Firmen, wo ich ernsthaft […] Stellen gesucht habe in meinem früheren Beruf [, haben Einstellungsstopp]“, sie habe sich „[…] auch beim Gesundheitsamt [und als] Erntehelfer [gemeldet]“ (G10, Pos. 66) und „versuche, bei den Volkshochschulen […] Vorträge zu halten“ (G11, Pos. 126).

5.1.2.3.6 Dritthilfen: staatlich, Berufsverbände, privat

Bei den im Rahmen der Kategorie A.5. „Fremdhilfe“ genannten Maßnahmen wurden von den Akteursgruppen mit größeren Betrieben und – notwendigerweise – größerer Anzahl Mitarbeitern wie Busunternehmen, DMO oder DMC am häufigsten die Anträge auf „Kurzarbeit“ und „Corona-Hilfe“ genannt. So erklären die Interviewpartner, dass sie versuchen, „Fixkosten […] so weit zu drücken, wie es geht, durch Kurzarbeit“ (B03, Pos. 74), bereits seit gewisser Zeit Kurzarbeit zu haben, die sie „auch noch ausnutzen bis Ende des Jahres, weil natürlich eine Tourist-Information nicht frequentiert ist […]“ (HMG02, Pos. 50), und „zusätzlich die Corona-Hilfen beantragt“ zu haben (BPP01, Pos. 50). Ebenso äußert sich auch der überwiegende Teil der Gästeführer (G01, G02, G04, G05, G06, G07, G09, G10, G11, G18), die sich insgesamt positiv erstaunt über die Geschwindigkeit zwischen Antrag und Auszahlung sowie Höhe der Auszahlung zeigen. Stellvertretend für die Grundeinstellung der Teilnehmer können die nachfolgenden Äußerungen stehen: „Hält mich ein paar Monate über Wasser. […] ging schnell. Ging ganz problemlos“ (G02, Pos. 60), oder: „Das mit dem Antrag hat wirklich brutal schnell funktioniert. Ich habe beantragt, sagen wir, am Donnerstag und am Montag war es praktisch schon auf dem Konto“ (G05, Pos. 66). Ausreißer aus diesem positiven Grundtenor sind lediglich in den ersten Interviews und mithin noch während der Anfangsphase des Hilfsprogramms vorzufinden, so schildert ein Gästeführer: „Der Erstantrag war ziemlich kompliziert. Den musste ich dreimal an die ‚IHK‘ weiterleiten, weil ich immer irgendwelche Häkchen vergessen hatte für Dinge, die mich auch nicht betroffen haben“ (G01, Pos. 112). Ein anderer beschreibt die anfangs noch unklare Handhabe beim Ansetzen eines „fiktiven Unternehmerlohns“ für Kleinunternehmer und Soloselbstständige (G09, Pos. 80).

Unter der Kategorie A.5.c. „Sonstiger Rückgriff auf Hilfen Dritter“ wurden zunächst Familie, Freunde und Kollegen am häufigsten genannt: „Geholfen hat mir bei der Krise, […] du weißt ja, wir sind ein Familienbetrieb, wir haben uns zu dritt zusammengesetzt“ (B04, Pos. 100), „Meine Schwester, die hat mir gleich mal 1000 Euro überwiesen als Notreserve“ (G14, Pos. 110), „Zum Beispiel für die Soforthilfe, da hatten wir im Kollegenkreis ,WhatsApp‘-Gruppen, E-Mail-Gruppen, wo man dann Informationen zugespielt hat“ (G10, Pos. 114). Auffallend in diesem Kontext ist die als sehr positiv wahrgenommene Hilfe der Berufsverbände für Gästeführer, sowohl des Bundesverbands als auch der lokalen Vereine. So beschreiben Gästeführer explizit: „Ja, der Bundesverband, also dass man sofort die Infos bekam, das fand ich sehr gut […]“ (G07, Pos. 168), und die Hilfe wäre „in erster Linie schon mal [vom] Bundesverband der Gästeführer [gekommen]“ (G06, Pos. 132) und sie fänden schon „[…] dass der Verband, also der Gästeführerverein […] auch […] aus Ludwigshafen, […] ziemlich schnell sich engagiert haben, um die Gästeführer zu unterstützen […]“ (G03, Pos. 90). Allerdings äußert sich eine Gästeführerin bezüglich des Interesses der Politik an der Branche kritisch und erklärt: „Es hat bis jetzt nichts gebracht. Also Guido Wolf […] hat auf drei Briefe […] nicht geantwortet und in der CDU der Abgeordnete, der zuständig ist für Tourismus [auch nicht]. Es gibt nur die Lobbys von Hoteliers und Gastronomen“ (G11, Pos. 134). Busunternehmer äußern sich hingegen zu ihren Berufsverbänden durchweg negativ und führen dazu aus: „[…] die Lobbyarbeit, die sie leisten, ist zu schwach, zu wenig für die Kosten, die sie verlangen. Wir […] haben es geschafft, […] vorher zu demonstrieren, bevor der Verband irgendetwas hinbekommen hat“ (B03, Pos. 102), ähnlich und leicht ironisch ein Kollege: „Lobby vom Busgeschäft ist zwischen null und wenig“ (B02, Pos. 250).

5.1.2.4 Zusammenfassung

Insgesamt nehmen alle Teilnehmer die COVID-19-Pandemie, verknüpft mit einschneidenden Einkommensverlusten bis 100 % bzw. psychischen Belastungen, als Krise im Tourismus wahr. Ein Abgleich der relevanten Schilderungen mit gängigen Krisendefinitionen von Dutton (1986) über Pearson und Clair (1998) bis Doern et al. (2019) bestätigt die Einstufung der Situation als COVID-19-Krise auch theoretisch. Mithilfe der bereits mehrfach beschriebenen Typologien von Mitroff (1987) und Santana (2004) lässt sich die COVID-19-Pandemie als Krise im Gesundheitsbereich einordnen, wobei die Nähe zu systemischen und ökonomischen Störungen nochmals durch die gewählte Terminologie der Befragten „Metastörungen“ (G06, Pos. 116) und „Gesundheitskrieg“ (G01, Pos. 78) deutlich wird.

Abbildung 5.7
figure 7

Ergebnisse von Abschnitt 5.1.2. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die von allen Akteursgruppen und Teilnehmern übereinstimmend beschriebenen wirtschaftlichen Auswirkungen in der COVID-19-Krise werden von den DMO-Vertreter in der Destination mit einem Minus von 2,7 Millionen und dem erstmaligen Ausbleiben von Gästen seit der statistischen Erfassung beziffert. Die finanziellen Einbußen ihres Einkommens aus touristischen Aktivitäten werden eng mit den staatlichen COVID-Restriktionen verbunden. Auffallend häufig wird auf das Fehlen von Ausgleichseffekten hingewiesen (vgl. Abschnitt 5.1.1.3.1.1). Über Betriebs- und Fahrverbote in der Zeit des Lockdowns hinaus beeinträchtigen häufig wechselnde und unklare nationale Auflagen – Hygienevorgaben, Flächenbeschränkungen, Überwachungs- und Dokumentationspflichten etc. –, aber auch internationale Reisebeschränkungen die Wirtschaftlichkeit touristischer Aktivitäten an der Destination erheblich (vgl. Abbildung 5.7). Die Ergebnisse bestätigen damit frühe Studien zur Auswirkung der COVID-19-Restriktionen auf KMU, unter anderem auch im Tourismus (Fairlie, 2020, S. 727–740; Kraus et al., 2020, S. 1067–1092; Kuckertz et al., 2020, S. e00205; Marx & Klotz, 2021, S. 1–12).

Wenige Teilnehmer unternahmen keinerlei Maßnahmen, wobei es sich fast ausnahmslos um Rentner handelte. Sie verwiesen auf ihr Alter und mangelnde finanzielle Notwendigkeit. Die Mehrheit der Befragten jedoch ergriff in der COVID-19-Krise aktive Maßnahmen zur Bewältigung: Auflösung von Rücklagen, Mittel zur Sicherung von Cashflow und Umlaufvermögen sowie Investitionen in Digitalisierung. Der Zusammenhang zwischen Rücklagen und Sicherung des Umlaufvermögens kann in der Theorie bis zu Keynes und seinen Betrachtungen der Wirtschaft nach der Weltwirtschaftskrise (1929), einem mit der Pandemie also durchaus vergleichbaren Ereignis mit weltweiten Auswirkungen, zurückverfolgt werden (Keynes, 1937, S. 242). Ihm zufolge können durch hohe Liquidität Transaktionskosten gesenkt und das potenzielle Risiko abgesichert werden, dass künftiges Einkommen geringer ausfällt als erwartet. Besonders Letzteres trifft für die von den Teilnehmern beschriebene Situation zu und führt in der Folge zu der Strategie, die gebildeten Rücklagen in der Krise aufzulösen. Dazu kamen weitere Senkungen von Versicherungsbeiträgen und Steuern durch Gespräche mit Banken und Finanzbehörden. Außerdem wurden weitreichende Maßnahmen zur Senkung von Personalkosten unternommen, neben Kündigung insbesondere das Beantragen staatlicher Hilfen wie Kurzarbeitergeld. In ihren Ausführungen zu Problemen und Schwierigkeiten mit diesen Maßnahmen schildern die Akteursgruppen Gästeführer, Busunternehmer und DMC das von Freeman mit liability of smallness (Belastung des „Kleinseins“) beschriebene Phänomen von KMU (Freeman et al., 1983, S. 692). Vor diesem Hintergrund ist wenig erstaunlich, dass Cowling in den USA sowie Zimon und Tarighi bei polnischen KMU in der Krise vergleichbare Maßnahmen beobachten konnten (Cowling et al., 2020, S. 595; Zimon & Tarighi, 2021, S. 4).

Trotz teilweise ähnlicher strategischer Ansätze unterscheiden sich die Maßnahmen der DMO hingegen deutlich von den anderen Akteuren. Dies liegt dabei weniger an ihrer Betriebsgröße und mithin Zuordnung als KMU, sondern ihrer systemischen Querfinanzierung durch Gemeinde und Land. Besonders auffällig sind übergreifende Investitionen in Digitalisierung, insbesondere soziale Medien, mit dem strategischen Ziel, die Kundenbeziehungen zu stärken. Dies ist abgesehen von den Busunternehmern über alle Akteursgruppen hinweg zu beobachten. Auch an dieser Stelle decken sich die Ergebnisse mit bisheriger Forschung (Eggers, 2020, S. 208; Kuckertz et al., 2020, S. e00178; Todesco & Klein, 2021, S. 117; Trawnih et al., 2021, S. 1). Zimon und Tarighi erklären dieses Verhalten von Ausgaben ohne Einnahmen in Zeiten finanzieller Ungewissheit damit, dass Investitionen dann mehr Chancen als Risiken bieten (Zimon & Tarighi, 2021, S. 4).

Sieben Studienteilnehmer sehen eine gangbare Lösung nur noch im Job- bzw. Nebenjobwechsel in eine andere Branche und fallen dabei meist auf ihren ursprünglichen Ausbildungsberuf zurück. Da auf diese Maßnahmen im nachfolgenden Abschnitt im Themenfeld der BMI und in Abschnitt 5.3 dann als Ausstiegsstrategie näher eingegangen wird, bleibt an dieser Stelle die Darstellung kurz mit einem Verweis auf weiterführende Literatur (vgl. zu „Pivot“ u. a. Hampel et al., 2020; Leatherbee & Katila, 2016; Morgan et al., 2020).

Staatliche Hilfen wurden bei Unternehmen mit Mitarbeitern in Form von Kurzarbeitergeld und sonst mehrheitlich in Form von Corona-Hilfen in Anspruch genommen. Die in der Forschung beschriebenen bürokratischen Hindernisse und Informationsdefizite (Todesco & Klein, 2021, S. 123) können im Rahmen dieser Studie nicht bestätigt werden, da sich die Teilnehmer einheitlich positiv überrascht über unproblematischen Antrag, Höhe und Geschwindigkeit der Auszahlung äußern. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Juergensen, der feststellt, dass europäischen Politiker schnell erkannten, dass die Unterstützung von KMU von größter Bedeutung für die Bewältigung der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise ist. Dies wurde durch die verschiedenen auch in dieser Arbeit beschriebenen Arten finanzieller Unterstützung erreicht, um Liquiditätsengpässe zu verhindern und den Verlust von Arbeitsplätzen zu minimieren (Juergensen et al., 2020, S. 505). Auffallend in diesem Kontext ist die als sehr positiv wahrgenommene Hilfe der Berufsverbände für Gästeführer, sowohl des Bundesverbandes als auch der lokalen Vereine, während Busunternehmer durchweg negative Meinungen über ihre Berufsverbände äußerten.

Im Bezug zur aktuellen Krisenmanagementforschung in Destinationen lassen sich die von Ertaş, Israeli und Reichel wie auch Mansfeld als „einzige mögliche Lösungsansätze bisher“ beschriebenen „Ansätze der Krisenkommunikation, des verstärkten Marketings für regionale Gäste, des Herunterfahrens von Angebotsinfrastruktur und staatlicher Hilfen“ überwiegend in den vorliegenden Ergebnissen wiederfinden und bestätigen (Ertas et al., 2021, S. 14; Israeli & Reichel, 2003, S. 371; Mansfeld, 1999, S. 35). Bezogen auf verstärkte Maßnahmen der Krisenkommunikation wird explizit als Strategie angeführt: „[…] gezielt in einem Teilmarkt und in einem Regionalmarkt das Marketing hochfahren […]“ (SSG01, Pos. 60). Das Herunterfahren der Angebotsinfrastruktur wird mittelbar über Sofortmaßnahmen zur Sicherung des Umlaufvermögens beschrieben: „Im schlimmsten Fall muss ich halt […] schließen und die Leute heimschicken“ (SSG01, Pos. 52). Auch staatliche Hilfen als wichtigster Faktor zur Bewältigung von Krisen werden von den Befragten wie folgt beschrieben: „[…] diese Soforthilfe […] die hält mich auch für paar Monate über Wasser“ (G02, Pos. 56).

