Das nachfolgende Kapitel reflektiert die wesentlichen Resultate der vorangegangenen Argumentation: Ausgehend von Antonio Gramscis allgemeinem, in frühen Aufsätzen entwickelten Bildungsverständnis sollen hier zunächst Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes für die gegenwärtige Debatte um eine kritische politische Bildung erörtert werden.Footnote 1 Vor diesem Hintergrund kann ein erster Zugang zur kritischen politischen Bildung und zur Politikdidaktik eröffnet werden, in dem Gramscis Bedeutung für diese Felder aufgezeigt wird. Hierfür sind die Erörterungen des im zweiten Kapitel besprochenen einschlägigen Modells der Sinnbilder zentral.Footnote 2 Auch wenn die Verdienste und Vorzüge dieser Sinnbildkonstruktion vor allem gegenüber subjektfernen politikdidaktischen Überlegungen hervorgehoben werden sollen, so lassen sich doch – so die zentrale These – mit einer materialistischen Analyse des Subjektiven, wie sie sich in den politisch-pädagogischen Ansätzen von Gramsci finden, analytische Defizite und Widersprüche dieser Konzeption benennen und bearbeiten. Deutlich tritt dabei zu Tage, welches wissenschaftliche Potential ein „Gramsci-Zugang“ für eine politikdidaktische Sinnbildkonzeption bietet. Im weiteren Verlauf wird eine Unterscheidung zwischen einem eher affirmativen, gleichsam quasi-positivistischen und einem kritisch-reflexiven Bezug auf die Sinnbilder eingeführt, um anschließend zu eruieren, inwiefern diese Gedanken zu einer Ergänzung bzw. Erweiterung kritisch-emanzipatorischer politischer Bildung insgesamt beitragen können. Grundzüge einzelner ausgewählter Überlegungen der politischen Bildung bzw. der Politikdidaktik, die sich kritisch-materialistischen Ansätzen verpflichtet wissen, werden dabei aufgenommen und reflektiert. Die Argumentation des Kapitels endet schließlich in der Darstellung der Überlegungen von Gramsci zum Erziehungs- und Bildungsbegriff und seinen Implikationen für den Lernort Schule und das Verhältnis von Lernenden und Lehrenden. Spätestens hier wird deutlich, welches enorme Potential zentrale Elemente des theoretischen Ansatzes für eine kritische politische Bildung und ein innovatives politikdidaktisches Modell („Planungsmodell“) bieten.

4.1 Alltagsverstand und Sinnbildungen

Die Analyse mündet in der Einschätzung, dass die angestrebte Nutzbarmachung von Gramscis Gedanken für eine kritisch-reflexive politische Bildung und Politikdidaktik auf Grenzen stößt, zugleich aber innovative Möglichkeiten eröffnet, die in der fachwissenschaftlichen Debatte bisher nahezu nicht thematisiert worden sind. Nicht übertragbar sind Aspekte, die sich unmittelbar aus der revolutionären italienischen Arbeiter:innenbewegung ergeben, in deren Umfeld Gramsci sich bewegt und aus dem heraus er seine Ideen entwickelt. Auch können die aus einer historisch spezifischen Konstellation resultierenden Betrachtungsweisen nicht auf das heutige Schulwesen angewendet werden. Gleiches gilt für die Adressat:innen seiner bildungspolitischen Anstrengungen. Gramsci wendet sich primär an die Mitglieder proletarischer und sozialistischer Kulturorganisationen und nicht an Schüler:innen und Lehrer:innen allgemeinbildender Schulen. Umso bemerkenswerter und interessanter aber erscheint die Tatsache, dass trotz genannter Unterschiede Gramsci als Vordenker von bildungs- und lerntheoretischen Konzepten begriffen werden kann, die über ihren historischen Zeitkontext hinaus Aussagekraft und Anregungspotentiale besitzen. Das gilt auch und nicht zuletzt für den heutigen Schulkontext allgemein, insbesondere aber für die politische Bildung einschließlich ihrer Didaktik. Gramsci erörtert nicht nur die Auswirkungen von Bildungsprivilegien einer gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse, sondern er setzt sich intensiv mit Bewusstseinsbildungsprozessen und politischen Lernprozessen auseinander. Insbesondere kann mit den in den späteren Gefängnisheften zentralen analytischen Kategorien des Alltagsverstandes und der Hegemonie kritisch weitergedacht werden. Sie bieten ein für die kritische politische Bildung und Politikdidaktik bedeutsames, bisher weitgehend ungenutztes Analyseinstrumentarium, um alltägliche Sinnbild-Konstruktionen zu reflektieren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie die gesellschaftlichen Kontexte, in denen die Sinnbilder entstanden sind und immer wieder neu entstehen, nicht ausblenden, sondern systematisch mitdenken.

Der bereits erörterte politikdidaktische Ansatz zu den Sinnbildern basiert auf der grundlegenden Erkenntnis, dass das Politische die Lebenswelt durchdringt. Der Politikdidaktiker Dirk Lange geht dabei davon aus, dass die Unterrichtsforschung und die praktische Umsetzung an den Vorstellungen der Lernenden ansetzen müssen. Das dichotome Verständnis von Alltag und Politik, d. h. jenes traditionalistische Politikverständnis, welches auf dem Ausschluss der Alltagskategorie fußt, wird damit verworfen. Politik müsse als ein Prozess verstanden werden, der in allen gesellschaftlichen Bereichen existiere, in denen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eine Rolle spielen würden. Folglich sei der Alltag politisch und die Alltagskategorie für die politische Wissenschaft wie auch für die politische Bildung respektive ihrer Didaktik von zentraler Bedeutung. Politische Bildung ziele auf die Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit des Individuums.

Zweifelsohne stellt das Langesche Modell eine bildungspolitische Innovation dar, welche explizit die über Jahrzehnte in der Politikdidaktik vernachlässigte bzw. in ihren politischen Implikationen nicht hinreichend reflektierte Mikrowelt der Lernenden fokussiert. In Verbindung mit dem Konzept der Sinnbilder rückt Lange die Lernenden und ihren Alltag ins Zentrum. Damit grenzt er sich von jenen Konzeptionen ab, welche die Lernenden zu Objekten des Lernprozesses degradieren. Zu problematisieren ist allerdings die Erhebung des Individuums zur alleinigen Instanz. In dieser Verkürzung bleibt die Konzeption einem in der liberalen Demokratietradition stehenden Begriff von Individuum und Bildung verhaftet. Es spielt weder die Fähigkeit noch der Wunsch des Einzelnen, sich in Diskurse zu begeben, im Langeschen Ansatz eine systematische Rolle. Die Überlegungen gehen von individuellen Sinnbildern aus, „in dem der Einzelne den Sinn bildet, der es ihm ermöglicht, die politisch gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen“ (Lange 2008: 432). Das ‚Bürgerbewusstsein‘ erscheint dabei als ein Kristall mit immer gleicher Struktur, dessen Demokratiepotential die politische Bildung nur aktivieren müsse.

Folgt man Gramscis gesellschafts- und bildungstheoretischen Prämissen so steht fest, dass politikdidaktische Konzeptionen nicht auf der Mikroebene verharren dürfen. Sie sind in besonderer Weise dem dialektischen Verhältnis von Mikro- und Makroebene verpflichtet. Die Mikroebene darf nicht aus ihren sozioökonomischen Verankerungen gelöst werden. Kritische politische Bildung soll Menschen befähigen, die gesellschaftlichen Strukturen in Auseinandersetzung mit anderen den eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechend partizipativ und emanzipativ zu gestalten. Daraus speist sich ihre Legitimation.

Wenn das Ziel politischer Bildung die (individuelle) Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit ist, muss die Frage aufgeworfen werden, was mit den Sinnbildern der Lernenden geschehen soll. Ein „reines Anknüpfen“ an bereits vorhandene Sinnbilder würde – wider das eigentliche Ansinnen – das Bestehende nur (re)produzieren und stabilisieren. Aufgabe einer kritischen Politikdidaktik wäre es aber, eine politische Bildung zu befördern, welche die Schüler:innen in die Lage versetzt, nach dem versteckten Sinngehalt, den Ursprüngen und Ursachen von Inkonsistenzen in den Bildern zu fahnden und so die Möglichkeit eröffnet, nicht in vorgefertigten Strukturen zu denken und zu handeln. In Folge muss sich die Politikdidaktik mit der Genese und inneren Struktur der Sinnbilder auseinandersetzen. Und hier erweist sich vor allem Gramscis historisch- und prozessorientierte Herangehensweise als wegweisend. Diese fasst den Alltagsverstand als etwas Gewordenes und denkt auch die Überwindung seiner Inkonsistenzen und inneren Widersprüche als einen Prozess. Der Fokus liegt damit nicht auf den Sinnbildern, sondern auf den Sinnbildungen. Analytischer Ausgangspunkt sind die inneren Spannungen und Inkonsistenzen der Sinnbilder. Da das Subjekt und dessen Bewusstseinsformen weder als bloßer Reflex auf die Makrostrukturen begriffen werden kann, noch von der Autonomie des Einzelnen auszugehen ist, bedarf es eines kritischen Zu- bzw. Umgangs mit den Sinnbildern. Denn nicht nur die offensichtlichen Aussagen von Lernenden, sondern auch die „verborgenen“ Sinnkonstruktionen müssen reflexiver Bestandteil politikdidaktischer Überlegungen sein.

Analytisch können die Sinnbilder also als Elemente des auf Gramsci zurückgehenden Alltagsverstandes gefasst werden. Mit der Kategorie des Alltagsverstandes lassen sich Defizite, Widersprüche und blinde Flecken der Sinnbild-Konstruktion erfassen, analysieren und (selbstreflexiv) bearbeiten. Gramscis politisch-pädagogischen Überlegungen bieten ein Analyseinstrumentarium, das es ermöglicht, die offen zu Tage tretenden und die „verborgenen“ Sinnkonstruktionen in den Blick zu nehmen. Dabei werden die Wechselbeziehungen zwischen den Sinnkonstruktionen und den gesellschaftlichen Kontexten systematisch mitgedacht.Footnote 3 Die gesellschaftlichen Makrostrukturen werden also nicht für obsolet erklärt und die großen Erzählungen nicht verloren gegeben, sondern Gramsci fragt danach, wie sie sich im Alltagsverstand sedimentieren; das Gewordensein gilt es zu reflektieren. Das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur, Hegemoniekonstruktion und Alltagsbewusstsein stellt eine vielschichtige und komplexe Beziehung dar, die keinesfalls durch monokausale und einfache Abbildtheorien erfasst werden kann. Vielmehr führt die Untersuchung dieses vielfältigen Wirkungszusammenhangs ins Zentrum der hier diskutierten Thematik. In dieser Theorielinie, die auf Gramsci, aber auch auf die für sein pädagogisches Denken entscheidenden Marxschen Feuerbachthesen rekurriert, kann man die Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Denken und Handeln der Individuen als ein Verhältnis der wechselseitigen Interdependenz bezeichnen. In diesem Sinne ist der Mensch Produzent der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn wiederum prägen (MEW 3: 5 f.).

Es ist das Verdienst Antonio Gramscis in diese Auffassung vom Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlicher Lage und individuellem Denken und Tätigsein die Kategorie der Hegemonie eingeführt zu haben.Footnote 4 Denn nicht zuletzt die historisch konkreten Hegemoniekonstellationen prägen die Auffassung der Menschen von ihrer gesellschaftlichen Lage, ihrem Denken, Handeln und sind eine treibende Kraft der Inkohärenz im Alltagsverstand. So muss – wie im dritten Kapitel dargelegt – laut Gramsci die Inkohärenz und Zerrissenheit des Alltagsverstandes als Ausgangspunkt kritisch-kollektiver Bewusstseins- und Bildungsprozesse dienen (Gramsci 1991 ff.: 1395).Footnote 5 Gramsci analysiert vor dem jeweiligen konkreten sozio-ökonomischen Hintergrund die Bedeutung des Alltagsverstandes und dessen widersprüchliche Einbindung in die bürgerliche Hegemonie. Die im Alltagsverstand enthaltenen Einsichten und Erfahrungen nimmt er ernst und versucht die Blockierungen und Antagonismen aufzuspüren, welche für die alltäglichen Praxen der Menschen bestimmend sind. Der „‘Alltagsverstand’“ wird dabei verstanden als „eine Kollektivbezeichnung wie ‚Religion‘: Es gibt nicht einen einzigen Alltagsverstand, denn auch dieser ist ein historisches Produkt und ein geschichtliches Werden“ (Gramsci 1991 ff.:1377). Der Alltagsverstand ist „‘die Philosophie der Nichtphilosophen’“, er ist „die unkritisch von den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus aufgenommene Weltauffassung“ (Gramsci 1991 ff.: 1393), er ist

„keine einheitliche, in Raum und Zeit identische Auffassung: Er ist die ‚Folklore‘ der Philosophie, und wie die Folklore bietet er sich in unzähligen Formen dar: Sein grundlegender und charakteristischer Zug ist es, eine (auch in den einzelnen Hirnen) auseinanderfallende, inkohärente, inkonsequente Auffassung zu sein […].“ (Gramsci 1991ff.: 1394)

Ein entscheidendes Charakteristikum des Alltagsverstandes ist seine Widersprüchlichkeit und Inkohärenz. Die Weltauffassung

„ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: Es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie.“ (Gramsci 1991ff.: 1376)

Gramsci sagt also nicht,

„dass es im Alltagsverstand keine Wahrheiten gibt. Es bedeutet, dass Alltagsverstand ein zweideutiger, widersprüchlicher, vielgestaltiger Begriff ist und dass sich auf den Alltagsverstand als Prüfstein von Wahrheiten zu beziehen, ein Unverstand ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1397)

Es sollen an dieser Stelle nicht die ausführlichen Darlegungen zum Alltagsverstand des dritten Kapitels wiederholt werden, es soll nur verdeutlicht werden, warum die Sinnbilder als Elemente des Alltagsverstandes verstanden werden können und welches enorme analytische Potential die Kategorie des Alltagsverstandes für die politische Lernprozessanalyse in sich birgt. „Der Alltagsverstand ist“, wie Gramsci schreibt, „eine chaotische Ansammlung disparater Auffassungen, und in ihm lässt sich alles finden, was man will“ (Gramsci 1991 ff.: 1396). Überträgt man dies auf die Sinnbilder der Schüler:innen, so sind solche Elemente, „die neuerungsfeindlich und konservativ“ sind ebenso vorhanden wie jene Elemente (Gramsci 1991 ff.: 1397), die ein kritisches Potential bieten und damit Anknüpfungspunkte für emanzipative und reflexive Lernprozesse sein können. Diese Sinnbildelemente kritischer Reflexivität, die Gramsci buon senso nennt und die im Alltagsverstand bisweilen aufscheinen, stehen bei Gramsci für Kohärenz, welche der inkohärenten „‘Folklore der Philosophie’“ (Gramsci 1991 ff.: 1394) „eine bestimmte konkrete (‚rationale‘) Richtung“ geben können (Gramsci 1991 ff.: 1341). Die politikdidaktische Lernprozessanalyse kann und sollte daran anknüpfen, da diese kritisch-reflexiven Sinnbildelemente für eine stärkere oder aber auch schwächere Suche nach zusammenhängender Rationalität und Besonnenheit stehen. Dabei kann die Herausbildung eines historisch reflexiven Bewusstseins als Ziel kritischer politischer Bildung nur als ein Annäherungsprozess gedacht werden, der niemals einen Endpunkt und einen Abschluss erreichen kann.

