Vorliegende Arbeit argumentiert, dass sich mit dem Hegemoniebegriff bzw. der Kategorie des Alltagsverstandes und den pädagogischen Überlegungen von Antonio Gramsci (1891–1937), einem der bedeutendsten Vertreter kritischer Gesellschaftstheorie, ein politikdidaktischer Ansatz entwickeln lässt, der in der Lage ist, die positiven Impulse des Langeschen Ansatzes aufzunehmen und der zugleich die benannten Defizite vermeidet. Es soll ein theoretischer Zugang zu Gramscis Denken geschaffen werden, der auf die im vorherigen AbschnittFootnote 1 genannten Leerstellen und Problematiken eingeht. Gramscis „Philosophie der Praxis“ (Gramsci 1991ff.: 1395) wird dabei als eine „offene Werkstatt“ verstanden, der jene „Materialblöcke“ und „Werkzeuge“ entnommen werden sollen (Barfuss/Jehle 2014: 15 ff.), die für politikdidaktische Überlegungen relevant sind. In diesem Sinne führt das nachfolgende Kapitel in Gramscis Ansatz ein. Es gliedert sich wie folgt:

Im ersten Unterkapitel werden zunächst die für das Denken von Antonio Gramsci bedeutsamen sozio-biographischen Facetten rekonstruiert. Daran anknüpfend widmet sich das zweite Unterkapitel Gramscis emphatischem Bildungsverständnis, welches er vor seiner Inhaftierung in den Turiner Arbeiterbildungszirkeln entwickelt und das er im Gefängnis ausdifferenzieren und ergänzen wird. Das dritte Unterkapitel beschäftigt sich mit Gramscis hegemonietheoretischen Überlegungen, die das widersprüchliche Feld von politischer Macht und gesellschaftlicher Emanzipation beschreiben und für sein Bildungsverständnis von zentraler Bedeutung sind. Untersucht wird, wie gesellschaftliche Verhältnisse und politische Herrschafts- und Führungspraktiken ineinandergreifen, deren Wirken Gramsci „als ein pädagogisches Verhältnis“ fasst (Gramsci 1991ff.: 1335). Hegemonie kann sich nicht ohne den Alltagsverstand realisieren, der Gegenstand des vierten Unterkapitels ist. Ausgehend von seinen Erfahrungen in der Turiner Rätebewegung erklärt Gramsci die kritische Analyse des Alltagsverstandes zum wichtigsten Ausgangspunkt einer „Philosophie der Praxis“. Kritisch (kollektive) Bewusstseins- und Bildungsprozesse beginnen in der Auseinandersetzung mit dem Alltagsverstand. Das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft kann mit den im Alltagsverstand enthaltenen Erfahrungen und Überzeugungen, welche die alltäglichen Praxen und Selbstverständlichkeiten der Menschen bestimmen, aufgenommen werden. Im weiteren Verlauf soll exemplarisch sowohl die ideologische Besetzung des Alltagsverstandes als auch die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit des Alltagsverstandes Erwähnung finden. Das dialektische Verhältnis zwischen Alltagsverstand und buon senso schließt hier die Argumentation ab. Als eine „bildungspolitische Intervention“ (Merkens 2004: 35) kann Gramscis Bestimmung der Intellektuellen verstanden werden, mit der sich das fünfte Unterkapitel beschäftigt. Dabei werden intellektuelle Tätigkeiten „aus dem Ensemble des Systems von Verhältnissen“ abgeleitet (Gramsci 1991ff.: 1499). Gramscis Forderung nach Entwicklung einer universellen Intellektualität findet hier ebenso Erwähnung wie seine Überlegungen zur organisierenden Funktion der Intellektuellen, die bestehende Hegemonieverhältnisse sichern, die aber umgekehrt auch durch historisch progressivere Schichten von Intellektuellen in Frage gestellt werden können. Darauf aufbauend, soll Gramscis begrifflich kategoriale Unterscheidung von „traditionellen“ und „organischen Intellektuellen“ erörtert werden (Gramsci 1991ff: 1497 ff.). Die gesellschaftstheoretischen Überlegungen sind durchzogen von erziehungs- und bildungstheoretischen Fragestellungen, denn Hegemonie kann – wie bereits oben erwähnt – mit Gramsci als „ein pädagogisches Verhältnis“ verstanden werden (Gramsci 1991ff.: 1335; siehe Merkens 2004: 26 ff., Bernhard 2005: 118 f.) So setzt sich das sechste Unterkapitel mit dem Zusammenhang von Politik und Pädagogik und der in den Gefängnisheften bzw. -briefen getroffenen Unterscheidung von Bildung und Erziehung auseinander. In diesen Zusammenhang soll Gramscis Problematisierung traditioneller Lehr- und Lernkonzeptionen aufgenommen und das Konzept der Einheitsschule abschließend kurz vorgestellt werden.

3.1 Das Leben des Antonio Gramsci – sozio-biographische Facetten einer „Philosophie der Praxis“

Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit, Oktoberrevolution und Kommunistische Internationale, soziale Kämpfe und Niederlagen der Arbeiterbewegung, die Entstehung und Machtübernahme des Faschismus bilden den Hintergrund von Gramscis Überlegungen.Footnote 2 Sie können als ein historisch spezifischer Beitrag zum Marxismus gewertet werden, weisen aber zugleich in Theorie und Praxis weit über die konkreten historischen Ereignisse hinaus. Gramscis Analysen des RisorgimentoFootnote 3, zu Italiens sozialer und politischer Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen, zur politischen und ideologischen Situation der Arbeiterbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, zum Amerikanismus und dem nachholenden Fordismus entwickeln sich „zu einem Projekt der Neubegründung marxistischer Philosophie“ (Merkens 2004: 6). Auch wenn sich die Bedingungen politischen Handelns seither mehrmals und in mehrfacher Hinsicht grundlegend geändert haben, kann mit den von Gramsci entwickelten Konzepten zur Hegemonie, zum Alltagsverstand, zum integralen Staat „das historisch Spezifische einer Konstellation von bürgerlicher Herrschaft“ erfasst und mit Gramsci über ihn hinausgedacht werden (Martin/Wissel 2015: 221). „Antonio Gramsci ist ein Klassiker, der kein geschlossenes Werk, sondern eine offene Werkstatt hinterlassen hat“ (Barfuss/Jehle 2014: 15). Als „ein riesenhaftes, fragmentarisches Mosaik“ geben Gramscis Schriften „vielfältige Einblicke in die Funktionen der Kultur und der Intellektuellen für die Bildung politischer Macht“ (Haug 1991: 8).

Obwohl Gramsci im engeren Sinne weder als Politikdidaktiker, Pädagoge noch als Bildungssoziologe bezeichnet werden kann, reflektiert dieses Mosaik „das erzieherische Verhältnis, die wechselseitige Beziehung von Lehrenden und Lernenden als grundlegende Strukturkategorie politischer Hegemonie“ (Merkens 2004: 7). Insofern mag es auf den ersten Blick überraschen, dass Gramscis Schriften, die nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten der intellektuellen und politischen (Selbst-)Ermächtigung subalterner gesellschaftlicher GruppenFootnote 4 fragen, nahezu keinen Eingang in die politikdidaktische Debatte gefunden haben. Die geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Implikationen seiner kulturtheoretischen und politischen Reflexionen schließen beständig die Regionen der politischen Bildung und ihrer Didaktik ein. Gramscis politisch-pädagogische Ansätze, seine eingreifenden, praxisphilosophischen Überlegungen basieren auf der Überzeugung, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse in vielfältiger Weise Emanzipation begünstigen bzw. erschweren können. Kristallisationspunkt seiner Kritik ist das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Funktion des Staates in der bürgerlichen Klassengesellschaft (PGK: 46 ff.). Eine zentrale bildungspolitische Herausforderung liegt laut Gramsci darin, in selbstreflexiven Prozessen ein kollektives Bewusstsein zu schaffen, welches sich in der Kritik der bestehenden Verhältnisse gründet. Für die politikdidaktische Forschung bedeutet dies, Gramscis praxisphilosophischen Elemente konstitutiv mitzudenken, die das Arrangement mit den bestehenden Verhältnissen in Frage stellen bzw. durchbrechen wollen und Widerständigkeit nicht in den Bereich einer vereinzelten Theoriearbeit verbannen.

Antonio Gramsci wird am 22. Januar 1891 als viertes von sieben Kindern in Ales, einem kleinen Ort im Westen Sardiniens, der als Teil des Mezzogiorno zu Italiens ärmsten Regionen gehört, geboren. Sein Vater, Francesco Gramsci, zunächst im Registeramt von Ghilarza beschäftigt, muss sich wegen administrativer Unregelmäßigkeiten und dem Vorwurf der Unterschlagung einer mehrjährigen Haftstrafe unterziehen. Mit Näharbeiten versucht die Mutter, Giuseppina Marcias, die Familie zu ernähren (Fiori 2013: 19 ff.). Die schwierige ökonomische Situation der Familie geht mit einer entbehrungsreichen Kindheit einher. Früh muss Antonio Gramsci zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, obwohl er körperlich stark eingeschränkt ist. Zeit seines Lebens leidet er an einer Wirbelsäulenentzündung (Pott’sche Krankheit).Footnote 5 Trotz der genannten widrigen Umstände, die zu zeitweiligen Unterbrechungen seiner Schullaufbahn führen, kann Gramsci die Volksschule, die drei oberen Klassen der Realschule und das Lyzeum besuchen (Fiori 2013: 30 ff.).

Politisch fühlt sich Antonio Gramsci zunächst vom sardischen Nationalismus angezogen (Votsos 2001: 46). Er ist überzeugt von der „Notwendigkeit des Kampfes für die nationale Unabhängigkeit Sardiniens“ (Fiori 2013: 95), denn er glaubt, die Armut der ländlichen Bevölkerung sei auf die politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung durch das italienische Festland zurückzuführen.Footnote 6 In einem Brief aus dem Jahr 1924 an seine Frau Guilia Schucht bringt Gramsci seine damalige Einstellung in einem pointierten Ausruf zum Ausdruck: „Ins Meer mit denen vom Festland“ (Briefe: 175). Erst vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Turiner Rätebewegung, dem sozialen und materiellen Elend der Turiner Arbeiter:innen und in Auseinandersetzung mit den historisch-gesellschaftlichen Verursachungszusammenhängen durchbricht Gramsci seine widersprüchliche, auf den sozialen Mikrokosmos ausgerichtete politische Haltung (Bernhard 2005: 26).

1911 ermöglicht ihm ein Stipendium des Collegio Carlo Alberto, sich an der Philologischen Fakultät in der norditalienischen Industriestadt Turin zu immatrikulieren, die als Fiat-Stadt ein Magnet für viele Immigrant:innen aus dem Süden ist (Bernhard 2005: 26). Hier lernt er seine späteren politischen Weggefährten Palmiro Togliatti und Angelo Tasca kennen. Bereits seit seiner Schulzeit mit Grundlagen der Marxschen Theorie vertraut, knüpft er unter dem Einfluss von Tasca Kontakte zur italienischen Industriearbeiterschaft. Die politische Aktion, die Entfaltung eines politisierten Theorie-Praxis-Verhältnis, bestimmt Zeit seines Lebens die theoretische Auseinandersetzung (Bernhard 2005: 26).

In Turin wird Gramsci Mitglied der Sozialistischen Partei (Partito Sozialista Italiano, PSI) (Fiori 2013: 128).Footnote 7 Im Gefolge des Ersten Weltkriegs wird die Partei von ideologischen Flügelkämpfen zwischen reformistischen und revolutionären Kräften zerrüttet. Viele Abgeordnete gehen in das Lager der Kriegsbefürworter über. Intensiv setzt sich Gramsci, der dem linken Parteiflügel angehört, mit den differenten politischen Strömungen auseinander. Während der reformistische Flügel der PSI sich auf das parlamentarische Regierungssystem als politische Artikulationsform beschränkt, vertritt ein bedeutender Teil des linken Flügels eine objektivistische und ökonomistische Marxismus-Auffassung (Bernhard 2005: 27; Fiori 2013: 143 f.). Früh kritisiert Gramsci in kleineren journalistischen Arbeiten (Avanti, Il Grido del Popolo) diese politischen Konzeptionen, in denen Menschen nicht mehr als lebendige geschichtliche Kräfte betrachtet, sondern „objektivistisch zu bloßen Gliedern eines automatisch sich vollziehenden Prozesses verdinglicht werden“ (Bernhard 2005: 27). Er ist überzeugt davon, dass „die mechanischen Kräfte niemals in der Geschichte (vorherrschen)“, sondern dass es „das geistige Vermögen des Menschen“ sei, welches es dem Menschen ermögliche, gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten (Gramsci zit. nach Bernhard 2005: 28). Vor diesem Hintergrund kann „Gramscis humanistische Marx-Interpretation durchaus als eine historisch-politische Antwort auf die mechanistischen und ökonomistischen Verhärtungen der Marxschen Theorie im Kontext der II. Internationale“ verstanden werden (Bernhard 2005: 27). Auch wenn in Gramscis ersten Publikationen der Idealismus des Neu-Hegelianers Croce noch eine bedeutende Rolle spielt, so zeichnet sich bereits hier ein zentrales Betätigungsfeld ab, das Gramsci bis zu seinem frühen Tod nicht loslassen wird: Es geht ihm um die Weiterentwicklung einer lebendigen Marxschen Theorie.

1915 bricht Gramsci das Studium aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes und großer finanzieller Nöte ab (Fiori 2013: 137). Als Journalist und Pädagoge widmet er sich nun ganz der revolutionären Politik und engagiert sich in Arbeiterbildungszirkeln (Mayo 2006: 25). Gramscis politisch praktische Arbeit wird bestimmt von der kritischen Reflexion des wechselseitigen Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden, die sich als geschichtlich handelnde Subjekte in konkreten gesellschaftlichen Beziehungen wahrnehmen und in Frage stellen. In den Gefängnisheften wird er später dazu notieren:

„Die eigene Weltauffassung kritisieren heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. Es bedeutet folglich auch, die gesamte bisherige Philosophie zu kritisieren, insofern sie verfestigte Schichtungen in der Popularphilosophie hinterlassen hat. Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ‚Erkenne dich selbst‘ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.“ (Gramsci 1991ff.: 1376)

Individuelles politisches Bewusstsein beginnt demnach im reflektierenden Verhältnis zum eignen Ich im historischen „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ und ist die Voraussetzung eines gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses (MEW 3: 6).

Die russische Oktoberrevolution 1917 führt zu spontanen Aufständen in Italien, die von der Regierung blutig unterdrückt werden. Verhaftungen sowie die Verhängung des Ausnahmezustandes in Turin sind die Folge. Aufmerksam verfolgt Gramsci die Entwicklungen in Russland und Italien in der Überzeugung, dass die Russische Revolution kein Modell liefere, welches mechanisch auf die historische und sozioökonomische Realität Italiens übertragen werden könne (Bernhard 2005: 27 f.). „Politik als eine abstrakte, normative Wissenschaft jenseits von Raum und Zeit“ lehnt Gramsci ab (Fiori 2013:159). Die kritische Lektüre erster Schriften Lenins und die Umbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien führen zur Gründung der Zeitung L’Ordine NuovoFootnote 8, die erstmalig am 1. Mai 1919 erscheint und deren Herausgeber Gramsci wird. Sorgfältig werden im L’Ordine Nuovo nicht nur die Erfahrungen der russischen Sowjets dokumentiert und diskutiert, sondern die Zeitung entwickelt sich in den Roten Jahren 1919/1920 zu einem zentralen Sprachrohr der Turiner Rätebewegung.Footnote 9 Bereits in seiner ersten Ausgabe ruft der L’Ordine Nuovo zur Gründung von Arbeiterräten in den Fabriken auf. Gramsci beteiligt sich aktiv an den Fabrikbesetzungen, nimmt an Diskussionen teil und wird zum politischen Sprecher der Bewegung. Eine basisdemokratische Organisierung breiter gesellschaftlicher Gruppen scheint ihm unerlässlich. Partei und Gewerkschaften weist er eine untergeordnete Rolle zu; er kämpft gegen die Assimilierung der Räte an die Gewerkschaften (Merkens 2004: 21). In den Auseinandersetzungen vertritt Gramsci ein Rätekonzept, das Fabrik-, Stadt- und Bauernräte umfasst und sich nicht auf die traditionellen Institutionen der Arbeiterbewegung – Partei und Gewerkschaft – beschränkt. Das Fabrikrätekonzept sieht ein von allen Arbeiter:innen gewähltes Gremium vor, d. h. die Fabrikräte sollen von der Basis mit Macht ausgestattet werden (Fiori 2013: 167). Für die Ausweitung der Bewegung sei es von entscheidender Bedeutung, aus den Arbeiterräten heraus eine Schicht von Intellektuellen zu gewinnen, gewählte Abteilungskommissare, welche praktische Erfahrungen und politisches Bewusstsein vereinen und denen Gramsci in der Massenbewegung eine zentrale Rolle zuspricht (Gramsci zit. nach Merkens 2004: 21 f.). Die Turiner Arbeiterräte, die „einen gesellschaftlichen Mikrokosmos“ repräsentieren würden, müssten „die Trennung von Ökonomie und Politik, von Theorie und Praxis“ bekämpfen (Merkens 2004: 21 f.). In den Fabriken gelte es eine institutionelle, intellektuelle Basis zu schaffen, welche sich die Selbstermächtigung der Arbeiter:innen zum Ziel setze. Im November 1919 entsteht auf Initiative des L’Ordine Nuovo eine Kulturschule, welche die Schulung der Arbeiterräte intendiert und in der die praktischen und politischen Erfahrungen diskutiert und reflektiert werden sollen (Merkens 2004: 22). Gramsci favorisiert in dieser Zeit alternative Lernorte, in denen freiwillige und spontane Lernprozesse möglich sind:

„In der Schule, wie sie in den letzten zehn Jahren betrieben wird, lernt niemand mehr irgendetwas, oder doch nur recht wenig. Es zeigt sich eine Tendenz, die Bildungsaufgabe auf anderen Wegen, ohne Zwänge, durch spontanen Zusammenschluss von Menschen zu realisieren […]. Weshalb sollte eine Zeitung nicht zum Mittelpunkt einer dieser Gruppen werden können?“ (GzK: 79 f.)

Der Wunsch, dass aus diesem Modell eine neue, eine „sozialistische Schule“ entsteht, die „notwendigerweise als eine allumfassende Schule“ danach trachtet, „alle Zweige des menschlichen Wissens sogleich zu umschließen“, geht nicht in Erfüllung (GzK: 79). Gramscis Erwartungen werden enttäuscht, die revolutionäre Arbeiterbewegung kann sich auf Dauer nicht durchzusetzen; „der Umschlag der Revolte von den Fabriken in die Gesellschaft“ misslingt (Merkens 2004: 23). Die Versuche gehen nicht „über die begrenzte Gruppe, den kleinen Zirkel, die Bemühungen weniger einzelner hinaus“ (GzK: 81). Trotz dieser Niederlage hebt Gramsci im April 1925 rückblickend den „Erfolg und Widerhall“ hervor, den die Bildungsinitiative in Turin nicht zuletzt aufgrund ihrer Verbindung zu der aktiven sozialen Rätebewegung gehabt hätte, auch wenn es ihr letztlich nicht gelungen sei, eine institutionell emanzipative Schulpraxis zu verankern, welche über die Streik- und Besetzungsphase in den Fabriken hinaus kritische und selbst bestimmte Lernprozesse hätte initiieren können (GzK: 81).

Innerhalb der PSI spitzen sich ab dem Jahr 1919 viele Kontroversen zu: Fragen nach der Funktion von Fabrikräten und der Beteiligung an Wahlen bieten erhebliches Konfliktpotential, „die Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Positionen legt den Keim für die spätere Gründung der Kommunistischen Partei Italiens“ (Bernhard 2005: 28). Die eindeutige Positionierung der Moskauer Führung, der Komintern (Kommunistische Internationale) verschärft den Konflikt (Votsos 2001: 51).Footnote 10 Im linken Parteiflügel bilden sich unterschiedliche kommunistische Gruppierungen heraus. Einziges Bindeglied der linken Fraktionen bleibt die Ablehnung der Revisionisten, wenngleich auch hier unterschiedliche Positionen vertreten werden (Fiori 2013: 172 ff.). Die Gruppe der elezionisti um Giacento Menotti Serrati hält einen Ausschluss von revisionistischen Mitgliedern der Partei – im Unterschied zu der Gruppe um Amadeo Bordiga, der Sprecher der astensionisti ist, – für wenig hilfreich und eine Teilnahme der Sozialisten an den ersten Wahlen nach dem Krieg (16. November 1919) für notwendig. Die Organe des bürgerlichen Staates würden für die revolutionären politischen Ziele eine „nützliche Tribüne“ bieten (Fiori 2013: 172 f.). Serrati steht jedoch, gleich Bordiga, der Bildung von Fabrikräten ablehnend gegenüber (Fiori 2013: 170 ff.). Bordiga wirft den Turiner Arbeiter:innen vor, sie hätten „die Frage nach der Macht in der Fabrik statt nach der zentralen politischen Macht“ aufgeworfen (Fiori 2013: 182). Im Unterschied zu Serrati spricht sich Bordiga aber gegen die Teilnahme an Wahlen aus, da er das Wahlrecht für ein Zugeständnis der besitzenden Klasse hält, welches die revolutionäre Kraft der Arbeiter:innen lähme. Er fordert zudem die Umbenennung der Partei in Kommunistische Partei Italiens und den Ausschluss aller Mitglieder, die daran festhalten würden, dass sich „das Proletariat innerhalb des demokratischen Systems befreien“ könne (Bordiga zit. nach Fiori 2013: 173). Die Redaktionsmitglieder des L’Ordine Nuovo teilen Serratis Einschätzung hinsichtlich der Teilnahme an den Wahlen (Fiori 2013: 172 f.), wenngleich auch sie in zahlreichen (tages-) politischen Fragen nicht einheitlicher Meinung sind (Fiori 2013: 165 f.). Wider einen erneuten Aufruf zum Wahlboykott zu den Kommunalwahlen im Herbst 1920 argumentiert Gramsci auf einem Kongress der astensionisti, dass keine Partei „auf einer so begrenzten Grundlage aufgebaut“ werden könne und „ein breiter Kontakt mit den Massen notwendig“ sei, welcher nur durch neue Organisationsformen geschaffen werden könne (Gramsci zitiert nach Fiori 2013: 182). Vor diesem Hintergrund lehnt Gramsci – im Unterschied zu Bordiga – die Abspaltung des linken Flügels ab. Vielmehr müssten die kommunistischen Kräfte ihren Einfluss in der Partei geltend machen und versuchen, die Führung zu übernehmen. Wie Serrati bleibt auch Gramsci letztlich überzeugt, dass eine plötzliche Spaltung der Partei, ein Bruch in der sozialistischen Front, nur die reaktionären Kräfte stärke. Gramscis Einwand findet weder innerhalb der PSI noch in der III. Internationale Widerhall (Fiori 2013: 181 f.).

Im Januar 1921, auf dem 17. nationalen Parteitag der PSI in Livorno, kommt es zur endgültigen Spaltung und somit zur Gründung der Kommunistischen Partei (PCI), zu deren Gründungsmitgliedern Gramsci – trotz aller Zweifel – wird (Fiori 2013: 204; Neubert 2001: 9). Gramscis Mahnung im Vorfeld, die Partei dürfe sich nicht in „partikularistische[n] Halluzinationen“ verlieren und benötige die Mehrheit des italienischen Proletariats, kann sich nicht durchsetzen (Gramsci zit. nach Fiori 2013: 183). Die Mehrheit der PSI-Mitglieder schließt sich der neu gegründeten PCI nicht an (Neubert 2001: 9). Opportunitätsgründe, aber auch der Druck der III. Internationale könnten für Gramsci ausschlaggebend gewesen sein, dass er sich letztlich Bordigas Forderung nach Abspaltung unterordnet. Bordiga übernimmt den Parteivorsitz (Fiori 2013: 202 ff.). In einem überlieferten Fragment, dessen nicht mehr exakt zu bestimmende Datierung auf das Jahr 1922/23 fällt, resümiert Gramsci: „Die Spaltung von Livorno (die Lostrennung der Mehrheit des italienischen Proletariats von der Kommunistischen Internationale) war ohne Zweifel der größte Triumph der Reaktion“ (Gramsci zit. n. Fiori 2013: 205; Neubert 2001: 9).