5.2 Geschäftsmodellinnovation und Digitalisierung

Im Nachfolgenden werden zunächst im Rahmen der induktiven Kategorien aus C.1 „Innovation“ die beschriebenen Veränderungen der Geschäftsmodelle in Themenbereiche zusammengefasst und beschrieben. Diese Darstellung wurde einem nach Akteursgruppen oder Fällen gegliederten Forschungsbericht vorgezogen. Diese Entscheidung ergibt sich aus Forschungsfrage und qualitativem Forschungsansatz, da es mehr um Darstellung der Fülle und Vielfalt statt deren statistische Häufigkeit geht. Im Anschluss wird anhand der deduktiven Kategorien C.2. „Dimensionen der Geschäftsmodellinnovation“ (vgl. Abschnitt 4.6.2.6), auch im Kontrast zu C.1., das Vorliegen von Geschäftsmodellinnovation per se geprüft und diskutiert. Anschließend wird anhand der Kategorie C.4. „Rolle der Digitalisierung“, aber auch im Zusammenspiel mit weiteren Kategorien die Bedeutung der Digitalisierung in diesem Zusammenhang dargestellt. Basierend auf den vorangegangenen Zwischenergebnissen kann abschließend auf begünstigende und erschwerende Faktoren für Geschäftsmodellinnovation, die COVID-19-Pandemie als Auslöser von BMI in diesem Kontext und Geschäftsmodellinnovation als proaktiven Ansatz zur Krisenbewältigung eingegangen werden.

5.2.1 Veränderungen der Geschäftsmodelle

Mit der zweiten Forschungsfrage, wie und in welcher Weise sich die COVID-19-Pandemie auf die Geschäftsmodelle von Akteuren an einer Flusskreuzfahrtdestination auswirkt, wurden die Studienteilnehmer im Interview gebeten, Anpassungen oder Veränderungen zu schildern, die sich aufgrund der aktuellen Situation für ihre Geschäftsmodelle ergeben. Dabei sollten sie einerseits schildern, inwieweit sie neue Strategien verfolgen, und andererseits die Rolle der Digitalisierung bewerten. Auch hier bieten Systematik und Themen der induktiv gebildeten Kategorien zunächst einen guten Überblick über das Gesamtmaterial und die zu beschreibenden Ergebnisse (vgl. Abbildung 5.8).

Abbildung 5.8
figure 8

BMI und Digitalisierung (Kategoriensystem). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Es fällt bereits auf, dass sich die Themen von fünf der insgesamt acht Unterkategorien von Kategorie C.1. „Innovation“ auf technische Innovation und Digitalisierung beziehen (vgl. Abbildung 5.8, Nr. 1). Gleichzeitig kann an dieser Stelle bei Kategorie C.4.3. weiter unten in Abbildung 5.8 (Nr. 4) allein durch die Anzahl der codierten Segmente der Kategorie schon eine Schwerpunktbildung bei der Digitalisierung im Zusammenhang mit dem Geschäftsmodell vermutet werden.

Grundsätzlich lässt sich anhand von Kategorie C.1.8 „Keine Anpassung“, bereits deutlich feststellen, dass einige der Befragten keine Veränderungen am Geschäftsmodell und ihrer Tätigkeit vorgenommen haben (vgl. Abbildung 5.8, Nr. 2). Im Vorgriff auf Abschnitt 5.2.1.8 nehmen insgesamt 16 der 29 Befragten keine Anpassungen oder Änderungen des BM vor. Von den insgesamt 29 Teilnehmern bleiben damit weitere 13 Befragte zur Analyse von Geschäftsmodellinnovation. Dennoch bleibt die Gruppe der 16 Teilnehmer aus Abbildung 5.9 als Kontrastierung, speziell aufgrund ihrer Beweggründe gegen Anpassungen, bedeutsam.

Ebenso auffallend ist bereits an diesem Punkt die Kategorie C.3. Als induktiv entstandene Kategorie lässt sie deutlich ein bei den Teilnehmern vorhandenes Konzept vorübergehender Geschäftsmodellinnovation erkennen (vgl. Abbildung 5.8, Nr. 3).

Die Themen der weiteren Subkategorien unterhalb der Kategorie C.1 „Innovation“ (vgl. Abbildung 5.8, Kategorien C.1.1.–C1.4.) beziehen sich vor allem auf die Akteursgruppe der Gästeführer und auf Gästeführungsleistungen der DMO.

Diesen thematischen Schwerpunkt bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Gewicht der Gästeführer an der Stichprobe zu begründen, greift jedoch zu kurz. So trifft Busunternehmer ein umfassendes Berufsausübungsverbot, gepaart mit „blockierten“ Investitionen in Millionenhöhe in Form ihrer Fahrzeugflotte, was finanziellen Raum für Innovationsvorhaben unabhängig ihres Anteils an der Stichprobe beeinträchtigen könnte. Dies verunmöglicht, wie am Beispiel von B01 an späterer Stelle zu erkennen (vgl. Abschnitt 5.2.1.7), keineswegs Innovation, sollte aber bei der Gesamtbetrachtung als kritischer Punkt präsent bleiben.

Am besten beschreiben die in zwei Felder polarisierte Situation auf der positiven Seite folgende Äußerungen der Interviewteilnehmer: „In den letzten vier Wochen geht auch viel Zeit noch mal dafür drauf, sich ständig wechselnden Regulationen anzupassen und quasi wieder sich neu zu erfinden, um irgendwie den Betrieb aufrechtzuerhalten“ (CAF01, Pos. 68), „Ja, das Neue sind eben die ganzen digitalen Stadtführungskonzepte“ (G01, Pos. 195) und „bei diesen digitalen Führungen jetzt eine ganz andere Perspektive […] [sind] diese speziellen Führungen für [Menschen mit] körperlichen Einschränkungen. […] Den Aufwand, den man sich sonst nicht machen würde, den uns die Krise erzwingt, ist [damit] ein Plus für die Gesellschaft“ (G01, Pos. 241–245). Auf der anderen, negativen Seite, stellvertretend einer der Busunternehmer: „[…] was will ich jetzt für Strategien entwickeln? Ich darf gar nichts machen“ (B02, Pos. 112), oder ein Kollege: „Also wir waren zusammengesessen, aber du kannst ja das Rad nicht neu erfinden“ (B04, Pos. 108).

Die Themenbereiche der Ergebnisse lassen sich wie der in Abschnitt 3.4.2 dargestellte Stand der Forschung zu Digitalisierung im Tourismus lesen. So wie virtueller Tourismus als eines der am meisten untersuchten Themen in der Tourismusforschung gilt (Akhtar et al., 2021, S. 1), folgen in den Abschnitten 5.2.1.1 und 5.2.1.3 die Darstellungen ebensolcher Innovationen. Auch die Bedeutung sozialer Medien (Buhalis et al., 2019, S. 487; Fan et al., 2019, S. 102760) spiegelt sich in dem breiten Engagement der Teilnehmer bei YouTube-Videos in Abschnitt 5.2.1.2 wider. Mit Buchungs- und Bezahlsystemen in Abschnitt 5.2.1.5 sind aber auch Themen präsent, die laut Forschung „aus den 1990er-Jahren“ stammen. Dass bei touristischen Unternehmen nicht technologisches Wissen und nicht technische Innovationen immer noch eine entscheidende Rolle spielen, illustriert Abschnitt 5.2.1.6.

5.2.1.1 Informationssysteme ohne Gästeführer

Unter der Kategorie C.1.1. „Systeme ohne Gästeführer“ wurden alle von den Befragten beschriebenen technischen Lösungen zusammengefasst, die eine audiovisuelle Kommentierung von Sehenswürdigkeiten (points of interest, POI) mittels eines eigenen oder fremden Endgeräts vor Ort ohne Anwesenheit eines Gästeführers ermöglichen. Dies können eigenständige, i. d. R. als Audioguide bezeichnete Geräte oder auf das eigene Smartphone ladbare Applikationen sein. In der Regel werden eigenständige Geräte in Museen, Denkmälern aber auch Innenstädten kostenpflichtig angeboten. Die standortbasierte Informationswidergabe kann per GPS-Satellitensystem oder an den POI angebrachten Punkten z. B. in Form von QR-Codes erfolgen (Kang et al., 2017, S. 9846; Kim & Kim, 2017, S. 2089; Priandani et al., 2017, S. 98–99).

Allein die Anfangsinvestition für die Geräte oder die Entwicklung einer solchen Applikation erklärt, warum nur die Vertreter der DMO angeben, aktiv nun vermehrt an solchen Systemen zu arbeiten „Audioguides […], dass man ein Tablet oder irgendetwas bekommt, […] über das Handy, dass man […] Punkte […] im Schlossinnenbereich anbringt und dann […] letztendlich abfotografiert und […] etwas zu einem bestimmten Gebäude […] erzählt bekommt, daran wird gearbeitet“ (SSG02, Pos. 148–150), „dass man […] Scancode hinmacht und […] Informationen über einen Audioguide [abruft]“ (HMG01, Pos. 98).

Dass diese Lösungen nur ein Teil des Angebots der DMO abdecken, muss bei der Einordnung als Veränderung des Geschäftsmodells noch genauer betrachtet werden. Bezüglich des Innovationsgrads selbst (vgl. Abschnitt 3.2.2) stimmt die Aussage eines DMO-Vertreters mit 34 Jahren Berufserfahrung kritisch, der erklärt: „Ganz zu Beginn meiner Tätigkeit […] [hatten wir] tatsächlich noch so Audioguides, […] das ist immer mehr ausgelaufen, weil die Geräte […] defekt […] und […] Rückmeldungen nicht so gut waren“ (HMG01, Pos. 104).

5.2.1.2 YouTube und soziale Medien

Unter die Kategorie C.1.2. „YouTube-Videos und Social Media“, wurden neue Aktivitäten der Teilnehmer in diesem Bereich zusammengefasst. An dieser Stelle sei auch auf Abschnitt 5.1.2.4 verwiesen, in dem bereits die Investitionen der Befragten im Bereich soziale Medien mit dem strategischen Ziel der Stärkung der Kundenbeziehungen herausarbeitet wurden. Die Befragten schildern Videoaufnahmen von Gästeführungen in der Destination, beispielsweise als historische Charaktere verkleidet, und anderen Drehorten. „[Wir] habe[n] angefangen [mit] virtuelle[n] Führungen. Das war schon kurz nach Ostern im Wohnzimmer und als es dann draußen schöner wurde, sind wir herausgegangen mit Kollegen im Kostüm, ein Konzept erarbeitet, worüber man redet, Heidelberg immer im Vordergrund. […] Und dann sage ich immer Infos“ (AG01, Pos. 120). Die Bandbreite reichte von mit dem eigenen Smartphone aufgenommenen Sequenzen bis zu professionell arrangierten Produktionen. So schildert der DMC-Vertreter: „Das Einzige, was ich mache, was aber keine Einkünfte bringt, sind diese ‚YouTube‘-Videos. Ich habe mir den Kanal eingerichtet ‚[Name des Kanals]‘ und habe angefangen mit virtuellen Führungen“ (AG01, Pos. 120). Und der DMO-Vertreter äußert: „YouTube, […] 15 oder 16 Filmchen […], wie ich durch unsere Schlösser führe. Und wir haben unsere Kommunikationsarbeit vollkommen umgestellt. Wir sind ganz massiv in die sozialen Medien gegangen“ (SSG01, Pos. 72). Auch die Gästeführer bemerken: „Was läuft und was funktioniert, ist diese Führung, die wir machen online. […] Ich habe mehrere Filme gedreht und ich habe es in ‚Facebook‘ und ‚Instagram‘ [hochgeladen]“ (G11, Pos. 150), „Ich habe auch ein kleines Filmchen in Mannheim gemacht, um für unseren Berufsstand zu werben“ (G06, Pos. 144). Aber einschränkend ergänzt der DMO-Vertreter: „Das Internet ist nur ein Appetizer, […] um es tatsächlich mal zu sehen. Man will den authentischen, historischen Ort mit seiner Aura, und sei es nur, um per Handy fotodokumentieren zu können, dass man tatsächlich dort war“ (SSG01, Pos. 78).

In den Aussagen der Befragten lässt sich erkennen, dass es sich bei diesen beschriebenen Veränderungen für sie „nur“ um Werbemaßnahmen handelt, die weder direkt Einkommen generieren noch das eigentliche Geschäftsmodell ersetzen sollen. Das führt explizit auch ein Gästeführer aus: „[…] was ich mit den Videos da mache. […] Ganz ehrlich, da bin ich nicht so begeistert davon, weil das ist natürlich jetzt mal eine Notlösung, wenn es durch die Krise nicht anders geht“ (G09, Pos. 144).

Obwohl die überwiegende Anzahl der Studienteilnehmer YouTube-Videos als durch die Krise motivierte Neuerung in ihrer Tätigkeit beschreibt – „Also ich war mit meinen Videos, die ich angefangen habe, so ziemlich die Erste. Und da hat ja auch die ‚Rhein-Neckar-Zeitung‘ darüber berichtet“ (AG01, Pos. 212) (vgl. Katzenberger-Ruf, 2020a, S. 4) –, wird der Innovationsgrad auch mit deutlichen Worte abgeurteilt: „[YouTube] ist KEINE Innovation! […] es gibt [] seit bestimmt 20 Jahren auf ‚YouTube‘ und wo auch immer durchaus virtuelle Führungen. Leute gehen mit Kameras durch eine Stadt, zeigen die Stadt, erklären die Stadt und die sind auch beliebt im Netz [], aber trotzdem reisen die Leute dorthin persönlich, um mit einem persönlichen Guide sich das Ganze noch mal vor Ort anzugucken“ (G04, Pos. 138–140). An der Aussage dieses Studienteilnehmers ist der einleitend erwähnte thematische Bezug zum „Problem Digitalisierung und Geschäftsmodell“ und zu „vorübergehenden Geschäftsmodellinnovationen“ deutlich ablesbar.

5.2.1.3 Videokonferenz mit Gästeführer

„Das Neue sind eben die ganzen digitalen Stadtführungskonzepte“ (G01, Pos. 195–205). Im Hinblick auf die Geschäftsmodellinnovation liegt der Schwerpunkt der durch die Studienteilnehmer beschriebenen Veränderungen eindeutig bei völlig neu konzipierten und digitalisierten Lösungen im Bereich Gästeführung mittels Videokonferenz-Software und der damit verbundenen Erschließung neuer Kundengruppen. Diese von den Befragten überwiegend ebenso als „virtuell“ bezeichnete Art der Gästeführung wurde in unterschiedlichen Formen angeboten: einmal in der Version, in der „[der] Gästeführer zu Hause sitzt am Computer mit Mikrofon und die Gäste sind draußen unterwegs“ (G10, Pos. 142–144), auf der anderen Seite mit Gästen zu Hause und einem mobilen Gästeführer: „[Das ist] eine Live-Führung. […] Du vernetzt dich mit deinen virtuellen Gästen über eine Konferenz[-software]. […] und du machst deinen Stadtgang ganz klassisch“ (G01, Pos. 195–205). Dabei wurde entweder auf etablierte Videokonferenz- oder auch branchenspezifische Lösungen mithilfe von IT-Partnern zurückgegriffen. So führt ein Gästeführer aus: „[…] Ich habe […] Kontakt mit einem Unternehmer […] der hat eine Website […] für digitale Stadtführungen“ (G01, Pos. 195–205). Damit sind die Akteure an der Destination im landesweiten Vergleich nicht allein, ähnliche Konzepte entstanden beispielsweise auch in Berlin und München (vgl. dazu Dignös, 2021, S. 1–4; Hofmann, 2020, S. 1–5). Auch in der Forschung werden Zusammenschlüsse mit neuen digitalen Partnern, aber auch die Unterstützung anderer Beteiligter bei der Digitalisierung als eine der größten Herausforderungen für KMU gesehen (Sjödin et al., 2022, S. 70).