Die entscheidende Frage ist, wie diese kritisch-reflexiven Elemente gestärkt werden können, denn „die Existenz der objektiven Bedingungen oder Möglichkeiten oder Freiheiten reicht noch nicht aus: Es gilt, sie zu ‚erkennen‘ und sich ihrer bedienen zu können. Sich ihrer bedienen zu wollen“ (Gramsci 1991 ff.: 1341). Emanzipatorische politische Lernprozesse können demnach nicht von außen als aufklärerische Praxis an die Lernenden herangetragen werden, sondern sie finden ihre Basis im Alltagsverstand und damit auch in den Sinnbildern selbst. Es geht um ein selbstreflexives, herauskristallisierendes Verfahren jener Elemente, die verändert werden können, im Wissen darum, dass jeder Mensch einer Konstellation von prägenden Einflüssen ausgesetzt ist, „die mechanisch von der äußeren Umgebung ‚auferlegt‘ ist, und zwar von einer der vielen gesellschaftlichen Gruppen, in die jeder automatisch von seinem Eintritt in die bewusste Welt an einbezogen ist“ (Gramsci 1991 ff.: 1375). Die Institutionen, Traditionen und Konventionen, welche die Menschen also erfahren und nicht nur staatliche Zwangsapparate bestimmen das Denken und Handeln. Es ist keiner gänzlich frei, aber auch keiner ist gänzlich determiniert, denn Menschen sind geprägt und sie sind tätig. Die Individuen eignen sich durch soziale Praxis die Umwelt an und verändern sie dadurch zugleich. Unterschiedliche Individuen eignen sich die gleichen gesellschaftlichen Verhältnisse mit unterschiedlichen subjektiven Voraussetzungen und dadurch mit unterschiedlichen Resultaten an.

4.2 Wege der Bezugnahme auf die Kategorie der Sinnbilder

„Die Philosophie, die bei sich selbst, bei irgendeiner Wahrheit, Ruhe zu finden meint, hat daher mit kritischer Theorie nichts zu tun.“

(Horkheimer 2011: 269)

Im weiteren Fortgang der Argumentation sollen zwei Wege der Bezugnahme auf die Kategorie der Sinnbilder unterschieden werden, die an ein zweigliedriges Wissenschaftsverständnis anknüpfen, welches durch die frühe Frankfurter Schule, insbesondere durch die Arbeiten von Max Horkheimer inspiriert ist. Horkheimer unterscheidet in dem klassischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) und in einem kurz im selben Jahr darauffolgenden „Nachtrag“ zwei mögliche theoretische Bezüge auf die gesellschaftliche Wirklichkeit:

„Theorie im traditionellen […] Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaft überall lebendig ist, organisiert die Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben. […] Die soziale Genese der Probleme, die realen Situationen, in denen die Wissenschaft gebraucht, die Zwecke, zu denen sie angewandt wird, gelten ihr selbst als äußerlich.“ (Horkheimer 2011: 261)

Dieser traditionellen Theorie der Gesellschaft stellt er die kritische gegenüber:

„Die kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag. Die Gegenstände und die Art der Wahrnehmung, die Fragestellung und der Sinn der Beantwortung zeugen von menschlicher Aktivität und dem Grad ihrer Macht.“ (Horkheimer 2011: 261)

„[D]ie kritische Theorie“, so Horkheimer wenig später weiter, „ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt“ (Horkheimer 2011: 263). Das Auftreten, die Denkweise, die Fähig- und Fertigkeiten, das Selbstverhältnis sowie das Verhältnis zu anderen Menschen werden durch die geschichtliche Praxis, die das Individuum vorfindet, verändert:

„Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozess, wie er in den Jahrhunderten sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt […].“ (Horkheimer 2011: 217)

Auch wenn Horkheimer sich in einem 1968 erschienenen „Vorwort zur Neupublikation“ nicht unkritisch auf seine früheren Schriften bezieht (Horkheimer 1981: 7 ff.), so erweist sich nicht zuletzt die getroffene Unterscheidung zweier Theorieverständnisse in dem hier diskutierten Kontext als produktiv. Die traditionelle Theorie bezieht sich demnach auf die, durch Befragung erfassten Erfahrungen im Sinne und zum Zwecke der Reproduktion der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Gesellschaftliche Bedingtheit („soziale Genese“) und Funktion der Befragungsergebnisse sind kein immanenter Bestandteil des wissenschaftlichen Prozesses. Die kritische Theorie fokussiert vor allem das, was der traditionellen Theorie äußerlich bleibt. Sie sieht ihre eigentliche Funktion nicht in der bloßen Feststellung der Gegenstände der wissenschaftlichen Analyse („Verhältnisse der Wirklichkeit“), sondern darin, sie als Resultate menschlicher Aktivitäten und menschlicher Macht zu begreifen, die der Veränderbarkeit obliegen (Horkheimer 2011: 261). Zugleich verzichtet sie keineswegs auf eine normative Aufladung von historischer Wissenschaft, indem sie die kritische Theorie in die „historische Anstrengung“ der menschlichen Emanzipation stellt (Horkheimer 2011: 261 ff.). Indem also die „traditionelle Theorie“ der Fachwissenschaft die bestehende Gesellschaft als (natur-)gegeben hinnimmt, und sich dabei auf ihre Beobachtung und Beschreibung fixiert, ohne sie in Frage zu stellen, vergisst sie, dass die Gesellschaft von Menschen gemacht und veränderbar ist.

An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte hingewiesen werden, die für die weitere Argumentation von Interesse sind: Die von Horkheimer vorgenommene Zweiteilung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundverständnisses findet sich letztlich auch in der einschlägigen Unterscheidung zwischen einem empirisch-analytischen und einem historisch-kritischen Wissenschafts- und Methodenverständnis wieder. Diese Unterscheidung erweist sich für die wissenschaftliche Debatte über die Politikdidaktik bzw. politische Bildung als produktiv. Dabei wird zunächst deutlich, dass sich die sinnbildzentrierte Politikdidaktik bzw. politische Bildung, wie sie von Lange u. a. entwickelt und wie sie in der wissenschaftlichen Debatte vertreten wird, einer eindeutigen Einordnung in diesen Dualismus verweigert. Lange scheint sich und seine Konzeption im Umfeld postmoderner Theoriediskurse zu verorten. Dafür spricht insbesondere der Begründungszusammenhang, den er seinem Plädoyer für einen erweiterten Politikbegriff durch die Aufwertung und Einbeziehung des Alltags zugrunde legt.Footnote 6 In eine ähnliche Richtung weist auch der gemeinsam mit Werner Friedrichs verfasste Beitrag „Bewusstlose Demokratie? Das Bürgerbewusstsein in der (post-) demokratischen Konstellation der Gegenwart“, in dem die eigene bildungspolitische Position in die Diagnose der „Postdemokratie“ eingeordnet wird (Friedrichs/Lange 2012: 53 ff.). Als theoretische Bezugspunkte werden hier Protagonist:innen des postmarxistischen und / oder poststrukturalistischen Denkens wie Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Slavoj Žižek genannt (Friedrichs/Lange 2012: 55 ff.). Gleichwohl wird die Einordnung von Langes Schriften in die theoretische Grundlagendebatte der politischen Bildung und ihrer Didaktik dadurch erschwert, dass Lange auf eine erklärende Beschreibung der Wege der Gewinnung seiner Sinnbildertypologie weitgehend verzichtet. Soweit die Herausbildung der Sinnbilder in Langes Konzept nachgezeichnet werden kann, werden Elemente einer konstruktivistischen Vorgehensweise erkennbar. Die Sinnbilder können, ein wenig in Analogie zu Max Webers Idealtypenbildung, als heuristische Konstrukte gewertet werden, welche die empirische Realität sinngebend ordnen und systematisieren (Weber 1972: 1 ff.).

Diese allgemeine Einordnung in den skizzierten Theoriekontext ist das eine, Langes konkrete Bezugnahme auf die Sinnbilder das andere. Dieser Bezug trägt, gerade im Kontrast zu einer kritisch-reflexiven Grundhaltung, eher affirmative und in einem gewissen Sinne auch „positivistische“ Züge.Footnote 7 Lange nimmt die konstruktivistisch generierten Sinnbilder als weitestgehend unhinterfragten Ansatzpunkt des Bildungsprozesses. Das ist mit Vorteilen und Errungenschaften verbunden, die bereits ausgeführt und gewürdigt wurden. Es ist aber auch, so eine weitere These dieser Arbeit, mit Nachteilen und analytischen bzw. letztlich auch mit bildungstheoretischen und politikdidaktisch problematischen Aspekten verbunden. Auch wenn Lange verschiedentlich explizit von „Sinnbildungen“ spricht (siehe Lange 2008: 431; Lange 2016: 347), so bleiben Facetten der Genese der Sinnbilder unterbelichtet. Das gilt vor allem für die Betrachtung der sozioökonomischen Kontexte, aus denen heraus sich die Sinnbilder entwickeln. In Langes Konzeption ist das „Bürgerbewusstsein“, welches sich aus der Summe der Sinnbilder zusammensetzt, „der mentale Bereich, den die Politische Bildung aktivieren muss, um mündige Bürgerinnen und Bürger zu bilden“ (Lange 2008: 434). Er fasst die Sinnbilder vor allem als „mentale[] Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit“ oder als „mentale Modelle“ und Sinnbildungen explizit als „Kulturtätigkeit“ (Lange 2008: 433). Die Entstehungsbedingungen werden jedoch nicht systematisch in die Analyse einbezogen! Soweit Lange den Wandel des Bewusstseins thematisiert, wird er als Veränderung in der Lebenszeit des Individuums und weitgehend als ein Prozess verstanden, der sich vor allem im Bewusstsein der „Bürger:innen“ abspielt. Was diesen Wandel hervorruft, was ihm vorausgeht und ihn vorantreibt und wie er in die realen alltäglichen Lebensbedingungen eingebunden ist, bleibt ausgeblendet. Gleiches gilt für die historische Dimension von Diskursen und Ideologien, die in die Alltagskulturen und dominanten Erzählungen eingehen und die, wie Gramsci sagt, „von der Vergangenheit ererbt und ohne Kritik übernommen“ wurden (Gramsci 1991 ff.: 1384). Sie enthalten immer auch Elemente der vorherigen Generationenkulturen und haben sich wie „Gesteinsschichten“ im Alltagsverstand der Individuen und der Gesellschaft sedimentiert (Rehmann 2008: 88), die sich „immer wieder verknöchern und nur aus Mangel an Kritik fortbestehen“ (Barfuss/Jehle 2014: 37).

Blickt man aus dieser Perspektive auf Langes Konzept der Sinnbilder, so scheint dies eher der „traditionellen“ Wissenschaftsauffassung im Sinne Horkheimers näher zu stehen, als es einem kritischen Verständnis von politischer Bildung und dem angestrebten Bildungsziel der individuellen Mündigkeit guttut. Indem Lange in seinem Bezug auf die Sinnbilder nicht ihre Genese und innere Struktur reflektiert, verzichtet er auf die systematische Kritik jener Elemente, die dem von ihm selbst formulierten Ziel – politische Mündigkeit – entgegenstehen und bleibt somit auf halber Strecke stehen. Das in vorliegender Arbeit skizzierte, und insbesondere von Antonio Gramsci beeinflusste Konzept vertritt demgegenüber ein politikdidaktisches Verständnis, das sich in der Tradition der „kritischen Theorie“ verortet. Insbesondere die von Gramsci entlehnte Kategorie des Alltagsverstandes bietet die Möglichkeit, Elemente beider Ansätze zu kombinieren. Indem sich die kritische politische Bildung respektive ihrer Didaktik vor allem um die Beobachtung und Erfassung von Meinungen, Normen und Handlungsorientierungen, kurzum: um die Beschreibung der Elemente des Alltagsverstandes und seiner Sinnbilder bemüht, nutzt sie die Potentiale einer empirisch-analytischen Wirklichkeitsbeobachtung, bleibt dabei aber nicht stehen. Denn, indem sie zugleich auf einen affirmativen Bezug auf diese Beobachtungen verzichtet und nach den kritisch-reflexiven Elementen von Alltagsverstand und Sinnbildungen fragt, stellt sie sich in die Tradition einer emanzipativ handlungsorientierten Wissenschaft. In der sorgfältigen Beobachtung vorhandener Sinnbilder rücken die Schüler:innen als Individuen ins Zentrum und werden zum Ausgangspunkt der Bildungsprozesse. Und im kollektiven, auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Prozess der kritischen Reflexion kommt das transformativ-handlungsorientierte Motiv zu seinem Recht.

4.3 Auf der Suche nach den Sinnbildern des Alltags in den Kontroversen um eine kritische politische Bildung

„Spiegel: Herr Professor, vor zwei Wochen schien mir die Welt noch in Ordnung… Adorno: Mir nicht.“

(Der Spiegel 19/1969)

In der bisherigen Argumentation wurden vier Kategorien entfaltet, die das hier entwickelte Verständnis von kritischer politischer Bildung und ihrer Didaktik markieren: der Alltagsverstand, die Sinnbilder sowie die Möglichkeit eines quasi-positivistischen oder eines eher kritisch-reflexiven Bezuges auf die Sinnbilder des Alltagsverstandes. Wie bereits ausführlich dargelegt, kann in Anlehnung an Antonio Gramsci der Alltagsverstand als eine historisch-gesellschaftlich „chaotische Ansammlung disparater Auffassungen“ begriffen werden (Gramsci 1991 ff.: 1396). Diese Sichtweise eröffnet eine gesellschaftspolitische Perspektive auf die in der Politikdidaktik diskutierten Sinnbilder. Die Sinnbilder können als Elemente des von Gramsci entwickelten Alltagsverstandes gefasst werden, auf die sowohl eine quasi positivistische als auch eine eher kritisch-reflexive Bezugnahme möglich ist.Footnote 8 Ein eher positivistischer Bezug nimmt die vorgefundenen Sinnbilder als gegeben an, d. h. er setzt sich nicht mit der Genese und inneren Struktur der Sinnbilder auseinander. Analytischer Ausgangspunkt eines kritisch-reflexiven Bezugs hingegen, so eine der grundlegenden Thesen dieser Arbeit, sind die inneren Spannungen und Inkonsistenzen der Sinnbilder und Sinnbildungen, die in selbstreflexiven Lehr- und Lernverhältnissen bearbeitet, nicht aber von außen als aufklärerische Praxis an die Lernenden herangetragen werden können. Im Lernprozess muss die eigene Eingebundenheit, d. h. die Verwobenheit von Lehrenden und Lernenden in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse mit reflektiert werden. Dabei sind die Sinnbilder und Sinnbildungen als widersprüchliche, stets umkämpfte Prozesse zu begreifen.