Gramscis Hauptbetätigungsfeld liegt auch nach der Gründung der PCI in der umfassenden Bildungsarbeit der Arbeiter:innen und Parteimitglieder (Bernhard 2005: 29). Bereits Ende des Jahres 1917 hatte Gramsci eine Diskussionsrunde für junge Sozialisten, den „Club für moralisches Leben“ gegründet (Briefe: 80 ff.).Footnote 11 Vor dem Hintergrund seiner in Turin gewonnenen politischen Erfahrungen schwebt Gramsci keine ideologisch eng gefasste Schulung vor. Es geht ihm um die gemeinsame Lektüre philosophischer und politischer Schriften, um den Austausch unterschiedlicher Erfahrungen und um ein vertieftes Verständnis des Marxismus (Bernhard 2005: S. 29; Fiori 2013: 157 f.), welches an den realen Lebensverhältnissen ansetzt und diese politisch reflektiert. Denn für Gramsci, so Barfuss und Jehle, bestimmt sich „[d]ie Relevanz von Theoriearbeit […] an der Frage, ob sie zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Subalternen beiträgt“ (Barfuss/Jehle 2014: 22).Footnote 12

Ende 1923 plant Gramsci eine Vierteljahreszeitschrift zum Zweck der innerparteilichen Bildungsarbeit unter dem Titel Critica proletaria (Briefe: 130). Gramsci kritisiert, dass innerhalb der PCI jegliche Form der kritischen Auseinandersetzung gemieden und kein ernsthafter Versuch der Selbstkritik unternommen werde (Briefe: 149). Die Partei begreife sich „nicht als das Ergebnis eines dialektischen Prozesses“, sondern innerparteiliche hierarchische Strukturen hätten einen „Apparat von orthodoxen Funktionären geschaffen“, der sich in Selbstgefälligkeit von den Parteimitgliedern entfernt habe (Briefe: 156). „Jede Beteiligung der Massen am Leben der Partei“ verbuche die Partei „als eine Gefahr für die Einheit und die Zentralisierung“ (Briefe: 156). Die Distanz zwischen Parteiführung und Parteimitgliedern habe zum „Erlahmen der Aktivität des einzelnen“, zur „Passivität der Masse der Partei“ geführt, zur „schwachsinnige[n] Sicherheit, dass es jemanden gebe, der an alles denkt und für alles sorgt“ (Briefe: 155). Diese Problematik müsse strukturell bekämpft werden, da sie jeglicher erfolgreichen politischen Strategie zuwiderlaufe und das emanzipative Projekt aushöhle. Bernhard hebt in seiner Analyse zu Antonio Gramscis politisch-pädagogischen Ansätzen hervor, dass den Überlegungen zur innerparteilichen Demokratie ein Gedanke umfassender sozialistischer Bildungsarbeit zugrunde liegt:

„Wenn der Sozialismus sich von allen anderen Gesellschaftsformen dadurch unterscheiden soll, dass er mit Bewusstsein vollzogen wird, so muss dieses Bewusstsein in den sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegung bereits angelegt und gefördert werden. Umfassende Bildungsarbeit soll sowohl die innerparteiliche Demokratie gewährleisten als auch die bewusstseinsmäßige Vorbereitung der sozialistischen Idee in der Gesellschaft gewährleisten.“ (Bernhard 2005: 29)

Sozialist:innen müssen „schon im Befreiungskampf Handlungsweisen, Subjektivitätsformen und Bewusstseinsweisen verkörpern, die auf das Ziel der Emanzipation verweisen“ (Bernhard 2005: 30). Der Kampf gegen die Hegemonie der herrschenden Kräfte kann sich nicht auf ökonomische und soziale Felder beschränken, sondern muss zugleich ein ideologischer Kampf sein, da die Arbeiterklasse nicht automatisch zur Trägerin einer neuen Gesellschaft wird.

Vom Mai 1922 bis zum Herbst 1923 lebt Gramsci in Moskau, wo er als Vertreter der PCI beim Exekutivkomitee der Komintern arbeitet (Fiori 2013: 216 ff.). Hier lernt er seine spätere Frau Guilia Schucht kennen, die ein aktives Mitglied in der sowjetischen KP ist. Zwei Kinder, Delio (1924) und Giuliano (1926), gehen aus dieser Beziehung hervor; Giuliano, den jüngeren Sohn, wird Gramsci nie kennen lernen (Fiori 2013: 218 ff.; Bernhard 2005: 30).

Parallel zum Aufschwung der politischen Linken in Italien gewinnt eine – zunächst noch äußerst fragmentierte – „neue Rechte“ an Zuspruch, deren gemeinsamer Nenner ein ideologisches Amalgam aus nationalistischer Enttäuschung und faschistischem Diskurs über die „rote Gefahr“ darstellt. Auch wenn Benito Mussolini mit seinem „Marsch auf Rom“ am 28. Oktober 1922, von der liberalen Monarchie und den bürgerlichen Kräften unterstützt und geduldet, die Macht wirkungsvoll an sich reißen kann, benötigt die faschistische Bewegung noch vier Jahre, um die Diktatur endgültig zu manifestieren (Guichonnet 1977: 82 f.).Footnote 13 Während dieser Zeitspanne gelingt es der italienischen Linken nicht, gegen die systematische Beeinflussung dominierender gesellschaftlicher Kräfte eine gemeinsame Gegenposition zu erarbeiten und erfolgreich zu vertreten.Footnote 14 Im Unterschied zur offiziellen Auffassung der PCI sieht Gramsci bereits in den Jahren 1921/22 die Gefahr der Errichtung einer faschistischen oder militärischen Diktatur in Italien (Briefe: 159), die ihre „soziale Basis im städtischen Kleinbürgertum und in einer neuen Agrarbourgeoisie“ findet (PGK: 153).Footnote 15 Gramscis Überlegungen zum Faschismus sind weit differenzierter als jene der Komintern, die den Faschismus endgültig 1935 als „offen terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ charakterisierte (Dimitroff zit. nach Benz 2010: 88). In der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Strömungen in der Partei hebt Gramsci hingegen hervor, dass der italienische Faschismus nicht nur „ein Kampfinstrument der Bourgeoisie“ ist, er repräsentiere vielmehr eine „soziale Bewegung“ (PGK: 144), die ihren Ursprung in den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft findet (Bernhard 2005: 32 f.).

Ansatzweise beginnt Gramsci 1924 an der Entwicklung einer Hegemonietheorie zu arbeiten, die das historisch Spezifische einer Konstellation von bürgerlicher Herrschaft erfasst und die in den späteren Gefängnisheften einen zentralen Stellenwert einnehmen wird (Briefe: 149 ff.). An das Exekutivkomitee der PCI aus Wien, wohin Gramsci von Moskau aus Ende November 1923 für einige Monate entsandt wird, um sowohl die illegale politische Arbeit in Italien zu organisieren, als auch die Verbindungen zu anderen kommunistischen Parteien und Organisationen zu verbessern (Fiori 2013: 228 ff.), schreibt er:

„Ich möchte Euch außerdem eine Reihe von Publikationen vorschlagen, die ich im gegenwärtigen Augenblick für äußerst notwendig erachte. Wir haben bisher der aggressiven ideologischen Vernichtungskampagne, die die Faschisten gegen das Quäntchen italienischer, marxistischer Kultur und marxistischen Bewusstseins führen, nichts entgegengesetzt. Ist es denn unmöglich, etwas dagegen zu tun? Die Frage ist so lebensnotwendig.“ (Briefe: 116)

Trotz seines schlechten gesundheitlichen Zustandes arbeitet Gramsci in Wien unermüdlich weiter. Am 12. Februar 1924 erscheint die erste Ausgabe von L’Unità, eine italienische Tageszeitung der Linken, deren Gründung das Exekutivkomitee der Internationale zuvor beschlossen hatte. Gramsci, der das politische Ressort übernimmt, setzt den symbolischen Namen – L’Unità – durch (Guichonnet 1977: 83 f.).

Im Mai 1924 kann Gramsci nach Italien zurückkehren, ohne eine Verhaftung befürchten zu müssen. In einem venezianischen Wahlkreis war er am 6. April 1924 zum Abgeordneten gewählt worden. Er steht nun unter dem Schutz parlamentarischer Immunität (Fiori 2013: 238).Footnote 16 Gramsci muss erkennen, wie sehr sich Italien in den zwei Jahren seiner Abwesenheit verändert hat. Zwar finden erst ab 1925, in der Konsolidierungsphase des faschistischen Regimes, systematisch Repressionen und die Gründung der politischen Geheimpolizei (OVRA) statt, in deren Folge antifaschistische Gruppen aufgelöst, Zeitungen beschlagnahmt, eine einheitliche Berufsorganisation den Jorunalist:innen aufgezwungen, viele führende Parteimitglieder verhaftet werden und Oppositionelle den Verlust ihres Vermögens und ihrer Staatsbürgerschaft fürchten müssen (Lill 2002: 386 ff.). Doch die innerhalb der Kommunistischen Partei geführten ideologischen Auseinandersetzungen verunmöglichen konkrete Gegenaktionen. Im Mai 1924 auf dem ersten geheim tagenden nationalen Kongress der Kommunistischen Partei in Como sowie auf dem Fünften Weltkongress der Kommunistischen Internationale in Moskau vom 17. Juni – 8. Juli 1924 sind die ideologischen Differenzen Gegenstand der Diskussionen (Guichonnet 1977: 83; Fiori 2013: 238 f.).Footnote 17 Gramsci kritisiert in Como die sektiererische Linie Bordigas, da er von der Notwendigkeit eines breiten antifaschistischen Bündnisses überzeugt ist. Es gelingt ihm jedoch nicht, die Mehrheit der Delegierten zu überzeugen.Footnote 18 Auf dem Kongress in Moskau wird der Zusammenschluss der Kommunistischen Partei Italiens mit den „terzinternationalistas“ entschieden (Bordiga 1924). „Eine von oben beschlossene und ohne die Basis einzubeziehende Umbildung eliminiert den linken Flügel aus den Führungsorganen der Partei“ (Guichonnet 1977: 83).Footnote 19 Gramsci wird im August 1924 zum neuen Generalsekretär der PCI ernannt und befindet sich damit in einer äußerst schwierigen Situation (Kebir 1991a: 9).

Die Entführung und Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch ein faschistisches Kommando im Juni 1924 bietet die letzte Gelegenheit, die in der Öffentlichkeit herrschende Empörung zu nutzen, um der Errichtung einer faschistischen Diktatur entgegenzuwirken (Bernhard 2005: 30 f.).Footnote 20 Mussolini glaubt sich isoliert und sieht sich der bisherigen stillschweigenden Unterstützung konservativer Kräfte beraubt. Die Führung der Partito Nazionale Fascista (PNF) zeigt sich angesichts des öffentlichen Aufruhrs verunsichert, da die Empörung ihr „Kalkül der Stabilität“ zu durchkreuzen droht (Lill 2002: 385). Nach der Ermordung Matteottis ziehen sich die antifaschistischen Parteien aber auch Gruppierungen, deren Kritik sich ausschließlich auf die Methoden der Regierung beschränkt, unter Protest aus dem Parlament zurück. Es konstituiert sich ein Gegenparlament, der sog. Aventin (Fiori 2013: 243).Footnote 21 Ideologische Auseinandersetzungen, Misstrauen und Zweifel zwischen den bürgerlich-demokratischen Gruppen und den Arbeiterparteien, zwischen den Reformsozialist:innen der PSI und der PCI verhindern die geschlossene Widerstandsfront. Gramsci dringt auf die Vereinigung der antifaschistischen Kräfte im Kampf um die bürgerlichen Freiheiten, zugleich polemisiert er aber auch gegen sie als Teil der kapitalistischen Ordnung, die es zu stürzen gilt (Fiori 2013: 245). Den Parteien des Aventin schlägt er vor, gemeinsam zum Widerstand aufzurufen, d. h. den politischen Generalstreik zu organisieren (Riechers 1970: 80). Sein Antrag wird abgelehnt; das Gegenparlament scheitert letztlich an seiner Uneinigkeit (Fiori 2013: 243 f.; Bernhard 2005: 31).Footnote 22 Mussolini erkennt die Uneinigkeit und Unentschlossenheit der Opposition auf dem Aventin und nutzt Anfang 1925 konsequent alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um das faschistische Regime endgültig zu konsolidieren und die Überreste der demokratischen Opposition zu liquidieren (Riechers 1970: 81).

Wie bereits in seiner Turiner Zeit widmet sich Gramsci auch nach seiner Rückkehr nach Italien im Mai 1924 intensiv der politischen BildungsarbeitFootnote 23, die in zunehmendem Maße unter den widrigen Umständen der Repression und der Illegalität erfolgt. Im Februar 1925 übernimmt Gramsci die Aufgabe Lehrmanuskripte für einen Fernstudiengang zu erstellen, der den Parteimitgliedern zugesendet werden und die Arbeit autonomer, dezentraler Lerngruppen unterstützen soll. Der Aufbau einer solchen Fernparteischule soll unter den Bedingungen der faschistischen Repression die gemeinsame Bildungsarbeit aufrechterhalten. Von der ursprünglich geplanten Materialreihe können jedoch nur zwei Hefte erscheinen (Merkens 2004: 24 ff.). Die vorläufig erstellte Gliederung sieht Unterrichtsmaterialien zum historischen Materialismus, zur allgemeinen Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft und zu strategischen Fragen der Parteiorganisation vor (PGK: 120 f.). In seiner Einleitung zum ersten Heft bemängelt Gramsci, dass „der Kampf des Proletariats“, der „an der ökonomischen, der politischen und der ideologischen Front“ geführt werden müsse, bisher nur die ökonomische und politische Front berücksichtigt habe (PGK: 115); d. h. „[d]ie theoretische Arbeit, also der Kampf an der ideologischen Front“, sei vernachlässigt worden (PGK: 117). Verheerende Folge sei, dass sich primär bürgerliche Intellektuelle in Italien des Marxismus bedient und „einige den Schriften von Marx entnommene Äußerungen“ positivistisch kontextualisiert hätten (PGK: 117 f.). Die derart „betrügerische Interpretation“ sei zur „Würze für die unverdaulichsten Soßen“, nicht zuletzt zur „Würze“ des Mussolini-Faschismus geworden (PGK: 118 f.). Die Partei befände sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen in einer widersprüchlichen Position: Einerseits müsse sie im Kampf gegen den Faschismus die ideologische Einheit sichern, andererseits eine partizipatorische Bildungsbewegung sein, in der „jedes Parteimitglied ein aktives politisches Element, ein Führungselement ist“ (PGK: 120). Jedem Parteimitglied soll die Möglichkeit gegeben werden, gestaltend in die politische Entwicklung der Partei einzugreifen und eine emanzipatorische, kritische Diskussionskultur zu befördern. In Gramscis Konzept wird die intellektuelle Selbstständigkeit der einzelnen Parteimitglieder zu einer Grundvoraussetzung der kollektiven parteilichen Entwicklung. Gramscis Vorstellungen bewegen sich damit in einem antagonistischen Verhältnis zu den dominierenden hierarchisch-autoritären Schulungsansätzen der III. Internationale jener Zeit (Merkens: 25 f.).

Für den im Juni 1926 in Lyon stattfindenden Parteitag der in die Illegalität gedrängten Kommunist:innen arbeitet Gramsci in Kooperation mit Togliatti die Thesen von Lyon aus, welche die zukünftige Strategie der PCI festlegen sollen (Bernhard 2005: 31).Footnote 24 „Der Kampf“, so Gramsci in seiner Rede vor der politischen Kommission auf dem Parteitag von Lyon, „vollzieht sich auf dem Gebiet der Ideologie, auf dem der Organisation sowie im Bereich der Taktik und Strategie“ (PGK: 137). Die für den politischen Kampf zentrale Frage sei dabei, wie die Hegemonie der bürgerlichen Klasse gebrochen bzw. eigene Hegemoniefähigkeit erzeugt werden könne. Das Ziel aller Bewegungen müsse es sein, die antifaschistischen bzw. antikapitalistischen Kräfte in einem „geschichtlichen Block“ zu bündeln. Nur so könne der Kampf gegen die herrschende Hegemonie erfolgreich geführt werden.Footnote 25 Um gegenhegemoniale Macht aufzubauen, bedürfe es in historisch spezifischen Situationen einer geschickten Bündnispolitik. Wesentliche Grundgedanken zum bündnispolitischen Konzept und zum Hegemonieprojekt, aber auch zur Geschichte der italienischen Intellektuellen, die für seine weitere theoretische Arbeit von entscheidender Bedeutung sind, entwickelt Gramsci vor dem Hintergrund eigener politischer Erfahrungen in der unvollendeten Abhandlung Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens (1926).Footnote 26

Gramscis Analysen sind eine praxisphilosophische Intervention, die an den realen Arbeits- und Lebensverhältnissen, dem Alltagsverstand ansetzen. Die Marxschen Feuerbachthesen, in denen die „sinnlich, menschliche Tätigkeit, Praxis“ in das Zentrum künftiger Philosophie gerückt wird (MEW 3: 5, Hervorh. im Orig.), üben dabei einen entscheidenden Einfluss auf Gramscis Denken aus (Merkens 2004: 7). Gramsci weiß um die Gefahren einer „Isolation“, die das „Gefühl für Selbstkritik“ schwächt, um „die kalte Umsetzung eines intellektuellen Schemas“, um Initiativen, die „nicht an der Wirklichkeit erprobt“ und „nicht mit vielfältigen Mitteln die Meinung der Arbeiter sondiert“ haben (Briefe: 195). Ausgangspunkt von Gramscis philosophisch-pädagogischem Denken sind die praktischen Probleme eines emanzipativen Projekts, die es in der theoretischen Auseinandersetzung zu analysieren gilt. Die Resultate, d. h. die gewonnenen Einsichten des oben beschriebenen eingreifenden Denkens, müssen laut Gramsci wiederum in den Kontext einer eingreifenden Praxis zurückgegeben werden, wenn Philosophie nicht zum bloßen Possenspiel degenerieren will.

Mit großer Besorgnis registriert Gramsci die Veränderungen in der Sowjetunion. Nach Lenins Tod im Januar 1924 erlangt Stalin als neuer Generalsekretär der KPdSU, entgegen Lenins „testamentarischer Empfehlung“, eine immer größere Macht (Fiori 2013: 292). Deutlich übt Gramsci im Auftrag seiner Partei im Oktober 1926 Kritik an Stalins Umgang mit der Opposition und warnt vor einem möglichen „Spaltungsprozess“ (Briefe: 272).Footnote 27 Palmiro Togliatti, der die Kommunistische Partei Italiens zu dieser Zeit in Moskau vertritt, hält das Schreiben jedoch zurück, da er den Appell an die Einheit nicht teilt (Fiori 2013: 296 ff.). Der Vorfall führt nicht nur zum Bruch zwischen Gramsci und Togliatti, sondern es kommt zu Spannungen mit der Parteiführung, in deren Folge Gramsci nach seiner Verhaftung auch zunehmend innerhalb der eigenen Partei isoliert wird (Apitzsch 1995: 25 f.). Gegen den Rat der Parteiführung, Italien zu verlassen und in die Schweiz zu gehen, glaubt Gramsci, dass die parlamentarische Immunität genügend Schutz vor einer Inhaftierung bietet. Am 8. November 1926 wird Gramsci unter Missachtung seiner parlamentarischen Immunität verhaftet und für kurze Zeit auf die kleine, im Tyrrhenischen Meer liegende Insel Ustica verbannt (Fiori 2013: 305; Bernhard 2005: 34). Von Februar 1927 bis Mai 1928 befindet er sich in Mailand in Untersuchungshaft (Fiori 2013: 306 ff.). Das Gerichtsverfahren gegen ihn und 21 weitere entschlossene Gegner des faschistischen Regimes wird vom 28. Mai bis zum 4. Juni 1928 von der eigens für derartige Prozesse geschaffenen faschistischen Gerichtsbarkeit, dem „Sondergericht zum Schutze des Staates“, in Rom abgehalten (Fiori 2013: 315). Gramsci wird zu einer Haftstrafe von 20 Jahren, vier Monaten und fünf Tagen verurteilt (Fiori 2013: 320). Von Juli 1928 bis November 1933 ist Gramsci in Turi in der Provinz Bari (Apulien) inhaftiert (Fiori 2013: 320 ff.). Obwohl die Haftbedingungen bisweilen unerträglich sind, ihm die notwendige ärztliche Behandlung verweigert wird, nächtliche Zellenkontrollen und ähnliche Maßnahmen den Inhaftierten zermürben sollen und sein Leidensweg von der zunehmenden Stalinisierung der sozialistischen Arbeiterbewegung belastet wird, dokumentieren seine Briefe und Tagebuchaufzeichnungen (Quaderni del carcere: Gefängnishefte) auf mehr als 3000 Seiten weder Kapitulation noch Resignation. Seine Inhaftierung verunmöglicht die praktisch-politische Intervention, die weitere Entfaltung seines Denkens jedoch nicht. Die Auseinandersetzung mit politischen, philosophischen, kulturtheoretischen, sprach- und literaturwissenschaftlichen Fragen wird zur „inneren Widerstandsleistung“, die das Überleben ermöglicht (Bernhard 2005: 35). „Mein Leben“, schreibt Gramsci 1927 in einem Brief an seine Schwägerin Tatjana Schucht,

„verläuft immer in der gleichen Monotonie. Auch das Arbeiten ist viel schwieriger, als es scheinen mag. […] Ich bin besessen (das ist ein für Häftlinge typisches Phänomen, glaube ich) von dem Gedanken: man müsse etwas tun für ewig […]. Kurzum, ich möchte mich nach einem vorgefassten Plan intensiv und systematisch mit einem Thema befassen, das mich ganz erfüllt und mein inneres Leben auf einen Punkt ausrichtet.“ (GB II: 92, Hervorh. im Orig.)

Seine Gefängnishefte und -briefe widmen sich den schwierigen Bedingungen gesellschaftlicher Emanzipation und verfolgen das Ziel, nachfolgenden Generationen möglichst viele Einsichten über die notwendigen Voraussetzungen gelingender Befreiung zu übereignen (Bernhard 2005: 36). Gramsci geht davon aus, dass Herrschaft auf Dauer nicht auf der Basis purer Repression aufrechterhalten werden kann. Hegemonie beschränkt sich nicht auf durch private Unternehmen oder den Staat hergestellte Herrschaftsverhältnisse; der Blick richtet sich auf die Konsensdimension von Herrschaft. Laut Gramsci ist es charakteristisch für moderne Herrschaftsformen, dass sie sich in komplexen Prozessen politisch, ökonomisch und kulturell herstellen. Ein wichtiges Kernstück der überlieferten Fragmente ist somit die Frage, wie es herrschenden Kräften gelingt, Loyalität und Konsens in breiten Schichten der Bevölkerung zu sichern: Warum akzeptieren Menschen nicht nur passiv Macht- und Herrschaftsverhältnisse, sondern wirken auch aktiv mit? Gramsci zufolge ist die Zivilgesellschaft ein Terrain von Kämpfen um Hegemonie. Nicht nur über Medien, Universitäten, Schulen, Verbände, Organisationen etc. werden bestehende Verhältnisse und ihre herrschaftsförmige Transformation plausibel gemacht, sondern der Konsens schreibt sich den Subjekten als eine umfassende komplexe alltägliche Praxis in Familie, Schule, Betrieb etc. ein (Brand 2005: 82 f.).

Weil dem inhaftierten Gramsci der Zugang zu Quellen häufig verwehrt bleibt, muss er aus dem Gedächtnis zitieren. „Ein politischer Gefangener“, so Gramsci in einem Brief im April 1929 an Tatjana Schucht, sollte „selbst aus einer Rübe Blut gewinnen“ (GB II: 234). Die Gefängnishefte bedürfen jedoch „keiner Entschuldigung durch Haftbedingungen und Krankheit. Seine Begriffe müssen nicht geradegebogen, geglättet und entwirrt, sondern genommen werden, wie sie sind“ (Hausmann 1991). Auch wenn ihm – vor allem in den ersten Jahren – nur „fromme Schriften und drittrangige Romane“ aus der Gefängnisbibliothek zur Verfügung stehen, so gelingt es ihm doch „der jeweiligen Lektüre ein Ziel zu geben“ (GB II: 234):

„So fand ich [Gramsci, J.H.] auch Sue, Montépin, Ponson du Terrail usw. lesenswert, wenn man eine Fragestellung hat wie die: ‚Warum ist gerade diese Literatur immer die meistgelesene und meistgedruckte? Welche Bedürfnisse befriedigt sie? Auf welche Erwartungen geht sie ein? Welche Gefühle und Gesichtspunkte machen diesen Ramsch so erfolgreich?‘ […] Man kann jedes Buch, besonders wenn es von Geschichte handelt, mit Gewinn lesen. In jedem Groschenheft kann man etwas Nützliches finden.“ (GB II: 235)

In der Auseinandersetzung mit „Groschenheften“ und im Dialog über die Zeiten mit Hegel, Marx, Machiavelli und vielen anderen zeichnen sich erste Konturen eines eigenen Projektes ab. In Anlehnung an Antonio LabriolaFootnote 28 und unter Bezugnahme der Marxschen Thesen über Feuerbach, denen zufolge das „Ändern der Umstände“ und die „Selbstveränderung“ nicht voneinander getrennt werden können, nennt Gramsci dieses Projekt eine „Philosophie der Praxis“ (Gramsci 1991ff.: 1395; MEW 3: 6; Labriola 1974: 318). Seine praxisphilosophischen Interventionen implizieren die kritische Auseinandersetzung mit dem herrschenden Denken und analysieren dabei den Alltagsverstand, in den sie sich verändernd einmischen wollen, weil nur so Befreiung möglich ist. Gramsci wendet sich gegen die zeitgenössischen ökonomistischen und mechanistischen Strömungen eines erstarrten Marxismus-Leninismus, der den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung für eine objektive Gesetzmäßigkeit hält. Herrschaftsverhältnisse sind, wie bereits oben kurz skizziert, Gramsci folgend, kein von oben nach unten laufender Formierungsprozess. Erkenntnistheoretisch gehen Gramscis hegemonietheoretischen Deutungen von der Wechselseitigkeit, von einem pädagogischen Verhältnis aus, der dialektischen Einheit von Lehrenden und Lernenden, Führenden und Geführten, die ein strukturelles Moment von Herrschaft sind. Subversive, die Gesellschaft verändernde Praxen müssen an der „ideologischen Front“ im Alltagsleben, in Familie, Schule und Betrieb geführt werden. Die „Philosophie der Praxis“ setzt an den realen gesellschaftlichen Lebensbedingungen an und zielt auf die Veränderung der Begriffe. Eric Hobsbawm hebt in diesem Zusammenhang Gramscis „Weigerung“ hervor, „das Terrain konkreter, historischer, sozialer und kultureller Realitäten zugunsten von Abstraktion und reduktionistischen theoretischen Modellen zu verlassen“ (Hobsbawm 2011: 309).