Ein auf dem Markt der Destination bisher unbekanntes – „Das hast du überall, nur in Heidelberg war es halt NICHT“ (AG01, Pos. 158) – durch den Einsatz von Videokonferenz-Software digitales und im Prozess völlig überarbeitetes Konzept der Gästeführung stellt der DMC-Vertreter vor: „Das gibt ein superschönes Ding und [Firma] wartet schon darauf und könnte ich auch [Firma] verkaufen […] das ist eine interaktive Führung […] Und zwar eine größere“ (AG01, Pos. 154). Eingebunden in einen selbst geschriebenen Kriminalfall, „also die Personen, die kriegen Rollen“ (AG01, Pos. 158), lernen die Gäste anhand der eigenen Rolle und Anekdoten des moderierenden Gästeführers die Destination kennen. Dabei lösen die Gäste vor ihrem Bildschirm, meist in einer Gruppe, Aufgaben, deren Ergebnis die Wegbeschreibung zum nächsten POI, der nächsten Station des Gästeführers ist. Der Gästeführer führt also nicht nur durch die historische Altstadt, sondern seine jeweiligen Stationen werden interaktiv, durch die von den Gästen zu bewältigenden Aufgaben bestimmt, die auf diese Weise aktiv an der Co-Kreation ihrer virtuellen touristischen Erfahrung beteiligt sind (vgl. Abschnitt 2.1.2).

Die durch die Videokonferenz bestehende Distanz wird durch ein den Gästen im Vorfeld per Post zugeschicktes Paket – „das Haptische“ (AG01, Pos. 147) – verringert. „Das wäre dahingehend abgelaufen, dass ich ihnen quasi ein Paket geschickt hätte mit den Sachen“ (AG01, Pos. 218). Dieses Paket ist mit regionalen Spezialitäten, aber auch Gegenständen wie beispielsweise einem Kriminalroman gefüllt und Teil der interaktiven Führung. Einerseits sind die Gegenstände des Pakets Hinweise auf eine weitere Etappe der Tour, andererseits können sie, beispielsweise ein Likör, gemeinsam konsumiert werden. Es kann trotz der Distanz gemeinsam angestoßen werden, „quasi wie diese virtuellen Weinproben, die jetzt viele Weingüter anbieten“ (AG01, Pos. 220). Besonders innovativ ist es, die in der Videokonferenz fehlende Tangibilität der touristischen Destination mittels regionaler Produkte und Interaktion zu überbrücken.

Auffallend und damit auch spezifisch für die COVID-19-Krise sind die auf strenge staatliche (COVID-)Restriktionen abgestimmten Veränderungen des bisherigen Gästeführungskonzepts (vgl. Abschnitt 5.2.1.3). Sowohl Kontakt- und Reisebeschränkungen als auch Hygiene-Auflagen bezüglich des Verzehrs von Speisen und Getränken in der Öffentlichkeit während der COVID-19-Pandemie werden bei diesem Format eingehalten.

Des Weiteren werden mit diesem Gästeführungskonzept neue Kundengruppen erschlossen. So erklärt ein Gästeführer: „Das wäre zum Beispiel ein Angebot für Menschen, die nicht mehr frei beweglich sind, die nicht mehr reisen können, die Handicaps haben“ (G02, Pos. 140), und ein Kollege führt dazu weiter aus: „[…] ich glaube, digital wird es […] für solche Menschen dieses Plus sein […]. Den Aufwand, den man sich sonst nicht machen würde, den uns die Krise erzwingt, ist […] ein Plus für die Gesellschaft“ (G01, Pos. 241–245). In eine ähnliche Richtung argumentierte touristische Forschungsliteratur bereits vor der Krise. So wurde vertreten, dass IKT die Inklusion von Reisenden mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen erhöhen und zu einem barrierefreien Tourismus beitragen könne (Buhalis et al., 2019, S. 484–485).

Den Äußerungen eines weiteren Gästeführerkollegen nach erweitert sich auch der erreichbare Markt „mit den Gästen, die können sich länderübergreifend einschalten bei dir […], da ist gar kein Limit. Es kann also bis nach Australien, rein hypothetisch, gehen“ (G01, Pos. 211–213).

5.2.1.4 Mikrofon-Systeme für Gästeführer vor Ort

Unter die Kategorie C.1.4. „Mikro-Systeme für Gästeführer“ fallen alle technischen Lösungen, die Gästeführer mit Gästen vor Ort benutzen, um die Distanz zu Gästen beim Reden mittels Funkübertragung oder ähnlichen Mitteln zu überbrücken sowie die Hörbarkeit des Gesagten zu gewährleisten: „[…] damit man den Gästeführer auch hört […] diese Verbindung herstellt von Gerät zu Gerät, also von meinem Mikrofon“ (G10, Pos. 150). Häufig synonym für eine Kombination aus Funkmikrofon beim Gästeführer und Empfängern mit Kopfhörern beim Gast wird in der Branche der Begriff ‚Quietvox‘ verwendet, ursprünglich der Markenname eines Anbieters für derartige Stand-alone-Systeme (Quietvox, 2022). So stellt der DMC-Vertreter klar: „Wir haben [sofort] Quietvox-Systeme angeschafft“ (AG01, Pos. 201). Da das Budget zur Anschaffung von Stand-alone-Geräten nicht jedem Gästeführer zur Verfügung steht, war für den einzelnen Gästeführer vor allem die Lösung per Applikation von Interesse: „Ich finde das so interessant, dass man nicht Systeme KAUFEN muss, extra Geräte kaufen muss, weil jeder sein Handy hat“ (G10, Pos. 156), „das kann sich ein Gästeführer selbst nicht leisten“ (G13, Pos. 158). Eine weitere Lösung besteht aus der Kombination einer Applikation mit dem Smartphone von Gästeführer und Gästen (bring your own device solutions). So lassen sich durch Einwahl und Vernetzung mithilfe der App alle Geräte verbinden, sofern eine ausreichende Mobilfunk- oder WLAN-Abdeckung besteht: „Aber wichtig ist natürlich dabei, dass man immer die Verbindung hat. Also man muss seine mobilen Daten nutzen oder das städtische, was hier ja schon angeboten wird, WLAN, dass es so stark ist“ (G10, Pos. 158).

Explizit positiv als aktive Veränderung in ihrem Geschäftsmodell wurden Mikrofon-Systeme nur von drei Studienteilnehmern verwendet (AG01, Pos. 202; G02, Pos. 124; G10, Pos. 150). Auffällig war in diesem Zusammenhang aber, dass alle Teilnehmer in den Interviews, unabhängig von der Akteursgruppe, das Thema „Quietvox“ im allgemeinen Kontext angesprochen oder problematisiert haben.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Mikrofon-Systeme für Gästeführer eine allgemein bekannte und gleichzeitig schnell und einfach umsetzbare Lösung zur Einhaltung der coronabedingten Abstandsregelungen − unter Beibehaltung des bestehenden Geschäftsmodells − sind (Katzenberger-Ruf, 2020b, S. 5). Explizit äußern sich die Gästeführer in diesem Kontext: „Mikro- und Sender-und-Empfänger-Geschichten, um Abstände einzuhalten, wie wir es wahrscheinlich haben werden müssen“ (G11, Pos. 151), „mit Mikro, mit so einem Headset zum Beispiel, dann hat man ja die Möglichkeit, mindestens zwei Meter Abstand zu machen“ (G07, Pos. 198). So dachten selbst Busunternehmer über die Anmietung nach: „[…] du kannst die Teile ja zum Beispiel leihen. Wie ich letztes Jahr Venedig gemacht habe“ (B02, Pos. 146). Auch in diesem Punkt sind die Akteure an der untersuchten Destination im landesweiten Vergleich mit derartigen Projekten in ihrer Branche nicht allein: So vermarktet beispielsweise die Stadtführergilde Fritzlar medienwirksam Touren durch die Domstadt per Smartphone-App (Lippe, 2020).

5.2.1.5 Buchungssysteme, Bezahlsysteme oder ähnliche Applikationen

Unabhängig von der Akteursgruppe arbeiten mehrere Befragten an Applikationen, die sowohl Buchungen als auch Bezahlvorgänge digital abbilden: „Also man könnte natürlich die Bezahlvorgänge noch digitalisieren. Momentan machen wir ja noch alles mit Bargeld […] und SEPA-Lastschriften“ (BPP01, Pos. 92), „ich bin jetzt am Überlegen, ob ich so ein Online-Buchungssystem mache“ (AG01, Pos. 188), „ja, alles digital. Also die Bezahlung erfolgt online“ (G01, Pos. 217), oder „Wir haben auch schon darüber gesprochen […], dass man ein Buchungssystem wie Neuschwanstein installieren müsste. Das war für Heidelberg bisher nie ein Thema, da ich ja knapp 12 000 Leute hereinlassen durfte die ganze Zeit“ (SSG02, Pos. 158). Besonders in der letzten Aussage ist erneut Bezug zu den Corona-Auflagen festzustellen, da das Reservierungssystem lediglich der Dokumentationspflicht und Kontaktnachverfolgung dient (vgl. Abschnitt 5.1.2.2.2).

5.2.1.6 Nicht technische Innovation

Im Bereich nicht technischer Innovationen, die in der Forschung als tourismusspezifischer Schwerpunkt gesehen werden (vgl. Abschnitt 3.2.3.2), fanden sich vor allem durch die Hygienebestimmungen bedingte Veränderung des Ablaufs oder des Prozesses der touristischen Dienstleistung. So kommentierte ein Gästeführer in diesem Kontext klar: „Also wir versuchen praktisch, die Vorgaben umzusetzen, damit ein Führungsbetrieb wieder funktionieren kann […], wir werden ja diese Distanzregeln jetzt sicher noch über ein Jahr haben“ (G14, Pos. 138–148). Er schildert den neuen Prozess der Gästeführung stellvertretend für die Akteursgruppe wie folgt: „Die Leute stehen jetzt teilweise fünf, sechs, acht Meter von mir entfernt. Ich stehe auf einem markierten Punkt und muss die dann da beschallen. Und da muss ich ganz kompakt reden. Ich kann nur über das reden, was die da sehen […]. [Dann] laufe ich von der Station 1 zur Station 2, die nehmen wieder ihre Punkte ein, ich als Gästeführer auch meinen Punkt. Und dann sollen die am Ende immer einmal um den Kreis herumlaufen. […] Also praktisch, ich erkläre statisch fest, und dann sage ich: ‚Jetzt laufen Sie einmal im Kreis herum und dann gehen wir zur nächsten Station.‘ Ich darf aber unterwegs keinen Stopp machen, wie man es gewohnt ist. [Das ist] sehr rigide und schränkt einen sehr ein und man muss dann sehr kompakt auch thematisch erzählen. Mir wurde […] als Feedback gesagt, ich soll […] im Freien doch den Mund-Nasen-Schutz wegmachen, damit die Gäste das Gesicht sehen“ (G14, Pos. 134–144). Aber auch Busunternehmer schildern Anpassungen des Prozesses infolge der Hygiene-Auflagen, so nutzen sie im Reisebus zwischen den Fahrten „[…] Desinfektionsbomben. Die wird […] gezündet, […] der Bus […] vier Stunden stehen gelassen […] dann ist da alles desinfiziert“ (B02, Pos. 228). Unmittelbare Anschlussfahrten sind dann natürlich ausgeschlossen (vgl. dazu bereits Abschnitt 5.1.2.2).

Weitere Anpassungen strategischer Natur fanden sich vor allem bei DMC- und DMO-Vertretern. So zog der DMC-Vertreter der städtischen DMO in Betracht, auf einem neuen Markt den „öffentlichen Stadtrundgängen“ Konkurrenz zu machen: „[…] was ich wirklich überlegt HATTE […], ob man einfach mal öffentliche Führungen anbietet“ (AG01, Pos. 192). Ein anderer intendierte „kurze, einfachere Führungen“, „die sehr nachgefragt sind“ und neue „Räumlichkeiten zugänglich machen“ (SSG02, Pos. 124–126).

Gesamtstrategisch waren sich die DMO-Vertreter aber einig, dass nur eine nachhaltige Tourismusstrategie Aussicht auf Erfolg haben könne: „[…] nur mit nachhaltigen Tourismusstrategien wird es nach meiner Ansicht gelingen, länger als zwei Jahre nach der Krise […] erfolgreich am Markt [zu] bestehen“ (HMG01, Pos. 70). Es sei eine „große Chance, Kultur- und Naturtourismus zu verbinden“, also Attraktionen nicht „nur als grünes Denkmal, sondern auch als Biodiversitätsinsel“ zu präsentieren (SSG01, Pos. 94). Bezüglich des Marketings der Destination werde an einer „komplett neuen Tourismus- und Kongress-Strategie“ gearbeitet, diese „als wissenschaftlichen Kongressstandort“ zu etablieren und die einzigartige Kombination „charmante Stadt gepaart mit der ältesten Universität in Deutschland“ zu vermarkten (HMG02, Pos. 54).

5.2.1.7 Andere Bereiche, Branche oder Pivot

Einen Wechsel in einen ganz anderen Job oder Bereich berichtet u. a. einer der Busunternehmer: Er wolle umsteigen in „andere Geschäftsfelder […], die jetzt absolut nichts mit der Reisebranche zu tun haben“ (B01, Pos. 118). Dabei verfolge er insgesamt drei Projekte. Er wolle ins Aqua-Farming einsteigen, „eine Kombination zwischen Fischzucht und Gemüseanbau […], man hat die Fische in einem großen Bassin. Das Einzige, was man braucht, ist eigentlich Frischwasser und Fischfutter. Das Wasser wird zur Reinigung und so weiter zirkuliert, läuft quasi in den Pflanzbereichen durch als Hydrokultur und die Pflanzen kriegen quasi durch die Nährstoffe, die die Fische quasi ausscheiden, Nährstoffe und wachsen dadurch ungefähr um die 20 Prozent schneller als normal“, zudem arbeite er am Konzept „Drive-in-Bäcker mit Vorbestellen zu Hause per App“ und plane, aus seinem Busdepot „eine freie Werkstatt zu machen“ (B01, Pos. 124–130). Bei Letzteren würde er die vorhandene Infrastruktur – „Hebeanlage, Waschanlage usw.“ – und einen Werkstattmeister nutzen, um für umstehende Bus- und Kleinunternehmer eine freie Werkstatt aufmachen.