Die entwickelten und oben genannten Kategorien sind letztlich Resultat einer relativ abstrakten Analyse. Geprüft werden soll nun, ob sie sich in der aktuellen Debatte um eine kritische politische Bildung respektive ihrer Didaktik bewähren. Deutlich wurde, dass im hier skizzierten Verständnis von Wissenschaft, Bildung und Didaktik dem Begriff der Kritik eine zentrale Bedeutung zukommt. Wie umstritten und kontrovers der Kritikbegriff in der jüngeren Fachdebatte jedoch ist, zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um das im Jahr 2010 herausgegebene Handbuch Kritische Politische Bildung (Lösch/Thimmel 2010). Das Handbuch „bildete […] einen Auftakt, aktuelle Strömungen kritischer Gesellschaftstheorie für die politische Bildungsarbeit zu thematisieren sowie Grundlagen und Erfordernisse einer kritischen politischen Bildung wieder zu verdeutlichen“ (Lösch 2013: 171, Hervorh. im Orig.).Footnote 9 Die maßgeblich von Bettina Lösch und Andreas Thimmel mit der Herausgabe des Handbuches angestoßene Debatte wird zwei Jahre später auf einer vom „Haus am Maiberg“ und dem hessischen Landesverband der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB) in Heppenheim veranstalteten Tagung aufgenommen: Was heißt heute Kritische Politische Bildung? lautete das Thema der Tagung, aus der ein Band mit gleichnamigem Titel hervorging (Overwien/Widmaier 2013: 22 f.). Die Herausgeber des Tagungsbandes, Bernd Overwien und Benedikt Widmaier, betonen in ihrer Einführung, dass sie sowohl über die hohe Teilnehmer:innenanzahl als auch die Bandbreite der eingereichten Beiträge erstaunt gewesen seien (Overwien/Widmaier 2013: 17 ff.). Wider alle Heterogenität würden sich zahlreiche Autor:innen auf die „‘alte kritische Theorie’“ berufen: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer seien „die mit Abstand am häufigsten zitierten Referenzautoren bei der Beantwortung der Frage, was heute Kritische Politische Bildung“ bedeuten könne (Overwien/Widmaier 2013: 23). Eine Akzentsetzung, die mit dem in dieser Arbeit entwickelten Verständnis von kritischer politischer Bildung kompatibel ist.

Einen weiteren Meilenstein in der Debatte um kritische politische Bildung stellt die Frankfurter Erklärung aus dem Jahr 2015 dar (Frankfurter Erklärung 2015). Umfang und Spektrum der Autor:innen und Unterzeichner:innen lassen deutlich werden, dass der von der Erklärung ausgehende Impuls auf große Resonanz stößt (Frankfurter Erklärung 2015). Die Unterstützer:innen stammen sowohl aus dem universitären Umfeld als auch aus der außer-schulischen und schulischen politischen Bildung, kommen aus sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bildungsstätten unterschiedlicher Träger, Gewerkschaften, Jugendverbänden etc.

Die Frankfurter Erklärung versteht sich, so der Politikdidaktiker Andreas Eis, der gemeinsam mit Bettina Lösch, Achim Schröder und Gerd Steffens die Erklärung initiiert hat,

„als ein erstes Ergebnis eines mehrjährigen Diskurses und Arbeitsgruppenzusammenhanges, der zurückgeht auf Workshops und Tagungen zu Fragen gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche, zur Subjektorientierung, zum Verhältnis von Gesellschaftsanalyse, politischer Bildung und politischer Aktion sowie zu den Perspektiven non-formaler politischer Bildung in Forschung, Lehre und Praxis. Die 23 Autorinnen und Erstunterzeichner […] waren ohne ‚offizielles Mandat‘, vielmehr als interessierte Expertinnen in die Konzeption, die Erarbeitung und in das Redigieren der Erklärung eingebunden.“ (Eis 2016: 135)

Mittlerweile haben mehr als 200 politische Bildner:innen aus Wissenschaft und Praxis die Erklärung unterzeichnet (Stand: Juli 2020). Die Erklärung fordert in sechs thematischen Schwerpunkten dazu auf, das Selbstverständnis politischer Bildung neu zu diskutieren. Sie folgt einer klaren Struktur, die im Kern durch die Formulierung pointierter Thesen und daran anschließender Erläuterungen geprägt ist. Entsprechend der Bedeutung der Erklärung sollen im Folgenden die einleitenden Thesen der thematischen Schwerpunkte vorgestellt und kurz kommentiert werden:Footnote 10

These 1::

„Krisen: Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit.“

Angesichts der aktuell vielfältigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen müsse neu über fachdidaktische Prinzipien nachgedacht werden. Herkömmliche und standardisierte Modelle (der Kompetenzorientierung) seien nur äußerst bedingt bzw. nicht in der Lage, derzeitige gesellschaftliche Krisen und Umbrüche zu erfassen und die Möglichkeiten politischer Gestaltung aufzuzeigen und erfahrbar zu machen.

These 2::

„Kontroversität: Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu streiten.“

Politische Bildung ist nicht neutral: Sie ist, wie die Erklärung festhält, ein Resultat von Kämpfen, von Herrschafts- und Machtstrukturen. Das didaktische Prinzip der Kontroversität und die „Diskussion um das Politische“ diene dabei nicht der Herstellung eines Konsenses von unvereinbaren Positionen. Vielmehr gehe es um die Erfassung und Sichtbarmachung differenter Standpunkte. Die Kontroverse und der Streit, das Aufzeigen von grundlegenden Differenzen und die Reflexion über Alternativen seien für demokratische Gesellschaften unverzichtbar.

These 3::

“Machtkritik: Selbstbestimmtes Denken und Handeln wird durch Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheit beschränkt. Diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse gilt es, wahrzunehmen und zu analysieren.”

Auf der Grundlage des in These 2 skizzierten konfliktorientierten Politikbegriffs geht die Frankfurter Erklärung nicht nur davon aus, dass die Gesellschaft insgesamt von Interessensgegensätzen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogen ist, sondern sie thematisiert explizit auch (un-)sichtbare Hierarchien, soziale Ungleichheit in (politischen) Lehr- und Lernverhältnissen, denn: „Aufgabe einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit ist es, ausgeschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar zu machen“ und nach den Gründen für den „Fremd- und Selbstausschluss“ zu fragen.

These 4::

„Reflexivität: Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lernverhältnisse sind nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese Einbindung offen.“

Die eigenen „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen“, so die Erklärung weiter, können weder unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt noch von dem unmittelbaren politischen und sozialen Milieu, in dem sich jede:r bewege, begriffen werden. Die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, die eigene Verwobenheit zu bedenken, den eigenen Standpunkt „transparent und damit kritisierbar“ zu machen, erfordere von Lehrenden und Lernenden ein hohes Maß an (Selbst-)Reflexivität. Die Erklärung geht davon aus, dass gerade diese Bereitschaft für politische Bildner:innen unerlässlich ist, da den Teilnehmenden nur so „Schutz vor Überwältigung“ geboten und ihr „Recht auf Eigensinn und Selbstbestimmung“ gestärkt werden könne.

These 5::

„Ermutigung: Politische Bildung schafft eine ermutigende Lernumgebung, in der Macht- und Ohnmachtserfahrungen thematisiert und hinterfragt werden.“

Politisches Lernen finde an vielfältigen Orten und unter unterschiedlichen Bedingungen statt. Die Handlungsfähigkeit und politische Urteilsfähigkeit würden „in sozialen Interaktionen“ entstehen. Demnach kann politische Bildung nicht auf institutionelle (schulische) Prozesse reduziert werden, da mitunter für eine gelingende Kommunikation das ungezwungene Miteinander entscheidend ist. Nicht nur rationale Betrachtungen, Beurteilungen und Interpretationen trügen zu politischen Positionierungen bei, sondern „Wut und Begeisterung, Ablehnung und Engagement“. Alltäglichen Erfahrungen von Macht und Ohnmacht müsse Raum gegeben werden. Politisches Lernen sei immer auch „mit Kämpfen um materielle Güter und soziale Anerkennung verbunden“. Zudem sei in institutionell gebundenen politischen Lernprozessen „die Beteiligung der Lernenden an Planung und Reflexion“ unerlässlich.

These 6::

„Veränderung: Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern.“

Politische Bildung ermögliche „Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen“. Sie eröffne sowohl Kindern und Jugendlichen als auch Erwachsenen alternative Wege, die Welt zu verstehen und „das Bestehende nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern“.

Soweit die Thesen und zentralen Argumentationen der Frankfurter Erklärung. Dabei begreift die Frankfurter Erklärung sich

„nicht als neuer ‚Grundkonsens‘ für ein bestimmtes ‚politisches Lager‘, sondern als Angebot für die weiterhin dringend notwendige Kontroverse über ein fachliches und professionelles Selbstverständnis, das sich nicht auf einen prozeduralen Minimalkonsens (‚agree to disagree‘) reduzieren lässt.“ (Eis 2016: 135)

Das Handbuch Kritische politische Bildung und die Frankfurter Erklärung und die mit ihnen intendierten Diskursimpulse beruhen auf einem bildungspolitischen Vorlauf, ohne den die Bestrebungen dieser Initiativen kaum adäquat erfasst werden können. Dieser Vorlauf reicht zurück bis in die 1970er Jahre.Footnote 11 In Folge der Auseinandersetzungen um die 1972 vom hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg als Entwurf vorgelegten Hessischen Rahmenrichtlinien lud 1976 der damalige Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württembergs, Siegfried Schiele, namhafte politische Bildner:innen zu einer Tagung nach Beutelsbach ein. Die im Anschluss an die Tagung maßgeblich von Hans Georg Wehling formulierten Grundsätze für die politische Bildung („Beutelsbacher Konsens“) gelten – zumindest für den schulischen politischen Unterricht bis heute – als nahezu unumstößlich. Kurz gefasst lauten die drei Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses: Überwältigungsverbot (keine Indoktrination); Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik im Unterricht (Kontroversitätsgebot); Befähigung der Schüler:innen, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren und sich aktiv zu beteiligen (Schüler- und Handlungsorientierung) (Wehling 1977: 179 f.). Viele gängige politikdidaktischen Konzeptionen der schulischen politischen Bildung fühlen sich dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet. Sie basieren nicht selten auf einem liberalen Demokratieverständnis, das primär die institutionalisierten Formen politischer Willensbildung und Beteiligung in den Blick nimmt (siehe z. B. Detjen 2011: 125 ff.). Nahezu ausgeblendet bleibt in den aktuellen didaktischen Bezugnahmen auf den Beutelsbacher Konsens, ob bewusst oder unbewusst, dessen historische Genese.Footnote 12

Als politikdidaktische Kerndokumente können der Beutelsbacher Konsens und die Frankfurter Erklärung in die Systematik dieser Arbeit eingeordnet werden. So kann die Frankfurter Erklärung als kritische Reflexion des Beutelsbacher Konsens begriffen werden, die Defizite und Leerstellen des Kontroversitätsgebotes, d. h. des zweiten Grundsatzes des Beutelsbacher Konsenses, benennt und füllt. Die Vorstellung, dass die Aufnahme kontroverser Positionen im politischen Unterricht Lernende zu einer freien Urteilsfindung befähigt, erweist sich in vielerlei Hinsicht als fragwürdig. Die Autonomie der Lernenden und Lehrenden wird hier a priori gesetzt. Lernende und Lehrende sind jedoch keine „unbeschriebenen Subjekte“, die in politischen Lernprozessen frei differente Positionen auswählen, gleichberechtigt betrachten und abschließend bewerten. Die vielfältigen, widersprüchlichen Einbindungen der Subjekte in hegemoniale Strukturen, ihre inkohärenten Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen, ihre alltäglichen Praxen, welche eigentlich Ausgangspunkt und immanenter Gegenstandsbereich des politischen Lernprozesses sein müssten, finden keine Erwähnung. Auch die Frage, wie es bestimmten gesellschaftlichen Kräften in komplexen politischen, ökonomischen und kulturellen Prozessen gelingen kann, Gegenhegemonie (etwa gegen undemokratische Verhältnisse) zu entwickeln oder gar hegemonial zu werden und welche Bedeutung dabei dem Alltagsverstand bzw. den Sinnbildern zukommt, sind ein blinder Fleck des Konsenses und der geläufigen Bezugnahmen. Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse laufen in der politischen Bildungsarbeit so Gefahr, unhinterfragt (re)produziert zu werden. Diesem Umstand trägt die Frankfurter Erklärung Rechnung, indem sie explizit hervorhebt, dass das didaktische Prinzip der Kontroversität nicht bei der Dokumentation ähnlicher oder bereits wirkmächtiger Sichtweisen stehen bleiben dürfe (These 2). „Machtgefälle und ungleiche Ressourcen“ müssten problematisiert und „ausgeschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar“ gemacht werden (These 3). Auch die Kategorie der Reflexivität ist ein zentraler Bestandteil der Erklärung: „Politische Bildner_innen sind sich ihrer gesellschaftlichen Einbindung bewusst und nehmen dazu eine kritisch-reflexive Position ein, die sie transparent und damit kritisierbar macht“ (These 4). Darüber hinaus sind auch Aspekte eines kritisch-reflexiven Bezugs auf die subjektiven Voraussetzungen von Lernenden und Lehrenden, auf die widersprüchlichen Elemente von Sinnbildern und Alltagsverstand in den Thesen, wenn auch eher implizit, so doch enthalten.

Insgesamt findet das in dieser Arbeit entwickelte Verständnis einer kritischen politischen Bildung vielfältige Anknüpfungspunkte an die Frankfurter Erklärung. Zugleich versucht es über das dort formulierte Selbstverständnis hinauszugehen, indem Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen für die konkrete Unterrichtspraxis gezogen werden sollen.

4.3.1 Bildungspolitische Ansprüche und normative Essentials kritischer politischer Bildung

Aber auch ein bildungspolitisches Grundverständnis wie es in dieser Arbeit in Übereinstimmung mit wesentlichen Elementen der Frankfurter Erklärung entwickelt wird, sieht sich selbstredend vielfältigen offenen Fragen und Fallstricken ausgesetzt. Diese wahrzunehmen und zu diskutieren, bedeutet, das Postulat der (Selbst-)Reflexivität auf die eigenen Prämissen und Schlussfolgerungen anzuwenden.