Der von den italienischen Faschisten eingekerkerte Gramsci lehnt es ab, ein Gnadengesuch an Mussolini zu stellen, da es in seinen Augen einer Kapitulation gleichkäme (Bernhard 2005: 37). Ausländische Kampagnen, welche Gramscis Freilassung fordern, bleiben letztlich erfolglos (Bernhard 2005: 37). Gezeichnet von der unmenschlichen Haft wird er im Dezember 1933 in die Gefängnisklinik in Formia überstellt und von dort aus in die Klinik Quisiana nach Rom verlegt (Fiori 2013: 387 ff.), wo er am 27. April 1937 im Alter von nur 46 Jahren stirbt (Fiori 2013: 396). Sein Wunsch, nach Sardinien zurückzukehren, geht nicht mehr in Erfüllung. Die hinterlassenen Schriften weisen über seinen Tod hinaus und vermögen noch im 21. Jahrhundert wichtige Anregungen für die Debatten um einen zeitgemäßen Marxismus zu geben:

„In einer Zeit, in der sich die Modelle des real existierenden Sozialismus von der Weltbühne verabschiedet haben, der Utopieverlust, die Erlahmung der sozialen Phantasie offensichtlich ist, verspricht die Aufarbeitung des Erbes Antonio Gramscis neue Zukunft.“ (Bernhard 2005: 37)

3.2 Überlegungen zum Bildungsverständnis vor der Inhaftierung (1916–1926)

„Wir müssen es uns abgewöhnen und damit aufhören, Kultur als enzyklopädisches Wissen aufzufassen, wobei der Mensch nur als ein Gefäß betrachtet wird, das gefüllt und befrachtet werden muss mit empirischen Daten, rohen und zusammenhanglosen Fakten, die er in seinem Hirn wie in den Spalten eines Nachschlagewerkes in eine Ordnung zu bringen habe, um dann bei jeder Gelegenheit auf die von der Außenwelt kommenden Reize antworten zu können.“

(GzK: 8)

Lange vor seiner Inhaftierung beginnt Gramsci, sich intensiv mit der europäischen Literatur, dem Theater und den politischen Agitationsformen des Bürgertums zu Beginn des 18. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. In ganz Europa, so ein Resultat seiner Überlegungen, hatte sich vor der Französischen Revolution

„ein einheitliches Bewusstsein herausgebildet […], als eine bürgerlich-geistige Internationale, die in jedem ihrer Teile empfindlich auf gemeinsames Leid und Unglück reagierte und die beste Voraussetzung war für den danach in Frankreich ausbrechenden blutigen Aufstand.“ (GzK: 10)

Gramscis Aufmerksamkeit richtet sich auf das Bürgertum und dessen „Fähigkeit, eine intellektuelle Kultur zu formieren und einen politischen Willen zu gestalten“, der es dem heterogenen dritten Stand im 18. Jahrhundert ermöglichte, sich ein historisches Selbstbewusstsein als revolutionäre Klasse zu ‚erarbeiten‘, in deren Folge die feudale Herrschaft schließlich auch militärisch beseitigt werden konnte (Merkens 2004: 16). Früh ist Gramsci davon überzeugt, dass für die dauerhafte Eroberung der Macht die sich erhebende gesellschaftliche Gruppe herrschend, aber auch ideologisch führend und sein muss (PGK: 191). Merkens weist auf Gramscis besonderes Führungsverständnis hin:

„Dabei wird Führung als Fähigkeit verstanden, eine politische aber auch eine moralische und kulturelle Ausstrahlungskraft zu entwickeln, die über das eigene Lager hinauswächst, die orientierend für das Denken und die kulturelle Lebensweise einer Mehrheit der Gesellschaft ist.“ (Merkens 2007b: 200)

Gramsci wird in den Gefängnisheften die o.g. Überlegungen in die Ausführungen zur Hegemoniefrage aufnehmen, die dialektisch das widersprüchliche Feld von politischer Macht und sozialer Emanzipation beschreiben (siehe etwa Gramsci 1991ff.: 112; 1962). Soziale Emanzipation ist an kulturelles Handeln gebunden, ist ein „aktive[r] Prozess der geistigen Erschließung der Welt durch die geschichtliche Persönlichkeit“ und somit ein Bildungsprozess (Bernhard 2005: 45).

Bereits im Januar 1916 in dem Artikel Sozialismus und Kultur, der in der Parteizeitung Grido del Popolo erscheint, skizziert Gramsci in Grundzügen sein weitreichendes Kultur- und Bildungsverständnis, das sich in der Fähigkeit zur Selbstverfügung und zu intellektueller Handlungsfähigkeit zeigt, die zugleich Bedingung und Voraussetzung einer sozialistischen Kultur ist:

„Kultur […] ist Organisation, Disziplin des eigenen inneren Ich, sie ist Besitzergreifen von der eigenen Persönlichkeit, sie ist Gewinnen eines höheren Bewusstseins, durch das man den eigenen historischen Wert, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten zu begreifen vermag. Doch all das kann sich nicht in spontaner Entwicklung, durch unabhängig vom eigenen Willen ablaufende Aktionen und Reaktionen vollziehen, wie es in der pflanzlichen und tierischen Natur geschieht, wo jedes Einzelne unbewusst, aufgrund zwangsläufiger Gesetzmäßigkeit der Dinge sich der Auswahl stellt und die eigenen Organe spezifisch ausbildet. Der Mensch ist vor allem Geist, d.h. historische Schöpfung und nicht Natur.“ (GzK: 8 f.)

Der in den Frühschriften tradierte, noch nicht von idealistischen Verkrustungen gänzlich befreite Kulturbegriff bezeichnet in Gramscis bildungstheoretischen Überlegungen einen aktiven Prozess; Folge dieser Tätigkeit ist die permanente (Selbst-)Veränderung. Treibende Kraft menschlicher und menschheitlicher Entwicklungsverläufe ist nicht die „spontane Entwicklung“ (GzK: 9), sondern es ist der Vorgang der Weitergabe, Verarbeitung und Gestaltung geschichtlicher Erfahrungen (GzK: 7 ff.; Bernhard 2005: 44 f.). Gramsci verwirft damit die in weiten Teilen der II. und III. Internationale, aber auch in der Arbeiterbewegung verbreitete Annahme, die bestehende Gesellschaftsordnung und der mit ihr verbundene vorherrschende Kulturbegriff könne in einem spontanen evolutionären Akt beseitigt werden. Die verändernde Kraft kommt, Gramsci folgend, „nicht […] durch unabhängig vom eigenen Willen ablaufende Aktionen und Reaktionen“ zustande (GzK: 9). Sie wird weder von der Natur mitgegeben noch kann sie jenseits des geschichtlichen Prozesses begriffen werden; das menschliche Handeln ist nicht durch ein Aktions-, Reaktionsschema determiniert (GzK: 9; Bernhard 2005: 44).

Eine neue kollektive und solidarische Arbeits- und Lebensweise geht mit dem politischen Bruch einher. Das Bestehende kann nicht einfach übernommen werden; es bedarf der kontinuierlichen Aneignung, Kritik und Gestaltung:

„Das heißt, jeder Revolution ging eine intensive kritische Arbeit der geistigen Durchdringung, der Ausstrahlung von Ideen auf Menschengruppierungen voraus, welche, zuerst widerstrebend, nur darauf bedacht waren, für den Tag und die Stunde das eigene ökonomische und politische Problem für sich selbst, ohne solidarische Verbindung mit anderen in gleicher Lage, zu lösen“ (GzK: 9).

Es ist Gramscis Verdienst „auf die grundlegende Bedeutung der Kultur in den westeuropäischen Gesellschaften hingewiesen zu haben“, wie Sabine Kebir in ihrer Einleitung zu der von ihr herausgegebenen kulturtheoretischen Schriftensammlung Gramscis hervorhebt, ohne dass er davon ausgegangen wäre, „dass die Führungsrolle einer Klasse mit historischer Dauerhaftigkeit allein durch kulturelle Sachverhalte abgesichert werden kann“ (Kebir 1991b: 12). Seine kulturtheoretischen Reflexionen sind „kein Anhängsel, sondern ein organischer Bestandteil seiner politischen Konzeption“ (Kebir 1991b: 11). Nicht zuletzt das Scheitern der Turiner Rätebewegung in den Jahren 1919/20 und die in den Auseinandersetzungen gewonnenen Erfahrungen führen Gramsci zu der Überzeugung, dass die zeitweilige Schwächung der sozialökonomischen Basis nicht automatisch zum Zusammenbruch der bestehenden kapitalistischen Ordnung führt. Im Unterschied zum vorrevolutionären zaristischen Russland, das von den Bolschewiki in einem „Bewegungskrieg“, d. h. in einem Frontalangriff auf die Machtzentren, zerstört werden konnte, bestehe in Westeuropa eine jeden Bürger erfassende engmaschige Verstrickung kultureller und sozialer Institutionen, eine entwickelte bürgerliche Gesellschaft. Eine entscheidende Ursache für das Scheitern der westeuropäischen „Nachkriegsrevolutionen“ liege in der Tatsache einer hegemonialen Konstellation begründet. Diese hegemoniale Konstellation sei in der Lage gewesen, einen hinreichenden Konsens für den Erhalt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu erzeugen, um so die Angriffe abzuwehren. Ins Zentrum seiner Theorie rückt somit, was auf verhängnisvolle Weise in den nach dem Ersten Weltkrieg an die russische Oktoberrevolution angelehnten revolutionären Bestrebungen vernachlässigt wurde. Laut Gramsci müssen die Subalternen sich in selbstreflexiven Prozessen der eigenen kollektiven Kräfte bewusstwerden, sich neu sammeln, bündeln, um die Widerstandsfähigkeit des Gegners auszuhöhlen; vom „Bewegungskrieg“ zum „Stellungskrieg“ übergehen (Rehmann 2008: 94). In den späteren Gefängnisheften weist Gramsci darauf hin, dass die gewählte militärische Terminologie „Bewegungskrieg“ und „Stellungskrieg“ „cum grano salisFootnote 29 […], d. h. nur als Denkanstöße und ad absurdum vereinfachende Begriffe“ zu verstehen sind (Gramsci 1991ff.: 176). Für den o. g. kollektiven Lernprozess müsse eine Intellektualität geschaffen werden, die sich in einer gemeinsamen Praxis des Lehrens und Lernens gründe. In Anlehnung an und Abgrenzung zu Textfragmenten von Giambattista VicoFootnote 30 skizziert Gramsci den Lernprozess als einen Vorgang der Selbsterkenntnis, der sich des eigenen widersprüchlichen Werdens im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“Footnote 31 gewahr wird und sich so als kollektives Subjekt im Bewusstsein seiner Geschichtsmächtigkeit als soziale Klasse gegen die „kapitalistische Zivilisation“ erhebt:

„Sich selbst erkennen heißt, es sein, was man ist, Herr seiner selbst sein, sich unterscheiden, aus dem Chaos herauskommen, ein Element der Ordnung sein, aber der eigenen Ordnung und der eigenen Bindung an ein Ideal. Und das kann man nicht erreichen, wenn man nicht auch die anderen kennt, ihre Geschichte, die Abfolge von Anstrengungen, die sie unternahmen, um zu sein, was sie sind, um die Gesellschaftsordnung zu schaffen, die sie schufen, und die wir durch die unsrige ersetzen wollen.“ (GzK: 11)

Als Journalist und Pädagoge widmet sich Gramsci in der Nachkriegszeit ganz der revolutionären Politik. Er engagiert sich in Arbeiterbildungszirkeln, hält Vorträge, verfasst und veröffentlicht zahlreiche essayistische Beiträge für sozialistische Zeitungen (Merkens 2004: 17 f.).Footnote 32 Die erworbenen Erfahrungen lassen ihn die politische Bedeutung von proletarischen und sozialistischen Kulturorganisationen erkennen, für die er wirbt, denen er beiwohnt und als deren Vorbild er u. a. die Fabian Society sieht (GzK: 18). Gramsci polemisiert gegen ein positivistisches Lernverständnis und setzt sich mit der vorherrschenden Lernkultur an Schulen und Hochschulen auseinander. Wenn Bildung gesellschaftliche Emanzipationsprozesse befördern wolle, müsse die traditionelle Lehr- und Lernkonzeption grundlegend verändert werden. Voraussetzung sei die Umgestaltung und strukturelle Neugestaltung des gesamten Bildungswesens (siehe Merkens 2004: 19 f.). Das Schulwesen in Italien sei „ein rein bürgerlicher Organismus“, „ein Privileg“, das beseitigt werden müsse (GzK: 68 f.). Ungeachtet ihrer Vermögensverhältnisse müsse allen jungen Menschen der Zugang zu einem höheren Bildungswesen gewährt werden und nicht nur jenen Kindern, die sich aufgrund ihrer sozialen Herkunft ökonomischer Unabhängigkeit erfreuen würden, welche ihnen ein sorgenfreies Studium ermögliche (GzK: 69). Es gehe um eine universelle Bildung:

„Das Proletariat bedarf einer nicht unmittelbar zweckgebundenen Schule. Einer Schule, in der dem Kind die Möglichkeit gegeben wird, sich heranzubilden, ein Mensch zu werden, jene allgemeinen Gesichtspunkte in sich aufzunehmen, die der Entwicklung des Charakters dienen. […] Eine Schule, welche die Zukunft des Kindes nicht mit einer Hypothek belastet und seinen Willen, seine Intelligenz und sein Bewusstsein, die sich gerade erst formen, nicht auf ein Gleis mit im Vorhinein bestimmten Zielbahnhof zwingen.“ (GzK: 70)

Neben den allgemeinbildenden Schulen beschäftigt sich Gramsci insbesondere mit dem Berufsschulwesen. Er ist davon überzeugt, dass eine ausschließlich auf den Beruf fokussierte Bildung für Arbeiter:innenkinder die Knechtschaft verewige und wirkliche Bildung verhindere:

„Die Berufsschule darf keine Brutstätte werden für kleine, in steriler Weise auf einen Beruf gedrillte Automaten ohne allgemeine weiterreichende Vorstellungen, ohne Allgemeinbildung, ohne Seele, versehen lediglich mit einem untrüglichen Blick und einer sicheren Hand.“ (GzK 70)

Mit Nachdruck kritisiert Gramsci die Bildungsarbeit der von der sozialistischen Partei getragenen Volkshochschulen, deren Aufgabe es doch eigentlich sein müsse, für Nichtakademiker:innen subjekt- und problemorientierte wissenschaftliche Zugänge zu schaffen. Die Volkshochschulen in Turin hingegen würden „nutzlose und Zeit vergeudende Kurse“ abhalten und eine „äußerst lästige[] Zunft von siebengescheiten Besserwissern“ herausbilden, „die schon glauben, das Universum ergründet zu haben, wenn sie nur dank einem guten Gedächtnis eine gewisse Anzahl von Einzeldaten und -kenntnissen in dessen Schubfächer“ einordnen könnten (GzK: 74). Das von den Volkshochschulen verbreitete enzyklopädische Wissen sei ein Bestandteil jener „Halbbildung“, welche „nicht die Vorstufe der Bildung“, sondern wie Adorno später treffend bemerken wird, „ihr Todfeind“ ist, denn „Bildungselemente, die ins Bewusstsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren“ (Adorno 2006: 42).

Die Leiter der Volkshochschule, so Gramsci weiter,

„wirken aus einem leutselig-faden Geiste von Wohltätigkeit heraus. Wie in gewöhnlichen Wohltätigkeitseinrichtungen verteilen sie in der Schule Körbe voll Nahrung, die den Magen füllt, ihn vielleicht auch verstopft, aber keine Spur hinterlässt, kein neues, andersartiges Leben bewirkt. Die Leiter der Volkshochschule wissen, dass die von ihnen geführte Einrichtung einer bestimmten Kategorie von Menschen dienen soll, die nicht den regulären Unterricht in den Schulen absolvieren konnte. Und fertig. Sie machen sich keine Gedanken, wie diese Kategorie von Menschen am wirksamsten an die Welt des Wissens herangeführt werden kann. Sie finden in den bereits bestehenden Bildungseinrichtungen ein Modell vor: Und sie kopieren es, nur auf schlechtere Weise.“ (GzK: 72)

Statt einer Reproduktion enzyklopädischen Wissens bedürfe es einer neuen lebendigen universellen Bildungspraxis, welche die Aneignung von Wissen als historische „Abfolge von Anstrengungen, Irrtümern und Triumphen“ erfahrbar mache (GzK: 73). Der in den Volkshochschulen praktizierte Unterricht hingegen sei eine theologische Unterweisung, „eine Wiederbelebung der jesuitischen Schule, in der Wissen als etwas Endgültiges, apodiktisch Unanfechtbares dargeboten“ werde (GzK: 72). Die Lernenden müssten zur kritischen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt und in ihren tastenden Versuchen der Weltaneignung bestärkt werden. Bildung müsse individuell/kollektiv von Lehrenden und Lernenden als ein Werkzeug zur Selbstfindung der Subjekte und ihrer Klasse erfahren werden. Es bedürfe einer „Schule der Freiheit und der freien Initiative und nicht eine[r] Schule der Knechtschaft und des mechanischen Lernens“ (GzK: 70). Diesen Gedanken wird Gramsci mit dem Modell einer humanistischen Einheitsschule in den Gefängnisheften erneut aufnehmen. Letztlich kann diese Freiheit, Gramscis Überzeugung folgend, „nur in der Allianz mit sozialer Gebundenheit geschichtlich realisiert werden“ (Bernhard 2005: 42). Denn erst in der Überwindung der gesellschaftlich produzierten Vereinzelung des Menschen und der Klassenspaltung sowie der universalisierten Konkurrenz des traditionellen Bildungssystems kann sich die humanistische Einheitsschule im Gramscianischen Sinne herausbilden, in der intellektuelle und praktische Kompetenzen als untrennbare Einheit in einer „allumfassende[n] Schule“ zusammengeführt werden, die sich zum Ziel setzt, „alle Zweige des menschlichen Wissens sogleich zu umschließen“ (GzK: 79).

Gramsci vertritt in den hier ausgewählten Frühschriften einen emphatisch-kämpferischen und optimistischen Bildungsbegriff, „in dem der grundlegende Aspekt der Tiefenwirkung selbsttätiger Welterschließung mit dem demokratietheoretisch fundamentalen Gedanken der selbst bestimmten Gestaltung der Lebensverhältnisse verknüpft ist“ (Bernhard 2005: 45), ohne die Gefahr des sich ankündigenden Faschismus zu übersehen.

3.3 Die terminologische Beweglichkeit der geschichts- und gesellschaftsanalytischen Kategorie der Hegemonie

„Das wirkliche Babel ist nicht so sehr dort, wo verschiedene Sprachen gesprochen werden, sondern dort, wo alle glauben, dieselbe Sprache zu sprechen und ein jeder denselben Worten eine andere Bedeutung gibt.“

(Ugo Bernasconi zitiert nach Gramsci 1991ff: 1773)

Gramscis hegemonietheoretische Überlegungen beschreiben das widersprüchliche Feld von politischer Macht und gesellschaftlicher Emanzipation und entziehen sich einer einfachen Definition. In Grundzügen soll im Folgenden die enorme Spannweite, die Viel- und Mehrdeutigkeit, die sich verändernde und mehrmals neu lancierte Verwendung des Hegemoniebegriffs sowie dessen „terminologische Beweglichkeit“, die nicht Beliebigkeit bedeutet, aufgezeigt werden (Barfuss/Jehle 2014: 26). „Mit Recht ist Hegemonie ein zentraler Begriff materialistischer Theoriebildung geworden, weil er sowohl ökonomische und politische als auch kulturelle Perspektiven zu integrieren vermag“ (Martin/Wissel 2015: 220). Nur im Vorgang „der konkreten Erforschung der vergangenen Geschichte und in der Tätigkeit der Schaffung neuer Geschichte“ kann die konstitutive Bedeutung des Menschen als einer nicht feststehenden und damit wandelbaren Natur erfasst werden (Gramsci 1991ff.: 473). Die Abschottung des Geschichtsprozesses vermittels verdinglichter Begrifflichkeiten nimmt der historisch-materialistischen Theoriebildung ihren analytischen, kritischen und philosophischen Gehalt. Der historische Materialismus wird so zu einem starren Lehrgebäude, das ein Begreifen des geschichtlichen Prozesses in seiner Widersprüchlichkeit verunmöglicht. Gramsci grenzt sich in seinen Überlegungen einerseits von einem mechanizistischen, ökonomistischem Basis-Überbau-Schema ab, andererseits negiert er aber auch einen simplifizierenden Ideologismus, der nicht die Sozialstrukturen der Gesellschaft in den Blick nimmt. Bereits vor seiner Verhaftung – in einer Rede vor dem Zentralkomitee der PCI im Mai 1925 – benutzt Gramsci den Begriff Hegemonie. Der hier noch in Anlehnung an Lenin verwendete Hegemoniebegriff bezieht sich auf die Vorrangstellung einer Gruppe innerhalb eines Klassenbündnisses (Barfuss/Jehle 2014: 25). So müsse analysiert werden, „welches die Hauptprobleme des Lebens in Italien sind und welche Lösung dafür das revolutionäre Bündnis zwischen Proletariat und Bauern fördert und herbeiführt und die Hegemonie des Proletariats verwirklicht“ (PGK: 136). In der unvollendeten Abhandlung Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens, die er im Herbst 1926 verfasst, unterscheidet Gramsci dann im Hinblick auf den Hegemoniebegriff zwischen „führende[r] und herrschende[r] Klasse“ (PGK: 191). Die Differenzierung zwischen Führung und Herrschaft und die gesellschaftspolitisch relevante Analyse der Begriffe wird Gramsci in den Gefängnisheften wieder aufnehmen und um Erkenntnisse erweitern, die er u. a. aus den hegemonietheoretischen Überlegungen zur Machtpolitik der ModeratiFootnote 33 gewinnt. Sie ermöglicht es ihm, den Hegemoniebegriff, den er zunächst noch ähnlich wie Lenin für eine sozialistische Strategiediskussion nutzt, mit der Problematik der Stabilität kapitalistischer Verhältnisse zu verknüpfen (Opratko 2014: 34). Durch einen Prozess des „Transformismus“ (Gramsci 1991ff.: 1947), der „Revolution ohne Revolution“, d. h. der „passive[n] Revolution“ hätten die Moderati in der Zeit des Risorgimento zur führenden gesellschaftlichen Gruppe aufsteigen können (Gramsci 1991ff.: 102).Footnote 34 Die analytische Betrachtung der Politik der Moderati gestattet es Gramsci, den Doppelcharakter von „Führen“ und „Herrschen“ zu bestimmen:

„Das historisch-politische Kriterium, das den eigentlichen Untersuchungen zugrunde gelegt werden muss, ist Folgendes: Dass eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. Deswegen kann eine Klasse, bereits bevor sie an die Macht kommt, ‚führend‘ sein (und muss es sein): Wenn sie an der Macht ist, wird sie herrschend, bleibt aber auch weiterhin ‚führend‘.“ (Gramsci 1991ff.: 101)

Gramscis Überlegungen beziehen sich hier zunächst auf das Klassenbündnis. Wenige Sätze später formuliert er seinen gedanklichen Ansatz um und verwendet den Hegemoniebegriff:

„Es kann und es muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben.“ (Gramsci 1991ff.: 102)

Exemplarisch wird diese „politische Hegemonie“ am Kampf der Jakobiner während der Französischen Revolution ausgeführt, die

„Zwang [gebrauchten], aber immer im Sinne der realen historischen Entwicklung, weil sie nicht nur den bürgerlichen Staat begründeten, aus dem Bürgertum die ‚herrschende‘ Klasse machten, sondern (in einem gewissen Sinne) noch mehr leisteten, aus dem Bürgertum die führende, hegemoniale Klasse machten, das heißt, dem Staat eine dauernde Basis verliehen.“ (Gramsci 1991ff.: 112)

Gramsci betrachtet aber auch „[d]ie normale Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes“ und schlussfolgert daraus, dass Hegemonie „sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens [auszeichnet], die sich die Waage halten, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt“ (Gramsci 1991ff.: 120). Das Hegemoniekonzept beschreibt einen zentralen Modus bürgerlicher Herrschaft, der es dominanten gesellschaftlichen Kräften ermöglicht, politisch führend zu werden und der die Bedeutung von „Regierung mit dem Konsens der Regierten“ annimmt (Gramsci 1991ff.: 117),

„aber mit dem organisierten Konsens, nicht mit einem allgemeinen und vagen, wie er sich zum Zeitpunkt der Wahlen äußerst: Der Staat hat und verlangt den Konsens, aber er ‚erzieht‘ auch zu diesem Konsens mittels der politischen und gewerkschaftlichen Vereinigungen.“ (Gramsci 1991ff.: 117 f.)

Herrschaft beruht laut Gramsci auf der dynamischen Fähigkeit dominanter Kräfte, ihre Werte und Normen als führend durchzusetzen, die nicht in einer binären Struktur, einem einfachen Befehls- und Gehorsamsschemata aufgehen. Entsprechend des jeweiligen Kontextes wird der Fokus des Hegemoniebegriffs verschoben (Barfuss/Jehle 2014: 27). So erörtert Gramsci im ersten Gefängnisheft die sich im Gefolge von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg etablierende industrielle Warenproduktion in den USA, die er begrifflich als FordismusFootnote 35 fasst, wie folgt:

„In Amerika gibt es die forcierte Ausarbeitung eines neuen Menschentyps: Aber die Phase ist erst in ihren Anfängen und daher (anscheinend) idyllisch. Es ist noch die Phase der psycho-physischen Anpassung an die neue industrielle Struktur, noch ist es nicht (wenn nicht vielleicht sporadisch) zu einer ‚superstrukturellen‘ Blüte gekommen, daher ist die Grundfrage der Hegemonie noch nicht gestellt worden.“ (Gramsci 1991ff: 133)

Zu diesem Zeitpunkt ist keineswegs gewiss, ob sich die in den USA neu herausbildende Produktionsweise mit ihren rationalisierten Fertigungsmethoden durchsetzen wird oder ob nicht die fordistische Arbeits- und Lebensweise die Regeneration und Reproduktion der Arbeitskraft verunmöglicht (Gramsci 1991ff.: 132 f; Barfuss/Jehle 2014: 27). Gramsci verweist aber auch im ersten Gefängnisheft auf eine andere, in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu stehende hegemonietheoretische Dimension, welche seiner Auffassung nach die historisch-politische Forschung berücksichtigen muss: Die Moderati, zumeist Intellektuelle, hätten als führende Schicht „auf ‚spontane‘ Art und Weise eine mächtige Anziehung auf die ganze Masse Intellektueller“ ausgeübt (Gramsci 1991ff.: 102). Dies zeige, dass

„es keine unabhängige Klasse von Intellektuellen [gibt], sondern jede Klasse ihre Intellektuellen [hat]; aber die Intellektuellen der historisch progressiven Klasse üben eine solche Anziehungskraft aus, dass sie sich letztlich die Intellektuellen der anderen Klassen unterordnen und eine Atmosphäre der Solidarität aller Intellektuellen mit Bindungen psychologischer (Eitelkeit, usw.) und häufig kastenmäßiger (technisch-rechtlicher, kooperativer) Art schaffen.“ (Gramsci 1991ff.: 102)

Im vierten Gefängnisheft betont Gramsci dann, dass „die Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Produktion nicht unmittelbar ist“ (Gramsci 1991ff.: 515). Vielmehr hätten die Intellektuellen „die Funktion, die gesellschaftliche Hegemonie einer Gruppe und ihre staatliche Herrschaft zu organisieren, das heißt, den durch das Prestige der Funktion in die Produktionssphäre gegebenen Konsens“ zu gestalten (Gramsci 1991ff.: 515).