Auch in der Akteursgruppe der Gästeführer fanden sich einige, die einen Jobwechsel in eine andere Branche anstreben, so gab ein Teilnehmer an: „[…] ich habe grad so eine Bewerbung laufen […] Richtung Beerdigungsredner“ (G14, Pos. 102). Die meisten bewarben sich in anderen Branchen, aber für ähnliche Tätigkeiten „bei [einer Organisation], um Ausbreitung der Tigermücke in Deutschland zu verhindern […], eigentlich so ein bisschen ähnlich wie mein eigentlicher [Gästeführer-]Job“ (G18, Pos. 64), oder versuchten im Bereich ihrer Studien- oder Berufsausbildung wieder eine Beschäftigung zu finden: „[…] ich habe mich auch inzwischen beworben oder eigentlich gleich danach […] in meinem früheren Beruf“ (G10, Pos. 66) (vgl. dazu auch die Ergebnisse aus Abschnitt 5.1.2.3.4).

5.2.1.8 Keine Anpassungen

Explizit keine Anpassungen an ihrem Geschäftsmodell und ihrer Tätigkeit vorgenommen zu haben (vgl. Abbildung 5.8, Nr. 2), gaben insgesamt 16 der 29 Befragten an. Diese Anzahl lässt sich allerdings nur der Visualisierung innerhalb des Code-Matrix Browsers entnehmen (vgl. Abbildung 5.9). Nur in dieser Ansicht können innerhalb eines Interviews mehrfach codierte Segmente mittels einer Funktion „binarisiert“ werden, um die Menge der Segmente der Anzahl an Interviews anzupassen (vgl. Abbildung 5.9, Hervorhebung). Das fällt beim Vergleich mit Kategorie C.1.8. „Keine Anpassung“ auf, dort sind es in Abbildung 5.8 insgesamt 18 codierte Segmente für 16 Interviews. Die blauen Quadrate in Abbildung 5.9 stellen die im jeweiligen Interview positiv codierten Kategorien dar. Fehlt in einer Kategorie ein blaues Quadrat, wurde innerhalb des Interviews kein Segment zu dieser Kategorie codiert.

Abbildung 5.9
figure 9

Akteure „ohne“ Anpassung des BM (Code-Matrix-Browser). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Abbildung 5.9 liefert ein eindeutiges Bild. Einerseits äußern sich 16 Akteure positiv, „keine Anpassung“ des Geschäftsmodells vorgenommen zu haben. Andererseits haben sie (Gegenprobe) keine Innovationen aus den Kategorien C.1. bis C.7. durchgeführt. Diese auf den ersten Blick trivial erscheinende Übereinstimmung ist in der Forschungsrealität bei der Auswertung qualitativer Interviews ein wichtiges Gütekriterium. In vielen Interviewsituationen antworten Befragte auf eine Frage zunächst mit einem scheinbar klaren „Nein“, schildern dann aber das komplette Gegenteil und bejahen später beispielsweise die vorher verneinte Frage. Eine solche Verzerrung der Ergebnisse kann mit dem hier beschriebenen Verfahren erkannt werden, was die Qualität der Ergebnisse erhöht. Bei dieser Gruppe waren insbesondere Motive und Beweggründe gegen Anpassungen von Interesse. Dabei konnten bereits aus Abschnitt 5.1.2.4 bekannte Motive wie Alter, staatliche Auflagen und mangelnde finanzielle Notwendigkeit erkannt werden, die in Abschnitt 5.1.2.3.1 ausführlich dargestellt wurden.

Den besonderen Einfluss staatlicher Restriktionen schildern zwei Teilnehmer eindrücklich: „Also wir haben da nicht das Rad neu erfunden und auch keine Ideen auf den Markt geworfen. Es geht da eher darum, auf die Gesetzesbedingungen zu reagieren und sein bestehendes Produkt daran so ein bisschen anzupassen. […] Solange ich nicht aufmachen darf, darf ich nicht aufmachen“ (CAF01, Pos. 94–96), „das, was wir heute sagen, […] kann morgen/übermorgen schon wieder über den Haufen geschmissen werden, weil wieder ganz andere Richtlinien herauskommen“ (B04, Pos. 180). Neu in diesem Kontext ist, dass Probleme bei der Digitalisierung des Geschäftsmodells und dessen Finanzierung Skepsis gegenüber Anpassungen motivieren können. Für eine detaillierte inhaltliche Darstellung sei auf den Themenkomplex und die Forschungsfrage nach der Rolle der Digitalisierung in Abschnitt 5.2.3 weiter unten verwiesen. Stellvertretend für die Positionen der Akteursgruppen stehen nachfolgende Aussagen: „Gästeführungen sind eine sehr, sehr konservative Angelegenheit. Da kannst du mit neuer Technik, wie gesagt, nicht so sehr viel machen“ (G04, Pos. 126), „[Um Gäste von A nach B zu transportieren,] brauchst du einen Bus, du kannst ja das Rad nicht neu erfinden“ (B04, Pos. 108).

5.2.2 Einordnung der Veränderungen als Geschäftsmodellinnovation

Um zu ermitteln, inwiefern es sich bei den in Abschnitt 5.2.1 beschriebenen Veränderungen tatsächlich um Geschäftsmodellinnovationen handelt, wird neben der induktiven eine deduktive Auswertung gewählt. Dies ist notwendig, da die in Abschnitt 5.2.1 aus Sicht der Akteure beschriebenen Veränderungen nicht notwendigerweise BMI im engeren Sinne darstellen. Zudem bedingt bereits die Forschungsfrage, inwiefern es sich bei den Maßnahmen um BMI handelt, deduktives Vorgehen (vgl. ausführlich 4.6.2.6).

Für das Verständnis und die Interpretation der nachfolgenden Abbildungen und Visualisierungen aus MAXQDA ist auf ein technisches Detail hinzuweisen. Ein Interview entspricht in den Auswertungen von MAXQDA i. d. R. einem Befragten. Im vorliegenden Fall gibt es für einen Akteur (hier die jeweilige DMO) jeweils Interviews von zwei Personen. Zur korrekten Interpretation der Innovation innerhalb derselben Organisation müssen die Interviews von beiden Personen „in Summe“ betrachtet werden, was technisch in der QDA-Software nicht visualisierbar ist. Daher wurden in allen nachfolgenden Abbildungen die Hinweise „DMO 1“ und „DMO 2“ ergänzt und die Betrachtung der Aussagen „in Summe“ durch das Summenzeichen kenntlich gemacht.

5.2.2.1 Dimensionen der Geschäftsmodellinnovation

5.2.2.1.1 Induktive Auswertung

Die Visualisierung in Abbildung 5.10 ist das Ergebnis aus zwei Schritten: Zunächst werden im Code-Matrix-Browser für jeden Studienteilnehmer die in der jeweiligen induktiven Kategorie C.1.x. (zur Hauptkategorie „Innovation“) codierten Segmente ausgewertet und dann die Teilnehmer ohne Veränderungen bzw. Anpassungen des BM exkludiert (insgesamt 16).

Abbildung 5.10
figure 10

Induktive BMI-Kategorien (Code-Matrix-Browser). (Quelle: Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Bei der induktiven Vorgehensweise war der beschriebenen Grad der Innovation schwierig an den Aussagen der Befragten festzumachen. Jedenfalls sollte für die Zuordnung der Aussagen zum Konzept der BMI zumindest eine Veränderung in einer der primären Dimensionen des Geschäftsmodells Wertschöpfung, Wertangebot und Werterfassung beobachtbar sein (vgl. Abschnitt 3.2.2). Ob dabei nur einzelne oder mehrere Komponenten verändert werden müssen, spielt lediglich für die Einordnung der BMI als modular oder architektonisch eine Rolle. So hält u. a. Clauss es nicht für notwendig, „dass sich alle potenziellen Unterkonstruktionen oder jede Dimension des Geschäftsmodells zur gleichen Zeit oder auf die gleiche Weise ändern“ (Clauss, 2017, S. 397).

Versteht man die YouTube-Videos, die von den Teilnehmern als Werbung ohne direkte Einnahmen eingeordnet wurden, als eine Innovation, die sich auf einen neuen Vertriebskanal oder auf neue Märkte bezieht, so befindet man sich im Rahmen eines neuen Wertangebots. Systeme ohne Gästeführer hingegen stellen gegenüber dem bisherigen Gästeführer-basierten Geschäftsmodell eine Wertschöpfungsinnovation dar. Ebenso sind Gästeführungen per Videokonferenz aufgrund neuer Technologien und Prozesse im Bereich der Wertschöpfung angesiedelt, während sich Buchungs- und Zahlungssysteme im Bereich der Werterfassungsinnovation bewegen. Bei nicht technischen Innovationen wie neuen Abläufen aufgrund der Hygienebestimmungen ist die Schwelle zwischen einer Prozessinnovation und einer bloß trivialen Veränderung gering. Die im Rahmen der Kategorie C.1.7. „Jobwechsel“ codierten Segmente bei den Akteuren G10, G14, G11 und B01 könnten insofern auch einer radikalen Innovation des Geschäftsmodells zugeordnet werden, als diese Akteure beabsichtigen, die Tourismusbranche zu verlassen und völlig neue Tätigkeiten zu beginnen, was das Merkmal einer „Diskontinuität“ erfüllen könnte (vgl. Abschnitt 3.2.2.5).

Betrachtet man jedoch die Summe der veränderten Komponenten pro Akteur (vgl. Abbildung 5.10), lässt sich bereits bei Befragten der DMC (AG01), DMO 1 (HMG 1, 2), DMO 2 (SSG 1, 2), bei den Gästeführern G10, G14, G01, G02, G06, G11 und dem Busunternehmen B01 in mindestens einem Aspekt eine Veränderung in einer der drei Dimensionen des Geschäftsmodells feststellen.

5.2.2.1.2 Deduktive Auswertung

Um diese Ergebnisse präziser und methodisch besser auf die Forschungsfrage angepasst darstellen zu können, wurden angelehnt an Clauss (2017) um das Konstrukt der Geschäftsmodellinnovation die drei Hauptkategorien C.2.1. „Innovation der Wertschöpfung“, C.2.2. „Innovation des Wertangebots“ und C.2.3. „Innovation der Werterfassung“ angelegt (vgl. Abschnitt 4.6.2.6). Diese beziehen sich auf die zugrundeliegende Definition des Geschäftsmodells (vgl. Abschnitt 3.1.3) und bilden notwendigerweise den Rahmen, in dem Innovationen stattfinden können (vgl. Abbildung 5.11, Hervorhebung durch Pfeile).

Abbildung 5.11
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Deduktive BMI-Kategorien (Kategoriensystem). (Quelle: Eigene Darstellung)

Diese drei Hauptdimensionen werden in die zehn Unterkategorien (1) Neue Fähigkeiten, (2) Neue Technologien/Ausrüstungen, (3) Neue Partner, (4) Neue Prozesse, (5) Neue Angebote, (6) Neue Kundensegmente oder Märkte, (7) Neue Vertriebskanäle, (8) Neue Kundenbeziehungen, (9) Neue Ertragsmodelle und (10) Neue Kostenstrukturen untergliedert (vgl. Abbildung 5.11). Das Datenmaterial wurde in einem weiteren Codierdurchgang nach klaren Kategoriendefinitionen den Kategorien deduktiv zugeordnet (vgl. Abschnitt 4.6.2.6). Aufgrund der ausdifferenzierten Subkategorien ist in diesem Fall das Ergebnis, d. h. die Dimension der Geschäftsmodellinnovation wesentlich detaillierter visualisierbar (vgl. Abbildung 5.12). So fallen unmittelbar der DMC-Vertreter (AG01) und zwei Gästeführer auf (G01, G10), die in allen drei Dimensionen Innovation verzeichnen (vgl. Abbildung 5.12, rote Hervorhebung). Im Rahmen der in Abschnitt 3.2 dargestellten Forschung kann somit bei AG01, G01 und G10 eindeutig Geschäftsmodellinnovation festgestellt werden. Inhaltlich handelt es sich bei AG01 um die in Abschnitt 5.2.1.3 detailliert dargestellte neue digitale und interaktive Gästeführung per Videokonferenz-Software. Bei G01 liegt die Innovation des Geschäftsmodells sowohl in virtuellen Gästeführungen auf YouTube als auch bei Stadtrundgängen per Videokonferenz über eine Plattform, bei der ohne nationale Beschränkung neue Kundengruppen und auch Menschen mit Handicap angesprochen werden sollen. Bei G10 liegt dagegen der Fokus auf technischer Innovation und Digitalisierung. Zwar wird das eigentliche Geschäftsmodell „Gästeführer mit Gästen vor Ort“ beibehalten, durch Mikrofon-Systeme, insbesondere per Applikation und Smartphone, aber an die Hygiene-Auflagen angepasst.

Abbildung 5.12
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Ergebnisse deduktiver BMI-Kategorien (Code-Matrix-Browser). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Bei den in Abbildung 5.12 gelb hervorgehobenen Akteuren (B01, G11, G02, G06, DMO 2, DMO 1, G09 und G14) kann die Geschäftsmodellinnovation jedenfalls im Bereich Wertschöpfung und Wertangebot, also in zwei Dimensionen des Geschäftsmodellkonstrukts, festgestellt werden.

So strebt B01 den Wechsel in „andere Geschäftsfelder […], die jetzt absolut nichts mit der Reisebranche zu tun haben“ (B01, Pos. 118) an und verfolgt insgesamt drei Projekte: Aqua-Farming, Drive-in-Bäckerei und Konversion des Busdepots zu einer freien Werkstatt. Dies kann wie bereits bei der induktiven Auswertung weiter oben ausgeführt einer radikalen Innovation des Geschäftsmodells zugeordnet werden.

Zwischen radikaler und gradueller Geschäftsmodellinnovation steht G14 – einerseits durch die in seiner Neuorientierung als Beerdigungsredner manifestierte Diskontinuität mit der touristischen Tätigkeit, andererseits mit der nicht technischen Anpassung der Gästeführung an Hygienebestimmungen als nicht technische Innovation des Prozesses des bestehenden Geschäftsmodells (vgl. ausführlich Abschnitt 5.2.1.6).

Die Gästeführer G02, G06, G09 und G11 setzen hingegen auf soziale Medien, um neue Marktsegmente zu erreichen und nutzen dabei für sie neue Technologien und Fähigkeiten bei Videoaufnahmen (vgl. ausführlich Abschnitt 5.2.1.2). Weitere neue Technologien werden bei Mikrofon-Systemen eingesetzt. Durch Fahrradführungen im Rahmen der Auflagen versucht G11, auch jüngeres Publikum und damit ein neues Marktsegment zu erreichen (G11, Pos. 210).