Um das hier diskutierte Verständnis von kritischer politischer Bildung zu erläutern, erwies sich ein kurzer Rückblick auf einige Konflikte als sinnvoll, die Meilensteine seiner Entwicklung markieren. In dem gemeinsam für das Handbuch Kritische Pädagogik verfassten Aufsatz „Politische Bildung“ widmen sich Lösch und Eis nicht nur allgemein wirkmächtigen Zugängen und Traditionslinien (schulischer) politischer Bildung, sondern sie skizzieren vor dem Hintergrund der Frankfurter Erklärung und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Beutelsbacher Konsens Rahmenbedingungen und mögliche Fallstricke einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung. Anschaulich legen die Autor:innen dar, dass etwa ein „enger Politikbegriff“, welcher „dem Grundgedanken repräsentativer Parteiendemokratie folgt“, zu kurz greift (Lösch/Eis 2018: 506). Diese Engführung wirke „angesichts neuer Partizipations- und Herrschaftsformen sowie Einflussnahmen (z. B. durch NGOs und Lobbyismus) und veränderten räumlichen und zeitlichen Bedingungen (EU, globale Märkte, digitale Kommunikation)“ antiquiert (Lösch/Eis 2018: 506; siehe auch Eis/Salomon 2014: 5 ff.; Nonnenmacher/Widmaier 2011: 5 ff.). Derzeit werde die Distanz zu den Parteien bzw. zur staatlich-institutionalisierten Politik insgesamt von rechtspopulistischen Gruppierungen und Bewegungen aufgenommen und „für eine Politik der Entsolidarisierung“ vereinnahmt, häufig sogar mit Forderungen nach mehr direkter Demokratie verknüpft (Lösch/Eis 2018: 507). Dies habe freilich nichts gemein mit der Vorstellung eines „politisch aktiven und gebildeten Demos, der Herrschaft kontrolliert, selbst ausübt und minimiert“ (Lösch/Eis 2018: 507). Rechte Kräfte würden eine exklusive „Volksgemeinschaft“ konstruieren und anrufen, die von einem autoritären Staat abgesichert und geführt werden solle (Lösch/ Eis 2018: 507).Footnote 13

Kritische politische Bildung müsse sich der Komplexität der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und ein zeitgemäßes Konzept erarbeiten, was sich nicht auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränke. In Anlehnung an die von Alex Demirović u. a. vertretene These, dass die Krise des neoliberalen Kapitalismus multiple ist und zu neuen Verdichtungen in der Krisendynamik führen kann (Demirović u. a. 2011: 11 ff.)Footnote 14, gehen Lösch und Eis davon aus, dass die kritische politische Bildung vor neuen theoretischen und praktischen Aufgaben steht (Lösch/Eis 2018: 506 ff.).Footnote 15 Sie bedürfe der „kritische[n] Zeitdiagnose“, der „Reflexion struktureller Widersprüche“, andernfalls bleibe „politische Bildung nicht nur inhaltsleer, sondern auch herrschaftsblind“ (Lösch/Eis 2018: 507). Letztlich bestimme das zugrunde gelegte Politik- und Demokratieverständnis sowohl die Ansatzpunkte als auch die Ziele politischer Bildung (Lösch/Eis 2018: 507). Politische Bildung habe – gleich der Demokratie –

„eine normative Dimension: In einem emanzipatorischen Verständnis soll kritische politische Bildung ‚allen Menschen‘ ermöglichen, sich politisch zu beteiligen und in kollektiver Selbstbestimmung Gesellschaft mit zu gestalten.“ (Lösch/Eis 2018: 507)

Es gehe um die Aufnahme „epochale[r] Schlüsselprobleme“Footnote 16 und „gesellschaftliche[r] Krisen“ (Lösch/Eis 2018: 513), was auch Fragen nach dem Gemeinsamen, dem Alltäglichen, dem Zwischenmenschlichen impliziere:

„Wie wollen wir gemeinsam ein gutes, nachhaltiges Zusammenleben führen (buen vivir), Bedürfnisse befriedigen, begrenzte Ressourcen der Erde achten, Menschen und Lebewesen nicht ausbeuten und unterdrücken, eine freie Entfaltung des Individuums gewährleisten und gleichzeitig darum streiten und ringen, was das Gemeinsame ist?“ (Lösch/Eis 2018: 514)

Vor allem junge Menschen erfänden immer wieder neue und kreative Formen der politischen Artikulation, welche in der Lage seien, „verkrustete Strukturen und Denkweisen“ aufzubrechen (Lösch/Eis 2018: 507). Politische Bildung bleibe letztlich „an praktisch gelebte Erfahrungen gebunden“ und brauche die lebhafte Auseinandersetzung, das leidenschaftliche Ringen und Streiten um das richtige Handeln (Lösch/Eis 2018: 507). Dabei dürfe die zentrale Problematik nicht aus dem Blick geraten,

„wer hat zu welcher Zeit und in welchem Kontext politische Handlungs- und Entscheidungsmacht und wer nicht? Wo werden die Trennlinien z. B. gegenüber dem Sozialen und dem Privaten gesetzt und permanent missachtet (Lobbyismus, Überwachung, Selbststeuerung? Wann wird eine Gruppe, ein Prozess oder Diskurs als politisch und legitim anerkannt, wann wird dies verweigert und wer hat die Deutungshoheit darüber? Wo und wie werden Ungleichheits-, Ausschluss- und Ausbeutungsprozesse sichtbar, wann werden sie verschleiert und nicht sprechbar gemacht?“ (Lösch/Eis 2018: 514)

Nicht wenige Politikdidaktiker:innen würden in ihrem Wunsch, mehr Partizipationsmöglichkeiten in Schule und Unterricht zu verankern, demokratiepädagogische Ansätze entwickeln, denen oftmals aber eine gesellschafts- und herrschaftskritische Perspektive fehle (Lösch/Eis 2018: 509 f.). Ähnlich kritisch beurteilt auch der Politikdidaktiker Frank Nonnenmacher solche schulischen Konzepte:

„Das Konzept ‚Demokratielernen‘ hat über weite Strecken die Widersprüchlichkeit des Schulsystems, das eine im Hinblick auf Demokratie defizitäre Struktur aufweist und zugleich zur Demokratie erziehen soll, nicht in der notwendigen Weise zum Ausgangspunkt aller Überlegungen gemacht. Es wird auch häufig mit einem zu undifferenzierten Partizipationsbegriff gearbeitet. Für einzelne in der Praxis hoch adaptierte Modellvorschläge, wie ‚Schülerparlament‘ und ‚Service Learning‘ […], besteht der Verdacht, dass rezeptartige Handlungsanweisungen gegeben werden, die ohne gesellschaftstheoretische kritische Fundierung angewendet werden können, so dass Kernanliegen Politischer Bildung auf der Strecke bleiben.“ (Nonnenmacher 2009: 278 f.)

Besonderen Einfluss erlange die Demokratiepädagogik derzeit über internationale bzw. europäische bildungspolitische Programme:

„Maßnahmen zur Förderung von ‚aktive citizenship‘ werden – v.a. im Kontext des EU-Qualifikationsrahmens – vielfach als Anforderungen an die Individuen formuliert und mit ‚employability‘ verknüpft.“ (Lösch/Eis 2018: 510; siehe auch Widmaier/Nonnenmacher 2011)

Sozioökonomische Strukturen und damit einhergehende Ungleichheiten bzw. Demokratiedefizite der EU würden in vielen dieser Konzeptionen kaum mehr problematisiert; vielmehr werde von den Bürger:innen „lebenslanges Lernen“ gefordert und ihnen werde eine „soziale Eigenverantwortung“ verpflichtend anheimgestellt (Lösch/Eis 2018: 510).Footnote 17 Zahlreiche Projekte des Demokratie- und Engagement-Lernens würden mit ihrem Appell nach mehr sozialem Engagement und persönlichem Einsatz, ob bewusst oder unbewusst, zur Verbreitung hegemonialer neoliberaler Anschauungen beitragen (Lösch/Eis 2018: 510). Die Forderung nach individualisierter Verantwortungsübernahme stelle – zumindest theoretisch – kollektive sozialstaatliche Sicherungssysteme in Frage und verlagere gesamtgesellschaftliche Problematiken in das Verhalten der Subjekte (siehe auch Wohnig 2014; 2017).Footnote 18 Beobachtbar sei in der (außer-)schulischen politischen Bildung „eine deutliche Abkehr von herrschaftskritischen Fragen sozialer Ungleichheit sowie ‚einer utopischen Dimension‘“ (Lösch/Eis 2018: 510). Politische Bildung sei aber nicht herrschaftsfrei, auch befände sich niemand außerhalb von Macht und Herrschaftsverhältnissen; die eigene Eingebundenheit müsse kritisch reflektiert werden (Lösch/Eis 2018: 516). Ein zentraler Aspekt, den auch Christoph Bauer in seinem Aufsatz „Das mündige Subjekt? Zur Aktualität und Notwendigkeit einer kritischen politischen Bildung“ hervorhebt:

„Nicht nur Demokratie, sondern auch kritische politische Bildung ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe – die nie als erledigt betrachtet werden kann. Kritische politische Bildung beschränkt sich nicht auf die formale Überprüfung von Hypothesen, Argumenten und Schlussfolgerungen wissenschaftlicher Arbeiten […], sondern erweitert die kritische Überprüfung und Reflexion auf zu Grunde liegende Prämissen und Ideologien, Gesellschaftstheorien, materielle Grundlagen und schließlich die je eigene, historisch konkret zu kontextualisierende Verstrickung in Herrschaft.“ (Bauer 2013: 26)

Die von Lösch und Eis angestrebte „Rückgewinnung des Politischen“ will nicht zuletzt zu einer „Problematisierung der herrschaftsförmigen Grenzziehungen zwischen Politischem, Gesellschaftlichem und Privatem (Ökonomie und Haushalt)“ beitragen (Lösch/Eis 2018: 510 f.). Wichtige Anregungen habe die politische Bildung hier in den 60er und 70er Jahren erhalten, in der nicht nur „die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Privat und Öffentlichem“, sondern die „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ gefordert worden sei (Lösch/Eis 2018: 511). Historisch galt die Politikwissenschaft als akademische Bezugs- und Ausbildungsdisziplin der politischen Bildung. Dabei, so Lösch und Eis, darf die Bedeutung anderer Bezugswissenschaften aber nicht verkannt werden (Lösch/Eis 2018: 512). Insbesondere erinnern die Autor:innen hier an die Sozialphilosophie und Soziologie, Disziplinen, von denen wichtige Impulse für das emanzipatorische, demokratische und gesellschaftskritische Selbstverständnis der (außer-)schulischen politischen Bildung ausgingen (Lösch/Eis 2018: 512). Exemplarisch führen sie die Studie Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen von Oskar Negt an, welche in den Gewerkschaften, der Arbeiterbildung und im Bereich der kritischen politischen Bildung äußerst kontrovers in den ausgehenden 60er und 70er Jahren diskutiert wurde (Negt 1971). Aber auch Theodor W. Adornos Erziehung zur Mündigkeit sei für das Selbstverständnis des Lernbereiches von entscheidender Bedeutung gewesen (Adorno 1971).Footnote 19 Die den Auseinandersetzungen zugrunde liegende Haltung, so Lösch und Eis, „dass Bildung auch zu Widerspruch und kritischer Selbstaufklärung befähigen kann, ist der politischen Bildung im Laufe der Zeit verloren gegangen“ (Lösch/Eis 2018: 512), deren „Wiederbelebung“ die Frankfurter Erklärung anstrebt (Frankfurter Erklärung 2015).

4.4 Die Europäische Integration und die Bedeutung von Arbeit für Jugendliche als Themenfelder kritischer politischer Bildungsforschung

Nach der Skizze zentraler bildungsstrategischer und normativer Essentials im Selbstverständnis kritischer politischer Bildung sollen im Folgenden zwei Ansätze zu konkreten politikdidaktischen Themenfeldern vorgestellt werden, die – entsprechend der in dieser Arbeit entwickelten Systematik – darauf überprüft werden, inwiefern sie Anknüpfungspunkte für einen kritisch-reflexiven Bezug auf den Alltagsverstand bzw. auf die widersprüchlichen Elemente von Sinnbildern und Sinnbildungen bieten. Zu Beginn wird eine Konzeption aus der europapolitischen Bildung (Erstens) skizziert und im Anschluss eine qualitativ rekonstruktive Studie, die sich mit Orientierungen von Jugendlichen zum Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit (Zweitens) auseinandersetzt, aufgenommen. Zweifelsohne bietet die Forschung der kritischen politischen Bildung ein breites Spektrum an Themen, die geeignet wären, in diesem Zusammenhang herangezogen zu werden. Der hier getroffenen Auswahl liegen zwei Überlegungen zugrunde: Der Aufsatz von Andreas Eis thematisiert in geradezu idealtypischer Art die Mechanismen, wie sich spezifische Hegemoniekonstellationen in Narrative transformieren und in die Wahrnehmungsstrukturen von Lehrenden und Lernenden einziehen. Die Dissertationsschrift von Sophie Schmitt illustriert hingegen am Beispiel des Stellenwerts von Arbeit für Jugendliche auf eindrückliche Weise, wie unverzichtbar für politische Lernprozesse die Anknüpfung an der Entwicklung subjektiver Lernvoraussetzungen ist. Beide Zugänge greifen somit zwei Schlüsselkategorien der vorliegenden Arbeit auf: Während Eis der Kategorie der Hegemonie einen zentralen Stellenwert zuweist, konzentriert sich Schmitt auf die Erforschung von Sinnbildungsprozessen.