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Gramsci kein widerspruchsfreies, konsistentes Hegemoniekonzept entwickelt, sondern es wird – dem jeweiligen Kontext entsprechend – unterschiedlich akzentuiert. Immer ist jedoch die Doppelperspektive von Zwang und Konsens bedeutsam, deren unterschiedliches Mischungsverhältnis Gramsci analysiert. Mitunter markiert Hegemonie aber auch einen direkten Kontrapunkt zum Zwang (Gramsci 1991ff.: 783; Barfuss/Jehle 2014: 27). Diese „terminologische Beweglichkeit“ der geschichts- und gesellschaftsanalytischen Kategorie Hegemonie ermöglicht es Gramsci, (historische) Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Aufbau und Konsolidierung fordistischer Produktionsformen, gesellschaftliche Beziehungsmuster, aber auch auf Emanzipation zielende Projekte zu analysieren und zu reflektieren (Barfuss/Jehle 2014: 24 ff.).

Wie oben bereits dargelegt, erweitert der Begriff des „Prestige[s]“, aber auch der „der Anziehungskraft“, welche laut Gramsci „die Intellektuellen der historisch progressiven Klassen [aus]üben“, den Hegemoniebegriff (Gramsci 1991ff.: 102). In Anlehnung an Bochmann weisen Barfuss und Jehle in ihrer Einführung zu Gramsci darauf hin, dass die für die hegemonietheoretische Debatte bedeutsamen Begriffe „Prestige und „Anziehungskraft“ auf Gramscis frühe linguistische Studien zurückgehen (Barfuss/Jehle 2014: 27 f.).Footnote 36 „Prestige und Anziehungskraft“ im Sinne von Ausstrahlung sowie Hegemonie sind (sozio-)linguistische Synonyme, die ursächliche Sprachveränderungen im Bereich der Nationalsprachen und Dialekte bezeichnen (Bochmann 1999a: 163). Deren Wandel wird in Gramscis philologischen Skripten nicht nur sprachimmanent, sondern auch als ein Ausdruck sich verändernder gesellschaftlicher Konstellationen gefasst (Barfuss/Jehle 2014: 28). Immer wird die hegemonische Stellung einer Sprache oder eines Dialekts dafür verantwortlich gemacht, dass Sprecher anderer Sprachen oder Dialekte Wörter oder grammatische Formen übernehmen“ (Bochmann 1999a: 163).Footnote 37

Während Gramsci noch in der Euphorie der Oktoberrevolution im Juli 1919 in einem Artikel des L’Ordine Nuovo davon spricht, dass Lenin der Mann sei, „der Prestige ausstrahlt, der die Völker entflammt und diszipliniert, der Mann, dem es mit seinem großen Verstand gelingt, alle gesellschaftlichen Energien der Welt zu beherrschen“ (PGK: 34), wirkt das Hegemoniekonzept der Gefängnishefte reflektierter. Gramsci grenzt sich hier einerseits gegen „ein Übermaß an ‚Ideologismus‘“ ab (Gramsci 1991ff.: 1557), welches „sich auf die großen Einzelpersönlichkeiten fixiert“ (Rehmann 2008: 85) und „das ‚voluntaristische‘ und individuelle Element“ hervorhebt (Gramsci 1991ff.: 1557). Andererseits wendet er sich aber auch gegen „ein Übermaß an ‚Ökonomismus‘ oder doktrinärer Pedanterie“, in dem „die mechanischen Ursachen überschätzt“ werden (Gramsci 1991ff.: 1557). In einem anderen Zusammenhang hat auch Lipietz darauf aufmerksam gemacht, dass „[w]eder die Politik noch die Ideologien Reflexe ökonomischer Kräfte“ sind (Lipietz 1992: 9).

Gramsci unterscheidet gesellschaftliche Strukturen nach jenen, die permanent bzw. organisch und jenen, die konjunkturell und gelegenheitsbedingt sind (Gramsci 1991ff.: 1557). Sein Hegemoniebegriff ist keine Kategorie, die eine Strategie oder Taktik bezeichnet. Verstanden werden kann sie nur als ein theoretisches Konzept zur Erschließung komplizierter historisch-gesellschaftlicher Transformations- und Umgestaltungsprozesse. So kann das Mosaik des Hegemoniekonzeptes nur angemessen erfasst werden, wenn auch die Perspektive gesellschaftlicher Veränderungen in emanzipativer Absicht nicht aus dem Blick gerät. Mit dem bereits oben angeführten Zitat – „Es kann und es muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben“ (Gramsci 1991ff.: 102) – rückt ins Zentrum der Betrachtung, „was in den an die russische Oktoberrevolution angelehnten Revolutionsversuchen nach dem 1. Weltkrieg auf verhängnisvolle Weise unterschätzt wurde“ (Rehmann 2008: 93). Ausgehend von den traumatischen Erfahrungen des Scheiterns der revolutionären Bestrebungen in Westeuropa und in kritischer Selbstreflexion verknüpft Gramsci hegemonietheoretische Überlegungen immer wieder mit Fragen der gesellschaftlichen Emanzipation und (Selbst)-Befreiung. „Die Geschichte der subalternen Klassen“, so Gramsci, „ist notwendiger Weise bruchstückhaft und episodisch“; „die subalternen Klassen erleiden die Initiative der herrschenden Klasse, auch wenn sie sich auflehnen“ (Gramsci 1991ff.: 344). Um sich gegen Herrschaft zu erheben, die nicht nur auf Zwangselementen beruht, sondern auch die konsensuale Einbindung der Beherrschten in bestehende politische, ökonomische und soziokulturelle Verhältnisse impliziert, müssen „[d]ie Risse im Gebälk“ transparent, gegenhegemoniale Perspektiven entwickelt und „Möglichkeiten emanzipativen Handelns“ ausgelotet werden (Brand 2005: 7). Konsens darf dabei nicht als „harmonischer Interessensausgleich“ missverstanden werden. „Der Begriff ist vielmehr vor dem Hintergrund sozialer Kämpfe und sich im politischen Prozess artikulierender (und teilweise erst bildender) Interessen zu verstehen“ (Brand 2005: 9).

„Das hegemoniale Gegenüber von Herrschenden und Beherrschten, von Regierenden und Regierten, ist ein Verhältnis, das stets auf Kompromissen basiert, das durch Aushandlungskämpfe sowie das widersprüchliche Ringen der Subalternen um Partizipation und Teilhabe geprägt ist.“ (Merkens 2010: 195)

Dabei kann ein

„gewisses Gleichgewicht des Kompromisses [..], dass also die führende Gruppe Opfer kooperativ-ökonomischer Art bringt […], nicht das Wesentliche betreffen […]. Hegemonie […] kann nicht umhin ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt.“ (Gramsci 1991ff: 1567)

Das theoretische Wissen um die Strukturen und spezifischen Kräfteverhältnisse, so Gramscis Grundüberzeugung, ist im Kampf um wirkliche Emanzipation „ein geschichtliches Werden“ und kein notwendiger Ausgangspunkt befreienden Handelns (Gramsci 1991ff.: 1384). „Die auf den ersten Blick nicht sichtbaren Mechanismen sowie Macht- und Herrschaftskonstellationen können so als historisch entstandene und veränderbare dechiffriert werden“ (Brand 2005: 25). Fortwährend bedarf es eines „Gespür(s) für ‚Unterscheidung‘ und ‚Loslösung‘“ (Gramsci 1991ff.: 1384). Im Prozess des Untergrabens alter Hegemonie wirken bereits gegenhegemoniale Praxen (Barfuss/Jehle 2014: 28).Footnote 38

Die Produktivität von Gramscis hegemonietheoretischen Überlegungen liegt in der Integration ökonomischer, politischer und kultureller Perspektiven, die in ihrem Zusammenhang neu gedacht werden können (Barfuss/Jehle 2014: 29; Martin/Wissel 2015: 220). Die Viel- und Mehrdeutigkeit des Hegemoniebegriffs, der sich einer eindeutigen Definition entzieht, ist, wie Barfuss und Jehle im Verweis auf die Marxsche Warenanalyse hervorheben, „geschichtliche Tat“, welche den Blick öffnet, für „die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge“ (MEW 23: 49 f.; Barfuss/Jehle 2014: 29). So auch Gramscis Hegemoniebegriff, der die Ideenproduktion nicht von den historisch-gesellschaftlichen Konflikten trennt, sondern in eine Konstellation mit ihnen bringt, die der Widersprüchlichkeit und den realen Bewegungsmomenten der historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung trägt. Wie noch zu zeigen sein wird, ist es gerade diese geschichtsmaterialistische Erweiterung des Hegemoniebegriffs, die einen politikdidaktischen Zugang ermöglicht, der sich nicht über ein zukünftiges Ideal konstruiert, sondern der die Eingebundenheit des (institutionell gebundenen) politischen Unterrichts in eine historisch-gesellschaftlich entstandene Hegemonialstruktur bestimmt.

3.3.1 Hegemonie als pädagogisches Verhältnis und dessen Bedeutung für die Politikdidaktik

Die vor seiner Inhaftierung in kurzen Analysen und Artikeln sowie in seiner praktischen politischen Tätigkeit entwickelten bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Ansätze nimmt Gramsci in Gefangenschaft erneut kritisch differenzierend auf und strukturiert sie entlang hegemonietheoretischer Fragestellungen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht dabei, wie Merkens anschaulich darlegt, „das Thema der hegemonialen Expansion in gesellschaftlichen Erziehungsprozessen“ (Merkens 2004: 26).

Wie bereits skizziert, analysiert Gramsci die Machtpolitik der Moderati und leitet daraus einen ersten, für die hegemonietheoretischen Überlegungen bedeutsamen Gedanken ab, dessen Kern der Doppelcharakter von Führung und Herrschaft ist. Der Begriff der Herrschaft wird im Kontext dessen analog zum Begriff des Zwanges, der tatsächlichen oder auch potentiellen Ausübung von Gewalt gefasst. Den Moderati sei es ohne den Einsatz unmittelbarer physischer Gewalt in einer „Revolution ohne Revolution“ gelungen (Gramsci 1991ff.: 102), über ihre Lebensweise, ihr ideologisches und kulturelles Prestige, ihre „spontane Anziehung“ (Gramsci 1991ff.: 103), eine moralisch-ethische Ausstrahlungskraft zu entfalten, die ihre politische Vorherrschaft begründet habe (Merkens 2004: 27). Durch einen allmählichen Prozess des „Transformismus“ (Gramsci 1991ff.: 1947), der die ideologische Übernahme gegnerischer Kräfte impliziert habe, hätten die Moderati zur führenden gesellschaftlichen Gruppe aufsteigen können. Aus seinen historisch-politischen Forschungen leitet Gramsci das grundlegende „methodologische Kriterium“ seiner hegemonietheoretischen Überlegungen ab,

„dass sich die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als ‚Herrschaft‘ und als ‚intellektuelle und moralische Führung‘. Eine gesellschaftliche Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie ‚auszuschalten‘ oder mit Waffengewalt zu unterwerfen trachtet, und sie ist führend gegenüber den verwandten und verbündeten Gruppen. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine Hauptbedingung der Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch ‚führend‘ sein.“ (Gramsci 1991ff.: 1947)

In der paradigmatisch an der Politik der Moderati aufgezeigten Fähigkeit, eine kulturelle und moralische Ausstrahlungskraft zu entwickeln, die über das unmittelbar eigene Lager hinaus bestimmend für das Denken und alltägliche kulturelle Handeln der Menschen wird, sieht Gramsci, so Merkens, „zugleich die Kernkompetenz bürgerlicher Herrschaft in ihrer hegemonialen Form“ (Merkens 2004: 27). Historisch unterscheidet sich dabei die bürgerliche Klasse von allen „vorhergegangenen herrschenden Klassen“, da sie „ihre Klassensphäre ‚technisch‘ und ideologisch“ ausweitet (Gramsci 1991ff.: 943). Sie entwickelt enorme Bindekräfte:

„Die bürgerliche Klasse setzt sich selbst als einen in beständiger Bewegung befindlichen Organismus, der in der Lage ist, die gesamte Gesellschaft aufzusaugen, indem er sie seinem kulturellen und ökonomischen Niveau angleicht […].“ (Gramsci 1991ff.: 943)

Im Unterschied zur Herrschaft, die auf „reiner Zwangsgewalt“ beruht (Gramsci 1991ff.: 354), basiert Führung immer auch auf der Fähigkeit, die eigene Welt- und Lebensdeutung als ein gesamtgesellschaftliches Projekt durchzusetzen. Die Führungskompetenz realisiert sich in der Fähigkeit der Führenden, die Geführten zu überzeugen und einzubinden, Loyalität und Konsens zu schaffen. Konsens darf dabei jedoch nicht als harmonischer Interessensausgleich missverstanden werden. Zwangsläufig beinhaltet Hegemonie „die Elemente der Universalisierung und der Kompromisse“ (Opratko 2014: 43, Hervorh. im Orig.). Hegemoniefähig wird eine gesellschaftliche Gruppe oder Klasse nur, wenn sie den Bereich des Eigeninteresses überschreitet:

„Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, dass also die führende Gruppe Opfer kooperativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt.“ (Gramsci 1991ff.: 1567)Footnote 39

Aus den partikularen Interessen einer Gruppe/Klasse müssen verallgemeinerungsfähige Bezugspunkte werden, welche die Interessen und Bedürfnisse der unterworfenen Subjekte „durch eine Dynamik der Universalisierung, die bestimmte Elemente subalternen Bewusstseins, Alltagserfahrungen, historisch gewachsene Ideologien und materielle Bedürfnisse berücksichtigt und in sich aufnimmt“ (Opratko 2014: 43). Gramsci setzt sich so von der die Problematik simplifizierenden These ab, dass die Subalternen manipuliert seien und über ein „falsches Bewusstsein“ verfügen würden, was ihrem eigentlichen Bewusstsein widerspreche (Opratko 2014: 43). Komplementär dazu wird die Führungsstärke einer gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse durch repressive Herrschaftsmomente ergänzt. Dieses Hegemoniekonzept lenkt den Blick auf den historischen Sachverhalt, dass Führung und Herrschaft dialektisch miteinander verknüpft sind und, „dass die Analyse ihrer jeweiligen Legierungsverhältnisse auf dem Boden der jeweiligen Reproduktionsbedingungen die unhintergehbare Grundlage geschichtlichen Handelns darstellt“ (Bernhard 2005: 119 f.). Die kulturell, moralisch-ethisch ausgerichtete Führung vergesellschaftet sich wesentlich in erzieherischen Formen.

„Geht die politische Hegemonie wesentlich in der Fähigkeit einer Partei oder einer sozialen Bewegung auf, führend im Hinblick auf die Organisation verschiedener politischer Gruppierungen zu sein, so basiert die kulturelle Hegemonie auf der führenden Position in der Schaffung der konsensualen kulturellen, moralischen und geistigen Mentalität in der Gesellschaft.“ (Bernhard 2005: 120, Hervorh. im Orig.)

Auf diese Weise wird zunächst mit dem Hegemoniebegriff eine bestimmte Form der politischen Macht skizziert, die im Rückgriff auf Croces Begriffe durch Zustimmung und Konsens auf der Ebene der Kultur, Ethik und Moral fungiert. Im Unterschied zu Croces Denkmodell jedoch transformiert Gramsci diese dem Idealismus verhafteten Überlegungen, indem er sie in die Problematiken des Marxismus, des Basis-Überbau-Verhältnisses, das bei Gramsci in den Begriffen der „Strukturen“ und „Superstrukturen“ gefasst wird, überführt.

„Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle ‚Ebenen‘ festlegen – diejenige, die man die Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘ nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin ‚privat‘ genannten Organismen und diejenige der ‚politischen Gesellschaft oder des Staates‘ – die der Funktion der Hegemonie, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der ‚direkten Herrschaft‘ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ‚formellen‘ Regierung ausdrückt, entsprechen.“ (Gramsci 1991ff.: 1502)

Demzufolge wird Hegemonie den Superstrukturen zugeordnet und findet auf der „Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘“ statt, die das Ensemble „der gemeinhin ‚privat‘ genannten Organismen“ umfasst (Gramsci 1991ff.: 1502). Die „Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘“ scheidet er von der Ebene „der ‚direkten Herrschaft‘ oder des Kommandos“, die vom Zwang bestimmt ist und gleich der Zivilgesellschaft den Superstrukturen zugeordnet wird, aber als ‚politische Gesellschaft‘ den Staat im engeren Sinne (Regierung, Parlamente, Justiz, Militär etc.) meint (Gramsci 1991ff.: 1502). An entscheidender anderer Stelle bestimmt Gramsci aber auch die Zivilgesellschaft als einen Teil des Staates, der sich in der prägnanten Formel verdichtet: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“ (Gramsci 1991ff.: 783). „Der Staatsbegriff wird somit“, wie Opratko erläutert, „‚erweitert‘ und erfährt eine grundlegende theoretische Neubestimmung“ (Opratko 2014: 37). Entscheidend für Gramsci ist die besondere Form politischer Herrschaft, die der bürgerliche Staat in seiner jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Form annimmt und entlang derer er seine differenten Funktionen bestimmt. In Folge erweist es sich für Gramsci als sekundär, ob ein Apparat oder eine Institution als staatlich oder öffentlich gilt (Opratko 2014: 37). Wenn der bürgerliche Staat nicht nur über Gewalt- und Zwangsverhältnisse, also über seine direkte politische Herrschaft, bestandsfähig ist, dann müssen die Orte der Hegemonieproduktion selbst auch als Teil des Staates begriffen werden (Opratko 2014: 37). Das heißt, „dass man unter Staat außer dem Regierungsapparat auch den ‚privaten‘ Hegemonieapparat oder Zivilgesellschaft verstehen muss“ (Gramsci 1991ff.: 816). Der bürgerliche Staat, der Zivilgesellschaft und politische Herrschaft umfasst, wird daher als ein erweiterter, als „integraler Staat“ gefasst, der sich regulierend, in vielfach verzweigten Formen in die Zivilgesellschaft erstreckt (Gramsci 1991ff.: 718; 824). Zentrale Aufgabe herrschender Gesellschaftsgruppen ist es, „ihre politischen Ziele, ihre gesellschaftlichen Projekte und moralisch-ethischen Werte in pädagogische Formen zu überführen, d. h. eine erzieherische Wirkung zu entfalten“ (Merkens 2010: 196).

Der in Gramscis hegemonietheoretischen Überlegungen zentrale Begriff der Führung ist, wie der Erziehungswissenschaftler Armin Bernhard hervorhebt, bereits historisch eng mit dem Begriff der Pädagogik verknüpft (Bernhard 2005: 118). Gramsci geht von einem politischen Erziehungsverhältnis aus, das die Gesamtgesellschaft strukturiert und weit über institutionalisierte Formen wie beispielsweise Schulen hinausweist. Über eine „Pluralität von Hegemonialapparaten, die als institutionelle Posten der erzieherischen Interventionen des Staates fungieren“ (Merkens 2004: 28), zu denen die Schule, die Medien, aber auch (Sport-)Vereine, Kirchen etc. zählen, wird demnach die menschliche Persönlichkeit geformt:

„[D]as pädagogische Verhältnis kann nicht nur auf die spezifisch ‚schulischen‘ Beziehungen eingegrenzt werden. […] Dieses Verhältnis existiert in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und für jedes Individuum in Bezug auf andere Individuen, zwischen intellektuellen und nicht intellektuellen Schichten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Eliten und Anhängern, zwischen Führenden und Geführten, zwischen Avantgarden und dem Gros der Truppen. Jedes Verhältnis von ‚Hegemonie‘ ist notwendigerweise ein pädagogisches Verhältnis.“ (Gramsci 1991ff.: 1335)

Die Lebens- und Kulturweise der Menschen insgesamt muss sich in einem reproduktiven Entsprechungsverhältnis zu den Anforderungen einer sich beständig verändernden kapitalistische Produktionsweise befinden.

„Die Schule als positive Erziehungsfunktion und die Gerichte als repressive und negative Erziehungsfunktion sind in dieser Hinsicht die wichtigsten staatlichen Aktivitäten: aber in Wirklichkeit zielt darauf eine Vielzahl anderer so genannter privater Aktivitäten und Initiativen, die den Apparat der politischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden Klasse bilden.“ (Gramsci 1991ff.: 1043)

Gramsci analysiert diese neue Lebensweise unter anderem vor dem Hintergrund des so genannten FordismusFootnote 40, der sich historisch im Gefolge von Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise zunächst in den USA etablierenden Form der industriellen Warenproduktion:

„Das Leben in der Industrie erfordert eine allgemeine Ausbildung, einen Prozess der psycho-physischen Anpassung an bestimmte Bedingungen der Arbeit, der Ernährung, der Wohnung, der Gewohnheiten usw., was nichts Angeborenes ‚Natürliches‘ ist, sondern erworben sein will.“ (Gramsci 1991ff.: 2072)

Die moralisch-ethischen Interventionen des Staates und der Unternehmer:innen, die jenen „Prozess der psycho-physischen Anpassungen an bestimmte Bedingungen der Arbeit“ beförderten und auf die Herausbildung „neue[r] Menschheitstypen“ zielten, werden hier problematisiert (Gramsci 1991ff.: 1544). Die „neue[n] Menschheitstypen“ entsprachen den Maßgaben der den Fordismus bestimmenden tayloristischen Arbeitsweise (Gramsci 1991ff.: 1544). Das tayloristische Programm der wissenschaftlichen Betriebsführung tritt für eine klare Trennung von planenden und ausführenden Arbeiten ein.Footnote 41 So zielte der Taylorismus auf eine extreme Verschärfung der Arbeitsteilung, die eindeutige Trennung von Kopf- und Handarbeit, welche durch höhere Löhne flankiert werden sollte, um die Arbeiter:innen für ihre nicht mehr geforderte (handwerkliche) Qualifikation und die Intensivierung der Arbeit zu entschädigen. Sämtliche Fertigungsabschnitte des Arbeitsprozesses werden in Teilabschnitte zerlegt und nachträglich verbunden. Mit Hilfe eines rigiden Kontrollsystems werden die einzelnen Arbeitsschritte überwacht:

„Was eine angemessene Tagesleistung darstellt, wird eine Frage für wissenschaftliche Untersuchungen, statt ein Gegenstand zu sein, über den man handelt und feilscht. Das ‚Sich-Drücken‘ oder Zurückhalten mit der Arbeit wird aufhören, weil kein Grund mehr dafür vorhanden sein wird.“ (Taylor 1995: 154 f.)

Die problemlose, massenhafte Rekrutierung und Eingliederung ungelernter Arbeiter:innen in die Produktionsabläufe ist hier angedacht. Sie setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa durch.Footnote 42

Der auf der tayloristischen Arbeitsteilung basierende Fordismus disziplinierte die Arbeiter:innen und schuf durch höhere Löhne neue Konsummöglichkeiten für breite Bevölkerungsschichten.Footnote 43 Jenseits der Lohnarbeit entstanden Freiräume für soziale und kulturelle Aktivitäten, welche die Einbindung der zivilgesellschaftlichen Räume begünstigte:

„Man denke an den Zuwachs, der dadurch sowohl an unseren täglichen Lebensbedürfnissen wie an Luxusgegenständen vorhanden sein würde. Man denke, welche Möglichkeiten sich damit eröffnen, die Arbeitsstunden, falls es wünschenswert erscheinen sollte, zu verkürzen, welche Zunahme an Gelegenheiten zur Erhöhung von Bildung und Kultur und zur Erholung damit geschaffen würde.“ (Taylor 1983: 154)

Zu Gramscis Lebzeiten, in der beginnenden Ära des Fordismus, war es keineswegs gewiss, ob sich die neue Produktionsweise als dominant erweisen und der „erzieherische Druck“ in einem weitgehenden Einverständnis und gesellschaftlichem Konformismus münden würde. Früh wirft Gramsci die Frage auf, ob die mit den Zwängen der tayloristischen Arbeitsorganisation einhergehenden Freiheiten letztlich nicht doch als Elemente einer Disziplinierung begriffen werden müssten, die in funktionaler Abhängigkeit zu dem sich herausbildenden Produktionsmodell ständen (Gramsci 1991ff.: 130 ff.). Auch wenn Gramscis Analysen weit über den zeitgeschichtlichen Kontext hinausweisen, darf nicht verkannt werden, dass seinen Untersuchungen diese konkrete Kapitalismusformation zugrunde liegt, welche er unter dem Stichwort „Fordismus“ bzw. „Amerikanismus“ problematisiert.