Im Bereich der DMO liegt der Schwerpunkt der BMI in der Veränderung strategischer Ziele, strategischer Partner und letztendlich des Destinations-Images selbst (vgl. Abschnitt 5.2.1.6). Sie schildern, im Begriff zu sein, eine „komplett neue Tourismus- und Kongress-Strategie“ für die Destination zu entwerfen. Diese beinhalte auch Kooperationen mit den neuen Partnern „Mannheim und Heidelberg […] – zwei Städte, ein Erlebnis“ (HMG02, Pos. 54). Inhaltlich sollen Sehenswürdigkeiten mehr als „grünes Denkmal“ und „Biodiversitätsinsel“ (SSG01, Pos. 94) verstanden werden. Dabei stimmen alle DMO-Vertreter überein, dass es „nur mit nachhaltigen Tourismusstrategien […] gelingen [wird], länger als zwei Jahre nach der Krise […] erfolgreich am Markt [zu] bestehen“ (HMG01, Pos. 70). Insgesamt wird die Krise als „große Chance, Kultur- und Naturtourismus zu verbinden“, aufgefasst (SSG01, Pos. 94). Weitere BMI verfolgen die DMO bei Informationssystemen ohne Gästeführer (vgl. ausführlich Abschnitt 5.2.1.1) und im verstärkten Einsatz sozialer Medien (vgl. Abschnitt 5.2.1.2), um „den inländischen Tourismus […] zu fördern“ (HMG02, Pos. 54).

Abbildung 5.13
figure 13

BMI identifiziert (Code-Matrix-Browser). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Der Vergleich der induktiven und deduktiven Auswertungsergebnisse zeigt trotz unterschiedlicher Dimensionen übereinstimmende Ergebnisse (vgl. Abbildung 5.13).

Abbildung 5.14
figure 14

Keine BMI identifiziert (Code-Matrix-Browser). (Quelle: ©MAXQDA2020; Screenshot des eigenen QDA-Projekts (bearbeitet))

Die Gegenprüfung anhand der positiven Antworten zur Kategorie C.1.8. „Keine Anpassung“ bestätigt dieses Ergebnis. Auch im Rahmen der deduktiven Kategorien C.2.1.x. zeigt das Fehlen codierter Segmente, dass bei den Studienteilnehmern B02, B03, B04, BPP01, CAF01, G03, G04, G05, G07, G08, G12, G13, G15, G16, G17 und G18 übereinstimmend keine Geschäftsmodellinnovation vorliegt (vgl. Abbildung 5.14, rote Hervorhebung).

Es lässt sich zusammenfassen, dass sowohl DMC (AG01) als auch DMO (HMG01, HMG02, SSG01 und SSG02), die Gästeführer (G01, G02, G06, G09, G11 und G14) und ein Busunternehmer (B01) Geschäftsmodellinnovation durch Veränderung von mindestens zwei bis drei Dimensionen des Geschäftsmodells als Maßnahme in der COVID-19-Pandemie realisieren.

5.2.2.2 Geschäftsmodellinnovation als unbeabsichtigter Prozess

In der Gesamtübersicht der Interviews konnte der Eindruck gewonnen werden, dass Geschäftsmodellinnovation als solche zwar intendiert, aber keinem intentional gesteuerten, zielgerichteten Prozess folgt, sondern besonders in dem hier vorliegenden Krisenkontext ein schmerzhafter Lernprozess ist (vgl. Abschnitt 3.2.2.3). Veränderungen werden von den Teilnehmern, insbesondere der Akteursgruppe der Busunternehmer und DMO, sehr häufig als etwas Gefährliches wahrgenommen (vgl. Abschnitt 5.1.2.1), da sie sich des eingeschränkten Handlungsspielraums ihrer Organisation aufgrund von Ressourcenknappheit und fehlender Marktmacht bewusst sind: „gar nichts, weil ich kann nichts machen“ (AG01, Pos. 120). Gleichwohl lässt sich feststellen, dass BMI als strategische Option im Bewusstsein der Akteure der Flusskreuzfahrtdestination völlig fehlt und durch den Glauben an die Stabilität des Marktes – „ich habe den Tourismus immer als ausgesprochen stabil erlebt mit fast zuverlässigen Wachstumsraten jedes Jahr“ (SSG01, Pos. 60) – und die gefühlte Abhängigkeit von etablierten Marktregeln, von ihnen als „Ausgleichseffekte“ bezeichnet, stark blockiert sind (vgl. Abschnitt 5.1.1.2.2).

5.2.2.3 Temporäre Geschäftsmodellinnovation

Ganz explizit wurden von rund einem Drittel aller Befragten Aussagen in Bezug auf die voraussichtliche Dauer der durchgeführten Veränderungen bzw. Innovation getroffen: „[…] das wäre eigentlich […] eine Übergangslösung während der Corona-Zeit, aber nicht auf Dauer“ (G06, Pos. 166). Daraus entstand daher induktiv die Kategorie C.3. „vorübergehende Innovation“ (vgl. Abbildung 5.13, Hervorhebung mit Pfeil). Markiert wurden darin Segmente der Interviews, in denen die Teilnehmer auf ebendiese geplante „nur temporäre“ Dauer der Veränderungen eingehen. Auffallend ist, dass sich gerade Akteure, die einerseits umfassend BMI anstrengen und sich innovativ zeigen, sich andererseits vehement für die zeitliche Beschränkung dieser Innovation äußern. So beispielsweise der DMC-Vertreter: „[…] es ist genau wie in so vielen Dingen so vor Jahren. [Erst] wird alles automatisiert [, dann] geht [es] zurück [zum] Persönlichen. Und […] darauf läuft es auch hinaus. Und es wird bestimmt diese Zusatzangebote GEBEN, aber es wird immer bei diesem Persönlichen bleiben“ (AG01, Pos. 320). Ähnlich äußert sich ein DMO-Vertreter zum Thema virtuelle Gästeführungen und Informationssysteme ohne Gästeführer: „[…] ich kann mir jetzt aber nicht vorstellen, dass es die Masse des Geschäftes abdeckt […] Führungen [leben] vom persönlichen Austausch, von den Erfahrungen, die man […] weitergibt“ (HMG01, Pos. 86). Übereinstimmender Tenor kommt vom Großteil der Gästeführer: „[…] wenn überhaupt, nur eine Übergangslösung während der Corona-Zeit, aber nicht auf Dauer“ (G06, Pos. 166), „[…] ich bin optimistisch, dass […] nachdem die Krise weitgehend überwunden ist […], der Wunsch besteht, auch wieder alles live zu erleben und auch live sich vom Gästeführer von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit […] führen zu lassen […] wenn überhaupt, nur eine Übergangslösung […] nicht auf Dauer“ (G06, Pos. 166–168), „was ich mit den Videos da mache […], da bin ich nicht so begeistert davon, […] das ist […] eine Notlösung, wenn es durch die Krise nicht anders geht“ (G09, Pos. 144).

Insgesamt sehen alle Befragten Geschäftsmodellinnovation als positiven, proaktiven, aber temporären Ausweg „aus der Krise“. Dies bestätigt die Ergebnisse von Breier und Clauss, die während der COVID-19-Pandemie ebenfalls Studien bei KMU, u. a. im Hotel- und Gaststättengewerbe, durchgeführt haben. Auch sie konnten temporäre BMI als eine mögliche Option zur Krisenbewältigung identifizieren (Breier et al., 2021, S. 102730; Clauss et al., 2021, S. 309).

5.2.3 Rolle der Digitalisierung im Gesamtkontext

Hinsichtlich der Bedeutung der Digitalisierung im Gesamtkontext von Krise und Geschäftsmodellinnovation konnten im bisherigen Forschungsbericht an vielen Stellen Anknüpfungspunkte identifiziert werden. Daher fließt nicht nur eine Auswertung der spezifischen Kategorie C.4. „Rolle der Digitalisierung“, sondern auch die Gesamtbetrachtung vorangegangener Abschnitte in die Beantwortung ein. So waren bereits im Rahmen der Sofortmaßnahmen der Beteiligten in der COVID-19-Pandemie (vgl. Abschnitt 5.1.2.3.3) besondere Investitionen der Teilnehmer im Bereich Social-Media-Marketing im direkten Zusammenhang mit den staatlichen Restriktionen auffällig. Auch im Themenbereich der Geschäftsmodellinnovation spielten soziale Medien besonders in der Akteursgruppe der Gästeführer eine bedeutende Rolle, um neue Märkte zu erreichen und „im Gespräch zu bleiben“. Einleitend zu diesem Abschnitt sei die Aussage des DMO-Vertreters herausgestellt: „Also die Digitalisierung ist das große Thema des erfolgreichen touristischen Betriebs in den nächsten Jahren. Also wer Corona-Krise gebraucht hat, um da drauf zu kommen, der hat den Zug schon verschlafen, in dem er eigentlich sitzen müsste“ (SSG01, Pos. 66).

5.2.3.1 Verbindung von Geschäftsmodellinnovation und Digitalisierung durch staatliche (COVID-)Restriktionen

Allein die Hälfte der in Abschnitt 5.2.1 beschriebenen Veränderungen sind im Bereich der technischen bzw. digitalen Innovation angesiedelt (vgl. Abschnitt 3.4) – seien es Applikationen für Informationssysteme ohne Gästeführer, Smartphone-Applikationen für den Ersatz proprietärer Mikrofon-Systeme, Buchungs- und Bezahlsysteme oder natürlich Videokonferenz-Applikationen für Mobiltelefone. Insgesamt äußerten sich die Studienteilnehmer dahingehend, dass ihnen aufgrund der staatlichen COVID-Restriktionen in Form von Kontakt- oder Betriebsverboten nur digitale Lösungen offenblieben (vgl. Abschnitt 5.1.2.4). Bei der Digitalisierung ging es aber nicht nur darum, interne Prozesse zu optimieren oder neue Technologien einzubinden, sondern Geschäftsmodelle grundlegend zu verändern, d. h. an die Auflagen und damit an die konkrete Krisensituation anzupassen. Es ging darum, durch das Angebot digitaler und digital erweiterter Produkte und Dienstleistungen wettbewerbsfähig zu bleiben oder überhaupt auf dem Markt zu bestehen: „Wir müssen unseren Job neu erfinden. Und wenn wir machen das nicht, dann sterben wir aus […]. Wir müssen uns digitalisieren, so viel wie möglich“ (G11, Pos. 212). Dies erfordert Zusammenschlüsse mit neuen digitalen Partnern: „[…] ich habe mit diesem Unternehmer [der Plattformen anbietet] Kontakt aufgenommen“ (G01, Pos. 201), aber auch Unterstützung bestehender Partner bei der Digitalisierung: „[…] gut ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen, die haben bei mir angerufen und dann sind wir [das] eben am Telefon vor dem PC gemeinsam […] durchgegangen“ (G09, Pos. 92).

Verknüpft man diese Ergebnisse mit den Ergebnissen aus Abschnitt 5.1.2.4, so lässt sich feststellen, dass sowohl die COVID-19-Krise als auch die Geschäftsmodellinnovation über staatliche Restriktionen mit der Digitalisierung der Akteure zusammenhängen. Die aktuelle Situation und die Beschränkungen erschweren die persönliche Interaktion und zwingen die Unternehmen, sich auf neue digitale Arbeitsabläufe und Technologien wie Videokonferenzen einzustellen. Diese erzwungene Anpassung bietet auch die Möglichkeit, die Funktionalitäten und die Vorteile einer Technologie zu demonstrieren. Es können zusätzliche Dienstleistungen angeboten werden, die während und nach der COVID-Krise genutzt werden können. So löst die Digitalisierung der Dienstleistungen die aktuellen Anforderungen der Hygieneauflagen in allen Aspekten der täglichen touristischen Interaktion – Smartphone-Applikationen für Buchungs- und Bezahlsysteme, Informationssysteme ohne Gästeführer und nicht zuletzt BYOD-Mikrofon-Apps.

Die Zurückhaltung gegenüber der Digitalisierung im Tourismus zeigt sich auch in den induktiven Subkategorien C.4.1.−C.4.5., die speziell zu diesem Thema gebildet wurden. Die entstandenen Kategorien spiegeln die Themenschwerpunkte der Befragten in diesem Kontext wider. Der Vergleich der Anzahl codierter Segmente pro Kategorie in allen Interviews legt nahe, dass neben persönlichen Einstellungen und positiven Möglichkeiten der Digitalisierung (beispielsweise BMI) vor allem drei Bereiche für die Teilnehmer problematisch waren. Besonders intensiv wurden die (1) grundsätzliche Digitalisierbarkeit der jeweiligen touristischen Dienstleistung bzw. des Geschäftsmodells diskutiert. Als nächstgrößter Komplex ging es um (2) die Kosten der Digitalisierung und vereinzelt um (3) Probleme mit der Infrastruktur (beispielsweise Netzabdeckung oder Netzgeschwindigkeit).

Die vielen Überschneidungen zwischen den codierten Segmenten der jeweiligen Kategorien lassen einen Zusammenhang zwischen den Problemen bei der Digitalisierung, insbesondere der Digitalisierbarkeit touristischer Geschäftsmodelle und dem Effekt vermuten, dass die Akteure nur vorübergehende und keine dauerhafte Geschäftsmodellinnovation anstreben.

5.2.3.2 Digitalisierbarkeit touristischer Dienstleistungen bzw. Geschäftsmodelle

Unabhängig davon, ob es sich um Akteure handelte, die BMI durchgeführt hatten oder nicht, nahm die Diskussion darüber, was die Befragten jeweils als das „Wesen ihrer touristischen Dienstleistung“ ansahen, einen großen Teil der Interviewzeit in Anspruch. Problematisiert wurde in diesem Kontext speziell die Frage der Digitalisierbarkeit der touristischen Dienstleistung bzw. des Geschäftsmodells. Aufgrund der kleinen Stichprobe, die stark von persönlichen Einstellungen geprägt ist, kann hier nur ein Gesamtbild der Befragten wiedergeben werden. Bemerkenswert ist, dass trotz dieser Einschränkung im folgenden Abschnitt genau die Aspekte von den Befragten angesprochen werden, die die aktuelle Forschungsdiskussion dominieren (vgl. Abschnitt 3.4.3).