Erstens: Der Beitrag „Soziale Kämpfe um politische Alternativen verstehen und gestalten: Hegemoniekritik als Ansatz emanzipatorischer Europabildung“ von Andreas Eis analysiert die Bedeutung der politischen Bildung „bei der Herstellung dominanter Narrationen zur europäischen Integrationspolitik“ (Eis 2018: 118). Die mit der europäischen Integrationspolitik einhergehenden politischen Kämpfe und Konflikte seien bisher in der politischen Öffentlichkeit allgemein, insbesondere aber in der (schulischen) politischen Bildung kaum problematisiert worden (Eis 2018: 119).Footnote 20 Die europabezogene Bildung erwecke den Eindruck, als sei sie „konsensuell von einer affirmativen Grundidee getragen“ (Eis 2018: 119). Ausgeblendet bleibe die Frage, in welchem Europa „wir“ eigentlich leben wollen (Eis 2018: 119). Ob beispielsweise die bislang verfolgte Politik tatsächlich zu mehr Wohlstand und Demokratie oder zu „einem Abbau demokratischer Mitwirkung und sozialer Sicherheit“ führe, werde kaum diskutiert (Eis 2018: 119). Auch der Konflikt darum, wofür überhaupt das vereinte Europa stehe, werde gebetsmühlenartig seit mehr als 60 Jahren in vielen Bildungsmaterialien mit ähnlich lautenden Phrasen – „‘Frieden und Freiheit’“ etc. – übertüncht (Eis 2018: 119). „Weit entfernt von politischer Aufklärung und diskursiver Auseinandersetzung mit den sozialen Verwerfungen und demokratischen Defiziten der EU“, so Eis weiter,

„besteht vielmehr die Gefahr, dass diese Art europapolitischer Hegemonieproduktion tatsächlich die nationalistischen Bewegungen weiter stärken und die Möglichkeiten für ein solidarisches, demokratisches Europa schwächen wird.“ (Eis 2018: 119)

Europa sei im Hinblick auf das gesellschaftliche Selbstverständnis und in der Frage nach der Zukunft europäischer Integration ein Kampffeld (Eis 2018: 120). Wenn Bildung als „das zentrale Feld der Reproduktion, der Weitergabe sozialer und politischer Werte, Normen und Wissensbestände“ begriffen werde, so müsse das Ziel europapolitischer Bildung sein, die mannigfaltigen

„sozialen Kämpfe um unterschiedliche Europaprojekte zu thematisieren und hinsichtlich ihrer Interessen, Strategien, sozioökonomischen Basis, Akteure und deren konsensuellen Verankerung in zivilgesellschaftlichen Strukturen und im Alltagsverstand der Menschen zu verstehen.“ (Eis 2018: 120)

In der Realität würden jedoch die eigentlichen Kampffelder, „hinter den verkürzten Alternativen“ verschwinden und auf die Regulierung technischer Probleme reduziert werden (Eis 2018: 121). Konfliktlinien, Ausschlüsse und die multiplen Krisenerscheinungen blieben (in der Darstellung) ausgespart. Die Europaeuphorie, wie sie von der Europaforschung favorisiert werde und wie sie sich in vielen europapolitischen Bildungsmaterialien sowie im Weißbuch zur Zukunft EuropasFootnote 21 finde, sei kaum geeignet, das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen (Eis 2018: 119 ff.). Meist würden die „offiziellen EU-Szenarien“ wie ein „kulturelles Glaubensbekenntnis“ wirken, das die „eigentlichen Ursachen der tiefgreifenden Wirtschafts-, Finanz-, Währungs- und Demokratiekrise in Europa“ nicht zur Kenntnis nehme (Eis 2018: 123). Dementsprechend fände der von kritischen Wissenschaftler:innen, Gewerkschafter:innen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) geforderte radikale Politik- und Pfadwechsel, wie ihn z. B. die Initiative Europa neu begründen auf der Grundlage eines Aufrufs zu einem breiten Bündnis fordere, keine Berücksichtigung in der Politikdidaktik (Eis 2018: 123).Footnote 22 Mitunter würden zwar die an „idealisierten Modellen des ‚Politikzyklus‘“ orientierten politikdidaktischen Entwürfe zur Europapolitik konfligierende, mit unterschiedlichen Machtressourcen ausgestattete Interessen nennen, eine strukturelle Einordnung in die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse finde jedoch kaum statt (Eis 2018: 125). Der (europäischen) Policy- und Governance-Forschung insgesamt fehle eine herrschaftsanalytische Perspektive (Eis 2018:125 f.). Vor diesem Hintergrund knüpft Eis an den von den Politikwissenschaftler:innen Sonja Buckel, Fabian Georgi, John Kannankulam und Jens Wissel entwickelten methodischen Ansatz einer „historisch-materialistischen Politikanalyse“ (HMPA) an (Buckel u. a. 2014: 43 ff.; Eis 2018: 126).Footnote 23 Dieser Ansatz könne als eine „herrschaftskritische Erweiterung bestehender methodischer Zugänge der Konflikt- und Problemstudien“ gelesen werden (Eis 2018: 127). Die herkömmlichen politikdidaktischen Schlüsselkategorien der Konfliktanalyse – vergleichbar mit jenen in der Policy-Analyse – würden „weniger im Kontext sozialer Kämpfe um Hegemonieprojekte“ betrachtet, auch wenn der Politikdidaktiker Hermann Giesecke durchaus auf „‘latente Konfliktlinien’“ in gesellschaftlichen Kontroversen hingewiesen habe (Eis 2018: 127, Hervorh. im Orig.; siehe auch Giesecke 1997: 26 f.).Footnote 24 Zudem trage die „Analyse von Herrschaftsverhältnissen im erweiterten ‚integralen Staat‘“ zum Verständnis der verdichteten Kräfteverhältnisse bei, zu der Frage, warum und wie hegemoniale Projekte in der Zivilgesellschaft und im Alltagsverstand verankert seien (Eis 2018: 127, Hervorh. im Orig). Buckel setze sich – in Anlehnung an Antonio Gramsci – in ihren „Juridischen Auseinandersetzungen um das ‚Staatsprojekt Europa‘“ mit der insbesondere auch für die Politikdidaktik virulenten Thematik auseinander, „warum […] die Beherrschten […] in ihre eigene Beherrschung einwilligen, sie passiv erdulden oder sogar affirmieren“ (Buckel 2013: 18; Eis 2018: 127). Die Form der Einbindung der Beherrschten werde untersucht mit einem erweiterten Konzept der Hegemonieprojekte, worunter „die Verkettung einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken und Strategien“ zu verstehen sei, „mittels derer Myriaden von Akteur*innen versuchen, ihre partikularen Interessen in allgemeine zu transformieren, um hegemonial zu werden“ (Buckel 2013: 19; Eis 2018: 127 f.). Dabei sei der „Versuch der Organisation von Hegemonie […] umkämpft“, durchzogen von widerständigen Praxen und könne scheitern (Buckel 2013: 18 ff.; Eis 2018: 128). „Die Bedeutung dieses analytischen Ansatzes für die Politische Bildung“, so Eis, „zeigt sich insbesondere mit Blick auf die ambivalente Funktion der Zivilgesellschaft als zentrales Feld der Hegemoniebildung, aber auch hinsichtlich der Potentiale emanzipatorischer Praxis“ (Eis 2018: 128). Die schulische Politikdidaktik habe sich bisher häufig am Politikzyklus orientiert und „das Politische – vielfach herrschaftsblind und in normativ idealisierter Weise – auf ein ‚Problemlösungshandeln‘“ reduziert (Eis 2018: 128). Auch sei bisher wenig in der Politikdidaktik darüber reflektiert worden, wie politische Hegemonie hergestellt werde, d. h. wie und welchen gesellschaftlichen Gruppen und Akteur:innen es gelänge, ihre Partikularinteressen als Allgemeininteresse durchzusetzen (Eis 2018: 128). Die entscheidenden Kämpfe würden in allen drei Sphären des „integralen Staates“ geführt werden.Footnote 25 Die Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft habe in der (schulischen) Politikdidaktik bzw. Politischen Bildung an Bedeutung gewonnen: sei es im Bereich der europabezogenen Bildung, in Konzeptionen für das Globale Lernen und der nachhaltigen Entwicklung sowie in Ansätzen des Demokratielernens (Eis 2018: 128 f.). Der Begriff der Zivilgesellschaft werde dabei nahezu ausschließlich positiv besetzt (Selbstorganisation, zivilgesellschaftliches Engagement etc.). Ausgeblendet bleibt so, dass die Zivilgesellschaft ein widersprüchlicher Ort sozialer Kämpfe und ein „ideologisches Terrain“ ist (Gramsci 1991 ff.: 1264), auf dem sich Herrschaft konstituiert, aber auch angefochten werden kann. Letztlich fordert Eis „eine hegemoniekritische Erweiterung der Konfliktanalyse in der europapolitischen Bildung bei der die realen sozialen Kämpfe um unterschiedliche Europaprojekte im Mittelpunkt stehen“ (Eis 2018: 118).

Zweitens: Während Eis insbesondere Hegemoniekonstellationen und umkämpfte Narrative als zentrale Faktoren einer kritischen europapolitischen Bildung hervorhebt, widmet sich Sophie Schmitt in ihrer Dissertationsschrift Jenseits des Hängemattenlandes aus sozialwissenschaftlicher Perspektive den Themen Arbeit und Arbeitslosigkeit (erster Teil), um die auf diese Problematik bezogenen Orientierungen von Jugendlichen analysieren zu können (zweiter Teil). Abschließend werden die daraus resultierenden Implikationen und Konsequenzen für politische Bildungs- und Lernprozesse aufgezeigt (dritter Teil).

Im ersten Teil nähert sich Schmitt dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand – Orientierungen von Jugendlichen zu Arbeit und Arbeitslosigkeit – über einen interdisziplinären Zugang, in dem sie sich dem Verhältnis von Arbeit, Jugend und politischer Bildung widmet (Schmitt 2017: 17 ff.). Auf der Grundlage von einzelnen sozialwissenschaftlichen Analysen skizziert Schmitt zunächst den Begriff der ArbeitFootnote 26 in der gesellschaftlichen Formation des Fordismus bzw. des Postfordismus: Arbeit habe eine materielle und eine normative Dimension (Schmitt 2017: 24). Sie diene der gesellschaftlichen und individuellen Existenzsicherung und gehöre damit in die Sphäre der Produktion wie der Reproduktion. Zugleich wirke Arbeit „sinnstiftend und vergesellschaftend“ (Schmitt 2017: 24).Footnote 27 Als allgemeine Kategorie könne sie als tätige Auseinandersetzung des Menschen mit der ihn umgebenden menschlichen und natürlichen Welt gefasst werden, welche auf die Menschwerdung und Persönlichkeitsbildung ziele (Schmitt 2017: 21 ff.). In ihrer konkreten gesellschaftlich-historischen Formation variiere sie: So könne für die entfaltete industriekapitalistische Formation, den Fordismus, das Erwerbs- und Lohnarbeitsverhältnis als ein entscheidender Referenzpunkt gelten (Schmitt 2017: 25 ff.). Bis in die 1970er Jahre sei das so genannte NormalarbeitsverhältnisFootnote 28 des im Kern nationalstaatlich organisierten Fordismus ein entscheidendes Kennzeichen der westlichen Industriegesellschaften gewesen. In der Regel habe es auf einem männlichen Alleinernährermodell mit einem standardisierten Beruf und einer kontinuierlichen Arbeitsbiographie beruht (Schmitt 2017: 25 ff.). Aufgrund unterschiedlicher ökonomischer, politischer und sozialer Bedingungen sei der Fordismus und die mit ihm einhergehende wohlfahrtsstaatliche Regulierung in die Krise geraten (Schmitt 2017:27 ff.). Die Krise des Fordismus habe das Normalarbeitsverhältnis in Frage gestellt: Eine Vielzahl von atypischen Beschäftigungsformen, wie etwa Teilzeitbeschäftigungen, geringfügige und befristete Beschäftigung, Leih- und Projektarbeit, aber auch Formen von Solo- und Scheinselbstständigkeit hätten nun das Normalarbeitsverhältnis begleitet, mitunter auch ersetzt, was für einen Teil der Beschäftigten mit einen erhöhten Prekaritätsrisiko verbunden gewesen sei. Im Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft hätten sich neue Organisationsformen des Arbeitsprozesses in zahlreichen Branchen ergeben, die neue Formen indirekter Steuerung und Kontrolle bedeutet hätten (Schmitt 2017: 31 ff.). Diese Entwicklung sei nicht nur mit Subjektivierungs-, Flexibilisierungs- und Entgrenzungstendenzen von Arbeit einhergegangen. Sie erfasse die ganze Lebensführung und münde häufig in der Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Subjekte (Schmitt 2017: 31 ff.). Eine eher nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik weiche zunehmend einer angebotsorientierten Konzeption. Aktive, sozialstaatliche Formen der Arbeitsmarktpolitik, welche aus passiven und kompensatorischen Lohnersatzleistungen bestanden und die letztlich auf eine Eingliederung von Arbeitslosen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse gezielt hätten, wären ab den 90er Jahren durch Strategien einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ersetzt worden (Schmitt 2017: 33 f.). Seither sei der Bezug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen an bestimmte Kriterien (aktive Arbeitssuche, Beschäftigung im Niedriglohnbereich etc.), an die Programmatik des „Förderns und Forderns“ geknüpft. Als Beispiele für diese Entwicklung nennt Schmitt das Arbeits- und Beschäftigungsförderungsgesetz (Job-AQtiv-Gesetz), die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze (Schmitt 2017: 42 ff.).

Im zweiten Kapitel des ersten Teils werden die oben skizzierten Transformationen der Gesellschaft im Allgemeinen und von Arbeit im Besonderen aus der Perspektive von einzelnen soziologischen Gegenwartsdiagnosen im Umbruch zum 21. Jahrhundert untersucht (Schmitt 2017: 48 ff.). Schmitt betont, dass die gewählten soziologischen Analysen in unterschiedlicher Weise sowie mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Zugängen „ihren Fokus auf die spätmoderne oder postfordistische Gesellschaft“ und den damit verbundenen Veränderungen der Gesellschaft, insbesondere jene in der Arbeitswelt, legen (Schmitt 2017: 50). Ein zentrales, verbindendes Element bestehe darin, dass die „neuen Anforderungen an die (arbeitenden) Subjekte und ihre Lebensführung unter dem Gesichtspunkt der Gefährdungen“ problematisiert werden würden (Schmitt 2017: 51).Footnote 29 Von den neuen individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen seien insbesondere Jugendliche betroffen, auf die sich der weitere Blick richtet.

Im dritten Kapitel des ersten Teils beschäftigt sich Schmitt mit dem Verhältnis von Jugend, Arbeit und Identität (Schmitt 2017: 95 ff.). Gleich der Arbeit hänge der Begriff der Jugend von den jeweiligen historischen, sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen, kurz: von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen ab (Schmitt 2017: 96). Im Grunde könne in Folge gar nicht von „der Jugend und den Jugendlichen“ die Rede sein, vielmehr müsse von „unterschiedlichen Jugenden“ gesprochen werden (Schmitt 2017: 97). Wann und wie sich der Übergang von der Jugendphase in das Erwachsenenalter vollziehe, stehe in engem Zusammenhang mit den sozialen Bedingungen und dem Bildungsgrad (Schmitt 2017: 110). Aus entwicklungspsychologischer Sicht sei diese Lebensphase entscheidend für die Orientierung im Hinblick auf und die Einmündung in Erwerbsarbeit, auch wenn deren Abarbeitung nicht auf die Jugendphase beschränkt werden könne: Die Bewältigung dieser normativen Entwicklungs- und Handlungsaufgabe sei „identitätsstiftend“ (Schmitt 2017: 97), während die Nicht-Bewältigung, insbesondere die Arbeitslosigkeit, als bedrohliches und kritisches Lebensereignis wahrgenommen werde und dies nicht nur Auswirkungen auf die Entwicklung einer Zukunftsperspektive habe, sondern generell den weiteren Entwicklungsverlauf bestimmen könne. „Identität ist dabei“, so Schmitt in Anlehnung an den Sozialpsychologen Heiner Keupp u. a.,

„nicht essentialistisch im Sinne eines wahren und unwandelbaren statischen Kerns zu begreifen, sondern als sozial und diskursiv eingebetteter und konstruierter, dynamischer und aktiver Entwicklungsprozess des Individuums.“ (Schmitt 2017: 100)Footnote 30

Die für die Darstellung herangezogenen erziehungswissenschaftlichen, sozial- und entwicklungspsychologischen Konzeptionen werden auch hier in ihrer historischen Einbettung betrachtet. Schmitt betont, „dass sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationen nicht nur Arbeit, sondern auch Identitäts- und Jugendkonzepte wandeln“ (Schmitt 2017: 110). Jugendliche seien von den oben skizzierten Veränderungen in der „postfordistischen Arbeitswelt“ in besonderer Weise betroffen. Denn, so Schmitt,

„ein klar konturierter und wie im Fordismus auch standardisierter Übergang ins Erwerbsleben, die identitätsstiftende Relevanz einer lebenslangen fordistischen standardisierten Berufsbiographie relativiert sich und diffundiert ins Erwachsenenalter hinein.“ (Schmitt 2017: 123)

Auch wenn die Jugendarbeitslosenquote in der Alterskohorte von 15–24 Jahren in Deutschland – gemessen am europäischen Vergleich – recht gering sei, so müsse doch relativierend bedacht werden, dass aufgrund der Bildungsexpansion viele Jugendliche sich in Schule bzw. Ausbildung oder in spezifischen arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen befänden (Schmitt 2017: 111 f.). Zudem sei die Anzahl der Jugendlichen, die atypischen, insbesondere geringfügigen und befristeten, Beschäftigungen nachgehen würden, erheblich gestiegen, die Summe der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse hingegen in dieser Alterskohorte gesunken (Schmitt 2017: 113). Verkannt werden dürfe auch nicht, dass die Erwerbslosigkeit unter Jugendlichen in hohem Maße von regionalen, sozialen und bildungsbezogenen Faktoren abhängig sei (Schmitt 2017: 113 f). Empirische Ergebnisse einschlägiger Jugendstudien hätten gezeigt, dass Arbeit und Arbeitslosigkeit von Jugendlichen als eine gesellschaftlich bedeutsame Problematik wahrgenommen werden, von der sie persönlich betroffen seien (Schmitt 2017: 116 ff.).Footnote 31 Aus krisenhaften Erfahrungen erwachse „eine nicht kanalisierte Wut auf die gesellschaftlichen Verhältnisse“, die „nicht zur Revolte und dem Entwurf gesellschaftlicher Zukunftsutopien“ führe. Jugendliche würden vielmehr versuchen, mit individuellen Strategien diese Erfahrungen zu kompensieren (Pünktlichkeit, Selbstdisziplin etc.) (Schmitt 2017: 120).