Joachim Hirsch und Roland Roth betonen in ihrer in den 1980er Jahren verfassten Analyse Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus, dass die „fordistische Vergesellschaftungsform, die sich unter amerikanischer Hegemonie durchgesetzt hatte, eine Reihe international gemeinsamer und zusammenhängender Strukturmerkmale [aufwies]“, auch wenn „nationale Besonderheiten und Ungleichzeitigkeiten“ bestanden (Hirsch/Roth 1986: 46). Hirsch hebt diese gemeinsamen Strukturmerkmale auch in späteren Schriften hervor:

„Der ‚keynesianische Wohlfahrtsstaat‘, der die politische Struktur der entwickelten kapitalistischen Länder in der Ära des Fordismus in unterschiedlichem Ausmaß, aber als bestimmende Tendenz geprägt hatte, gründete sich auf ein Akkumulationsregime, das sich durch hohe Wachstumsraten, die Ausdehnung des Massenkonsums, eine beschleunigte Durchkapitalisierung der Gesellschaft (insbesondere des Bereichs der Arbeitskraftreproduktion) und eine starke Ausdehnung der Lohnarbeit (zu Lasten agrarischer und handwerklicher Produktion) sowie häuslicher Dienste […] auszeichnete.“ (Hirsch 1990: 102)

In der gegenwärtigen historisch-gesellschaftlichen Situation, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, haben sich die Akkumulations- und Verwertungsbedingungen des Kapitals verändert. Die gesellschaftlichen Strukturen aber, so die grundlegende Erkenntnis der Hegemonietheorie, deren Kernaussagen vorliegende Arbeit teilt, konstituieren und erhalten sich nicht zuletzt über die Herstellung von Zustimmung und Einverständnis, die nicht nur den politischen Verhältnissen insgesamt gilt, sondern auch zu einer alltäglichen Praxis in Familie, Schule und am Arbeitsplatz wird (Eis/Hammermeister 2017: 131). Gesellschaftliche Entwicklungen werden also nicht nur „von oben“ gewaltsam repressiv oder ideologisch manipulativ durchgesetzt, sondern von den Beherrschten passiv akzeptiert oder sogar affirmiert, auch wenn die repressive Dimension nicht verschwindet (Merkens 2010: 194 f.). „[A]uf Hegemonie basierende Herrschaftsformen sind dadurch bestimmt, dass sie eine spezifische Balance zwischen den Elementen des Zwangs und des Konsenses realisieren“ (Merkens 2010: 195), denn auf Dauer lässt sich kein Macht- und Herrschaftsverhältnis ausschließlich über Repression aufrechterhalten.Footnote 44 Herrschaft beruht auf der dynamischen Fähigkeit dominanter Kräfte, ihre Werte und Normen als führend durchzusetzen, die nicht in einer binären Struktur, einem einfachen Befehls- und Gehorsamsschemata, aufgehen, sondern die gegnerischen und subalternen Interessen müssen Berücksichtigung finden.

„Das hegemoniale Gegenüber von Herrschenden und Beherrschten, von Regierenden und Regierten, ist ein Verhältnis, das stets auf Kompromissen basiert, das durch Aushandlungskämpfe sowie das widersprüchliche Ringen der Subalternen […] um Partizipation und Teilhabe geprägt ist.“ (Merkens 2010: 195)

Hegemonie jedoch „kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt“ (Gramsci 1991ff.: 1567).

„Ideologisches Terrain“ der gesellschaftlichen Kämpfe um Hegemonie – auch darin folgen die Überlegungen Gramsci – ist die societa civile, die so genannte Zivilgesellschaft (Gramsci 1991ff.: 1264). Sie umfasst, wie bereits oben dargestellt, sowohl staatliche als auch nicht staatliche Institutionen, schließt den Bereich der Erziehung und Bildung ein und besitzt eine relative gesellschaftliche Autonomie, d. h. sie kann nicht als funktionale und konsistente Reproduktionsbeziehung gedacht werden, in der Kapitalverwertungsstrategien unmittelbar aufgehen.

„Gramsci macht in Schulen und anderen Hegemonialapparaten immer auch die Momente einer widerständigen und gegen-hegemonialen Praxis aus. Überhaupt basiert politische Hegemonie für Gramsci stets auf der Vermittlung gesellschaftlicher Antagonismen, die zwar die Vorherrschaft einer Gruppe qua Führung kennt, dennoch immer durchdrungen ist von oppositionellen Bewegungen.“ (Merkens 2004: 29)

Die Zivilgesellschaft nutzt Gramsci als einen analytischen Begriff. Er kann so von dem Bereich der gesellschaftlichen Produktion und der societa politica, der sog. politischen Gesellschaft, die den Staat im engeren Sinne umfasst, unterschieden werden. In der Realität jedoch bilden die drei genannten Sphären die widersprüchliche Einheit einer komplizierten sozialen Organisationsform. In diesem Zusammenhang weist Bernhard darauf hin:

„Die Konzeptionen, Weltsichten, Ideologeme, die im zivilgesellschaftlichen Kontext entwickelt werden, sind nicht Ausfluss der Direktiven gesellschaftlicher Produktion oder politischer Gesellschaft, sondern setzen sich erst in einem widersprüchlichen Prozess in Angebote der Konsensbildung um, die auch in offene Gegensätze zu diesen Direktiven treten können.“ (Bernhard: 2005: 137 f.)

Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten staatliche Institutionen und zugleich „ideologisches Terrain“ sind, also ein Bestandteil des integralen Staates, „auf dem die Menschen das Bewusstsein von den Strukturkonflikten“ erlangen (Gramsci 1991ff.: 1264). Auf diesem Terrain eignen sich Heranwachsende gesellschaftspolitisches Deutungswissen und Weltdeutungen an. Sie übernehmen (un)bewusst Vorstellungen über Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und gestalten es dementsprechend mit. Zugleich können aber auch hier bestehende Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt, angefochten und verworfen werden. Auf diesem zivilgesellschaftlichen „ideologischen Terrain“ finden Kämpfe um Hegemonie statt (Gramsci 1991ff.: 1264), d. h. das Verhältnis von Regierenden und Regierten, Führenden und Geführten konstituiert sich nicht zuletzt auf diesem Feld. Die politische Hegemonie einer gesellschaftlichen Gruppe/Klasse wird in fortlaufenden Auseinandersetzungen manifestiert oder auch zurückgewiesen und umgeschrieben. Wenn es auf dem „ideologischen Terrain“ der Zivilgesellschaft darum gehen soll (Gramsci 1991ff.: 1264), „die Regierten von den Regierenden unabhängig zu machen, eine Hegemonie zu zerstören und eine andere zu schaffen“ (Gramsci 1991ff.: 1325), dann ist m. E. eine (institutionelle) politische Bildungsarbeit unerlässlich, welche die Alltagspraxen in den Blick nimmt und die den Lehrenden als Lernenden begreift und umgekehrt.

Die in dieser Arbeit angestrebte pädagogische und politikdidaktische Deutung von Hegemonie veranschaulicht, dass Hegemonieverhältnisse wechselseitige Praxisverhältnisse sind. Einer dichotomen Festschreibung von Herrschaftsverhältnissen kann so entgegengewirkt werden. Jede gesellschaftliche Veränderung schließt die menschliche Selbstveränderung ein, sowie umgekehrt die Selbstveränderung Bedingung der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist; „jeder Lehrer [ist] immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer“ (Gramsci 1991ff: 1335). Gramscis praxisphilosophisches gesamtgesellschaftliches Verständnis von Hegemonie rekurriert in seiner materialistischen Theoriebildung auf die Feuerbachthesen und nimmt das geforderte Maß an Selbstreflexivität auf.Footnote 45 Das Gramsciansche Hegemoniekonzept im Allgemeinen kann so als ein „pädagogisches Verhältnis“ begriffen werden, als „ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen“ (Gramsci 1991ff.: 1335). Besondere Bedeutung kommt diesem Verhältnis sowohl in der theoretischen politischen Lernprozessanalyse zu als auch im praktischen (institutionell gebundenen) politischen Unterricht. Will dieser Lernbereich seinem eigenen Anspruch genügen, d. h. zu politischer Mündigkeit erziehen und zu selbstreflexiver Kritik befähigen, muss er die Wirkmächtigkeit hegemonialer Strukturen in den Blick nehmen, die in Abhängigkeit zum Alltagsverstand stehen, mit welchem sich das nachfolgende Unterkapitel beschäftigt.

3.4 Der Alltagsverstand als Ausgangspunkt kritisch-kollektiver Bewusstseins- und Bildungsprozesse

„Der Alltagsverstand – italienisch senso comune – ist der Boden, auf dem wir uns alle immer schon bewegen.“

(Barfuss/Jehle 2014: 36)

Gesellschaft ist ein historischer Komplex menschlicher Verhältnisse, welcher von Menschen gemacht, nicht nur instabil und sich permanent verändert, sondern in vielfältiger Weise von Widersprüchen charakterisiert ist.

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8: 115)

Marx findet seinen theoretischen Schwerpunkt in der politischen Ökonomie und verfolgt damit das konkrete Ziel, das Alltagsleben bzw. -denken zu erfassen und umzuwälzen. In den politisch-ökonomischen sowie historisch konkreten Analysen wird jedoch der Alltagsverstand selten zu einer selbstständigen Kategorie systematischer Auseinandersetzungen.

Auf Grundlage der Marxschen Begrifflichkeiten analysiert Gramsci vor dem jeweiligen historisch-gesellschaftspolitischen Hintergrund die Bedeutung des Alltagsverstandes und dessen widersprüchliche Einbindung in die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Hinblick darauf, wie die Subalternen selbst zu einer hegemonialen Kraft werden und sich aus Fremdbestimmung befreien können. Anlass, den Alltagsverstand entlang virulenter Fragen von Hegemonie zu erörtern, geben die praktisch gewonnenen Erfahrungen in der Turiner Rätebewegung. In den Jahren 1919/20 war der Umschlag der Revolte von den Fabriken in die Gesellschaft misslungen.Footnote 46 Versuche der Turiner Fabrikräte die revolutionären Bestrebungen in einer institutionell emanzipativen Bildungspraxis zu verankern, welche über die Streik- und Besetzungsphase in den Turiner Fabriken hinaus kritische und selbst bestimmte Lernprozesse hätte initiieren können, waren gescheitert. „Hier machte er“, Gramsci, wie Merkens festhält,

„die Erfahrung, dass die Spontaneität und die Vielfältigkeit der Bewegung sich in mangelnder Kohärenz und geringer struktureller Verbindlichkeit niederschlugen, dass keine Vermittlung in die Gesellschaft gelang, die führend oder organisierend gewirkt hätte, so dass die notwendige politische und kulturelle Durchsetzungsfähigkeit der Räte ausblieb.“ (Merkens 2004: 32 f.)

Ausgehend von diesen Erfahrungen erklärt Gramsci die kritische Analyse des Alltagsverstandes zum wichtigsten Ausgangspunkt einer „Philosophie der Praxis“ (Gramsci 1991ff.: 1395). Diese methodische Forderung nimmt die im Alltagsverstand enthaltenen Erfahrungen und Einsichten ernst und basiert auf einem Verständnis kritisch-kollektiver Bildungsprozesse, das die Blockierungen und Widersprüche ausfindig zu machen sucht, welche die alltäglichen Praxen und Selbstverständlichkeiten der Menschen bestimmen, die sich gesellschaftlich emanzipativen Projekten entgegenstellen.Footnote 47 Gramsci geht dabei davon aus, dass es „nicht einen einzigen Alltagsverstand“ gibt, vielmehr ist er „eine Kollektivbezeichnung wie ‚Religion‘“, „ein historisches Produkt und ein geschichtliches Werden“, dessen massenhaft wirksamen Elemente es in kritisch-kollektiven Bildungsprozessen für jede Zeit neu zu bestimmen gilt (Gramsci 1991ff.: 1377).

Der Alltagsverstand ist als „Philosophie der Nicht-Philosophen“ (Gramsci 1991ff.: 1393) „spontan die Philosophie der Volksmenge“ (Gramsci 1991ff.: 1395), „das heißt die unkritisch von den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus aufgenommene Weltauffassung“ (Gramsci 1991ff.: 1393), die nicht nur das im Bewusstsein verankerte Selbst- und Weltverständnis umfasst, sondern auch alltägliche Handlungen und Praxen sowie unbewusste Dispositionen einschließt (Opratko 2014: 44). Ein entscheidendes Charakteristikum des Alltagsverstandes in der bürgerlichen Gesellschaft ist seine Widersprüchlichkeit, seine Inkohärenz. In der Regel ist die Weltauffassung des Alltagsverstandes „zufällig und zusammenhanglos“, der einzelne gehört

„gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: Es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vorangegangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zu eigen sein wird.“ (Gramsci 1991ff.: 1376)

Der Alltagsverstand ist also „ein zweideutiger, widersprüchlicher, vielgestaltiger Begriff“ (Gramsci 1991ff: 1397), „Ort einer spezifischen Widersprüchlichkeit“ (Merkens 2004: 33). Er ist „auf bornierte Weise neuerungsfeindlich und konservativ“ (Gramsci 1991ff.: 1397), zugleich können sich im Alltagsverstand Elemente von Marginalisierung, Ausbeutung und Unterdrückung verdichten, die zum „Ausgangspunkt des ‚Bruches‘ und der emanzipatorischen Umgestaltung von Gesellschaft“ werden (Merkens 2004: 33). „Aber die Existenz der objektiven Bedingungen oder Möglichkeiten oder Freiheiten reicht noch nicht aus: Es gilt, sie zu ‚erkennen‘ und sich ihrer bedienen zu können. Sich ihrer bedienen zu wollen“ (Gramsci 1991ff.: 1341). Emanzipatorische Lernprozesse werden demnach nicht als aufklärerische Praxis verstanden, die es „von außen“ an die Lernenden heranzutragen gilt, sondern sie finden ihre Basis im Alltagsverstand selbst, dessen Inkohärenzen Ausgangspunkt emanzipatorischer Lernprozesse sind (Rehmann 2008: 89).

Aufgabe eines reflektierten, progressiven politischen (Selbst-)Projektes muss es sein, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Alltagsverstandes wahrzunehmen, Überzeugungen und Urteile zu überprüfen und kritisch immer wieder neu in Frage zu stellen. Denn im Alltagsverstand haben sich sowohl rationale Denk- und Handlungsweisen als auch „unterschiedliche historische Epochen wie Gesteinsschichten“ und Überzeugungen sedimentiert (Rehmann 2008: 88), die „sich immer wieder verknöchern und nur aus Mangel an Kritik fortbestehen“ (Barfuss/Jehle 2014: 37). Die bürgerliche Hegemonie erlangt ihre Stabilität über den Alltagsverstand, in dem sich Selbstverständlichkeiten und gewohnte Praxen festschreiben (Opratko 2014: 45), welche „von der Vergangenheit ererbt und ohne Kritik übernommen“ wurden (Gramsci 1991ff.: 1384). Sowie gesellschaftliche Gruppen des herrschenden Machtblocks danach trachten, ihrer Weltauffassung entsprechend, „einen bestimmten Alltagsverstand zu überwinden, um daraus einen anderen, zur Weltauffassung der führenden Gruppe besser passenden zu schaffen“ (Gramsci 1991ff.: 1395 f.), so müssen im fortwährenden Kampf auch die subalternen gesellschaftlichen Kräfte darum ringen, andere Weltauffassungen im Denken und Handeln des Alltagsverstandes zu etablieren. Jehle hat darauf hingewiesen, dass der italienische Ausdruck senso comune, der in der deutschen Gramsci-Rezeption weitestgehend mit Alltagsverstand übersetzt werde, keineswegs zufällig mit dem für die hegemonietheoretische Diskussion zentralen Begriff des Konsenses eng verbunden ist. Im Deutschen fehle jedoch ein „eindeutiges Äquivalent“ und der „linguistische[] Kontakt“ werde so zerschnitten (Jehle 1994: Spalte: 163 ff.). Diese Übersetzung biete aber den Vorteil, „dass die Orientierungsfähigkeit in den Problemen des Alltagslebens als eigenständiges Moment der praktischen Klugheit ernst genommen wird“ (Jehle 1994: Spalte: 166).Footnote 48

Für ein politisch emanzipatives Projekt stellt sich mit Gramsci die Frage, wie Lernende in politischen Lernprozessen die Fähigkeit entwickeln können, nicht in vorgefertigten Strukturen zu denken und zu handeln und „dem eigenen Handeln eine bewusste Richtung“ geben können (Gramsci 1991ff.: 1379). Kritisch an der immer wieder neu in Frage zu stellenden Kohärenz zu arbeiten, bedeutet sich mit dem „gesunde[n] Kern des Alltagsverstandes“ zu verbünden (Gramsci 1991ff.: 1379), den Gramsci als buonsenso bezeichnet und der im Deutschen in der Regel ein wenig missverständlich mit „gesunder Menschenverstand“ übersetzt wird.Footnote 49 Die im Alltagsverstand enthaltene „gewisse Dosis von ‚Experimentiergeist‘ und unmittelbarer Realitätsbeobachtung“ gilt es zu entwickeln (Gramsci 1991ff.: 1338).

3.4.1 Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft

Damit die Subalternen nicht zu politisch passiven Opfern oder auch zu Mitakteur:innen einer fremdbestimmten Geschichte werden, müssen sie sich als gesellschaftliches Wesen in ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit und Pluralität verstehen. Das menschliche Wesen realisiert sich für Gramsci in gesellschaftlich bestimmten (Praxis-) Verhältnissen als ein widersprüchliches Werden. Nur im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen, d. h. nur im Zusammenhang mit den historisch-spezifischen Produktions- und kulturellen Lebensweisen kann der Mensch analysiert werden, der sich keinem ‚natürlichen Ursprung‘ verdankt (Merkens 2004 30). Damit hebt Gramsci die von Grund auf gesellschaftliche Komponiertheit der menschlichen Natur hervor. Der Mensch artikuliert sich fortwährend als „das Ensemble der historisch bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Gramsci 1991ff.: 1574), was „die Idee des Werdens“ einschließt (Gramsci 1991ff.: 891). „Die Idee des Werdens“ kann nicht gleich gesetzt werden mit dem „Fortschritt“, auch wenn die „Fortschrittsidee“ mit „der Idee des Werdens“ verknüpft ist (Gramsci 1991ff.: 1339 f.).

„Der Fortschritt ist eine Ideologie, das Werden ist eine philosophische Konzeption. Der ‚Fortschritt‘ hängt von einer bestimmten Mentalität ab, in deren Konstitution gewisse historisch determinierte kulturelle Elemente eingehen; das ‚Werden‘ ist ein philosophischer Begriff, in dem der Fortschritt abwesend sein kann.“ (Gramsci 1991ff.: 1338 f.)

Der Mensch verändert sich beständig „mit dem Sich-Verändern der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Gramsci 1991ff.: 891), was keinen Automatismus des Fortschritts impliziert.

Die „Philosophie der Praxis“, die nicht von der Politik zu trennen ist,

„muss folglich erklären, wie es kommt, dass zu jeder Zeit viele Systeme und Strömungen der Philosophie koexistieren, wie sie entstehen, wie sie sich verbreiten, warum sie bei der Verbreitung gewissen Bruchlinien und gewissen Richtungen folgen usw. Dies zeigt, wie sehr es nötig ist, die eigenen Irritationen von der Welt und vom Leben kritisch und kohärent zu systematisieren und genau festzulegen, was unter ‚System‘ verstanden werden soll, damit es nicht im pedantischen und professoralen Sinn des Wortes verstanden wird. Aber diese Ausarbeitung darf und kann nur im Rahmen der Philosophiegeschichte gemacht werden, die zeigt, welche Ausarbeitung der Gedanke im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat und welche kollektive Anstrengung unsere aktuelle Denkweise gekostet hat, die diese gesamte vergangene Geschichte resümiert und umfasst, auch in ihren Irrtümern und ihren Wahngebilden, wobei im Übrigen, auch wenn sie in der Vergangenheit begangen und berichtigt worden sind, nicht ausgemacht ist, dass sie sich in der Gegenwart nicht wiederholen und erneut berichtigt zu werden verlangen.“ (Gramsci 1991ff.: 1379)

Wie bereits oben erwähnt, grenzen sich Gramscis theoretische Ansätze explizit von einem analytisch ontologischen Verständnis der Menschwerdung ab, welches er als ein „‚theologisches‘ und ‚metaphysisches‘ Überbleibsel“ brandmarkt (Gramsci 1991ff.: 890). Als „concordia discors“, als unharmonische Harmonie, „die nicht von der Einheit ausgeht, sondern in sich die Gründe einer möglichen Einheit hat“, stellt sich der Mensch als Widerspruch dar (Gramsci 1991ff.: 891). Die Frage: „Was ist der Mensch?“ ist „keine abstrakte und objektive Frage“ (Gramsci 1991ff.: 1346 f.). Die „Philosophie der Praxis“ liefert den Nachweis, „dass es kein abstraktes ‚menschliches Wesen‘ gibt“ (Gramsci 1991ff.: 1574). Die bisherige Philosophie, so Gramscis Kritik, reduziert den Menschen auf seine Singularität:

„Bei jedem Einzelmenschen lässt sich finden, was jeder ‚Einzelmensch‘ ist. Aber uns interessiert nicht, was jeder Einzelmensch ist, was schließlich heißt, was jeder Einzelmensch in jedem Einzelmoment ist. Wenn wir dies bedenken, sehen wir, dass wir, wenn wir uns die Frage stellen, was der Mensch ist, sagen wollen: Wozu kann der Mensch werden, ob nämlich der Mensch das eigene Schicksal beherrschen kann, ob er ‚sich machen‘ kann, sich ein Leben schaffen kann. Sagen wir also, dass der Mensch ein Prozess ist und dass er genau der Prozess seiner Handlungen ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1346)

Dementsprechend will die „Philosophie der Praxis“ den Begriff vom Menschen reformieren:

„Das heißt, man muss den Menschen als eine Abfolge tätiger Verhältnisse (als einen Prozess) begreifen, wobei die Individualität die größte Bedeutung hat, jedoch nicht das einzige Element ist, das es zu berücksichtigen gilt.“ (Gramsci 1991ff.: 1347)

Die „Individualität“ des Menschen muss in seiner historisch-tätigen Beziehung zum gesellschaftlichen Ganzen analysiert werden. „Der Mensch ist“, so Gramsci,

„zu begreifen als ein geschichtlicher Block von rein individuellen, subjektiven Elementen und von massenhaften, objektiven oder materiellen Elementen, zu denen das Individuum eine tätige Beziehung unterhält.“ (Gramsci 1991ff.: 1341)

Diese Matrix nimmt nicht nur die historische und gesellschaftliche Rückgebundenheit aller Bildungs- und Erziehungsprozesse des Menschen in den Blick; sie ist auch mit Elementen einer eingreifenden, gesellschaftsverändernden Praxis verknüpft, deren grundlegendes und bestimmendes Moment die Selbstpotenzierung der Subjekte ist. Die „tätige Beziehung“, die Aneignung und (Um-)Gestaltung des gesellschaftlichen Ensembles „heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln“ (Gramsci 1991ff.: 1341 f.). Von den gesellschaftlichen Verhältnissen und seinen konkreten Lebensbedingungen wird die „eigene Persönlichkeit“ des Individuums „geschaffen“, welche nach „Maßgabe der eigenen Machtgrenzen“ aktiv über die individuell historisch-spezifische Verarbeitung des Gesellschaftlichen auf die Verhältnisse und die damit verbundenen Lebensumstände zurückwirkt (Gramsci 1991ff: 1341; siehe Merkens 2004: 31). Die Persönlichkeitsentwicklung ist also Gramsci zufolge eine „tätige Beziehung“ und nicht ein individueller Prozess (Gramsci 1991ff.: 1341). Der Mensch verwirklicht sich in der bewussten selbst ermächtigenden Aneignung von Gesellschaft, was für Gramsci ein politischer Prozess ist:

„Daher kann man sagen, dass der Mensch wesentlich ‚politisch‘ ist, denn die Tätigkeit zur bewussten Umformung und Leitung der anderen Menschen verwirklicht seine ‚Menschlichkeit‘, ‚sein menschliches Wesen‘.“ (Gramsci 1991ff.: 1342)

Auf der Grundlage dieser gesellschaftsanthropologischen Auslegung des Menschen werden die Konturen des Gramscianschen Bildungs- und Erziehungsverständnis erkennbar.Footnote 50 Im Zentrum von Gramscis Überlegungen steht die geschichtsphilosophische Selbstermächtigung des Menschen zum geschichtspolitischen Handeln. Gramsci hebt in der historisch-materialistischen Anthropologie hervor, dass

„jedes Individuum nicht nur die Synthese der bestehenden Verhältnisse ist, sondern auch die Geschichte dieser Verhältnisse, das heißt, es ist die Zusammenfassung der gesamten Vergangenheit. Man wird sagen, es sei recht wenig, was das einzelne Individuum seinen Kräften gemäß zu ändern vermag. Was nur bis zu einem gewissen Punkt stimmt. Denn der einzelne kann sich mit all denen zusammenschließen, die dieselbe Veränderung wollen, und wenn diese Veränderung vernünftig ist, kann der einzelne sich in einem imponierenden Ausmaß vervielfachen und eine Veränderung erzielen, die viel radikaler ist, als es auf den ersten Blick möglich erscheint.“ (Gramsci 1991ff.: 1348)

Diese historisch-materialistische Anthropologie zielt auf einen Bildungsprozess bzw. „einen Prozess praktisch-kritischer Subjektwerdung, der die subalternen Akteure befähigt, sich als Synthese und Geschichte der Verhältnisse zu erkennen und sich damit zum politischen Akteur im geschichtlichen Werden zu erheben“ (Merkens 2004: 32). Nur so kann das Permanente der gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändert werden. Jede gesellschaftliche Veränderung schließt die menschliche Selbstveränderung ein, sowie die Selbstveränderung Bedingung der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

„Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden lässt und verändert. In diesem Sinn ist und kann der wirkliche Philosoph nichts anderes sein als der Politiker, das heißt der tätige Mensch, der die Umwelt verändert, wobei unter Umwelt das Ensemble der Verhältnisse zu verstehen ist, die jeder einzelne eingeht.“ (Gramsci 1991ff.: 1348)

Bildung bedeutet die intellektuelle Konfrontation mit der Wirklichkeit, die wiederum selbst ein praktisches Element des Lebensprozesses ist.

„Dieser Begriff von Bildung greift die Dialektik von Innenwelt und Außenwelt in der Bildung auf und entwirft Bildung als eine Kraft, die mit der Weiterentwicklung des Individuums die aktive Veränderung der gesellschaftlichen Umstände impliziert.“ (Bernhard 2005: 95)

Eine notwendige Voraussetzung ist die Analyse der in lebensweltlichen Sozialisationsprozessen erworbenen Wahrnehmungsmuster, Denk- und Handlungsweisen, welche zu einem praktischen Element des gesellschaftlichen Lebens und seiner Veränderung werden.

„Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ‚Erkenne dich selbst‘ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.“ (Gramsci 1991ff.: 1376)

Von Geburt an hat der Mensch Teil an einer Weltauffassung, „die mechanisch von der äußeren Umgebung ‚auferlegt‘ ist und zwar von einer der vielen gesellschaftlichen Gruppen, in die jeder automatisch von seinem Eintritt in die bewusste Welt an einbezogen ist“ (Gramsci 1991ff.: 1375). Der Zerrissenheit des Alltagsverstandes in Selbst- und Weltverhältnis, dem Dilemma „Konformist irgendeines Konformismus“ zu sein (Gramsci 1991ff.: 1376) und der daraus resultierenden politischen Passivität und Resignation gilt es in Bildungsprozessen, welche die historische (Selbst-) Bewusstwerdung befördern, entgegenzuwirken (Merkens 2004: 34). Gramsci spricht an einer anderen Stelle im Hinblick auf die Herausbildung eines kritischen Alltagsverstandes u. a. von der Notwendigkeit, einen „Geist der Abspaltung“ zu entwickeln, dessen „erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist“ (Gramsci 1991ff.: 374; siehe Merkens 2004: 34).

Für die politische Bildungsarbeit, die den Anspruch erhebt, auf gesellschaftliche Mündigkeit zu zielen, bedeutet dies zunächst, dass sie die Subjekte befähigen muss, ein analytisch distanziertes und kritisch reflektierendes Verhältnis zum eigenen Ich einzunehmen. Sie muss zudem die Lernenden darin bestärken,

„die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen.“ (Gramsci 1991ff.: 1375)

Eine derart gestaltete politische Bildungsarbeit zielt auf die Selbstermächtigung der Subjekte und stellt in Folge immer wieder herrschende Wissens- und Lernpraxen in Frage. Das „bedeutet nicht nur, individuell ‚originelle‘ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ‚vergesellschaften‘“ (Gramsci 1991ff.: 1377).

3.4.2 Die ideologische Besetzung des Alltagsverstandes

Gramscis Überlegungen zum Alltagsverstand nehmen die auf Sardinien gewonnenen Erfahrungen kritisch reflexiv auf und zeichnen ein komplexes Bild, das zum Leitfaden der konkreten Untersuchung der ideologischen Verhältnisse wird. So diskutiert Gramsci die ideologische Besetzung des Alltagsverstandes am Beispiel der Religion, die gerade in den ländlichen Regionen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine außerordentliche Stellung einnimmt.

„Die Hauptelemente des Alltagsverstandes werden von den Religionen geliefert, und folglich ist die Beziehung zwischen Alltagsverstand und Religion viel enger als zwischen Alltagsverstand und philosophischen Systemen der Intellektuellen.“ (Gramsci 1991ff.: 1394)

Um die ideologische Besetzung des Alltagsverstandes analysieren zu können, bedarf es eines differenzierten Blickes auf die den gegenwärtigen Alltagsverstand prägenden ideologischen Verhältnisse, welche die Untersuchung anleiten.

„Jede Religion, auch die katholische (sogar besonders die katholische, gerade aufgrund ihrer Anstrengungen, ‚an der Oberfläche‘ einheitlich zu bleiben, um nicht in Nationalkirchen und in soziale Schichtungen auseinander zu brechen), ist in Wirklichkeit eine Vielzahl unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Religionen: Es gibt einen Katholizismus der Bauern, einen Katholizismus der Kleinbürger und Arbeiter aus der Stadt, einen Katholizismus der Frauen und einen Katholizismus der Intellektuellen, der ebenfalls bunt gescheckt und unzusammenhängend ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1394)

Aber nicht nur die aktuell existierenden verschiedenen Formen des Katholizismus wirken im „gegenwärtigen Alltagsverstand“ (Gramsci 1991ff.: 1394). Beeinflussende Komponenten des gegenwärtigen Alltagsverstandes sind, so Gramsci, auch

„die vorhergehenden Religionen und die vorhergehenden Formen des gegenwärtigen Katholizismus, die ketzerischen Volksbewegungen, die mit den vergangenen Religionen verbundenen wissenschaftlichen Formen von Aberglauben usw.“ (Gramsci 1991ff.: 1394)

Jehle und Barfuss heben im Hinblick auf die Bedeutung, die Gramsci der Religion beimisst, die Arbeiten des 1975 ermordeten italienischen Filmregisseurs, Schriftstellers und Kritikers Pier Paolo Pasolini hervor (Barfuss/Jehle 2014: 39 ff.). In der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera veröffentlichte Pasolini in den 1970er Jahren eine Reihe von Polemiken, in denen er die plakative These vertrat, dass im fordistischen Italien die Herrschaftsideologie des Katholizismus durch einen „neue[n] laizistische[n] Hedonismus“ abgelöst worden sei, der „einen Prozess der Nivellierung“ zwischen den Gebieten der Peripherie und den Stadtzentren eingeleitet habe (Pasolini 2011: 41). Unter „hedonistischer Ideologie“ versteht Pasolini die „Ideologie des Konsums und [die] daraus folgende[] modernistische[] Toleranz amerikanischer Machart“, „das Anheizen der Konsumwut, die Mode, die Medien (allen voran in gewaltigem Ausmaß das Fernsehen)“ (Pasolini 2011: 48). Hauptmerkmal dieses Prozesses sei das Verschwinden der Kultur als Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts.

„Die vorausgegangene Herrschaftsideologie war, wie man weiß, die Religion: Der Katholizismus war in der Tat formal das einzige kulturelle Phänomen, das alle Italiener ‚einte‘. Heute muss er nun mit jenem neuen, ‚vereinheitlichenden‘ Kulturphänomen – dem allgemeinen Hedonismus – konkurrieren; und die neue Herrschaft hat schon seit einigen Jahren begonnen, ihn als Konkurrenten auszuschalten. Tatsächlich gibt es nichts Religiöses mehr in dem vom Fernsehen propagierten und verordneten Idealbild des jungen Mannes und der jungen Frau. Es sind zwei Personen, deren Leben sich nur über Konsum-Güter bestätigt (auch wenn sie immer noch sonntags zur Kirche gehen – im Auto selbstverständlich). Die Italiener haben dieses neue Modell mit Begeisterung akzeptiert, dieses Verhaltensmuster, das ihnen das Fernsehen gemäß den Normen der Produktion, dieser Schöpferin allen Wohlstands (oder besser: Retterin aus dem Elend), verordnet hat.“ (Pasolini 2011: 41)

Vor diesem Hintergrund spricht Pasolini von einer „anthropologischen Revolution in Italien“ (Pasolini 2011: 47); im Konsumismus sieht er einen Totalitarismus, der die Konsumideologie auf die gesamte Welt ausdehnen wolle. Die bisweilen überspitzte Reaktion Pasolinis lässt erkennen, „welche kulturelle Erschütterung die konsumistische Umgestaltung der Gesellschaften damals darstellte“ (Barfuss/Jehle 2014: 40). Die durch Rationalisierung und Massenproduktion ausgelösten Produktivitätssteigerungen, welche die Spielräume der Unternehmen erheblich erweiterten und den Unternehmen die Möglichkeit boten, die Preise für Waren zu senken, Gewinne sowie Löhne zu erhöhen bzw. die Arbeitszeiten zu reduzieren und damit neue Formen der Konsummöglichkeiten schufen, hat Gramsci im Unterschied zu Pasolini nur in Ansätzen kennen gelernt und analysiert. Henry Fords Schriften, welche den Zusammenhang von Massenproduktion und -konsumtion zur künftigen Unternehmensphilosophie erheben, finden zwar bereits in der Zwischenkriegszeit größere Verbreitung in Europa, endgültig setzt sich diese Form der Kapitalverwertung und das damit verbundene Gesellschafts- und Konsummodell aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Eine Folge dieser neuen Kapitalverwertungsstrategie ist laut Pasolini die Zerstörung der vielfältigen sozialen Lebensformen, „die Gleichförmigkeit in den Lebensäußerungen“, die Einebnung der Kulturen (Pasolini 2011: 60). Freiheitsvorstellungen seien in dieser konsumistischen Massenkultur mit einer „Pflicht“ zum Konsumieren aufgeladen worden: „Der Drang zu konsumieren ist der Drang, einem unausgesprochenen Befehl zu gehorchen“ (Pasolini 2011: 60). Mit dem Gefühl von Freiheit erfüllen die Menschen Konsumimperative, deren Durchsetzung „durch die Revolution in den Infrastrukturen und die Revolution im Informationswesen“ garantiert werde (Pasolini 2011: 41).

„Kein faschistischer Zentralismus hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat. Der Faschismus propagierte ein reaktionäres und monumentales Modell, das aber auf dem Papier blieb. Die verschiedenen Sonderkulturen (die der Bauern, der Subproletarier, der Arbeiter) orientierten sich weiter unbeirrbar an ihren überlieferten Modellen […]. Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum das ganze Land, das historisch außerordentlich vielfältig […] war, seinem Bilde angeglichen. […] Das Zentrum erhob seine Modelle, wie gesagt, zur Norm, zu Normen der neuen Industrialisierung, die sich nicht mehr zufriedengibt, dass der ‚Mensch konsumiert‘, sondern mit dem Anspruch auftritt, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben.“ (Pasolini 2011: 40 f.)

Die Anforderungen der Konsumgesellschaft, so Pasolini, werden von den Individuen kollektiv verinnerlicht. Diese konformistische Anpassung an den transformierten Kapitalismus führe – weitergehender als der Faschismus der Vorkriegszeit – zu einer Auslöschung kultureller Differenzen, zur Beseitigung aller Formen des Andersseins. Er erhebe den kleinbürgerlichen Menschentypus zum einzig nachahmenswerten Modell, von dem kein Teil der Gesellschaft verschont bleibe.

Angesichts der sich in den 1950er Jahren rasch in Europa ausbreitenden Massenkommunikation, „die den Alltagsverstand mit ihrer Konsumausrichtung wirksam mitformt“ (Barfuss/Jehle 2014: 41), wirken Pasolinis Befürchtungen – wenn auch überspitzt provozierend – nicht ganz unberechtigt: Scheint die Welt bis in die 1980er Jahre doch aus Konsument:innen zu bestehen, in der vermeintlicher Weise Klassenunterschiede keine Rolle mehr spielen. Die seit Mitte der 1980er Jahre sich in vielen europäischen Ländern etablierenden neuen neoliberalen Erscheinungsformen wie die Einführung eines dualen Rundfunksystems „vom öffentlich-rechtlichen ‚Staats‘-Rundfunk zu einer gemischten Form mit einer Vielzahl von Privat- und Spartensendern“ stellen einen weiteren Einschnitt dar, der „mit einer zunehmenden Segmentierung der Öffentlichkeit und einer wachsenden Kommerzialisierung“ einhergeht (Barfuss/Jehle 2014: 41). Über dreißig Jahre Privatfernsehen haben die politische Kultur nachhaltig verändert; dies gilt insbesondere für Italien: Denn lange bevor Silvio Berlusconi Italiens Regierungschef wurde, gehörten dem „Medienzar“ drei Fernsehsender, in denen er in willfährigen Polit-Talk-Shows „seine Anhängerschaft im Stil eines Fanclubs organisierte“ und vermittelt über die Medienmacht politische Hegemonie bereits vor dem Regierungsantritt ausübte (Barfuss/Jehle 2014: 41). Die Allgegenwart der Forza Italia hat im Alltagsverstand Spuren hinterlassen.

Kritisch anzumerken ist jedoch, dass wider Pasolinis Annahme einer gesellschaftlichen Totalität des fordistischen Konsummodells die Deutungsmacht nie vollständig und unumstritten ist, auch wenn nicht von einem völlig offenen Prozess gesprochen werden kann. Pasolinis Augenmerk richtet sich primär, mit Gramsci gesprochen, auf „die unkritisch von den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus aufgenommene Weltauffassung“ (Gramsci 1991ff.: 1393). Er befürchtet, dass durch den allgegenwärtigen medial vermittelten Konsumzwang die im Alltagsverstand enthaltene „gewisse Dosis von ‚Experimentiergeist‘ und unmittelbarer Realitätsbeobachtung“ verloren gehen könnte (Gramsci 1991ff.: 1338). Der Alltagsverstand ist aber, Gramsci folgend, „keine einheitliche, in Raum und Zeit identische Auffassung“ (Gramsci 1991ff.: 1393 f.), sondern wird von der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt.Footnote 51 Die fordistische Regulationsweise stand, wie jede andere kapitalistische Regulationsweise, vor der Herausforderung, ein reproduktives Entsprechungsverhältnis von Arbeits- und Lebensverhältnissen zu schaffen, aufrecht zu erhalten und zu erneuern. Die hegemoniale Durchsetzung der jeweiligen Produktions- und Lebensweise und die Aufrechterhaltung der Reproduktionsanforderungen setzen laut Gramsci ein pädagogisches Regieren voraus: „Erziehungs- und Bildungsaufgabe des Staates“Footnote 52 ist es,

„die Moral der breitesten Volksmassen den Erfordernissen der ständigen Entwicklung des ökonomischen Produktionsapparates anzupassen, folglich auch physisch neue Menschheitstypen herauszuarbeiten.“ (Gramsci 1991ff.: 1544)

Der moderne bürgerliche Staat, d. h. der integrale und erzieherische Staat expandiert auch auf ursprünglich nicht staatlichen Terrains, denn um wirklich hegemonial führend agieren zu können, bedarf es notwendigerweise einer Erweiterung seines Handlungsfeldes. Die Grenzen von Staat und Zivilgesellschaft im modernen bürgerlichen Staat sind vielfältig und fließend, greifen ineinander und umfassen differente zivilgesellschaftliche Terrains, auf denen um kulturelle und politische Hegemonie gerungen wird. Führung, ob sie nun kulturell, politisch, moralisch-ethisch ausgerichtet ist, vergesellschaftet sich in pädagogischen Formen. Das heißt, damit sich spezifische Welt- und Lebensdeutungen als führend durchsetzen, müssen diese gesellschaftlichen Projekte eine erzieherische Wirkung entfalten und Einfluss nehmen auf das Denken bzw. Handeln der Menschen (Merkens 2010: 195 ff.).

Die These von Pasolini bleibt tagespolitisch nachvollziehbar, sie spart aber das komplexe Verhältnis von Religion und Alltagsverstand als ein vielfältig strukturiertes Feld von Wechselbeziehungen aus. Die Kirchen waren und sind mit ihren Wohlfahrtsverbänden immer in die widersprüchlichen Entwicklungstendenzen kapitalistischer Reproduktion, in die Regulation des Sozialen integriert (Lanz 2016: 18), und sie nehmen Einfluss auf den gegenwärtigen Alltagsverstand:

„So ist in den letzten Jahrzehnten gerade die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftskonzepte in vielen Fällen damit verbunden, dass Regierungen […] gesellschaftlich desintegrierende Wirkungen mit der verstärkten Förderung religiöser Institutionen abfedern und kompensieren oder ihre eigene Autorität mit derjenigen der Kirche zusätzlich festigen wollen.“ (Lebuhn/Schmidt 2016: 8)

Auch spielt im staatlichen Bildungsauftrag der Religionsunterricht eine nicht zu unterschätzende Rolle: In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise ist Religion das einzige Unterrichtsfach, das im Grundgesetz „mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schule“ als „ordentliches Lehrfach“ für öffentliche Schulen garantiert wird, welches nach Konfessionen getrennt unterrichtet werden muss (Art. 7 Abs. 3 GG); zudem ist die erteilte Note versetzungsrelevant. Religion erweist sich nicht nur als ein Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft, „sondern sie ist oftmals ein möglicher sozialer Identitäts- und Hoffnungsanker für Deklassierte“, bisweilen auch „Ausgangspunkt von Mobilisierungen für ein besseres Leben und eine bessere Gesellschaft“ (Lebuhn/Schmidt 2016: 8 f.).

In Anlehnung an Pasolini kann festgehalten werden, dass die primär fordistische Regulation in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zu einer wachsenden religiösen Gleichgültigkeit und zu einem ungeahnten Ausmaß bürgerlichen Konsums geführt hat. Der Abbau sozialstaatlicher Regulierungen und die zunehmenden ökonomischen und sozialen Ungleichheiten wiederum haben die Popularität religiöser Bewegungen erneut gestärkt (Lebuhn/Schmidt 2016: 9). So befinden sich auch außerhalb Europas religiöse Bewegungen, wie die Evangelikalen in den USA beispielsweise, im Aufschwung: Der neoliberale Workfare-Staat erfreut sich dort bei rechten Protestant:innen großer Beliebtheit (Solty 2016: 35 ff.).

Ausgespart bleibt bei Pasolini, dass auch bei der fordistischen Hegemonie von einem erzieherischen Verhältnis auszugehen ist, welches zwar tendenziell totalitär, aber in dem auch immer Subversion und Widerstand eine Rolle spielten. Die zeitweilige Stabilität des fordistischen Staates erklärt sich – und insofern sind Pasolinis Thesen zu verifizieren – darüber, dass sich die Lebensweise dem Alltagsverstand einschrieb und Menschen zu „Konformist[:innen] irgendeines Konformismus“ (Gramsci 1991ff.: 1376), zu Konsumist:innen irgendeines Konsumismus machte. Zugleich setzten sich nicht Wenige gegen einen überbordenden Konsum zur Wehr, was gegen Pasolinis Annahme spricht. So erreichte aller Einbindung des Alltagsverstandes zum Trotz die Kritik am Konsumismus in der Zeit fordistischer Hegemonie ein ungeahntes Ausmaß (siehe etwa Marcuse 1967, Adorno 2003, Steinert 1998).

3.4.3 Ungleichzeitigkeit und Alltagsverstand

Für Gramsci ist der Alltagsverstand

„die ‚Folklore‘ der Philosophie, und wie die Folklore bietet er sich in unzähligen Formen dar: Sein grundlegender und charakteristischer Zug ist es, eine (auch in den einzelnen Hirnen) auseinanderfallende, inkohärente, inkonsequente Auffassung zu sein, der gesellschaftlichen und kulturellen Stellung der Volksmengen entsprechend, deren Philosophie er ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1394)

Als „eine chaotische Ansammlung disparater Auffassungen“ lässt sich im Alltagsverstand „alles finden, was man will“ (Gramsci 1991ff.: 1396). Der Sozialwissenschaftler Rehmann hebt hervor, dass der Alltagsverstand bei Gramsci ein „Kampfplatz der gegensätzlichsten Tendenzen“ ist, in dem sich „unterschiedliche historische Epochen wie Gesteinsschichten“ sedimentiert haben (Rehmann 2008: 87f). Hier könne auf die – wenn auch in einem anderen Zusammenhang entstandene – Theorie der Ungleichzeitigkeit von Ernst Bloch hingewiesen werden, welche zu ähnlichen Beurteilungen und Schlussfolgerungen käme (Rehmann 2008: 88). Bloch habe 1932 in Erbschaft dieser Zeit „solche zeitlichen Diskrepanzen als Widersprüche der ‚Ungleichzeitigkeit‘“ bezeichnet (Rehmann: 2008: 88).

Bloch schreibt:

„Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.

Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach, leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück.“ (Bloch 1977: 104)

Diese Ungleichzeitigkeit weist weit in die deutsche Geschichte zurück:

„Immer schon war dieses deutsche Nationalpathos durchkreuzt von mittelalterlichen und feudalen Restbeständen (die ja keine Revolution aus ihrer politischen Macht entfernt hatte); so in der altdeutschen oder Ritterromantik, so in der Romantik des zweiten Kaiserreichs, der Butzenscheiben oder ‚deutschen Renaissance‘, so im Hohenstaufentraum des altdeutschen Imperialismus.“ (Bloch 1977: 97 f.)

Bloch geht davon aus, dass der Aufstieg der Nationalsozialisten durch die fehlenden Revolutionen in Deutschland begünstigt worden sei. „Die verschiedenen Besitzverhältnisse erzeugen aus sich noch keinen Kampf zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten“ (Bloch 1977: 107). Das Bauerntum, ob „Zwergbauern im Elend, Kleinbauern, Mittelbauern, Großbauern“, habe sich, „wenn nicht als einheitliche Klasse, so doch als relativ einheitlich gebliebener ‚Stand‘“ gefühlt (Bloch 1977: 107). In dem ungleichzeitigen Nebeneinander von tiefgreifender gesellschaftlicher Modernisierung und anachronistischen Produktionsformen, städtischen und traditionellen bzw. familiär-sozialen Strukturen hätten sich die Bauern nicht durch die Arbeiterschaft in den Städten vertreten gefühlt:

„Nicht nur die Agrarkrise treibt so Bauern nach rechts, wo sie sich durch Zölle gehalten glauben, wo man ihnen die genaue Wiederkehr der guten Zeit verspricht. Auch ihre gebundene Existenz, die relative Altform ihrer Produktionsverhältnisse, ihrer Sitten, ihres Kalenderlebens im Kreislauf einer unveränderten Natur widerspricht der Verstädterung, verbindet der Reaktion, die sich auf Ungleichzeitigkeit versteht.“ (Bloch 1977: 107)

„Eine verelendete ‚Mittelschicht‘“ wiederum, so Bloch weiter, „will zurück in den Vorkrieg, wo es ihr besser ging“, lasse irrationale „Hassbilder“ der mittelalterlichen Stadt auferstehen, „so das vom jüdischen Wucher als der Ausbeutung schlechthin“ (Bloch 1977: 108 f.).

„Mehr als je ist das Kleinbürgertum der feuchtwarme Humus für Ideologie; doch zeigt sich: Die heute grassierende Ideologie hat lange Wurzeln und längere als das Kleinbürgertum.“ (Bloch 1977: 109)

Die Widersprüche der Ungleichzeitigkeit, die mittelalterlichen und feudalen Restbestände in den Denk- und Fühlweisen der Bauern und des Mittelstandes, die Gegensätze zwischen Stadt und Land etc. seien von der nationalsozialistischen Propaganda immer wieder funktionalisiert worden, um gegen den brüchigen Verfassungskonsens der Weimarer Republik und die Arbeiterbewegung zu mobilisieren (Bloch 104 ff.; siehe Rehmann 2008: 88). Bloch schlussfolgert, dass die Ungleichzeitigkeit zum Anknüpfungspunkt für die Arbeiterbewegung werden müsse, deren Aufgabe es sei, „die zur Abneigung und Verwandlung fähigen Elemente […] des ungleichzeitigen Widerspruchs herauszulösen […] und sie zur Funktion in anderem Zusammenhang umzumontieren“ (Bloch 1977: 123).

Gramscis Analyse führt zu analogen Untersuchungsergebnissen, wenngleich er eine andere Theoriesprache und unterschiedliche historische Materialien und Belege nutzt (Rehmann 2008: 88). Auch er geht von einer widersprüchlichen Ungleichzeitigkeit des Alltagsverstandes aus: Unvereinbare Sichtweisen werden aneinandergefügt, Erinnerungen und Erfahrungen konserviert, tradierte Nomen, Werte und Ideologien bedenkenlos und ungeprüft fortgeschrieben. Insbesondere reflektiert Gramsci die ideologische Besetzung des Alltagsverstandes am Beispiel der Religion, da vor allem in den ländlichen Regionen Italiens lange Zeit die katholische Kirche eine besondere Stellung innehatte (Rehmann 2008: 88). Gesellschaftliche Strukturkonflikte, so Gramsci, werden „mit einem Denken“ bearbeitet, „das für Probleme der oft sehr fernen und überholten Vergangenheit ausgearbeitet worden ist“ (Gramsci 1991ff.: 1376). Die entscheidende Frage ist, wie sich die Subalternen aus dieser „chaotische[n] Ansammlung disparater Auffassungen“ (Gramsci 1991ff.: 1396), die „von der Vergangenheit ererbt und ohne Kritik übernommen“ wurden, befreien können (Gramsci 1991ff.: 1384)? Wie können kritische Perspektiven systematisiert und zu einem Ausgangspunkt des Bruches und der emanzipatorischen Umgestaltung von Gesellschaft werden? Ausgangs- und Stützpunkt der Kritik ist für Gramsci der buon senso im Alltagsverstand, dessen Elemente wandlungsfähig seien.Footnote 53 Gramscis Überlegungen lesen sich als ein Gegenstück zu den zeitgenössischen marxistisch-leninistischen Konzeptionen, denn die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der Widersprüchlichkeit des Alltagsverstandes, „ist etwas anderes, als zu versuchen, ‚richtiges‘ Klassenbewusstsein ‚von außen‘ in es [das Alltagsbewusstsein] hineinzutragen“ (Rehmann 2008: 89).