Die zugrunde liegende Angst der Teilnehmer, vor allem von Gästeführern, durch Digitalisierung ersetzt zu werden, verdeutlichen folgende Äußerungen sehr anschaulich: „[…] die Digitalisierung – mit mir gerne, ohne mich nicht so gern (lacht)“ (G10, Pos. 234), oder: „Man kann sich solcher Mittel jetzt bedienen, so eine digitale Stadtführung, aber das ist jetzt nur durch die Krise eben bedingt […], danach sollte das eigentlich auch wieder vorbei sein, denke ich mal. Weil irgendwann werden wir dann ganz ersetzt. Dann kann sich jeder auch bloß noch seinen Audio-Guide holen irgendwo und die sind dann GPS-gesteuert und dann gehen die von Punkt zu Punkt und dann brauchen die auch keinen Gästeführer mehr“ (G09, Pos. 158). Ähnliche Aussagen bei anderen Gästeführern wurden zudem häufig mit Affirmationen derart bekräftigt, dass „eine persönliche Tour mit einem lizensierten Gästeführer, egal wo, […] durch nichts zu ersetzen“ (G09, Pos. 144) und eine Gästeführung nicht digitalisierbar sei: „[…] definitiv! Habe ich eine ganz klare Meinung dazu!“ (G06, Pos. 157–158). „Allein die Tatsache, dass diese Gruppe zusammen durch die Stadt begleitet wird und diese Person da ist, ansprechbar in jedem Moment, und der ist dabei präsent mit seinen Augen, mit seinem Gesicht, mit seinem Lächeln, mit seinen Witzen, also mit seiner Persönlichkeit, das ist, was viele Menschen, viele Gruppen schätzen, wollen auch. Und das würde durch eine […] Digitalisierung wegfallen“ (G17, Pos. 118).

Besonders deutlich zum Problem, ihr Geschäftsmodell zu digitalisieren, äußern sich Busunternehmer: „Wenn du eine Gruppe fahren willst, dann […] brauchst du einen Bus“ (B02, Pos. 158–160). Sie erklären, dass Digitalisierung, „solange das Beamen noch nicht erfunden ist“, nicht wirklich möglich sei. Ein weiterer Studienteilnehmer führt aus: „Digitalisierung kann ich mir eigentlich das nicht so richtig gut vorstellen mit Tourismus […], virtuell hat für mich keinen Sinn […]. Das ist […] nicht die konkrete Welt. Also wir leben in einer Welt, in der es Menschen gibt und Gebäude, Natur. Und das will ich vor Augen haben und das kann NICHT das Gleiche sein auf einem Bildschirm, auch wenn es sehr ähnlich ist“ (G03, Pos. 152–158). „Vielleicht ist das, um nochmal ganz kurz zurückzugehen, auch ein Unterschied zu einem Dozenten, der in einem Hörsaal steht, sage ich mal. Das ist ein Ort, da geht es nicht um die Lokalität, sondern da geht es allein um das Gesagte. Wenn ich aber mit einer Gruppe irgendwo stehe vor dem Ritter [hist. Gebäude], dann habe ich ein OBJEKT noch UND das, was ich dazu sage“ (G09, Pos. 152). „Also ich kann es mir [Digitalisierung auf Dauer] nicht wirklich vorstellen […], eine Führung von jemandem, der aus dem Land ist, [stellt] eine besondere Verbindung zu dem Ort, in dem du dich befindest [, her]“ (G08, Pos. 96). „Ich kann denen das nicht über das […] Handy [übermitteln]. Ich möchte, dass die Leute da sind. Und [sie] sind in dem Moment meine Gäste [und] ich möchte, dass sie sich wohlfühlen“ (G15, Pos. 162).

„Das Ziel ist ja immer die Unterhaltung […], diesen Aufenthalt angenehm zu machen […], die Authentizität ist für die Leute eher da, wenn sie von jemandem, der von hier ist, dieses Wissen oder diese Informationen bekommen“ (G18, Pos. 132–134). „Gästeführungstätigkeit ist […] eine Art Infotainment. […] man vermittelt Wissensinhalte, aber man verlebendigt das. Man macht das emotional mit den Gästen, man begeistert die Gäste, man nimmt die Gäste mit“ (G06, Pos. 152). In diesem Sinn führt auch ein DMO-Vertreter aus: „[…] wenn man es richtig betreibt, den Urlaub, dass man sich mit den Einheimischen irgendwo verbündet […] die Variante, einen Gästeführer vorzuschicken, der vor mir läuft, der einen Charakter hat, die einen lachen über ihn, die anderen schmunzeln über ihn, die anderen nehmen ihn ernst, weil er ein Wissen hat wie kein anderer über diese Stadt […] – es gibt nichts Schöneres […]“ (HMG02, Pos. 64). So schildert ausgerechnet der innovative DMC-Vertreter voller Überzeugung, man könne die touristische Dienstleistung nicht digitalisieren, „weil die Persönlichkeit verlorengeht […] oder alles, was […] ich […] in einer Führung herüberbringen KANN und will. An den Unis […], die haben zugegriffen, weil es anders nicht ging. Wir reden aber von einem Freizeitangebot“ (AG01, Pos. 276).

Es fällt auf, dass die Gästeführung im Rahmen der Interviews mit dem Unterrichten verglichen wird. In der Tourismusliteratur wird dazu schon länger vertreten, dass in entwickelten Tourismusländern Informationsvermittlungen durch Gästeführer einen fast akademischen Charakter annehmen und viele Gästeführer neben der Gästeführerausbildung einen Universitätsabschluss haben (Cohen, 1985, S. 15). Sie verfügen daher über ein hohes kulturelles Kapital und fundierte historische und kulturelle Kenntnisse. Im Gegensatz zu den Lehrern sind sie jedoch Teil des kommerziellen Interaktionsrahmens des Tourismus, in dem die Dinge außergewöhnlich sein müssen und sie daher Informationen auf unterhaltsame Weise vermitteln müssen (Larsen & Meged, 2013, S. 92). Dieser performative Aspekt erinnert an eine Straßenaufführung. Der Fremdenführer kann daher als Darsteller betrachtet werden, der in der Lage sein muss, sein Publikum zu lesen und Charme, Humor und Witz einzusetzen, um unterhaltsame Geschichten zu erzählen (Holloway, 1981, S. 389).

Insgesamt problematisieren die Befragten als Herausforderung der Digitalisierbarkeit mehrere Konzepte, die tief im Wesen des Tourismus verwurzelt sind (vgl. Abschnitte 2.1.1 bis 2.1.3, 3.4.3): insbesondere die Ortsveränderung selbst, sowie der Ortsbezug von Touristen, Einheimischen sowie Gästeführer. Darüber hinaus beschreiben die Studienteilnehmer ausführlich den Mehrwert einer authentischen Informationsvermittlung mit Unterhaltungswert im Rahmen eines sozialen Kontaktes mit Ortsbezug. Nicht zuletzt adressieren sie damit das in der Forschung vorgestellte Konzept der Co-Kreation im Tourismus (vgl. Abschnitte 2.1 und 3.2.3.3).

Die Ergebnisse stellen den Kern der auch in der aktuellen Forschung diskutierten Herausforderungen des Tourismus im Kontext der Digitalisierung dar – nämlich Ortsveränderung, Ortsbezug und authentische soziale Interaktion. Diese Aspekte werfen konzeptionelle wie auch fundamentale Fragen zum Wesen der touristischen Dienstleistung und ihrer Geschäftsmodelle auf (vgl. Abschnitt 3.4.3). So formulieren Schaffer et al. (2021, S. 353): „Wie definieren wir eine Destination, wenn ein Tourist zwar physisch anwesend ist, sich aber über die Online-Kommunikation digital an einem anderen Ort befindet? Wenn der Tourist plötzlich nicht mehr zu der Attraktion reist, weil er zu Hause vor seinem Bildschirm an einer Gästeführung teilnimmt?“. Die Autoren fordern eine ganzheitliche Analyse des laufenden Wandels des touristischen Ökosystems. Zillinger (2021, S. 1–6) beschreibt eine neue „phygitale“ touristische Wirklichkeit, weil sich die hergebrachten Verständnisse von physischer und digitaler Realität vermischen, die Digitalisierung im Tourismus die Beziehungen zwischen Touristen, Raum und Ort in fließende Verbindungen umwandelt. Besonders treffend zur sozialen Interaktion äußert sich Rivera: „Die Pandemie beeinträchtigt die DNA der Gastfreundschaft in ihrem Kern. Bei der Gastfreundschaft geht es um Gastgeber und Gast und Zusammenkommen. Diese Eigenschaften verkörpern genau das, was wir jetzt umgehen“ (Rivera, 2020, S. 102528).

5.2.3.3 Finanzierung und Infrastruktur als besondere Herausforderungen der Digitalisierung

Wie bereits weiter oben ausgeführt wurden von den Teilnehmern, die keine Veränderungen vorgenommen hatten, als Begründung vor allem Probleme mit der notwendigen digitalen Infrastruktur und der Finanzierung der Digitalisierungsmaßnahmen angeführt. So schildert der Betreiber der Busparkplätze eindrücklich: „Also man könnte natürlich die Bezahlvorgänge noch digitalisieren. Momentan machen wir ja noch alles mit Bargeld oder viel mit Bargeld oder mit Vorreservierung und SEPA-Lastschriften […]. Und man könnte natürlich auch Zugangssysteme schaffen zu den Parkplätzen, die digital gestützt sind oder mit App. Das wäre schon möglich. Es gibt [nur] kein Budget für solche umfassenden Maßnahmen. Besonders bei einem Zugangssystem müsste man […] in Schranken investieren […] womit man nicht unter 200 000 Euro für den Hauptparkplatz davonkommt, weil man eben neben der Schranke eben auch die Technik braucht. Man braucht die App dazu oder das ganze IT-System dahinter […], aus Nachfragen bei Städten, die das bereits umgesetzt haben, hat alleine die App dafür schon mehr als 100 000 Euro gekostet“ (BPP01, Pos. 92–100).

Aber auch Gästeführer bemerken bezüglich virtueller Führungskonzepte: „Ich habe im Moment noch davon Abstand genommen, weil du natürlich auch vom Equipment einen guten Laptop oder Handy haben musst […]“ (G01, Pos. 207), „mein Internet ist ein bisschen schwach, deshalb konnte ich schon kein Homeoffice [gemeint Videokonferenz] machen“ (G05, Pos. 94). Aber auch Mikrofon-Systeme betreffend äußern sich die Teilnehmer dahingehend, dass „eine Lösung […] die sogenannten Headsets […], ‚Quietvox‘-Systeme [wären]. Das kann sich ein Gästeführer selbst nicht leisten“ (G13, Pos. 156–159), „Das kostet sehr viel Geld und das amortisiert sich für mich überhaupt nicht“ (G12, Pos. 174), „so ein Quietvox-System ist natürlich jetzt für so einen Soloselbstständigen eigentlich eine Investition, die eigentlich viel wäre“ (G18, Pos. 114), „nein, das würde sich überhaupt wirtschaftlich nicht lohnen“ (G10, Pos. 214). Diese hohen Investitionskosten für proprietäre Systeme lassen sich durch ein applikationsbasiertes Mikrofon-System nach dem BYOD-Prinzip vermeiden. Gästeführer und Gäste installieren auf ihren eigenen Smartphones eine App und können dann die Geräte als Mikrofon-System nutzen. Bei dieser Lösung stellt sich dann das Problem der Infrastruktur, da dafür ein gutes Mobilfunknetz bzw. WLAN-Hotspots an der Destination notwendig sind. Dies ist insbesondere im Inneren von historischen Gebäuden und in Kellerräumen schwierig umzusetzen. Daher erklärt ein Gästeführer: „Aber wichtig ist natürlich dabei, dass man immer die Verbindung hat. Also man muss seine mobilen Daten nutzen oder das städtische, was hier ja schon angeboten wird, WLAN, dass es so stark ist [dass es z. B. auch im Schlosskeller funktioniert]“ (G10, Pos. 158).

5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussion

Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der Abschnitte 5.1 und 5.2 auf Basis des theoretischen Rahmens der Kapitel 2 und 3. Im ersten Schritt werden die Krisenwahrnehmung, Krisenbewältigung und Maßnahmen der Akteure zusammengefasst und die Situation vor und seit Anfang der COVID-19-Krise verglichen. Im zweiten Schritt werden BMI bzw. temporäre BMI als Maßnahmen der Akteure in der Krise identifiziert. Im dritten Schritt werden die Ergebnisse aus den ersten zwei Schritten in den strategischen Rahmen des touristischen Krisenmanagements zusammengeführt. Dabei wird temporäre BMI als möglicher proaktiver Ansatz im Krisenmanagement identifiziert. Im vierten Schritt wird die COVID-19-Krise als Auslöser von Geschäftsmodellinnovation erörtert. Abschließend folgt im fünften Schritt eine Bewertung der Bedeutung von Digitalisierung in diesem Gesamtkontext.

5.3.1 Krisenwahrnehmung, Krisenbewältigung und Maßnahmen der Akteure vor und seit COVID-19

Ausgehend von der ersten Forschungsfrage – „Inwiefern nehmen Akteure einer Flusskreuzfahrtdestination die COVID-19-Pandemie als Krise wahr und ergreifen (Sofort-)Maßnahmen, um deren Auswirkungen entgegenzuwirken?“ – können die Ergebnisse der Abschnitte 5.1.1 und 5.1.2 vereinfacht wie in Abbildung 5.15 dargestellt werden. Dabei sind links die entsprechend den Unterfragen gegliederten Schritte sichtbar (Wahrnehmung, Auswirkung, Maßnahmen), es folgt eine Spalte mit den Ergebnissen vor COVID-19 aus Abschnitt 5.1.1 und eine Spalte mit den Resultaten während der Pandemie aus Abschnitte 5.1.2 und 5.2. Das Kuchendiagramm illustriert den Anteil der Befragten in der jeweiligen Situation (vgl. Abbildung 5.15).

Abbildung 5.15
figure 15

Wahrnehmung, Auswirkungen, Maßnahmen vor/nach COVID-19. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Akteure der Flusskreuzfahrtdestination haben vor der COVID-Pandemie mindestens eine Krise im Tourismus wahrgenommen, diese jedoch überwiegend als lokal begrenzt und temporär eingestuft. Mangels größerer wirtschaftlicher Auswirkungen wurden von den meisten Befragten keine Maßnahmen zur Krisenprävention ergriffen. Soweit jedoch wirtschaftliche Auswirkungen von den Teilnehmern wahrgenommen wurden, haben diese Maßnahmen wie Diversifikation, Marktentwicklung und Produktentwicklung innerhalb der Branche ergriffen, die den Wachstumsstrategien zuzuordnen sind.

Die COVID-19-Pandemie hingegen nehmen alle Teilnehmer als internationale und dauerhafte Krise im Tourismus wahr und verknüpfen diese Wahrnehmung mit einschneidenden wirtschaftlichen Auswirkungen und psychischen Belastungen. Die wenigen Befragten, die angeben, im Kontext der COVID-19-Krise keine Maßnahmen getroffen zu haben, begründen dies mit dem „Fehlen einer finanziellen Notwendigkeit“ für Krisenmanagement. Dabei handelt es sich um Akteure mit Rentenbezug und einen Teilnehmer, der aktiv kurz vor der Pandemie die Branche gewechselt hat. Der überwiegende Anteil der Befragten, die wirtschaftliche Auswirkungen wahrgenommen haben, hat Maßnahmen ergriffen, die den von Wenzel et al. (2021) identifizierten strategischen Optionen Rückzug, Ausharren, Innovation und Ausstieg zugeordnet werden können (vgl. ausführlich weiter unten).