Im vierten Kapitel des ersten Teils skizziert Schmitt unterschiedliche (fach-)didaktische Perspektiven auf das Thema Arbeit, um die Relevanz des Feldes für die politische Bildung bzw. Politikdidaktik individuell und gesellschaftlich zu begründen. Schmitt wirft hier einen Blick auf differente Konzeptionen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass Arbeit als eine zentrale und lernbedeutsame Kategorie angesehen wird, wenn auch mit unterschiedlichen didaktischen Begründungen. So erwähnt sie Wolfgang Klafki für die allgemeine Didaktik und Wolfgang Hilligen für die schulische politische Bildung bzw. Politikdidaktik (Schmitt 2017: 124 ff.). Oskar Negt wird exemplarisch als ein Vertreter der außerschulischen gewerkschaftlichen (Erwachsenen-)Bildung angeführt, während Bodo Steinmann beispielhaft für den Bereich der ökonomischen Bildung steht, aber auch Vertreter:innen der arbeitnehmerorientierten sozio-ökonomischen Bildung finden Erwähnung (Schmitt 2017: 124 ff.). Historisch und in ihrer Schwerpunktsetzung seien die (politik-)didaktischen Überlegungen von Klafki und Hilligen im Fordismus verankert (Schmitt 2017: 125 ff.).Footnote 32 Am Ende des ersten Teils betont Schmitt noch einmal, analog zu den Überlegungen von Eis und Salomon, dass das Thema Arbeitswelt und die damit einhergehenden Transformationen von besonderer Bedeutung für die politische Bildung bzw. Politikdidaktik seien (Schmitt 2017: 142). Demnach sind gesellschaftliche Krisen und Transformationsprozesse „politische Lerngelegenheiten“ (Eis/Salomon 2014: 6; siehe auch Steffens 2011). Sie „generieren eine Reihe von Schlüsselproblemen und Krisenerscheinungen mit nachhaltigen Auswirkungen, die so auch die Alltagswelt junger Menschen in elementarer Weise prägen“ (Eis/Salomon 2014: 6 f.).

Es folgt im zweiten Teil der Dissertationsschrift eine eigene empirische Studie, die der qualitativ forschenden Politikdidaktik zugeordnet wird (Schmitt 2017: 146 ff.). Jugendliche aus Berufsschulen und Gymnasien, „mit und ohne direkte Arbeitserfahrungen, bei denen in naher Zukunft eine Entscheidung über den weiteren Lebensverlauf ansteht“, erörtern in einem Gruppendiskussionsverfahren,

„wie sie die dargestellten Transformationen der Arbeitsgesellschaft deuten, wie sie sich angesichts des gesellschaftlichen Wandels hinsichtlich Arbeit orientieren und welche Vorstellungen damit über sich selbst und die sie umgebende gesellschaftliche, politische und ökonomische Wirklichkeit verbunden sind.“ (Schmitt 2017: 146)

Angestrebt, so Schmitt, wird „das Verstehen der Äußerungen und die Rekonstruktion des darin enthaltenden Sinngehaltes“ (Schmitt 2017: 147). Die ethnomethodologische Forschung habe darauf hingewiesen, dass die Sprache unpräzise und von indexikalen Ausdrücken durchsetzt sei. Der „Sinngehalt“ sei weder offen noch direkt erkennbar (Schmitt 2017: 147). Es bedürfe im Interaktionsverlauf der permanenten Interpretation durch die Gesprächsteilnehmer:innen, die von gemeinsamen Erfahrungshintergründen, sozialen Kontexten und alltäglichen Bezügen etc. bestimmt werde (Schmitt 2017: 147 f). Die Problematik des Fremdverstehens potenziere sich bei der Interpretation von Kommunikation zwischen Forscher:innen und Erforschten, da ein gemeinsamer Kontext fehle. Begegnet werde dieser Schwierigkeit nicht nur mit einer offenen Themenstellung, sondern den Jugendlichen werde explizit die Möglichkeit gegeben, sich thematisch frei und in eigener Sprache auszudrücken, was dem Umstand der Indexikalität von Sprache Rechnung tragen solle (Schmitt 2017: 148). Schmitt entscheidet sich in Anlehnung an die Überlegungen des Bildungsforschers und Soziologen Ralf Bohnsack für eine Auswertung mit der Dokumentarischen Methode (Schmitt 2017: 168). Die dokumentarische Interpretation ziele darauf, „implizites Wissen der Gruppenmitglieder explizit zu machen“ (Schmitt 2017: 168), was auf zwei Ebenen des Wissens verweise: auf ein kommunikatives und ein konjunktives Wissen (Schmitt 2017: 168 f.).Footnote 33 Das kommunikative Wissen sei explizit, werde durch Kommunikation intersubjektiv hergestellt, zeichne sich durch Intentionalität und Zweckrationalität aus, zeige den Common Sense auf und sei allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglich. Das konjunktive Wissen hingegen liege nur implizit vor, sei habitualisiertes Wissen, werde auf der Grundlage geteilter Erfahrungen erworben und weise auf den spezifischen, milieugebundenen Kontext hin. Diese konjunktiven Erfahrungsräume würden nur von jenen geteilt, welche über die gleichen Erfahrungen verfügen würden (Schmitt 2017: 168 ff).

Von besonderer Bedeutung sind die Schlussfolgerungen, die Schmitt aus der qualitativen empirischen Studie für die politische Bildung zieht: Die Rekonstruktion der Orientierungen von Jugendlichen habe gezeigt, dass die Orientierungsschemata und der Orientierungsrahmen nicht zuletzt Ausdruck von milieuspezifischen Lebenserfahrungen seien, was in politische Lern- und Bildungsprozesse einfließe (Schmitt 2017: 400 ff.). Jugendliche, die über hinreichende familiäre, finanzielle und persönliche Ressourcen verfügen würden, nähmen auf konjunktiver Ebene die ‚neuartige Arbeitswelt‘ und die damit einhergehenden Flexibilisierungsansprüche etc. eher als „Freiheitsgewinne“ und/oder „Entwicklungsversprechen“ wahr und seien davon überzeugt, diese Hürden auch überwinden zu können (Schmitt 2017: 401). Heranwachsende hingegen, die nicht auf die gleichen sozialen und ökonomischen Ressourcen der Erstgenannten zurückgreifen könnten bzw. bereits von Prekaritätsrisiken und prekären Beschäftigungen betroffen gewesen seien, würden sich häufig in ihren Leistungen nicht anerkannt und überfordert fühlen bzw. kaum Möglichkeiten sehen, den steigenden Leistungs- und Qualifikationsdruck, der mit dem derzeitigen Wandel der Arbeitswelt einhergehe, zu bewältigen (Schmitt 2017: 403 ff.). Bei nahezu allen Jugendlichen wiederum könne eine „Privatisierung und Entpolitisierung gesellschaftlicher Problemlagen“ konstatiert werden (Schmitt 2017: 404). Arbeitslosigkeit, aber auch allgemein die Chancen und Risiken bei der Realisierung eigener Lebens- und Arbeitsperspektiven würden nicht auf strukturelle Ursachen zurückgeführt, sondern – gleich den gängigen gesellschaftlichen Diskursen um Eigenverantwortung und Selbstsorge – individualisiert und nicht mit dem Abbau des Sozialstaates kontextualisiert werden (Schmitt 2017: 405 f).

Abschließend kommt Schmitt zu dem Schluss, dass das Thema Arbeit für die politische Bildung von besonderer Relevanz sei:

Arbeit ist ein wesentlicher Bestandteil jugendlicher Identitäts- und Zukunftsentwürfe und mit kommunikativem, mit gesellschaftlich-diskursiv grundiertem Wissen, mit Vorurteilen, Ideologien verbunden, aber auch mit in der kollektiven Handlungspraxis verankerten Ängsten, Sehnsüchten, Optimismus oder Sorgen.“ (Schmitt 2017: 408)

Analytisch könnten Lern- und Bildungsprozesse voneinander unterschieden werden. Politische Bildung könne als politisches Lernen begriffen werden, was „auf die Kommunikation über das Politische mit dem Ziel des Aufbaus, der Erweiterung und ggf. auch der Korrektur von kommunikativem Wissen über politische Sachverhalte“ ziele (Schmitt 2017: 408, Hervorh. im Orig.). Das Verständnis einer fundamentaleren politischen Bildung setze an den im Habitus verankerten Orientierungen an, was die Orientierung am Subjekt impliziere (Schmitt 2017: 409 ff.). Gesellschaftlichen Schlüsselproblemen wie dem Thema Arbeit käme dabei eine besondere Bedeutung zu, da es an dem von Individuen einer Gruppe, eines Milieus oder einer Klasse durch geteilte Erfahrungen und Kulturen erworbenen konjunktiven Wissen andocke.

Die recht ausführliche Rekonstruktion der politikdidaktischen Analysen von Eis und Schmitt sollten illustrieren, dass Ansätze kritisch-emanzipatorischer politischer Bildung bzw. Didaktik, wie sie in der Frankfurter Erklärung angedacht und auch in dieser Arbeit entwickelt werden, sich sowohl in der Erschließung zentraler Politikfelder (wie der Europäischen Union) als auch in qualitativ empirischen Studien zur Erforschung von Orientierungen und Sinngehalten bewähren: Eis erörtert anschaulich, dass die mit der europäischen Integrationspolitik einhergehenden politischen und sozialen Kämpfe/Konflikte sowie die damit verbundene Frage, wie ein vereintes Europa ausgestaltet werden soll, in die europapolitische Bildung kaum Eingang gefunden hat (Eis 2018: 118 ff.). Die bildungspolitische Affirmation vieler europapolitischer Bildungsmaterialien – „Ja zu Europa“ – wirke wie ein „kulturelles Glaubensbekenntnis“ (Eis 2018: 123), das den von kritischen Wissenschaftler:innen, Gewerkschafter:innen und Aktivist:innen dringend geforderten radikalen Politik- und Pfadwechsel einfach ausblende. Vertrauen in die Europäische Union könne nicht durch die Reproduktion eines hegemonialen Konsenses gewonnen werden; eine macht- und herrschaftsanalytische Perspektive fehle. Die europapolitische Bildung bedürfe dringend einer hegemoniekritischen Erweiterung der Konfliktanalyse. Eis legt hier überzeugend dar, dass ein kritisch-politisches Bildungsverständnis sich um die Ausleuchtung des gesamten Diskursfeldes bemühen muss. So kann es gelingen, Standpunkte, Sichtweisen und Interessen in den Bildungsprozess einzubeziehen, die sich oftmals jenseits des Mainstreams und im Schatten der hegemonialen Aufmerksamkeit entwickeln.

Die Studie von Schmitt erforscht hingegen rekonstruktiv die Orientierungen von Jugendlichen zum Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit. Die kritische politische Bildung müsse der Wirkmächtigkeit von Diskursen entgegenwirken, die gesellschaftspolitische Problematiken – wie Arbeitslosigkeit – zu einer privaten Herausforderung umdeuten und sie so in den Bereich der Eigenverantwortung verlagern würden, d. h. „die im Common Sense verankerten unternehmerischen Selbst-, Menschen- und Gesellschaftsbilder nicht zu affirmieren, sondern sie zu reflektieren, irritieren und Alternativdeutungen anzubieten“ (Schmitt 2017: 426). In Folge gibt die Studie den historischen Entwicklungen und der Genese der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und (Alltags-)Kulturen viel Raum. Damit fokussiert sie auf jene gesellschaftlichen Bedingungen, die der Genese der Orientierungen der Jugendlichen zugrunde liegen. Die Subjekte des Lernprozesses werden so zum Ausgangs- und Referenzpunkt politischer Bildung. Durch die Aufnahme von Karl Mannheims Differenzierung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen gelingt Schmitt eine analytische Trennung, die nicht nur der hermeneutischen Unterscheidung zwischen latenter und manifester Bedeutung von Sinn-Konstruktionen ähnelt. Sie kommt auch Gramscis Vorstellungen vom Alltagsverstand recht nahe, denn im Alltagsverstand haben sich sowohl rationale Denk- und Handlungsweisen als auch „unterschiedliche historische Epochen wie Gesteinsschichten“ und Überzeugungen sedimentiert (Rehmann 2008: 88), die „sich immer wieder verknöchern und nur aus Mangel an Kritik fortbestehen“ (Barfuss/Jehle 2014: 37). Abschließend konstatiert Schmitt, dass Arbeit „politisch reguliert, regulier- und damit auch veränderbar“ ist und politische Bildung „nur dann nachhaltig wirken (kann), wenn sie […] zum politischen Handeln ermutigt und befähigt“ (Schmitt 2017: 426).

Insgesamt können beide Herangehensweisen als Beleg für die Produktivität der in dieser Arbeit hervorgehobenen Kategorien – Alltagsverstand und Hegemonie sowie die Differenzierung zwischen einem affirmativen und einem kritisch-reflexiven Zugang zu Sinnbildungsprozessen – im politischen Bildungsprozess gelesen werden. Beide sind durch eine explizite Subjektorientierung gekennzeichnet, die gleichwohl nicht unkritisch, sondern reflexiv ausfällt. Und beide stellen in Rechnung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die jeweiligen Hegemoniekonstellationen die subjektiven Einstellungen in entscheidender Weise prägen, die in politischen Bildungsprozessen von zentraler Bedeutung sind.