Die Unterscheidung zwischen dem Alltagsverstand und dem buon senso, der „in einer Reihe von Urteilen die genaue, einfache und handgreifliche Ursache identifiziert und sich nicht von pseudotiefsinnigen, pseudowissenschaftlichen metaphysischen Grübeleien und Spitzfindigkeiten usw. ablenken lässt“ (Gramsci 1991ff.: 1338), erstreckt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gramsci nimmt hier auch literarische Beispiele auf: Der Schriftsteller Alessandro Manzoni habe in dem im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verfassten Roman Die Brautleute den gängigen Stereotyp antijudaistischer Verschwörungstheorie in Frage gestellt (Rehmann 2008: 89). Denn buon senso scheine dort auf, wo jenem damals weit verbreiteten Vorurteil des Alltagsverstandes, demzufolge die Pest in Mailand im 17. Jahrhundert durch eine jüdische Brunnenvergiftung verursacht worden sei, entgegengewirkt werde:

„Wo er [der auktoriale Erzähler, J.H.] davon spricht, dass da auch einer war, der nicht an die Brunnenvergifter glaubte, seine Meinung gegen die verbreitete Volksmeinung indes nicht zu verfechten vermochte, schreibt er: ‚Man sieht, dass es ein geheimes Ventil der Wahrheit im engeren Familienkreise gab: Der gesunde Menschenverstand war da; doch er hielt sich verborgen, aus Furcht vor dem Alltagsverstand‘.“ (Gramsci 1991ff.: 1471)

Ein weiteres Beispiel für den buon senso diskutiert Gramsci am Misstrauen der Bauern gegenüber den auf Versammlungen sprechenden Intellektuellen:

„Die Bauern, die lange über die Äußerungen [der Intellektuellen, J.H.] nachgrübeln, die sie beim Vortrag gehört haben und durch deren Glanz sie momentan beeindruckt sind, entdecken schließlich mit dem gesunden Menschenverstand, welcher nach der durch die hinreißenden Worte verursachten Erregung wieder die Oberhand gewonnen hat, deren Schwächen und Oberflächlichkeit und werden daher misstrauisch aus Prinzip.“ (Gramsci 1991ff.: 1839)

Gramscis Beschreibung, wie die Bauern die rhetorischen Fähigkeiten von Intellektuellen als Worthülsen entlarven, verdeutlicht, dass sich im Alltagsverstand „alles finden [lässt], was man will“ (Gramsci 1991ff.: 1396). So auch Ansätze einer kritischen Reflexion (buon senso), die in der zusammenhanglosen „Folklore der Philosophie“ des Alltagsverstandes nur gelegentlich aufscheinen (Gramsci 1991ff.: 1394), die jedoch „dem eigenen Handeln eine bewusste Richtung“ geben können (Gramsci 1991ff.: 1379). Die „Kohärenz“, von der Gramsci in solchen Zusammenhängen häufig spricht, meint weder Harmonisierung noch vermeintliche Vollendung, sondern der Begriff weist darauf hin, dass es einer zufälligen und zusammenhanglosen Weltauffassung entgegenzuwirken gilt, für die der buon senso steht. Es geht darum, dass sich das Subjekt schon auf der Ebene des konkreten Individuums, das in bestimmte Verhältnisse hineingeboren wird, in seiner Geschichtlichkeit versteht. Es geht darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse aktiv und bewusst zu gestalten und „[d]urch dialektisches Denken über die lähmenden Widersprüche, Komplexe und blinden Flecken in der eigenen Person hinauszugelangen“ (Barfuss/Jehle 2014: 46).Footnote 54

3.4.4 Über die Schwierigkeit des Denkens im Widerspruch

Es ist „ein Unverstand“, sich auf den Alltagsverstand „als Prüfstein von Wahrheiten zu beziehen“, was jedoch wiederum nicht heißt, „dass es im Alltagsverstand keine Wahrheiten gibt“ (Gramsci 1991ff.: 1397). Die Trennlinie zwischen dem Alltagsverstand und dem buon senso ist in den Analysen Gramscis – gleich dem Verhältnis von Hegemonie und Zwang – nicht streng festgelegt. „Die Begriffe bezeichnen eher Positionen in einem Feld, dessen Grenzen als veränderlich gedacht werden“ (Barfuss/Jehle 2014: 51). Opratko spricht hier von einer „veritable[n] Antinomie“ (Opratko 2014: 46). Gramsci hebe einerseits hervor, dass der buon senso Gegenteil des Alltagsverstandes und der Religion sei, wenn er darauf verweise, dass die „Philosophie der Praxis“ mit dem buon senso zusammenfalle und sich dem Alltagsverstand und der Religion entgegensetze; andererseits werde der buon senso in derselben Notiz als Element des Alltagsverstandes gefasst und gelte als dessen gesunder Kern (Gramsci 1991ff.: 1377 ff.) Der buon senso kann, so Opratko, nicht Gegenteil und Kern zugleich sein (Opratko 2014: 45 f.). Hier müsse eine „veritable Antinomie“ konstatiert werden, „die keiner einfachen Auflösung unter Verweis auf die Formulierungen in den Gefängnisheften zugeführt werden kann“ (Opratko 2014: 46). Für Gramsci ist jedoch die „Doppelperspektive“ von entscheidender Bedeutung (Gramsci 1991ff.: 1554; siehe Barfuss/Jehle 2014: 51 ff.). Gramsci fasst den Alltagsverstand und den buon senso als ein dialektisches Verhältnis auf, dessen Zerlegung in getrennte Bereiche das eigentliche Ziel menschlicher Befreiung verfehlt. „Wir haben es hier“, so Barfuss und Jehle, „also nicht mit einem zu eliminierenden Widerspruch in Gramscis Denken zu tun, sondern mit dialektischem Denken, das im Vorhandenen das Mögliche aufspürt“ (Barfuss/Jehle 2014: 52). Diese Doppelperspektive zeige sich auch im Hegemoniebegriff:

„‘Hegemonie‘ kann dabei das dialektische Verhältnis ebenso bezeichnen wie ein Moment desselben. Entscheidend ist, dass die Doppelperspektive jeweils am konkreten Material und unter dem Aspekt einer bestimmten Fragestellung entwickelt wird.“ (Barfuss/Jehle 2014: 52 f.)

So müssen die Begriffe, deren Grenzen und unharmonischen Einschlüsse beweglich sind, variieren können und am konkreten Material beschrieben, analysiert, überprüft und weiterentwickelt werden. „Dialektisches Denken wird sich nie auf ein schon vorliegendes theoretisches Werkzeug verlassen können“, es „ist also keine fertige Methode und kein ‚Nussknacker‘, mit dem man alle Phänomene einfach aufschließen könnte“ (Barfuss/Jehle 2014: 53). Um das Terrain bestehender Hegemonie bzw. des lähmenden Alltagsverstandes überwinden zu können, muss sich der Alltagsverstand erneuern; das vorgegebene Feld der Optionen muss kritisch hinterfragt und praktische Probleme in kritische Begriffe übersetzt werden, um die hegemoniale Einbindung des Alltagsverstandes nicht weiter zu manifestieren (Barfuss/Jehle 2014: 59). Der Kampf um den Alltagsverstand ist ein Kampf um Hegemonie, in dem nicht zuletzt das herrschende Verständnis von Intellektuellen problematisiert werden muss. So werden die alltäglichen Erfahrungen, Einstellungen und Praxen der Subalternen Anknüpfungspunkt eines emanzipativen Politikverständnisses, das nicht „Erbhof kleiner Intellektuellengruppen“ ist (Gramsci 1991ff.: 1377).

Die „Philosophie der Praxis“ strebt – im Unterschied zur Religion – „nicht danach, die ‚Einfachen‘ in ihrer primitiven Philosophie des Alltagsverstandes zu belassen“ (Gramsci 1991ff.: 1383), sondern sie hält die Frage, was ein humanes und gutes Leben für alle bedeutet, wach.Footnote 55 Sie versteht sich dabei nicht als eine aufklärerische Praxis, die an die Subjekte herangetragen werden muss. Der Alltagsverstand muss in einem langwierigen Prozess voller Hindernisse und Rückschläge immer wieder in Frage gestellt werden können. Laut Gramsci kommt in diesem Prozess den „organischen Intellektuellen“ eine besondere Aufgabe zu. Diese „Intellektuellen eines neuen Typs, […] die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihr in Kontakt bleiben, um zu ‚Korsettstangen‘ derselben zu werden“, müssten dem Gewebe der Alternativen, des Experimentierens, des Reflektierens und des Strebens nach kritischer Kohärenz Stabilität verleihen (Gramsci 1991ff: 1390).

3.5 Intellektualität als universale Fähigkeit

Nicht das ‚Denken‘, sondern das, was wirklich gedacht wird, vereint oder unterscheidet die Menschen.

(Gramsci 1991ff.: 891)

In den Gefängnisheften werden tradierte Vorstellungen von intellektuellen Praxen einer grundlegenden Kritik unterzogen. Gramsci arbeitet an einer neuen herrschaftskritischen Auffassung der Intellektuellen, deren Tätigkeiten und Funktionen ein komplexes gesellschaftliches Feld umreißen. Die Thematik „Herausbildung der italienischen Intellektuellengruppen: Entwicklung, Haltungen“ steht an dritter Stelle der Themenliste, die Gramsci am 8. Februar 1929 dem ersten Gefängnisheft voranstellt (Gramsci 1991ff.: 67, Hervorh. im Orig.).

Gramsci nimmt den alltagssprachlichen Begriff „Intellektuelle“ auf und problematisiert das herrschende Verständnis, indem er den Begriff in Beziehung zu den herrschenden Verhältnissen setzt. Im Unterschied zu weit verbreiteten Deutungen bestimmt sich Intellektualität so nicht aus einem personifizierten Vermögen, das sich aus der Eigenart der intellektuellen Tätigkeiten ergibt und deren einendes Moment zur gesellschaftlichen Gruppierung in der Tätigkeit der Kopfarbeit gesehen wird. Intellektualität wird im Kontext von bestimmten Funktionen von Machtstrategien bzw. -verhältnissen begriffen (Gramsci 1991ff.: 1499).

„Bemerkenswert, dass die Heranbildung der Intellektuellenschichten in der konkreten Wirklichkeit nicht auf einem abstrakten demokratischen Terrain vor sich geht, sondern nach sehr konkreten traditionellen geschichtlichen Prozessen.“ (Gramsci 1991ff.: 1501)

Grundsätzlich sind für Gramsci alle Menschen Intellektuelle, denn

„in jeglicher körperlicher Arbeit auch der mechanschisten und degradiertesten, ist ein Minimum an technischer Qualifikation vorhanden, das heißt ein Minimum an kreativer intellektueller Tätigkeit.“ (Gramsci 1991ff.: 1500)

Intellektualität beschränkt sich demnach nicht auf eine spezifisch berufliche Sphäre, denn es gibt keine Tätigkeit, die gänzlich frei von derlei Anstrengungen ist.

„Jeder Mensch entfaltet schließlich außerhalb seines Berufs irgendeine intellektuelle Tätigkeit, ist also ein ‚Philosoph‘, ein Künstler, ein Mensch mit Geschmack, hat teil an einer Weltauffassung, hält sich an eine bewusste moralische Richtschnur, trägt folglich dazu bei, eine Weltauffassung zu stützen oder zu verändern, das heißt, neue Denkweisen hervorzurufen.“ (Gramsci 1991ff.: 1531)

Laut Gramsci kann zwar von „Intellektuellen“, keineswegs aber von „Nicht-Intellektuellen“ gesprochen werden, „weil es Nicht-Intellektuelle nicht gibt“ (Gramsci 1991ff.: 1531). Jede intellektuelle Arbeit enthält physische Momente sowie umgekehrt die manuelle Tätigkeit intellektuelle Anforderungen an Menschen stellt. Die intellektuelle Tätigkeit könne weder durch die dichotome machtförmige Trennung von Hand- und Kopfarbeit, durch das Mehr oder Weniger an Kopf- oder Handarbeit bestimmt werden, was höchstens Tendenzen, keine Wesenheiten bezeichne, noch könne sie aus „der Eigenart der intellektuellen Tätigkeiten“ selbst erklärt werden (Gramsci 1991ff: 1499; siehe Barfuss/Jehle 2014: 66 f.). Intellektuelle stellen keine separate Berufsgruppe dar, sondern, so Gramsci, der Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Gruppen muss aus dem „Ensemble des Systems von Verhältnissen“ abgeleitet werden, „in dem sich jene […] im allgemeinen Zusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse befinden“ (Gramsci 1991ff.: 1499; siehe Barfuss/Jehle 2014: 67).Footnote 56 So seien Arbeiter:innen beispielsweise „nicht spezifisch durch die manuelle oder instrumentelle Arbeit gekennzeichnet“, sondern dadurch, dass sie „diese Arbeit unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen“ verrichten würden (Gramsci 1991ff.: 1499 f.; siehe Merkens 2004: 36). Gramsci weist somit „auf die in Klassenverhältnissen marginalisierten intellektuellen Praxen hin und fordert dagegen zur Entwicklung und Unterstützung einer universalen Intellektualität auf“ (Merkens 2004: 35). Die Forderung nach der Entwicklung einer universalen Intellektualität fußt auf einem Bildungsverständnis, das zur „aktiven Einmischung ins praktische Leben“ befähigen soll (Gramsci 1991ff.: 1532):

„Seine [Gramscis, J.H.] Bestimmung der Intellektuellen stellt damit eine bildungspolitische Intervention dar, die der Perspektive der Mündigkeit und der Allgemeinbildung verpflichtet ist. Sie skandalisiert die nicht vollzogene Emanzipation durch Bildung, wo die vorherrschende Arbeitsteilung einer Mehrheit der Menschen die Verwirklichung ihrer Intellektualität verweigert.“ (Merkens 2004: 35 f.)

Gramscis Überlegungen basieren auf einem praxisphilosophischen Verständnis von Bildung, das die Komplexität des politischen Befreiungsprozesses in den Blick nimmt. Möglichkeiten der Befreiung leiten sich sowohl aus der Analyse der allgemeinen gesellschaftlich-historischen Lebensverhältnisse ab als auch aus den besonderen kulturellen Lebensweisen der Menschen. Der Mensch wird im Laufe seines Sozialisationsprozesses durch die konkreten Bedingungen der unmittelbaren sozialen Lebensverhältnisse geprägt, aber auch durch die übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen, die sich in seinen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen sedimentieren/sedimentiert haben (Bernhard 2005: 92). Die Auffassung vom Menschen als eines „geschichtlichen Blocks“ betont die historisch gesellschaftliche Komponiertheit der ‚menschlichen Natur‘; „die Menschen sind kein materielles Werkzeug, das in den Grenzen seines mechanischen und physikalischen Zusammenhalts benutzt werden kann“ (Gramsci 1991ff.: 167). Für Gramsci kann der Mensch erfasst werden

„als ein geschichtlicher Block von rein individuellen, subjektiven Elementen und von massenhaften, objektiven oder materiellen Elementen, zu denen das Individuum eine tätige Beziehung unterhält. Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln.“ (Gramsci 1991ff.: 1341 f.)

Das Individuum wirkt also aktiv über seine spezifische Verarbeitung der ihm voraus liegenden Lebensbedingungen auf diese Verhältnisse zurück (Bernhard 2005: 92). Es artikuliert sich laut Gramsci stets als „das Ensemble der historisch bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Gramsci 1991ff.: 1574). Da das menschliche Wesen methodologisch als Ensemble geschichtlich hervorgebrachter gesellschaftlicher Verhältnisse erfasst wird, gerät in den Blick, „dass der Mensch ein Prozess ist und dass er genau der Prozess seiner Handlungen ist“ (Gramsci 1991ff: 1346), was „zur Grundlage des Subjektbegriffs einer Philosophie der Praxis“ wird (Bernhard 2005: 92). Das Individuum, das im eigentlichen lateinischen Wortsinn ein Unteilbares ist, kann in der Wirklichkeit kein Individuum sein (Barfuss/Jehle: 2014: 63 f.), sondern es kann im Sinne Gramscis, mit Brecht gesprochen, als „ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung“ und als „kampfdurchtobte Vielheit“ verstanden werden (GBA 1993, Bd. 22.2.: 691), in dem „sich die Rückstände alter Ideologien mit den neuen Ideen [mischen]“ (GBA 1993, Bd. 23: 377). Als Teil des jeweils historisch konkreten Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse ist die „kampfdurchtobte Vielheit“ des menschlichen Bewusstseins notwendigerweise widersprüchlich.

Bernhard hebt im Hinblick auf Gramscis politische Pädagogik hervor:

„Die Komplexität des politischen Befreiungsprozesses, der durch eine Vielzahl sozialhistorischer, sozialkultureller Vermittlungsprozesse und durch widerspruchsvolle Sozialisationsbedingungen produziert wird, macht ein Modell von Bildung erforderlich, das die Vorstellung der kontinuierlich fortschreitenden Herausformung eines klaren Bewusstseins aufgibt.“ (Bernhard 2005: 89 f.)

Im Zentrum steht die Konstitution des geschichtlichen Subjekts und dessen Welterschließung. Der traditionell bürgerliche Bildungsbegriff wird von Gramsci nicht abstrakt verworfen, aber die Annahme eines idealistischen Ursprungs von Bildung und Intellektualität kritisiert. Strukturelle Barrieren bei der Herausbildung kritischen Bewusstseins werden problematisiert, denn man muss „die Aufmerksamkeit gewaltsam auf die Gegenwart lenken, so wie sie ist, wenn man sie verändern will“ (Gramsci 1991ff.: 1117). Ausgehend von der bestehenden gesellschaftlichen Gliederung wird der Begriff in eine kritische Auffassung von Bildung und Intellektualität transformiert, in der Bildung als eine Kraft verstanden wird, deren emanzipatives Potential es zu nutzen gilt, um Perspektiven eines neuen Alltagsverstandes zu verbreiten, der es Lehrenden und Lernenden ermöglicht, nicht in vorgefertigten Strukturen zu denken und zu handeln.

3.5.1 Traditionelle und organische Intellektuelle

Wie bereits dargelegt, wird Intellektualität nicht im Sinne „der Eigenart der intellektuellen Tätigkeit“ bestimmt, sondern aus „dem Ensemble des Systems von Verhältnissen“ abgeleitet (Gramsci 1991ff.: 1499). Das Thema der Intellektuellen steht im engen Zusammenhang mit dem der Hegemonie und der Zivilgesellschaft im Kampf um den Alltagsverstand. Intellektuell tätig zu sein, bedeutet demnach eine organisierende Funktion im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse auszuüben:

„Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökonomischen Produktion entsteht, zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewusstheit der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben.“ (Gramsci 1991ff.: 1497)

Jede gesellschaftliche Gruppe organisiert laut Gramsci ihre eigene spezialisierte Kategorie von neuen Intellektuellen, die als „Repräsentanten und Bannerträger“ aus den gesellschaftlichen Transformationsprozessen hervorgehen und die nicht die einfache Fortsetzung vorangegangener Intellektualität sind (Gramsci 1991ff.: 1403).Footnote 57 Gramsci bezeichnet diese Gruppen von Intellektuellen als „organische Intellektuelle“Footnote 58, deren Funktion er exemplarisch an der aufstrebenden Klasse des Bürgertums erörtert. Die organischen Intellektuellen werden als Teile der bürgerlichen Klasse verstanden; sie stellen keine eigene soziologische Kategorie dar (Opratko 2014: 48). So schreibt Gramsci:

„[D]er kapitalistische Unternehmer schafft mit sich den Techniker der Industrie, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer neuen Kultur, eines neuen Rechts usw. usf.“ (Gramsci 1991ff.: 1497)Footnote 59

Bei der Herstellung und Aufrechterhaltung von Hegemonie würden die organischen Intellektuellen zentrale Funktionen erfüllen:

„Die Intellektuellen sind die ‚Gehilfen‘ der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung.“ (Gramsci 1991ff.: 1502)

Die organisierende Funktion der Intellektuellen zeige sich nicht nur in einer Tätigkeit, die bestehende Hegemonieverhältnisse sichere, sondern Hegemonie könne umgekehrt auch durch historisch progressivere Schichten von Intellektuellen in Frage gestellt werden. Um dieses dynamische Verhältnis begrifflich kategorial fassen und differenzieren zu können, spricht Gramsci in den Gefängnisheften von ‚traditionellen‘ und ‚organischen‘ Intellektuellen (Merkens 2004: 36 f.), die kein polares Gegensatzpaar bilden. Traditionelle Intellektuelle sind vielmehr Gruppen von Intellektuellen, die einer tradierten Herrschaft angehören, deren typischste,

„die der Kirchenmänner, die lange Zeit (während einer ganzen historischen Phase, die sogar durch dieses Monopol zum Teil gekennzeichnet ist) einige wichtige Dienstleistungen monopolisiert hatten: Die religiöse Ideologie, das heißt die Philosophie und die Wissenschaft der Epoche, einschließlich der Schule, des Bildungswesens, der Moral, der Justiz, der Wohltätigkeit, der Fürsorge usw. Die Kategorie der Kirchenmänner kann als die organisch an die grundbesitzende Aristokratie gebundene Intellektuellenkategorie betrachtet werden: Sie war juristisch der Aristokratie gleichgestellt, mit der sie sich in die Ausübung des feudalen Eigentums am Boden und in den Genuss der an das Eigentum gebundenen staatlichen Privilegien teilte. Aber das Monopol der Kirchenmänner auf die Superstrukturen […] ist nicht kampflos und ohne Einschränkungen ausgeübt worden, und so kam es in verschiedenen Formen (die konkret zu untersuchen und zu studieren sind) zur Entstehung weiterer Kategorien.“ (Gramsci1991ff.: 1498)

Gramsci hebt hervor, dass die kirchlichen Kleriker organisch mit dem Feudaladel, also der herrschenden Gruppe, verbunden gewesen seien. Die kirchlichen Würdenträger hätten – gleich der grundbesitzenden Aristokratie – ein elementares Interesse an der Reproduktion feudaler Verhältnisse gehabt. Gramsci bezeichnet diese Intellektuellen als traditionelle Intellektuelle, da sie glaubten, „autonom und unabhängig von der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe“ agieren zu können (Gramsci 1991ff.: 1498 f.; siehe Barfuss/Jehle 2014: 73). Aus der Perspektive der herrschenden Gruppe habe die strategische Bedeutung der „Kirchenmänner“ im Kontakt zu den „Einfachen“ gelegen, deren konsensuale Einbindung nicht zuletzt der Klerus organisiert habe, indem er sie „in ihrer primitiven Philosophie des Alltagsverstands“ belassen habe (Gramsci 1991ff.: 1383). So hätten die „Kirchenmänner“, wie Barfuss und Jehle in ihrer Einführung zu Gramscis Ansatz schreiben, „als anerkannte Repräsentanten des Heiligen die Nöte der ‚Einfachen‘ aufnehmen und ins System des christlichen Glaubens übersetzen“ können, um so „Macht über die Herzen der Gläubigen“ zu erlangen (Barfuss/Jehle 2014: 75). Der Klerus habe das Bildungswesen kontrolliert und sei als bestimmende Instanz der Moral, der Justiz, der Wohltätigkeit und der Fürsorge etc. in Erscheinung getreten (Gramsci 1991ff.: 1498).

Traditionelle Intellektuelle (hier: der Klerus) würden sich über den Klassen wähnen und zu jener Gruppe von Intellektuellen gehören, die in einer tradierten Herrschaft (hier: die Feudalherrschaft) entstanden seien. Im historischen Prozess hätten sie ihren organischen Status eingebüßt, da ihre Klasse (hier: grundbesitzende Aristokratie) keine unmittelbare sozio-ökonomische Funktion mehr ausüben würde. Da diese Intellektuellen aber durch die Eigendynamik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine gewisse Autonomie in einer bestimmten historischen Epoche hätten erringen können und sie Aufgaben in der herrschaftlichen Konsenssicherung übernehmen würden, wäre es ihnen gelungen, ihre Zeit zu überleben (Merkens 2004: 36f). Kirchliche Organisationen hätten im katholisch geprägten Italien über viele Jahrhunderte „das Monopol der kulturellen Führung“ ausgeübt (Gramsci 1991ff.: 1507).Footnote 60 Die idealistische Selbstpositionierung traditioneller Intellektueller „als autonom und unabhängig von der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe“ bliebe „nicht ohne Folgen im ideologischen und politischen Bereich“ (Gramsci 1991ff.: 1498 f.). Diese „‘kristallisierten‘ Intellektuellen“ seien „konservativ und reaktionär“ (Gramsci 1991ff.: 1404); sie würden sich „als bruchlose Fortsetzung in der Geschichte“, „unabhängig vom Kampf der Gruppen“ glauben und „nicht als Ausdruck eines dialektischen Prozesses“ begreifen (Gramsci 1991ff.: 1403). In ihrer Verortung jenseits der weltlichen Alltagsverhältnisse würden sie mit einem absoluten Wahrheitsbegriff und mit der vermeintlichen Objektivität der Wissenschaft argumentieren, die ihrem Verständnis nach unpolitisch sei.Footnote 61 Wider dieses unpolitische Verständnis betont Gramsci:

„Man gelangt […] zur Gleichheit oder Gleichsetzung von ‚Philosophie und Politik‘, von Denken und Handeln, also zu einer Philosophie der Praxis. Alles ist Politik, also auch die Philosophie oder die Philosophien […], und die einzige ‚Philosophie‘ ist die Geschichte in Aktion, das heißt, das Leben selbst.“ (Gramsci 1991ff.: 892)

Der organische Intellektuelle agiere aus den gewachsenen, gegenwärtigen sozio-ökonomischen Strukturen und mische sich aktiv „ins praktische Leben“ ein, „als Konstrukteur, Organisator, ‚dauerhaft Überzeugender‘“ (Gramsci 1991ff.: 1532; Merkens 2004: 37). Gleich den Überlegungen zum Hegemoniebegriff und zur Zivilgesellschaft entfaltet Gramsci auch hier, so Opratko, die Problematik aus einer Doppelperspektive: „Einerseits sind die organischen Intellektuellen der Bourgeoisie und die mit ihnen verbündeten traditionellen Intellektuellen OrganisatorInnen bürgerlicher Hegemonie“ (Opratko 2014: 51). Ihre Tätigkeit trage entscheidend zur Bestandsfähigkeit der widersprüchlichen kapitalistischen Verhältnisse bei. Die organischen Intellektuellen der Herrschenden würden, ob bewusst oder unbewusst, die Konzeptionen, Weltsichten und Ideologeme der Herrschenden im Alltagsverstand der Subalternen manifestieren, aber nicht, indem sie vermeintlicher Weise falsche „Bewusstseinszustände“ in die Köpfe der Beherrschten implementieren würden (Opratko 2014: 51). Vielmehr konstituieren und erhalten sich laut Gramsci gesellschaftliche Strukturen über die Herstellung von Zustimmung und Einverständnis, was nicht nur den politischen Verhältnissen insgesamt gilt, sondern auch zu einer alltäglichen Praxis in Bildungseinrichtungen, in Familie, Organisationen, am Arbeitsplatz etc. wird (Eis/Hammermeister 2017: 131).Footnote 62 Andererseits sieht Gramsci in der politischen Organisierung und Herausbildung eigener organischer Intellektueller die wesentliche Aufgabe der Subalternen (Opratko 2014: 51). Gramsci hebt hervor, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die sich „auf die Herrschaft hin entwickelt“, d. h. sich aus der Subalternität befreien will, auch einen „Kampf um die Assimilierung und ‚ideologische‘ Eroberung der traditionellen Intellektuellen“ führen muss, d. h. sie bedarf der Ausstrahlungskraft, die jedoch „umso schneller und wirksamer ist, je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet“ (Gramsci 1991ff.: 1500).