Zusammenfassend führten Krisen vor COVID-19 zu Maßnahmen, die den Wachstumsstrategien zuzuordnen sind. Während der Pandemie wurden dagegen Krisenstrategien verfolgt. Das Ergebnis scheint auch in der Gesamtbetrachtung schlüssig, da Wachstumsstrategien den Aufbau von Rücklagen ermöglichen. Als erste der Krisenstrategien können diese dann in der Krise als Ad-hoc-Maßnahme aufgelöst oder auch für Innovation genutzt werden. Die als Wachstumsstrategien identifizierten Maßnahmen vor der COVID-Pandemie müssen gerade im BMI-Kontext kritisch betrachtet werden. So stellt sich die Frage, ob nicht bereits einige dieser Maßnahmen modulare Veränderungen des Wertversprechens, mithin BMI darstellen (vgl. Abschnitt 3.2.2.2). In einem solchen Fall wären bereits Maßnahmen vor COVID der Geschäftsmodellinnovation zuordenbar – und das Ergebnis dieser Arbeit fiele deutlich anders aus.

Wann beispielsweise eine Produktinnovation – das kann in diesem Fall eine Stadtführung in einer anderen Sprache sein – ein neues Wertversprechen darstellt und damit zu BMI gezählt werden kann, ist ein in der Forschung bekanntes Abgrenzungsproblem. So wird bemängelt, das Schwellenwerte für Änderungen in den Aktivitäten eines Unternehmens, die als Änderung eines Geschäftsmodellelements gelten, gänzlich fehlen (Varadarajan, 2018, S. 149, Table 1) und die Umstände, unter denen Produktinnovationen, Dienstleistungsinnovationen oder Änderungen in der Lieferkette als Innovation des Geschäftsmodells verstanden werden, insgesamt konzeptionell noch unerforscht sind (Geissdoerfer et al., 2018, S. 405).

Versteht man BMI als „geplante, neuartige, nicht triviale Änderungen an den Schlüsselelementen des Geschäftsmodells eines Unternehmens bzw. der Architektur, die diese Elemente miteinander verbindet“ (Foss & Saebi, 2017, S. 201), scheitern die von den Befragten geschilderten Maßnahmen bereits an der Anforderung der „nicht trivialen“ Änderung. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Schilderung der Gästeführer verwiesen, die auch weiterhin eine inhaltlich und geografisch identische Führung, allerdings lediglich in einer anderen Sprache anbieten, oder auf Busunternehmer, die den gleichen Bustransfer, statt von Mannheim nach Heidelberg, nunmehr von Worms nach Heidelberg anbieten, was am Geschäftsmodell im Kern nichts ändert. Daher werden die in Abschnitt 5.1 festgestellten Maßnahmen in der vorliegenden Arbeit der Diversifikation, Marktentwicklung und Produktentwicklung zugeordnet.

In der COVID-19-Pandemie folgen auf größere wirtschaftliche Auswirkungen für den Großteil der Befragten zahlreiche Sofortmaßnahmen, um den Auswirkungen der wahrgenommenen Krise entgegenzuwirken (vgl. Abbildung 5.15). In der Tat weist die COVID-19-Pandemie in den geschilderten Wahrnehmungen der Befragten gleich mehrere Merkmale der Definition für Krisen auf (vgl. Abschnitte 2.3 und 5.1.2.1) und lässt sich mittels der bereits mehrfach beschriebenen Typologien als Krise im Gesundheitsbereich einordnen, wobei die Nähe zu systemischen und ökonomischen Störungen anhand der gewählten Terminologie der Befragten „Metastörungen“ (G06, Pos. 116) und „Gesundheitskrieg“ (G01, Pos. 78) deutlich wird.

Die im Rahmen der COVID-19-Pandemie zusätzlich auf die Maßnahmen einwirkenden staatlichen Restriktionen sind insofern von besonderer Bedeutung, als sie in Form von Hygieneauflagen, Flächenbeschränkungen, Überwachungs- und Dokumentationspflichten die Wirtschaftlichkeit touristischer Aktivitäten in der Destination erheblich beeinträchtigen: „Es kommt nicht mehr [Umsatz] herein und trotzdem entstehen mehr Komplikationen durch diese Vorschriften, die ja auch gerechtfertigt sind“ (G15, Pos. 274). Ähnliche Einschätzungen der Auswirkung der COVID-Restriktionen auf KMU beschreiben vergleichbare Studien in diesem Zeitraum (Fairlie, 2020, S. 737–738; Kraus et al., 2020, S. 1070; Kuckertz et al., 2020, S. e00205; Marx & Klotz, 2021, S. 9).

Abbildung 5.16
figure 16

Unternehmerische Reaktionsstrategien in der Krise. (Quelle: Eigene Darstellung nach Kraus et al. (2020))

Besonders die in der COVID-19-Krise gewählten Maßnahmen (vgl. Abbildung 5.16) lassen sich aktueller Forschung zu unternehmerischen Optionen in der Krise zuordnen (vgl. Abschnitt 3.3.3; Kraus et al., 2020, S. 11083, Figure 1; Wenzel et al., 2021, S. 8).

In Abschnitt 5.1.2.3 dargelegte Maßnahmen wie beispielsweise Kostensenkungsmaßnahmen, um die Geschäftsaktivitäten eines Unternehmens zu reduzieren, entsprechen einer (1) Rückzugsstrategie. Explizit geben die Teilnehmer an, dass Sparmaßnahmen in Bezug auf Personal, Steuern und andere variable sowie fixe Kosten ihre Strategie bilden, um die Krise kurzfristig zu überstehen: „Ich kann die internen Unternehmensabläufe versuchen, ein bisschen effektiver auszurichten, aber die grundsätzlichen touristischen Strukturen kann ich nicht steuern“ (HMG01, Pos. 80). Das Auflösen aller Rücklagen und der Rückgriff auf staatliche Hilfen – „[…] dann warten wir halt ab. Wir sitzen jetzt da und warten ab. Omnibusse kann man auch ja nicht verkaufen“ (B04, Pos. 92), „wir haben die variablen Kosten, die wir haben, komplett auf null heruntergefahren und die Fixkosten auch versucht, so weit zu drücken, wie es geht, durch Kurzarbeit, durch Stundung beim Finanzamt, durch Stundung der Zins und Tilgungen“ (B03, Pos. 74) – entsprechen einer Strategie des (2) Ausharrens. Sie zielen darauf ab, den Status quo der Geschäftstätigkeit z. B. durch Fremdfinanzierung zu erhalten, und scheinen als mittelfristige Reaktion auf eine Krise geeignet. Allerdings können sie das langfristige Überleben des Unternehmens gefährden: „[…] wir haben mit den Banken gesprochen, damit wir drei Monate die Zins- und Tilgungszahlung aussetzen, aber das kommt ja dann später alles on top drauf. Der Vertrag läuft ja dann nicht drei Monate weiter, sondern die Summe wird ja dann aufgerechnet auf die verbleibende Zeit“ (B03, Pos. 64). Und in Richtung „Reflexion“ gehend äußert ein Gästeführer: „[…] da bin ich eher noch […] im Prozess des Nachdenkens“ (G18, Pos. 100).

Die in Abschnitt 5.2.2 festgestellte Geschäftsmodellinnovation bedeutet schließlich, dass ein Teil der Befragten als Reaktion auf eine Krise eine strategische Erneuerung, mithin (3) Innovation als Strategie in der Krise wählt, so wie es auch Clauss und Wenzel in ihren Untersuchungen festgestellt haben. Sehr treffend erscheint in diesem Kontext folgende Aussage eines Befragten: „Wir müssen unseren Job neu erfinden. Und wenn wir machen das nicht, dann sterben wir aus“ (G11, Pos. 212).

Abschließend lässt sich anhand der Ergebnisse des Abschnitts 5.1.2 – in ihren Antworten geben die Studienteilnehmer an, Job- und Branchenwechsel durchzuführen – eine Strategie des (4) Ausstiegs erkennen: „Wenn ich dann aktiv werden muss, nicht mehr in DER Branche, sondern […] in einer anderen Branche“ (B01, Pos. 132), „Und was ich […] am Überlegen bin, […] andere Geschäftsfelder […], die jetzt absolut nichts mit der Reisebranche zu tun haben“ (B01, Pos. 118), „Entweder du steigst aus oder du machst es mit“ (G01, Pos. 239).

Die von den Studienteilnehmern infolge der COVID-19-Krise ergriffenen Maßnahmen können also vier strategischen Reaktionen von Unternehmen auf Krisen zugeordnet werden: (1) Rückzug, (2) Ausharren, (3) Innovation und (4) Ausstieg. Auch der Bezug zur temporären und dauerhaften BMI sowie zum operativen Krisenmanagement lässt sich im Gesamtbild der Abbildung 5.16 auf der rechten Seite nachvollziehen.

5.3.2 Geschäftsmodellinnovation als eine dieser Maßnahmen

Einige der von den Studienteilnehmern in der COVID-19-Krise unternommenen Sofortmaßnahmen lassen sich wie gerade dargestellt als Innovation, genauer Geschäftsmodellinnovation interpretieren (vgl. Abschnitte 3.2 und 5.2). In der Forschung ist die Zuordnung von Innovation im Bereich von Geschäftsmodellen nicht unumstritten. So werden neben der problematischen Abgrenzung zu Prozess-, Produkt- und Organisationsinnovation u. a. auch angesprochener Neuheitsgrad sowie bewusste, unbewusste, modulare, radikale, inkrementelle oder adaptive Innovation unterschieden (vgl. Abschnitt 3.2.2). Mit einer Entscheidung für ein komponentenbasierten Verständnis der Geschäftsmodelldefinition im Rahmen dieser Arbeit (vgl. Abschnitt 3.1.3) können die Maßnahmen und Veränderungen der DMC (AG01) und der DMO (HMG01, HMG02, SSG01 und SSG02), der Gästeführer (G01, G02, G06, G09, G11 und G14) und eines Busunternehmers (B01) angesichts der Veränderung von mindestens zwei Dimensionen dem Konzept der Geschäftsmodellinnovation zugeordnet werden. Keine Veränderungen vollziehen hingegen die restlichen Busunternehmer (B02, B03 und B04), die Akteursgruppe Sonstige (BPP01, CAF01) und eine ganze Reihe Gästeführer (G03, G04, G05, G07, G08, G12, G13, G15, G16, G17 und G18).

Innerhalb der veränderten Geschäftsmodelle fällt besonders das neue Konzept einer digitalen und interaktiven Gästeführung per Videokonferenz-Software auf, das nicht nur international unbeschränkte Kundengruppen, sondern auch die neue Kundengruppe von Menschen mit Handicap anspricht. Daneben liegt bei den Gästeführern der Fokus auf technischer Innovation durch Mikrofon-Systeme, insbesondere per Applikation und Smartphone. Schwerpunkt der Veränderung bei den DMO sind komplett neue und vor allem nachhaltige Tourismusstrategien für die Destination. Dies beinhaltet neue Kooperationen mit Partner-Destinationen und die Idee, Sehenswürdigkeiten als grünes Denkmal und Biodiversitätsinsel zu entwickeln. Insgesamt wird die Krise als Gelegenheit gesehen, Kultur- und Naturtourismus zu verbinden und verstärkt regionales Publikum anzusprechen. Weitere Veränderungen vollziehen sich im Bereich von Informations-Systemen ohne Gästeführer und virtuellen Gästeführungen in YouTube und sozialen Medien. Auch radikale Veränderungen bzw. Umorientierungen hin zu Aqua-Farming und Drive-in-Bäckerei werden beschrieben. Bei allen Teilnehmern dominierten durch staatliche Restriktionen (Hygienebestimmungen) bedingte prozessuale Veränderungen des Geschäftsmodells.

Bereits die im Wesen angelegten strategischen Funktionen einer DMO erklären den in der Studie ermittelten Schwerpunkt strategischer und vor allem nachhaltiger Ausrichtung der Destination (vgl. Abschnitt 2.2.4.1). Die deutlichste Innovation auf Ebene des DMC passt hingegen zur Rolle und Größe dieser Akteure, die touristische Dienstleistungen am Zielort anbieten, durch Infrastruktur, Mitarbeiter und Umsatz wesentlich größere Investitionen tätigen und Rücklagen bilden können als Gästeführer, jedoch wesentlich tiefer in ihrer Branche verankert sind, sodass ein radikaler Branchenwechsel schwerlich durchzuführen ist. Warum lediglich ein einziger Teilnehmer aus der Akteursgruppe der Busunternehmer Geschäftsmodellinnovation anstrebt, kann wegen der kleinen Stichprobe nur vermutet werden. Aus den Interviews deutlich wurde lediglich, dass Busunternehmer mit dem umfassenden Berufsausübungsverbot besonders durch staatliche Restriktionen betroffen und mit in ihrer abgemeldeten Fahrzeugflotte „blockierten“ Investitionen in Millionenhöhe besonders finanziell eingeschränkt waren (vgl. Abschnitt 5.1.2.2).

Durch die Veränderung von mindestens zwei Dimensionen konnte bei elf Akteuren Geschäftsmodellinnovation festgestellt werden. Davon gab mehr als die Hälfte jedoch an, Geschäftsmodellinnovation nur temporär als „Übergangslösung“ während der Krise durchführen zu wollen. Das entspricht auch den Ergebnissen von Clauss et al. die „temporäre BMI“ als potenziellen Mechanismus für Unternehmen identifiziert haben, um auf akute, dramatische Veränderungen wie auch die COVID-19-Pandemie zu reagieren. Sie verstehen vorübergehende BMI ähnlich einem Spin-off als Prototyp (Clauss et al., 2021, S. 296; Sosna et al., 2010, S. 384). Mithin würde BMI nicht zwangsläufig zu einer dauerhaften Rekonfiguration der Organisation führen und zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht als dauerhafter Prozess vorgesehen sein. Dies stimmt mit den Aussagen der Befragten und ihrer Einstellung gegenüber Veränderung überein (vgl. Abschnitt 5.2.2.3).

Es konnte festgestellt werden, dass Geschäftsmodellinnovation insgesamt keinem intentional gesteuerten, zielgerichteten Prozess folgt und als aktive strategische Option im Bewusstsein der Akteure der Destination fehlt.