4.5 Von Bewusstseinsbildungs- und politischen Lernprozessen zum Wunsch zu handeln: Schlussfolgerungen für eine handlungsorientierte Politikdidaktik

Das folgende Unterkapitel übernimmt Passagen aus meinem 2020 veröffentlichten Aufsatz: „Vom Wunsch zu handeln. Überlegungen zu einer handlungsorientierten Politikdidaktik“ (Hammermeister 2020: 142 ff.). Selbstzitate werden nicht als solche ausgewiesen.

„Me-tis Schüler Do verfocht den Standpunkt, man müsse an allem zweifeln, was man nicht mit eigenen Augen sähe. Er wurde wegen dieses negativen Standpunktes beschimpft und verließ das Haus unzufrieden. Nach einer kurzen Zeit kehrte er zurück und sagte auf der Schwelle: Ich muss mich berichtigen. Man muss auch bezweifeln, was man mit eigenen Augen sieht. Gefragt, was denn den Zweifeln eine Grenze setze, sagte Do: Der Wunsch zu handeln.“

(Bertolt Brecht, GBA 1995, Bd. 18: 137)

Die Thematisierung der Kontroverse um den Kritikbegriff in der Fachdebatte, die Überlegungen zu bildungspolitischen Ansprüchen und normativen Essentials kritischer politischer Bildung sowie die Beiträge von Eis und Schmitt verdeutlichen, dass sich die hier vertretene Unterscheidung zwischen einer traditionellen, eher affirmativen und einer kritisch-reflexiven Grundorientierung in den Kerndokumenten politischer Bildung, dem Beutelsbacher Konsens und der Frankfurter Erklärung, widerspiegeln. Auch wenn die einfache Entgegensetzung beider Dokumente zu kurz greift, so kann doch im Hinblick auf eine kritische politische Bildung die Frage aufgeworfen werden, ob der Beutelsbacher Konsens in seinen allgemeinen Grundsätzen, insbesondere aber in seinem zweiten Grundsatz („Kontroversitätsgebot“) und in seiner Genese, die herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse strukturell mitreflektiert oder ob er diese nicht weitgehend ausblendet (Hammermeister 2016: 171 ff.). Auch die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den in ihr gegebenen Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung wird nicht thematisiert. Genau darum bemüht sich aber die Frankfurter Erklärung, indem sie darauf insistiert, dass kritische-emanzipatorische politische Bildung

„Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen (ermöglicht), um Wege zu finden, das Bestehende nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern. Im Handeln entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu begründen.“ (Frankfurter Erklärung)

Zugleich sollte gezeigt werden, dass die Frankfurter Erklärung nicht in der Entwicklung allgemeiner Grundsätze verharrt, sondern sich das Primat kritischer Reflexion in unterschiedlichen, politisch bedeutsamen Themengebieten bewährt. Exemplarisch wurde dies am Beispiel des Europäischen Integrationsprozesses und an einer rekonstruierenden Studie, welche sich den Orientierungen von Jugendlichen zum Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit widmet, diskutiert. Deutlich wurde so, dass die Einbeziehung marginalisierter Standpunkte, kritischer Narrative und Aspekte, also die Erzählungen jenseits des Mainstreams, den Bildungsprozess nicht nur inhaltlich bereichern, sondern eine kritisch-reflexive Bearbeitung der Themen so überhaupt erst ermöglicht wird. Gezeigt werden konnte ebenfalls die Notwendigkeit der Rezeption sozialstaatlicher Bilder von Jugendlichen für eine kritisch-reflexive Ausrichtung bei der Thematisierung von Arbeit (im Unterricht). Im Schmittschen Ansatz vermag vor allem die Betonung der Genese und der Bedeutung der sozial-ökonomischen Kontextbedingungen für die Entwicklung der Orientierungsmuster von Jugendlichen zu überzeugen. Auch hier werden Überschneidungen mit dem materialistischen Konzept des Alltagsverstandes von Gramsci deutlich, für den die subjektiven Welterklärungen der Individuen stets als das historische Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen sind.

Doch so beeindruckend die hegemoniekritische Bearbeitung eines einschlägigen Politikfeldes durch Eis und die qualitativ-rekonstruktive Einstellungsforschung bei Schmitt auch ausfallen, aus der Perspektive einer praxisorientierten kritischen politischen Bildung verharren beide in einer gewissen Ferne zu praktischen politikdidaktischen Fragen und Problemen der Unterrichtsplanung. Damit gerät ihnen auch das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis der politischen Bildung aus dem Blick. Hinsichtlich der Vorbereitung, Organisierung und Auswertung praktischer (außer-)schulischer Bildungs- und Lernprozesse hinterlassen beide eine signifikante Leerstelle. Mit anderen Worten: Sie verzichten auf eine politikdidaktische Konkretisierung der paradigmatischen und bildungsstrategischen Gedanken. Von diesem Punkt aus muss die Debatte um eine kritische politische Bildung fortgeführt werden, will sie bis in die schulische Unterrichtspraxis, aber auch in die außerschulische konkrete Konzeptionalisierung von politischen Lernprozessen vordringen.

Das Ansinnen einer Ergänzung und Fortführung eines kritisch-reflexiven Ansatzes benötigt dezidierte Vorstellungen von politischen Bewusstseinsbildungs- und Lernprozessen und nimmt das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis auf. Hier erweist sich das Planungsmodell des Politikdidaktikers Frank Nonnenmacher als besonders vielversprechend. Es stellt ein Konzept zur didaktisch reflektierten Planung eines Lern- bzw. Unterrichtsvorhabens dar und kann in dieser Hinsicht einen gewissen Alleinstellungsanspruch für sich geltend machen. In den bildungstheoretischen und politikdidaktischen Überlegungen zu diesem Modell stehen die vorgefundenen Vorstellungen, (Vor-)Urteile und Bewertungen der Subjekte im Zentrum des Lernprozesses, aber auch deren kritische Handlungsfähigkeit. Im Nachfolgenden soll das von Nonnenmacher entwickelte fachdidaktische Planungsmodell, das insbesondere in kritischer Auseinandersetzung mit den konfliktorientierten politikdidaktischen Ansätzen der ausgehenden 60er und 70er Jahre entstanden ist, erörtert werden. In diesem Zusammenhang soll zudem kurz die politikdidaktische Kontroverse jener Tage um eine konfliktorientierte Konzeption Erwähnung finden, auf deren Grundlage Nonnenmacher sein fachdidaktisches handlungsbezogenes Planungsmodell entwickelt, das zugleich auf langjährigen unterrichtspraktischen Erfahrungen beruht (Nonnenmacher 1996b).Footnote 34

Dem Postulat der Einheit von Theorie und Praxis folgend, wirft Nonnenmacher in seiner 1984 erschienenen politikdidaktischen Dissertationsschrift in Anlehnung an Giesecke die Frage auf, wie „aus dem antinomischen Verhältnis“ von „Lernen und Handeln“ „ein dialektisches“ werden könne (Giesecke zit. nach Nonnenmacher 1984: 114). Sein zentrales Anliegen ist dabei, Möglichkeiten und Grenzen einer handlungsorientierten politischen Didaktik auszuloten. Schule und Leben würden im Regelfall von Schüler:innen als zwei voneinander getrennte Sphären wahrgenommen werden. Zwar sei in fachdidaktischen Erörterungen, Curricula etc. vielfach „vom ‚mündigen Bürger‘, von ‚Teilhabe und Teilnahme an demokratischen Prozessen‘, von ‚Selbst- und Mitbestimmung‘“ die Rede, werfe man jedoch einen Blick auf die konkrete Praxis, würden sich diese Forderungen „häufig als leere Worthülsen“ erweisen, deren weitestgehende Folgenlosigkeit für den konkreten Unterricht offensichtlich sei (Nonnenmacher 1984: 8). Die politikdidaktische Forschung bzw. konkrete Unterrichtsplanung müsse – wolle sie die Schüler:innen zu wirklicher demokratischer Handlungsfähigkeit befähigen – die oben genannte Kluft zwischen Schule und Leben in der Wahrnehmung der Lernenden überwinden.

Als „eine wichtige Wende“, so Nonnenmacher weiter, kann in der Politikdidaktik die sich ab Ende der 1960er Jahre etablierende kategoriale Konfliktorientierung gewertet werden (Nonnenmacher 1984: 60). Entgegen der These vieler Politikdidaktiker:innen legt Nonnenmacher dar, dass „der Konflikt“ in dieser Zeit nicht „entdeckt“ worden sei (Nonnenmacher 1984: 60). Vielmehr habe der Konflikt in einer Zeit gesellschaftskritischer Bewegung eine Bedeutungsverschiebung erfahren, die es ermöglicht habe, ihn „nicht mehr nur als [ein] den Interaktionsprozess störendes, sondern geradezu konstitutives Element [der] gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen“ (Nonnenmacher 1984: 60). Explizit verweist Nonnenmacher in diesem Zusammenhang auf den Ansatz des Politikdidaktikers Rolf Schmiederer, der immer wieder auf die strukturellen Bedingungen und grundlegenden Antagonismen der bestehenden Gesellschaft insistiert habe, die nicht „im kompromisshaften Verhandeln harmonisch“ aufgelöst werden könnten. Demokratie sei „nicht ein bereits ein für allemal gegebener Zustand“, sondern müsse erst erreicht werden (Nonnenmacher 1984: 60). Schmiederer habe die bestehende Gesellschaft „als eine veränderungswürdige und -bedürftige“ beschrieben, „die durch überflüssige Herrschaft von Menschen über Menschen gekennzeichnet“ sei (Nonnenmacher 1984: 60). Demokratische Verhältnisse müssten demnach erst errungen, der Anspruch auf Demokratie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert werden.Footnote 35 Politischer Unterricht sei von Schmiederer und anderen linksliberalen Konflikt-DidaktikernFootnote 36 der ausgehenden 60er und Anfang der 70er Jahre als Aufklärung über die bestehenden Verhältnisse verstanden worden (Nonnenmacher 1984: 60 ff.).

Dass diese Aufgaben- und Funktionsbestimmung politischer Bildung auf erheblichen Widerstand stieß, überrascht kaum. Zu welchen Auseinandersetzungen konfliktorientierte Ansätze führten, lässt sich am Konflikt um die 1972 vom hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg als Entwurf vorgelegten neuen Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre verdeutlichen: Sie forderten, politische Bildung müsse einen Beitrag zu dem nicht eingelösten Versprechen der Emanzipation und Demokratisierung leisten (Hammermeister 2016: 171 ff.). Die Rahmenrichtlinien drangen auf die Einführung eines Konfliktbegriffes, der sich nicht pragmatisch auf den Konfliktcharakter einzelner politischer Sachverhalte beschränkte, sondern die Analyse prinzipieller Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einschloss. Führt man sich vor Augen, auf welche Gegenwehr dieses Bemühen bei konservativen gesellschaftlichen Kräften stieß, so lässt sich erahnen, wie nahezu unmöglich es schien, „einen darauf fußenden Handlungsbegriff zu legitimieren“ (Nonnenmacher 1984: 62). Für eine Politikdidaktik, welche sich dem Problem der politischen Praxis und der Aktion stellen wollte, war das vor allem mit einem Verlust gesellschaftlicher und institutioneller Akzeptanz verbunden (Nonnenmacher 1984: 62). Bereits 1971 hatte Schmiederer in seiner Dissertation Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des Politischen Unterrichts darauf hingewiesen, dass bereits vorhandene Spannungen und Widerstände an Schärfe gewinnen würden, wenn politische Bildung sich nicht mit der kritischen Reflexion begnüge, sondern sie zu gesellschaftskritischem Engagement und politischem Handeln aufriefe, das „den Rahmen der ‚allgemein anerkannten Spielregeln‘“ verlasse (Schmiederer 1971: 54). Dies könne leicht „zur Existenzfrage für die Politische Bildung als Institution wie auch für Lehrer und Schüler werden“ (Schmiederer 1971: 54). Politische Bildung befände sich damit jedoch in einem Widerspruch: Lernen und Erfahrung wären miteinander verbunden; das kognitive ‚Wissen‘ müsse ergänzt werden um die „praktische Aktivität“ und bedürfe der kritischen Reflexion (Schmiederer 1971: 54). Unterminiere der Unterricht die „Realisierung politischer Ziele“ oder werde die „politische Aktivität“ als etwas der politischen Bildung Abträgliches verworfen, so untergrabe die politische Bildungsarbeit ihr emanzipatorisches Anliegen (Schmiederer 1971: 54). Politischer Unterricht käme aber auch nicht umhin, „die engen Grenzen für politische Aktivität und politische Mitbestimmung unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen mit zu reflektieren“ (Schmiederer 1971: 50). Diese kognitiven „Einsichten“ seien notwendig, denn nur dadurch könne „das viel beschworene ‚Scheitern‘ und die darauffolgende Resignation“ vermieden werden (Schmiederer 1971: 50). Reichweite und Grenzen möglicher Handlungen in der Institution Schule waren damals heftig umstritten. Dabei geht Nonnenmacher im Anschluss an Schmiederer davon aus, dass eine bisweilen „resignative Einschätzung“ und „zurückhaltende Vorsicht“ eher unter gesellschaftskritischen Politikdidaktiker:innen verbreitet gewesen sei (Nonnenmacher 1984: 63). Zurückgeführt werden könne dies auf einen „verkürzten Handlungsbegriff“, der Handlungsorientierung vor allem mit „‘Demonstration’, ‚Happening‘, ‚politischer Streik‘“ u. ä. assoziiert habe und damit zu eng den damals aktuellen Konflikten („Notstandsgesetzgebung, Vietnam-Krieg, Pressekonzentration, Ausbeutung der 3. Welt usw.“) verhaftet geblieben sei (Nonnenmacher 1984: 63 f.). Vor diesem Hintergrund entwickelt Nonnenmacher eine handlungsorientierte Konzeption, die nicht leugnet, dass die demokratischen Zielsetzungen politischer Bildung im Widerspruch zu den strukturellen Funktionen der hierarchischen Institution Schule stehen (Nonnenmacher 2009: 269 ff.). Sie will aber zugleich Lehrende und Lernende nicht ihrer Ohnmacht überlassen und handlungsfähig machen.