5.3.3 Geschäftsmodellinnovation als proaktiver Ansatz im touristischen Krisenmanagement

„Ich bin ja in dieser Branche aufgewachsen. Ich weiß, dass es von heute auf morgen sehr schnell gehen kann – aber das mit dem VIRUS jetzt, das hat ja noch keiner so erlebt und da weiß keiner, wie er damit umgehen kann“ (B04, Pos. 94).

Zu den Ausgangspunkten vorliegender Arbeit gehörte die Annahme, dass – auch nur vorübergehende – Geschäftsmodellinnovation ein proaktiver Lösungsansatz für touristische KMU in der Krise sein könnte. Dem Forschungsziel folgend sollen nunmehr Krisenmanagement an touristischen Destinationen und Entrepreneurship-Forschung zu Geschäftsmodellinnovation integriert und als neuer, proaktiver Ansatz zur Krisenbewältigung vorgeschlagen werden.

Versteht man in diesem Zusammenhang Krisenmanagement dahingehend, dass es sich „auf die Maßnahmen bezieht, die Organisationen systematisch ergreifen, um die Wahrscheinlichkeit einer Krise zu verringern, die Auswirkungen der Krise zu mildern und die Ordnung nach einer Krise wiederherzustellen“ (Leta & Chan, 2021, S. 2; Pearson & Clair, 1998, S. 66), lassen sich die ergriffenen Maßnahmen der Akteure als allgemeine Maßnahmen des Krisenmanagements interpretieren und somit in die jeweiligen Stufen der touristischen Krisenmanagement-Modelle nach Faulkner (2001) und Ritchie (2004) eingliedern. Das in der Forschung überwiegend präferierte Drei-Phasen-Modell nach Ritchie (2004) greift für die Einordnung der hier vorliegenden Ergebnisse hingegen in seinen Kategorien zu kurz, da die Phasen 2 bis 4 in einer einzigen Phase verschmelzen und entsprechende Untersuchungsergebnisse unschärfer würden. Anhand des Drei-Phasen-Modells nach Ritchie (2004) lassen sich dafür im Gesamtzusammenhang die proaktiven und reaktiven Bereiche des Krisenmanagements gut erkennen (vgl. Abbildung 5.17).

Die Ergebnisse der Untersuchung aus Abschnitt 5.1 lassen sich unproblematisch in die ersten drei Phasen des Krisenmanagement-Modells von Faulkner (2001) eingliedern (vgl. Abbildung 5.17, graue Hervorhebung). An der nur zum Teil ausgefüllten vierten Phase lässt sich die Schnittstelle zum Themenbereich Geschäftsmodell-Innovation andererseits ausmachen (vgl. Abbildung 5.17, gestrichelter Rahmen). Damit kann bereits der Bezug zu zwei der drei Untersuchungsrichtungen des Krisenmanagements in der Tourismusforschung hergestellt werden: einerseits mit den deskriptiven Ansätzen und Typologien (vgl. Abschnitt 2.3.2) und andererseits mit den reaktiven Ansätzen, um die Folgen für die Destination zu verringern (vgl. Einleitung zu Abschnitt 2.4).

Abbildung 5.17
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Zusammenspiel der Ergebnisse aus Abschnitt 5.1 und 5.2. (Quelle: Eigene Darstellung nach Faulkner (2001) und Ritchie (2004))

So fehlt lediglich die konzeptionelle Anbindung an proaktive Ansätze, die den Auswirkungen von Krisen durch die Entwicklung wirksamer Krisenmanagementprozesse und strategischer Rahmen vorzugreifen versuchen. Ergänzt man nunmehr in gleicher Weise die Ergebnisse zur festgestellten Geschäftsmodellinnovation aus Abschnitt 5.2, ergibt sich im Gesamtbild der vermutete Zusammenhang (vgl. Abbildung 5.18, graue Hervorhebung). Folgt man dem Ansatz nach Ritchie, lässt sich vorübergehende Geschäftsmodellinnovation zudem im Bereich proaktiver Strategien des Krisenmanagements verorten.

Abbildung 5.18
figure 18

Vorübergehende BMI als Maßnahme proaktiven Krisenmanagements. (Quelle: Eigene Darstellung nach Faulkner (2001) und Ritchie (2004))

Abschließend kann also (temporäre) BMI als neuer, proaktiver Ansatz zur Krisenbewältigung im strategischen Rahmen des touristischen Krisenmanagements an Destinationen vorgeschlagen werden.

5.3.4 COVID-19-Krise als Auslöser für Geschäftsmodellinnovation

Bezüglich der Frage, ob und in welchem Maß die COVID-19-Krise Auslöser für Veränderung im Geschäftsmodell der Akteure an der Flusskreuzfahrtdestination ist, lassen sich sowohl ausgewählte Aussagen der Studienteilnehmer als auch der Vergleich der Ergebnisse aus Abschnitt 5.1.1.4 (vor der Krise) und Abschnitt 5.1.2.4 (nach der Krise) heranziehen.

Die Befragten urteilen hinsichtlich vergangener Krisen, dass diese keine extremen Auswirkungen mit sich gebracht hätten, begründet mit einerseits Ausgleichseffekten durch andere Quellenmärkte oder Dienstleistungen sowie andererseits guter Vernetzung. Sowohl der temporäre und lokal begrenzte Charakter erfahrener Krisen als auch die erwähnten Ausgleichseffekte führten bei einer überwiegenden Anzahl der Befragten dazu, weder finanzielle noch unternehmerische Notwendigkeit für Veränderung gesehen zu haben. Nur wenige Teilnehmer schilderten Diversifikation, Marktentwicklung oder Produktentwicklungsmaßnahmen innerhalb der Branche. Dagegen konnte in der COVID-19-Pandemie bei acht der untersuchten Akteure Geschäftsmodellinnovation durch die Veränderung in mindestens zwei bis drei Dimensionen des Geschäftsmodells festgestellt werden. Neben einem völlig überarbeiteten digitalen Gästeführungskonzept, das auch dauerhaft die neue Kundengruppe von Menschen mit Handicap anspricht, lag der Schwerpunkt auf technischer Innovation und strategischen Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit, Kultur- und Naturtourismus.

Die Vorher-nachher-Betrachtung legt somit die COVID-19-Krise durchaus als Auslöser für die beobachtete Geschäftsmodellinnovation nahe, wenngleich die in Abschnitt 5.2.2.3 angesprochene temporäre Beschränkung der Innovation dagegen angeführt werden könnte. Doch zeigt sich gerade in diesem Kontext bei Äußerungen der Studienteilnehmer der behauptete Zusammenhang zwischen Krise und Innovation. So äußert ein Gästeführer in Bezug zur Innovation der virtuellen Gästeführung beispielsweise: „[…] das ist […] eine Notlösung, wenn es durch die Krise nicht anders geht“ (G09, Pos. 144). Der überwiegende Teil der geschilderten Veränderungen, ob digitaler oder nicht technischer Natur, war zur Anpassung der Geschäftsmodelle an die Krisensituation und daraus resultierende Hygienerestriktionen erforderlich. So schildert ein Teilnehmer explizit: „Es geht da eher darum, auf die Gesetzesbedingungen zu reagieren.“ (CAF01, Pos. 94) Die COVID-19-Krise kann somit, zumindest im spezifischen Rahmen dieser Studie, als Auslöser bzw. Trigger-Event für Geschäftsmodellinnovation bei den Akteuren der Flusskreuzfahrtdestination gelten (vgl. Abbildung 5.19).

Darüber hinaus war von Interesse, welche Faktoren die Geschäftsmodellinnovation begünstigen oder erschweren. So waren eingangs der Studie gewisse Annahmen gefasst worden, z. B. dass der aus der Krise resultierende wirtschaftliche Druck ein begünstigender Faktor für Geschäftsmodellinnovation darstellt und staatliche Unterstützungen oder sonstige Hilfen diese erschweren (vgl. Abschnitt 1.3). Um solche Zusammenhänge näher zu erfassen, wurde neben dem Gesamtbild der generellen Kategorien wie beispielsweise A.1. „Wirtschaftlichen Einbußen“ genauer auf Unterkategorien von A.4. „Selbsthilfe“ und A.5. „Fremdhilfe“ geachtet. Dennoch konnten keine weiteren begünstigenden oder erschwerenden Faktoren eindeutig festgestellt werden.

Abbildung 5.19
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COVID-19-Krise als Trigger-Event von BMI. (Quelle: Eigene Darstellung nach Breier et al. (2021))

Einerseits spricht die Vorher-nachher-Betrachtung der Ergebnisse aus 5.1.1 und 5.1.2 für eine begünstigende Rolle des wirtschaftlichen Drucks. So wurden in den Krisen vor der COVID-19-Pandemie durch die Teilnehmer kaum wirtschaftliche Auswirkungen festgestellt und demzufolge keine Maßnahmen für Veränderungen ergriffen. Dagegen wurden während der Pandemie wesentliche wirtschaftliche Einschnitte wahrgenommen und infolgedessen konkrete Veränderungen der Geschäftsmodelle realisiert. Auch die Gegenprobe mittels der Aussagen derer, die infolge der COVID-19-Pandemie keine Maßnahmen ergriffen haben, ergibt kein gegenteiliges Resultat.

Andererseits könnten sowohl der dominierende Einfluss staatlicher Restriktionen (vgl. Abschnitt 5.1.2.2.2) als auch die staatliche Unterstützung (vgl. Abschnitt 5.1.2.3.6) das Bild während der Pandemie verzerren. Die staatliche Unterstützung kann im Rahmen dieser Studie weder als begünstigender noch als erschwerender Faktor eingeordnet werden. Die insgesamt von den Teilnehmern als unbürokratisch zu beantragenden und schnell in nennenswerten Höhen ausgezahlten Fördergelder (vgl. Abschnitt 5.1.2.3.5) wurden gleichsam von Studienteilnehmern beansprucht, die sowohl BMI durchführten als auch untätig blieben. Dagegen wurde BMI auch von Teilnehmern betrieben, die keine Fördergelder beanspruchen konnten. Somit können weder die Ergebnisse von Breier et al., die staatliche Unterstützung als hindernden Faktor für BMI identifiziert haben, hier bestätigt (vgl. Abschnitt 3.3.4) noch eine weit verbreitete Ansicht in der Literatur, dass finanzielle Ressourcen eine wichtige Triebkraft für Innovationen im Tourismus seien, untermauert werden (Kallmuenzer et al., 2019, S. 330).

Die intensiv durch staatliche Restriktionen geprägten Innovationen der Geschäftsmodelle (vgl. Abschnitt 5.1.2.4) schließen zwar nicht aus, dass die Innovation von der wirtschaftlich angespannten Situation begünstigt wurde, lassen die Annahme eines eindeutigen Zusammenhangs jedoch nicht zu. Dagegen lässt sich ebenso behaupten, dass die in Abschnitt 5.2.1 festgestellten Veränderungen des Geschäftsmodells durch staatliche Corona-Restriktionen „erzwungen“ wurden, da andernfalls kein Geschäftsbetrieb fortbestehen könnte. Mithin könnten also die staatlichen Restriktionen einen begünstigenden Faktor für BMI darstellen: „Also wir versuchen praktisch, die Vorgaben umzusetzen, damit ein Führungsbetrieb wieder funktionieren kann“ (G14, Pos. 138–148). Keiner der Faktoren lässt sich unabhängig vom anderen als conditio sine qua non für die Veränderungen des Geschäftsmodells vorstellen. Die enge Verzahnung staatlicher (COVID-)Restriktionen und wirtschaftlicher Einbußen legt nahe, dass es sich um in Kombination begünstigende Faktoren für Geschäftsmodellinnovation handelt. Erschwerende Faktoren konnten hingegen im Rahmen dieser Arbeit nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Abbildung 5.19).

5.3.5 Bedeutung der Digitalisierung im Gesamtkontext

Zum Thema der Digitalisierung im Allgemeinen gibt die Aussage eines DMO-Vertreters den Tenor der Mehrheit der Befragten am besten wieder: „Also die Digitalisierung ist das große Thema des erfolgreichen touristischen Betriebs in den nächsten Jahren“ (SSG01, Pos 66). Die Ergebnisse dieser Arbeit insgesamt lassen erkennen, dass allein die Hälfte der in Abschnitt 5.2 beschriebenen Veränderungen sich im Bereich der technischen bzw. digitalen Innovation bewegt (vgl. Abbildung 5.8, Nr. 1). Dabei ging es bei der Digitalisierung nicht nur darum, interne Prozesse zu optimieren oder neue Technologien einzubinden, sondern die Geschäftsmodelle grundlegend zu verändern, um sie an die staatlichen (COVID-)Restriktionen und mithin Krisensituation anzupassen. Es ging darum wettbewerbsfähig, wenn nicht gar wirtschaftlich überlebensfähig zu bleiben, indem digitale und digital erweiterte Produkte und Dienstleistungen angeboten wurden. Dies erfordert Zusammenschlüsse mit neuen digitalen Partnern, aber auch Unterstützung bestehender Partner bei der Digitalisierung. Somit kann die COVID-19-Krise nicht nur als Auslöser für Geschäftsmodellinnovation, sondern auch Digitalisierung verstanden werden.

Neben positiven Aspekten der Digitalisierung schildern die Teilnehmer – vor allem als Hinderungsgrund für Innovation – Probleme bei der Finanzierung größerer Digitalisierungsmaßnahmen und der notwendigen digitalen Infrastruktur. Den Schwerpunkt aller Interviews bildete aber die Diskussionen um die Digitalisierbarkeit des touristischen Geschäftsmodells sowohl im allgemeinen konzeptionellen Sinn als auch auf konkrete Dienstleistungen, wie beispielsweise Gästeführungen, bezogen. Von den Befragten wurden tief mit dem Tourismusbegriff verwurzelte Konzepte angesprochen, wie beispielsweise Ortsveränderung, sozialer Bezug zur Destination als Ort, sozialer Bezug zu den Einheimischen der Destination, Authentizität der Erfahrung und letztendlich auch Co-Kreation des Tourismus-Mehrwerts durch Touristen selbst (vgl. Abschnitte 2.1 und 3.4.3).

Die Gesamtheit der Themen und die damit verbundene „zurückhaltende Akzeptanz“ von Digitalisierung im Tourismus spiegelt sich in der aktuellen Forschung. Ähnlich wie ein Großteil der Studienteilnehmer kritisiert beispielsweise Gössling, dass in der automatisierten Zukunft des Tourismus Begegnungen zunehmend entpersonalisiert und entmenschlicht werden, wodurch die Gastfreundschaft einer ihrer zentralsten Funktionen des sozialen Austauschs beraubt werde (Gössling, 2021, S. 852). Und Zillinger fragt in diesem Zusammenhang, „ob gemeinsam geschaffene lokale authentische Tourismus-Erfahrungen ersetzbar sind“ (Zillinger, 2021, S. 11).