Es ist das wissenschaftliche wie bildungspolitische Verdienst von Frank Nonnenmacher, die Subjekt-, Konflikt- und Handlungsorientierung als Gegenstände der politischen Bildung profiliert und verteidigt zu haben, als diese auf den heftigsten und nicht immer nur diskursiv vorgetragenen Widerstand konservativer und status-quo-orientierter Vertreter:innen des Lernbereiches stieß. Dass aus dieser Perspektive entwickelte Planungsmodell profitiert dabei nicht zuletzt von seinem umfangreichen Erfahrungsschatz, den der Autor in der beruflichen Praxis erworben hat. Die praxisorientierten Grundannahmen und -züge des Nonnenmacherschen Planungsmodells sollen im Folgenden skizziert werden. Zunächst wird konstatiert, dass es für den politischen Unterricht wenig „praxistaugliche Modelle für die Organisation von Lernprozessen“ gebe, „die politische Bildung intendieren“ (Nonnenmacher 1996b: 183). Notwendig sei jedoch ein fachdidaktischer Praxisbezug (Nonnenmacher 1996b: 185). Das entworfene Planungsmodell skizziert den Planungsprozess sowie den Verlauf des Unterrichtsvorhabens in idealtypischer Abstraktion, d. h. dass der Ablauf so beschrieben wird, „wie er verlaufen könnte, er also einen ‚Typus‘ darstellt, dem gegenüber jedes reale Einzelbeispiel jedoch Abweichungen aufweist“ (Nonnenmacher 1996b: 185). Nonnenmacher versteht sein Modell als ein prozessuales, das in „ständiger Revision in generalisierender Absicht“ dargestellt werde (Nonnenmacher 1996b: 185). Einige zentrale Ansprüche, die das Planungsmodell einlösen müsse, werden formuliert:

  1. 1.

    Die Gegenstände des Lernens müssten dem konflikthaften Verlauf des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses entnommen werden.

  2. 2.

    Dabei seien Kenntniserwerb und Wissensvermittlung unverzichtbar.

  3. 3.

    Konflikte sowie Probleme müssten anhand ihres Bedeutungsgehaltes für das Zusammenleben der Menschen ausgewählt werden („exemplarisches Prinzip“).

  4. 4.

    Unabdingbar sei „eine arbeitsteilige Organisation des Planungs- und des Lernprozesses“.

  5. 5.

    Auch müsse der Unterricht genug Raum für Reflexionen eigener biographisch erfahrener krisenhafter Übergänge lassen.

  6. 6.

    Es sollten Möglichkeiten für eine möglichst umfassende Eigentätigkeit bei der Informationsbeschaffung und Recherche gegeben werden, die je nach Alter der Schüler:innen von einem (gemeinsamen) Bibliotheksbesuch bis zum Einholen von Expert:innenmeinungen etc. reichen könne.

  7. 7.

    Abschließend betont Nonnenmacher, dass in einem Planungsmodell die inhalts- und die prozessbezogene Lernebene in gleicher Weise berücksichtigt werden müssten, d. h. sowohl die analytisch-reflexive Erkenntniserweiterung als auch die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit nicht vernachlässigt werden dürften (Nonnenmacher 1996b: 184 f.).

Für den konkreten Planungsprozess bevorzugt Nonnenmacher den Begriff des „‘Vorhabens’“, weil er im Unterschied zur „‘Unterrichtseinheit’ die relative Offenheit für Alternativen“ signalisiere und den Prozess mitdenke (Nonnenmacher 1996b: 186). Bei der gemeinsamen Auswahl und Bearbeitung eines Problems würden die Kategorien latenter und manifester „Konflikte“, der „Aktualität“ und der „Exemplarik“ sowie der „Zukunft“ eine Rolle spielen (Nonnenmacher 1996b: 186 ff.). Der eigentliche Beginn des sich in mehrere Phasen untergliedernden Unterrichtsvorhabens sei die Entwicklung einer Fragestellung bzw. einer Problem-, Konflikt- oder Fallformulierung (Nonnenmacher 1996b: 188 ff.). Bei der Darstellung der konkreten Planung hält Nonnenmacher explizit fest, dass in der sich anschließenden Phase des Unterrichtsvorhabens allen Beteiligten klar sein muss, „dass Meinungen auch dann geäußert werden können, wenn sie auf unsicherem Boden stehen, weil in der Folge grundsätzlich alle Positionen auf dem Prüfstand stehen werden“ (Nonnenmacher 1986b: 189). Unwürdigen unterrichtlichen Frageprozeduren müsse ein Ende gesetzt werden. Ziel der Arbeit von Lernenden und Lehrenden sei zunächst die Entwicklung von Fragen und nicht von Antworten, die es immer wieder auf allen Ebenen zu reflektieren gelte (Nonnenmacher 1986b: 189 ff.). Wichtig sei zudem, dass alle Beteiligten sich jederzeit – z. B. in Form einer Wandzeitung – den gesamten Prozess vergegenwärtigen könnten und „die willkürliche Reduzierung auf abgeschlossene 45 Minuten-Einheiten durchbrochen“ werde (Nonnenmacher 1996: 193).

Systematische Schüler:innen-, Konflikt-, und Handlungsorientierung, Offenheit des Unterrichtsvorhabens und der -ergebnisse sowie die Bereitschaft zur permanenten Revision bereits vorhandener Erkenntnisse stehen für das Planungsmodell von Frank Nonnenmacher. Es bezieht sich strategisch auf die subjektiven Vorstellungen der Lernenden und macht ihre Weiterentwicklung zum Gegenstand von gemeinsamen Lernprozessen. Was allerdings trotz dieses systematischen Bezugs auf die Vorstellungen unterbelichtet bleibt, ist die Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen die Entstehung und Entwicklung dieser Vorstellungen vor Beginn des Lernprozesses geprägt haben. Hier weist das Planungsmodell eine Leerstelle auf. Die Genese der subjektiven Lernvoraussetzungen, mit denen die Lernenden in den Lernprozess eintreten, prägt diesen jedoch in erheblichem Maße. Insofern erscheint die Ergänzung des Planungsmodells durch die Analyse seiner Vorbedingungen zum tieferen Verständnis von Prozess und Resultat des Lernens sinnvoll.

Hier sind m. E. die generellen Überlegungen von Antonio Gramsci, insbesondere aber seine Ausführungen zum Alltagsverstand und zur Hegemonie, hilfreich. Ausgehend von den Erfahrungen, die Gramsci in der Turiner Rätebewegung in den Jahren 1919/20 gewonnen hat, erklärt er die kritische Analyse des Alltagsverstandes zum wichtigsten Ausgangspunkt einer „Philosophie der Praxis“ (Gramsci 1991 ff.: 1395). Diese methodische Forderung nimmt die im Alltagsverstand aus der Vergangenheit ererbten Erfahrungen und Einsichten ernst und basiert auf einem Verständnis kritisch-kollektiver Bildungsprozesse. In Suchprozessen gilt es die Blockierungen und Widersprüche ausfindig zu machen, welche die alltäglichen Praxen und Selbstverständlichkeiten der Menschen bestimmen und die sich gesellschaftlich emanzipativen Projekten entgegenstellen. Gramsci legt dar, dass es nicht einen einzigen Alltagsverstand gibt, er sei vielmehr „eine Kollektivbezeichnung wie ‚Religion‘“, „ein historisches Produkt und ein geschichtliches Werden“, dessen massenhaft wirksamen Elemente es in kritisch-kollektiven Bildungsprozessen für jede Zeit neu zu bestimmen gelte (Gramsci 1991 ff.: 1377). Dabei bezeichnet er den Alltagsverstand als „Philosophie der Nicht-Philosophen“ (Gramsci 1991 ff.: 1393), als eine „unkritisch von den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus aufgenommene Weltauffassung“ (Gramsci 1991 ff.: 1393), die nicht nur das im Bewusstsein verankerte Selbst- und Weltverständnis umfasst, sondern auch alltägliche Handlungen und Praxen sowie unbewusste Dispositionen einschließt (Opratko 2014: 44). Als ein entscheidendes Charakteristikum des Alltagsverstandes könne seine Widersprüchlichkeit angesehen werden. Im Regelfall sei die Weltauffassung des Alltagsverstandes „zufällig und zusammenhanglos“ und

„die eigene Persönlichkeit […] auf bizarre Weise zusammengesetzt: Es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vorangegangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zu eigen sein wird.“ (Gramsci 1991ff.: 1376)

Folgt man diesen Überlegungen, so erweist sich der Alltagsverstand nicht nur als „ein zweideutiger, widersprüchlicher, vielgestaltiger Begriff“ (Gramsci 1991 ff.: 1397), sondern auch als ein „Ort einer spezifischen Widersprüchlichkeit“ (Merkens 2004: 33), in der Vergangenes und Gegenwärtiges aufeinandertreffen. Der Alltagsverstand ist borniert, neuerungsfeindlich und konservativ (Gramsci 1991 ff.: 1397), aber es können sich hier zugleich Marginalisierungserfahrungen, Momente von Ausbeutung und Unterdrückung verdichten, die zum „Ausgangspunkt des ‚Bruches‘ und der emanzipatorischen Umgestaltung von Gesellschaft“ werden (Merkens 2004: 33). Allerdings „reicht die Existenz der objektiven Bedingungen oder Möglichkeiten oder Freiheiten noch nicht aus: Es gilt, sie zu ‚erkennen‘ und sich ihrer bedienen zu können, sich ihrer bedienen zu wollen“ (Gramsci 1991 ff.: 1341). Bedeutsam wird hier, dass emanzipatorische Lernprozesse nicht als aufklärerische Praxis verstanden werden, die es „von außen“ an die Lernenden heranzutragen gilt, sondern sie finden ihre Basis im Alltagsverstand selbst, dessen Inkohärenzen Ausgangspunkt emanzipatorischer Lernprozesse sind (Rehmann 2008: 89).

In dieser Skizze von Gramscis Überlegungen zum Alltagsverstand finden sich mit Blick auf das Planungsmodell einige Herausforderungen.Footnote 37 Das Nonnenmachersche Modell ist zwar in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet (Nonnenmacher 1996a), doch dabei wird der historisch-gesellschaftlichen Genese der subjektiven Voreinstellungen von Schüler:innen und Lehrer:innen sowie der Verwobenheit von Lehrenden und Lernenden in vergangene und gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Gramscis Kategorien des Alltagsverstandes und der Hegemonie können hier dem politikdidaktischen Planungsmodell ein theoretisches Fundament geben. Insbesondere die Bedeutung von widersprüchlichen Denkprozessen und der notwendigen Handlungsorientierung stimmen mit den Prämissen und Vorhaben des Planungsmodells überein. Aber zugleich können Gramscis Verweise auf die nicht nur widersprüchlichen und inkohärenten, sondern sogar restriktiven und affirmativen Bruchstücke im Alltagsverstand und vor allem der Hinweis auf ihre Verwurzelung in der Historie der gesellschaftlichen Bedingungen wichtige Anstöße geben. Vor allem geht es darum, ein vertieftes Verständnis von dem historischen Charakter, insbesondere der konservativen und neuerungsfeindlichen Elemente im Alltagsverstand zu entwickeln. Dieses Verständnis kann helfen, gewachsene Vorurteile und Vorbehalte in selbstreflexiven Lernprozessen zu thematisieren und zu überwinden. Kurzum, die Einbeziehung der Gedanken Gramscis legt keine Revision, wohl aber eine produktive Ergänzung des Planungsmodells nahe.

Wie bereits erläutert, beinhaltet das Planungsmodell vor allem einen idealtypischen Ablauf einer Unterrichtsreihe. Es ist in neun Phasen untergliedert (A-I). Die einzelnen Phasen markieren inhaltliche Abschnitte des geplanten und strukturierten Lernprozesses, die in chronologischer Reihenfolge aufeinander aufbauen (Abbildung). Vor allem zwei Dimensionen aus Gramscis Analyse können Eingang in die Ergänzung bzw. Erweiterung des Modells finden. Die historische Dimension (Erstens), die in die Zeit vor Beginn des Unterrichtsvorhabens zurückweist und die Genese der Lernvoraussetzungen fokussiert, mit denen die Schüler:innen in das Unterrichtsvorhaben eintreten; sowie die Prozessdimension (Zweitens), die in die Zeit nach Beendigung des Vorhabens verweist und dem herausgearbeiteten Stellenwert von Sinnbildungsprozessen im Alltagsverstand Rechnung trägt.

Erstens: Die historische Dimension ist gerade zu Beginn des Vorhabens und des Ablaufs der Unterrichtsreihe allgegenwärtig. Sie prägt die Präferenzen der Teilnehmenden mit Blick auf die Auswahl der Themen, sie kommt in den Voreinstellungen der Schüler:innen zum Ausdruck und sie strukturiert Motivationen und Erkenntnisinteressen von Lernenden (und Lehrenden!).

Angesichts der umfassenden Präsenz der Vergangenheit zu Beginn des Vorhabens ist ihre analytische Vernachlässigung in Anlage und Struktur des Planungsmodells als Defizit zu werten. Unerkannt oder zumindest unterbelichtet bleiben so nicht nur eventuelle Konflikte, die sich bei der Entstehung der Voreinstellungen ergeben haben könnten und die in das Unterrichtsvorhaben durchaus hineinwirken können. Zugleich geraten die Prägungen aus dem Blick, die durch die jeweiligen Hegemoniekonstellationen in der historischen Vorphase des Unterrichtsvorhabens den Alltagsverstand mitgeformt haben. Zweifelsohne spielen sie im Lernprozess eine zentrale Rolle. An dieser Vernachlässigung der historischen Dimension setzt die vorgeschlagene Ergänzung des Modells durch Phase B1 an (siehe Abbildung). Die im Modell als Ausgangspunkte benannten Vorkenntnisse, Voreinstellungen usw. werden als Elemente eines „inkonsistenten Alltagsverstandes“ begriffen und als solche in einem gemeinsamen Diskussionsprozess von Lernenden und Lehrenden reflektiert; sie finden Eingang in die Entwicklung von Fragestellungen etc. und spielen gerade zu Beginn des Bildungsprozesses eine zentrale Rolle.

Zweitens: Die Prozessdimension gibt vor allem wertvolle Hinweise, die am Ende des Unterrichtsvorhabens anzusiedeln sind. Zwar wird innerhalb des Planungsmodells die Prozesshaftigkeit des Lernens thematisiert und reflektiert. Die darüber hinaus notwendige prozesshafte Verkettung der aufeinanderfolgenden Unterrichtsvorhaben bleibt jedoch ausgespart. Die darauf reagierende Ergänzung stellt auch hier weniger eine Kritik des Modells als einen Vorschlag zu seiner Erweiterung dar. Folgerichtig wird sie als Phase J dem Nonnenmacherschen Planungsmodell hinzugefügt (siehe Abbildung). In dieser Phase kann über mögliche Anschlussvorhaben nachgedacht werden, die sich aus dem vorherigen Vorhaben ergeben und die der Aufarbeitung verbliebener Restbestände dienen. So wird das abgeschlossene Unterrichtsvorhaben zum Auftakt eines neuen Lernzyklus, in den vorherige Lernerfolge, Meinungsänderungen sowie verbliebende Zweifel und Vorbehalte in die neuen Fragestellungen des neuen Unterrichtsvorhabens eingehen. Phase J stellt somit den Beginn einer Unterrichts-Spirale dar (Abbildung 4.1).

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: Modifiziert und ergänzt nach Nonnenmacher 1996: 190 f)

Idealtypischer Ablauf einer Unterrichtsreihe.