Um sich der eigenen Lebens- und Sozialisationserfahrungen zu ermächtigen, „sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen“ (Gramsci 1991ff.: 1375), bedarf es – wie Merkens in seiner Auseinandersetzung mit Gramscis Denken betont – „einer Kritik von ‚unten‘, in der sich die Widersprüche und sozialen Kämpfe der Gegenwart reflektieren“ (Merkens 2004: 37). Es sei „vorzuziehen, die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten“, was ohne die „Anstrengung des eigenen Gehirns“ und ohne die „eigene Tätigkeitssphäre zu wählen“, nicht möglich sei (Gramsci 1991ff.: 1375). Damit die Subalternen nicht zusammenhanglos und zufällig an einer Weltauffassung ‚teilhaben‘, „die ‚mechanisch‘ von der äußeren Umgebung ‚auferlegt ist“ (Gramsci 1991ff.: 1375), besteht laut Gramsci eine wesentliche Herausforderung der Subalternen darin, einen neuen Typus von Intellektuellen hervorzubringen (Gramsci 1991ff.: 1390). Bestehende hegemoniale Konstruktionen würden in dem Maße brüchig werden, in dem es gegenhegemonialen gesellschaftlichen Kräften gelänge, einen neuen Alltagsverstand zu etablieren, der nicht „von der Vergangenheit ererbt und ohne Kritik übernommen“ worden sei (Gramsci 1991ff.: 1384). Besonderes Augenmerk richtet Gramsci dabei auf die organisierende Funktion der organischen Intellektuellen, denen, so Merkens, Gramsci die Aufgabe anheimstellt, „das Kohärenzstreben der Subjekte zu unterstützen, es zu systematisieren und zu organisieren“ (Merkens 2004: 37). „Die Intellektuellen eines neuen Typs“, so Gramsci, „die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihr in Kontakt bleiben, um zu ‚Korsettstangen‘ derselben zu werden“ (Gramsci 1991ff.: 1390), müssen dabei dem Gewebe der Alternativen, des Reflektierens, des Experimentierens, des Strebens nach kritischer Kohärenz Stabilität verleihen, auch wenn es dabei ‚nur‘ um ein bewussteres Leben in den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft gehen kann, welches aber an den Möglichkeiten ihrer Überwindung festhält. Denn, ins Wanken gerät laut Gramsci die hegemoniale Konstruktion nur, wenn die hegemoniale Einbindung massenhaft in Frage gestellt wird.

Für Gramsci, der das Gymnasium in Caligari und ein Studium in Turin nur unter größten physischen Entbehrungen besuchen konnte, muss die Arbeiterbewegung zugleich Bildungsbewegung sein (Barfuss/Jehle 2014: 76). Die Zeit der Turiner Rätebewegung (1919/20) wird so für ihn zu einer Zeit der aktiven politischen Bildungsarbeit. Der Ordine Nuovo, deren Herausgeber Gramsci wird, entwickelt sich zu einem Organ der Bewegung. Bereits in ihrer ersten Ausgabe im Mai 1919 ruft die Zeitung zum Aufbau von Arbeiterräten in den Fabriken auf. In dieser Zeit favorisiert Gramsci außerschulische Lernorte (GzK: 79 f.).Footnote 63 Er weiß, dass es für die Ausweitung der Rätebewegung von entscheidender Bedeutung ist, „aus den Räten heraus eine Schicht organischer Intellektueller zu gewinnen“ (Merkens 2004: 22), um „die Dürre und Unfruchtbarkeit der beschränkten bürgerlichen ‚Bildungs-‘Bewegungen zu bekämpfen und zu überwinden“ (GzK 1987: 81). Die im November 1919 auf Initiative des Ordine Nuovo gegründete ‚Kulturschule‘ soll die politische Bildung der Arbeiterräte ermöglichen (Merkens 2004: 22). In einem Aufruf des Ordine Nuovo spricht Gramsci direkt die gewählten Vertreter der Arbeiterräte als organische Intellektuelle an und fordert sie auf, mit einem Bildungsangebot eine institutionelle Basis in den Fabriken zu schaffen. Die Autorität der organischen Intellektuellen, an die Gramsci dabei denkt, beruht auf Kontakt und Überzeugung und nicht auf Kommandostrukturen und doktrinärer Linientreue, wie sie sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der Sowjetrepublik herausbildet (Barfuss/Jehle 2014: 76).

Gramscis gesamter Bildungsansatz zielt auf Emanzipation. Die Subalternen sollen sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen (Barfuss/Jehle: 79). Ein solcher Ansatz muss – wie m. E. jeder auf Emanzipation zielende Bildungsansatz – nicht „nur“ die Struktur der Gesellschaft und ihre historisch spezifische Form in den Blick nehmen, sondern auch die Ein- und Auswirkungen auf die in den jeweiligen Zusammenhang verstrickten Subjekte mit reflektieren. So muss er auch die herrschaftliche Trennung von Wissen und Fühlen problematisieren. Gramsci bezeichnet dieses Moment als

„Übergang vom Wissen zum Verstehen, zum Fühlen, und umgekehrt, vom Fühlen zum Verstehen, zum Wissen. Das volkhafte Element ‚fühlt‘, aber versteht oder weiß nicht immer; das intellektuelle Element ‚weiß‘, aber es versteht und vor allem ‚fühlt‘ nicht immer. Die beiden Extreme sind folglich Pedanterie und Spießbürgertum auf der einen Seite und blinde Leidenschaft und Sektierertum auf der anderen.“ (Gramsci 1991ff.: 1490)

Für Gramsci, dessen Begrifflichkeiten, wie oben angedeutet, im historischen Zusammenhang betrachtet werden müssen – ist derjenige Pedant, der „weiß“, aber nicht versteht. Wer wiederum nur „fühlt“, aber nicht „weiß“, ist der „blinden Leidenschaft“ ausgeliefert und verliert sich im „Sektierertum“ (Gramsci 1991ff.: 1490). Demnach muss der organische Intellektuelle der Arbeiterklasse eine neue Einheit zwischen dem Wissen, Verstehen und Fühlen anstreben, denn er kann nicht „wissen, ohne zu verstehen und besonders ohne zu fühlen und leidenschaftlich zu sein“ (Gramsci 1991ff.: 1490). Nur dann, so Gramsci, wenn das „volkhafte Element“ und das „intellektuelle Element“ einen organischen Zusammenhalt bilden,

„nur dann ist die Beziehung eine der Repräsentanz und kommt es zum Austausch individueller Elemente zwischen Regierten und Regierenden, zwischen Geführten und Führenden, das heißt, es verwirklicht sich das gemeinsame Leben, das allein die soziale Kraft ist, es bildet sich der ‚geschichtliche Block‘.“ (Gramsci 1991ff.: 1490)

Intellektualität erwachse aus dieser tätigen Wechselbeziehung, erfordere ein hohes Maß an (Selbst-)Reflexivität und könne nur aus der beständigen Kritik am Bestehenden erwachsen.

Wie oben dargelegt, müssen die organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse laut Gramsci sowohl die Selbstvergewisserung der Klasse nach „innen“ unterstützen als auch nach „außen“ eine Anziehungskraft entwickeln, die über ihren unmittelbaren Klassenstandpunkt hinausreicht im „Kampf um die Assimilierung und ‚ideologische‘ Eroberung der traditionellen Intellektuellen“ (Gramsci 1991ff.: 1500; siehe Merkens 2004: 38). Hegemonie wird bei Gramsci – wie bereits erläutertFootnote 64 – „notwendigerweise“ als ein „pädagogisches Verhältnis“ begriffen, d. h. als ein „aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen“ verstanden, indem

„jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist. […] Dieses Verhältnis existiert in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und für jedes Individuum in Bezug auf andere Individuen, zwischen intellektuellen und nicht-intellektuellen Schichten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Eliten und Anhängern, zwischen Führern und Geführten, zwischen Avantgarden und dem Gros der Truppen.“ (Gramsci: 1335)

Am Beispiel der Hegemoniepolitik der Moderati im Risorgimento untersucht Gramsci die Frage, wie die bestehenden hegemonialen Machtverhältnisse durchbrochen und die organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse eine politisch-ethische Anziehungskraft entfalten können.Footnote 65 Historisch hätten die Moderati insbesondere durch liberale und liberalisierende schulpolitische Aktivitäten eine führende Stellung unter den Intellektuellen erlangen und eine politisch-ethische Ausstrahlung und Anziehungskraft entwickeln können. Wider den Geist der jesuitischen Schule wäre es den Moderati gelungen, schulische und pädagogische Reformen durchzusetzen, die sowohl die rechtliche Autonomie der Schulen als auch reformpädagogische Überlegungen des wechselseitigen Unterrichts umfasst hätten (Merkens 2004: 38 f.). Die Maßnahmen wären auf Zustimmung bei „Intellektuellen aller Ränge“ gestoßen, da die neuen Zielsetzungen sowie „die schulische Aktivität“ insgesamt „auf allen ihren Stufen“ für die verschiedenen Intellektuellengruppen auch eine ökonomische Bedeutung gehabt hätte (Gramsci 1991ff.: 1980; siehe Merkens 2004: 38 f.).

„Die Hegemonie eines Führungszentrums“, so schlussfolgert Gramsci insgesamt, „äußert sich über zwei Hauptlinien“ (Gramsci 1991ff.: 1980): Einerseits müssten die verschiedenen Intellektuellengruppen Ausstrahlung bzw. eine ideologische Anziehungskraft entfalten, welche zu einem „Element des Kampfes gegen die alten, durch Zwang herrschenden Ideologien“ werde (Gramsci 1991ff.: 1980). Andererseits müsse „ein schulisches Programm, ein originelles Erziehungs- und Pädagogikprinzip“ formuliert werden, welches auf „diejenige Fraktion der Intellektuellen ziele, „welche die homogenste und zahlreichste ist (die Lehrkräfte vom Volksschullehrer bis zu den Universitätsprofessoren)“ (Gramsci 1991ff.: 1980). Merkens weist in diesem Zusammenhang darauf hin, welche besondere Bedeutung Gramsci den „pädagogischen Fachintellektuellen“ gibt, die es zu gewinnen gelte, „um eine gegen-hegemoniale Transformation der herrschenden Eliten zu erreichen“ (Merkens 2004: 39).

Festgehalten werden kann, dass die Institution Schule als ein widersprüchlicher Hegemonialapparat begriffen werden kann, in dem sich Herrschaft konstituiert aber auch verworfen werden kann (Merkens 2004: 39). Eine entscheidende Frage ist, ob und wie in tätiger Wechselbeziehung Heranwachsende selbst in die Lage versetzt werden, nicht in vorgefertigten Strukturen zu denken und zu handeln bzw. ob und wie die herrschaftliche Trennung von „Wissen und Fühlen“ überwunden werden kann.

3.6 Erziehung und Bildung in den Gefängnisheften und –briefen

„Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden lässt und verändert.“

(Gramsci 1991ff.: 1348)

„Gramscis Denken“, so Bernhard über „Antonio Gramscis Verständnis von Bildung und Erziehung“, zeichnet sich durch eine „pädagogische Grundintention“ aus (Bernhard 2006: 10, Hervorh. im Orig.). Seine Überlegungen und Analysen seien „durchgängig pädagogisch inspiriert“. Es könne aber keineswegs von einem „Pädagogismus“ gesprochen werden, da es Gramsci fernliege, gesellschaftliche Probleme zu pädagogisieren (Bernhard 2006: 10 f., Hervorh. im Orig.). Vielmehr nutze er das Pädagogische „zum besseren Verständnis der historisch-gesellschaftlichen Prozesse“, da es von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung bei der Gestaltung sozialer Verhältnisse sei (Bernhard 2006: 11). Politik und Pädagogik könnten „in der modernen Gesellschaft als nicht immer problemlose Einheit arbeitsteilig organisierter Aufgaben“ verstanden werden (Bernhard 2006: 11). Beide Sektoren nähmen in der Geschichte „Schlüsselstellungen“ ein; sie würden „die gestalterischen Strukturelemente menschlichen Handelns“ darstellen (Bernhard 2006: 11). Dabei könne im Sinne Gramscis Politik als „ein gesellschaftliches Handeln“ begriffen werden, was versuche „eine Rahmenstruktur für zwischenmenschliches Zusammenleben zur Verfügung zu stellen“ (Bernhard 2006: 11). Die damit korrespondierende Pädagogik ziele „auf die Formung, Gestaltung und Entwicklung von Menschen“ und sei dabei im materialistischen Ansatz von Gramsci „der jeweiligen Konzeption, den Leitideen, der Ideologie einer Gesellschaft“ verpflichtet (Bernhard 2006: 11). Bernhard kommt zu dem Schluss:

„Ist das Politische in der Geschichte auf äußere Rahmenbedingungen der Gestaltung menschlicher Lebensumstände bezogen, so das Pädagogische auf die innerpsychischen Korrelate gesellschaftlicher Reproduktionserfordernisse. Erziehung und Bildung sind auf die Schaffung von Verhaltensregulativen, gesellschaftlichen Charaktereigenschaften, Bewusstseinsformen und Weltanschauungen konzentriert.“ (Bernhard 2006: 11, alle Hervorh. im Orig.)

Demnach bezeichnet „Politik“ bzw. „das Politische“ gesellschaftliches Handeln, das die äußeren gesellschaftlichen „Rahmenbedingungen“ herstellt; während „Pädagogik“ bzw. „das Pädagogische“ innerpsychische Entsprechungen zu schaffen sucht.

Im pädagogischen Bereich wiederum differenziert Gramsci in den Gefängnisheften und den überlieferten Briefen zwischen Erziehung und Bildung. Dabei wird Erziehung als „eine zivile Technik“ verstanden (Gramsci 1991ff.: 1826), die ein ‚Hineinwachsen‘ in Gesellschaft erst ermöglicht und „Konformismus“ bezweckt (Gramsci 1991ff.: 1684).Footnote 66 „Erziehung ist nicht nur eingefasst in Lebensgewohnheiten und Lebensweisen, in soziale Konventionen und moralische Koordinatensysteme. Sie ist selbst ein Motor der Herstellung dieser Lebensgewohnheiten“ (Bernhard 2006: 14). Folgt man der Argumentation, so ist es eine entscheidende Aufgabe der Erziehung, Kinder und Jugendliche im Bewusstsein dessen zu sozialisieren, um ihre Entwicklung nicht „den spontanen Kräften der Natur“ zu überlassen (Gramsci 1987: 174 f. zitiert nach Bernhard 2006: 15). Denn das bedeute, Heranwachsende den „gesellschaftlichen Sozialisationseinflüssen“, dem unmittelbaren „gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, in die die kindliche Entwicklung eingeflochten“ sei, schutzlos auszuliefern (Bernhard 2006: 15). „Denn jeder Verzicht auf die Formung des Kindes liefert das Kind umso mehr der Fremdbestimmung aus, aus der es doch entlassen werden soll“ (Bernhard 2006: 15). Erziehungsfunktionen übernähmen in komplexen Gesellschaften vielfach Institutionen, insbesondere Schulen (Bernhard 2006: 12).

Für Gramsci sei Erziehung „nicht nur die Bedingung für das Funktionieren der gesellschaftlichen Vorgänge, sondern zugleich die Bedingung für die Herausformung einer neuen Kultur, damit eine notwendige Bedingung des Erwerbs von Autonomie“ (Bernhard 2006: 14). Sie ermögliche nicht nur die Reproduktion von gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern sie werde zugleich als eine entscheidende Voraussetzung für Befreiung gesehen und korrespondiere so mit Gramscis Begriff von Bildung. Dort ist der Mensch

„ein historisches Ereignis, d.h. ein Produkt der Weitergabe, der Verarbeitung und des Erwerbs geschichtlicher Erfahrungen. Über Bildung wird dieses geistige Vermögen umgesetzt, sie schließt dabei das menschliche Selbstverhältnis ein: Bildung meint einen aktiven Prozess der geistigen Erschließung von Welt, in dessen Rahmen der Mensch sich seiner selbst bewusst wird, ein höheres Bewusstsein von sich selbst und der Welt erwirbt, in der er handelt. Bildung dient selbstverständlich der gesellschaftlichen Reproduktion, und sie ist ein Instrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden Hegemonie. Da sie aber Bewusstseinsprozesse auslöst, kann sie zugleich als Kraft des geistigen Bruchs mit überlieferten Weltanschauungen und Ideologien begriffen werden.“ (Bernhard 2006: 17)

Bildung bedeutet Bewusstseinsprozesse auslösen, und Menschen können so zu einem aktiv gesellschaftsverändernden Eingreifen ermutigt werden. Sie impliziert Selbstermächtigung des Menschen und wird bei Gramsci als Fähigkeit des Menschen „sich selbst zu potenzieren“ gefasst (Gramsci 1991ff.: 1342). Der Mensch muss, um sich eine Persönlichkeit zu bilden, ein tiefgreifendes Bewusstsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen erlangen, da „die eigene Individualität das Ensemble dieser Verhältnisse ist“ (Gramsci 1991ff.: 1348). „[D]ie eigene Persönlichkeit verändern, heißt das Ensemble dieser Verhältnisse verändern“ (Gramsci 1991ff.: 1348). Gegenhegemoniales Handeln ist also elementar mit Bildung verbunden, denn es bedarf notwendigerweise eines „Geist[es] der Abspaltung“, dessen „erste Bedingung die genaue Kenntnis des Feldes ist“ (Gramsci 1991ff.: 374; siehe Bernhard 2006: 19; siehe Merkens 2004: 34).

3.6.1 Schule und das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden

Wie bereits im Hegemoniekapitel dargelegt, bestimmt Gramsci das gesamtgesellschaftliche Strukturverhältnis als ein Hegemonieverhältnis, das von erziehungs- und bildungstheoretischen Fragestellungen durchzogen ist.Footnote 67 In diesem komplexen Gefüge stellt die Institution Schule einen umstrittenen Ort ideologischer Vergesellschaftung dar, auf dessen Terrain sich Herrschaft konstituiert, aber auch angefochten werden kann (Merkens 2004: 39). Brüche und Widersprüche der bestehenden herrschaftlichen Vergesellschaftung müssen dafür aufgenommen, aber auch Strategien des politischen und kulturellen Widerstandes, der Auflehnung und Verweigerung entwickelt werden. Die eigene Eingebundenheit muss reflektiert und so der Inkohärenz des Alltagsverstandes entgegenwirkt werden (Merkens 2002: 339 ff.). Eindimensionale reduktionistische Deutungen des Hegemonialapparates „Schule“, welche ausschließlich die Dimension der Repression und Gewalt fokussieren, weist Gramsci entschieden zurück. Seine schultheoretische Diskussion basiert auf dem historisch-spezifischen Hintergrund der in Italien von Giovanni Gentile 1922 eingeleiteten Reform des Bildungswesens und kann als ein politischer Gegenentwurf zu der Riforma Gentile gelesen werden (Merkens 2004: 40)Footnote 68, auch wenn Gramscis erziehungspolitischen Interventionen nicht darauf reduziert werden können.

Das mehrgliedrige Schulsystem, welches bereits Heranwachsenden über die (Aus-)Bildung ungleiche Lebenschancen zuweist, verwirft Gramsci mit seinem konzeptionellen Ansatz der Einheitsschule. Er hebt hervor, dass

„[d]ie traditionelle Schule oligarchisch [war], weil bestimmt für die neue Generation der führenden Gruppen, die ihrerseits dazu bestimmt war, führend zu werden: Aber sie war nicht oligarchisch wegen der Art ihres Unterrichts. Es ist nicht der Erwerb von Führungsfähigkeiten, es ist nicht das Bestreben, höherstehende Menschen auszubilden, was einem Schultyp das soziale Gepräge gibt. Das soziale Gepräge ist dadurch gegeben, dass jede gesellschaftliche Gruppe einen eigenen Schultyp hat, der dazu bestimmt ist, in diesen Schichten eine bestimmte traditionelle Funktion, eine führende oder instrumentelle, fortzuführen.“ (Gramsci 1991ff.: 1528)

Gramscis Schulkonzept folgt dem Postulat einer umfassenden allgemeinen Erziehungs- und Bildungsarbeit, welche – wider die bestehende Trennung von Kopf- und Handarbeit – eine neue gesellschaftliche Beziehung von intellektuellen und praktischen Fähigkeiten anstrebt:

„Wenn man dieses Gewebe zerreißen will, darf man nicht die Berufsschultypen vermehren und abstufen, sondern muss einen Einheitstyp von vorbereitender Schule (Grund- und Mittelschule) schaffen, der den Jugendlichen bis an die Schwelle der Berufswahl führt und ihn in der Zwischenzeit als Person formt, die fähig ist zu denken, zu studieren, zu führen oder die Führenden zu kontrollieren.“ (Gramsci 1991ff.: 1528)

Diese radikaldemokratische Forderung nach Selbstermächtigung

„kann nicht […] nur bedeuten, dass ein Handlanger Facharbeiter wird, sondern dass jeder ‚Staatsbürger‘ ‚Regierender‘ werden kann und dass die Gesellschaft ihn, sei es auch nur ‚abstrakt‘, in die allgemeine Lage versetzt, es werden zu können.“ (Gramsci 1991ff.: 1528)

Letztlich zielen Gramscis Überlegungen auf die Befähigung aller Menschen zur politisch-gesellschaftlichen Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse. So tritt er für die Aufhebung der institutionellen Zweiteilung ein, d. h. die Teilung in eine humanistisch allgemeinbildende höhere Schule und eine zweckgebundene technische Schulbildung, die letztlich Ausdruck der vorherrschenden gesellschaftlichen Produktionsweise ist (Merkens 2004: 41 f.). Es geht ihm um eine „Erziehung und Allgemeinbildung der Persönlichkeit vom Kindesalter bis an die Schwelle der Berufswahl“ (Gramsci 1991ff.: 1527).

Laut Gramsci darf dabei nicht übersehen werden, „dass es tatsächlich Regierte und Regierende, Führende und Geführte gibt“ (Gramsci 1991ff.: 1713). Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft und somit auch der Schule hat sich dem Alltagsverstand eingeschrieben. Dieses Verhältnis von Lehrenden und Lernenden kann nicht auf einen spezifisch schulischen Zusammenhang eingegrenzt werden. Gramsci geht davon aus, dass es ein gesamtgesellschaftliches Strukturverhältnis, „ein pädagogisches Verhältnis“ ist (Gramsci 1991ff.: 1335), was nicht als ein binäres Gegenüber, als eine feststehende Größe gedacht werden kann. Es folgt keiner linear von oben (Lehrender) nach unten (Lernender) wirkenden Beziehung und verweigert sich dichotomen individuellen Deutungen, welche (un-) bewusst den Erziehenden „als ein vollkommenes Subjekt“ begreifen, während der ‚Zu-Erziehende‘ den Status eines „unvollkommene[n] zu formierende[n] Objektes“ erhält, wie Merkens in seinem Aufsatz „Die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig machen“ im Hinblick auf Gramscis Ansatz festhält (Merkens 2007a: 160). „[D]as Lehrer-Schüler-Verhältnis [ist] ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen und deshalb [ist] jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer“ (Gramsci 1991ff.: 1335). Ausgangspunkt von Gramscis philosophischem und pädagogischem Denken sind die Marxschen Thesen über Feuerbach (MEW 3: 5 ff.). Dort geht die Veränderung der Umstände notwendigerweise mit einer Selbstveränderung einher, die sich im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ situieren (MEW 3: 6). Demnach können sich Erziehende, welche die kritische Interventionsfähigkeit befördern wollen, nicht jenseits der jeweiligen sozialen Verhältnisse sehen, denn sie sind in diese verstrickt.

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ (MEW 3: 5 f.)

Gegenhegemoniales Handeln erstreckt sich somit nicht ‚nur‘ auf die Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen, sondern impliziert zugleich die Selbstveränderung.Footnote 69 Damit wird „die Transformation der bestehenden (herrschaftlichen) Lehr- und Lernanordnung zum eigentlichen Ziel emanzipatorisch-pädagogischer Praxis“ (Merkens 2007a: 160).

Gramsci hebt hervor, dass im Unterschied zu anderen Philosophien und Ideologien die „Philosophie der Praxis“ nicht danach trachtet, widersprüchliche und antagonistische Interessen zu versöhnen, sondern sie ist „im Gegenteil die Theorie dieser Widersprüche selbst“ (Gramsci 1991ff: 1325). Nicht nur müssten die „(unmöglichen) Betrügereien der Oberklasse“ unterbunden werden, sondern es gelte auch das System aus eigenen Trugbildern und Selbsttäuschungen zu reflektieren (Gramsci 1991ff.: 1325).

Darüber hinaus und zugleich muss laut Gramsci jede gesellschaftliche Gruppe, die Hegemonie anstrebt, führend in die Gesellschaft wirken und Führungsverhältnisse im Stellungskampf mit den bestehenden Kräfteverhältnissen aufbauen und gestalten (Merkens 2007a: 163). Ein auf Emanzipation zielendes Projekt muss demnach versuchen, führend in die Gesellschaft hineinzuwirken und zugleich – im Widerspruch dazu – danach trachten, Führungsverhältnisse zu überwinden (Gramsci 1991ff.: 1714). Denn:

„[W]ill man, dass es immer Regierte und Regierende gibt, oder will man die Bedingung schaffen, unter denen die Notwendigkeit der Existenz dieser Teilung verschwindet? Das heißt, geht man von der Voraussetzung der fortwährenden Teilung des Menschengeschlechts aus oder glaubt man, dass sie nur eine geschichtliche, bestimmten Bedingungen entsprechende Tatsache ist?“ (Gramsci 1991: 1714)

Wenn diese Herausforderung ins Pädagogische übersetzt wird, so Merkens, „dann muss es darum gehen, gesellschaftliche Führungsverhältnisse zum Zweck ihrer Überwindung in wechselseitige Lehr- und Lernverhältnisse zu transformieren“ (Merkens 2007a: 163, Hervorh. im Orig.). Dann müssten gegenhegemoniale Akteur:innen bzw. Lehrende

„eine pädagogische Handlungskompetenz entwickeln, „die zwar den eigenen gesellschaftlichen Führungsanspruch begründet und vertritt, die diesem Anspruch aber auch so viel Offenheit und Anbindung an das gesellschaftliche Werden verleiht, dass sich ein tatsächliches Verhältnis der Repräsentanz herausbildet, bis hin zur Aufhebung der Notwendigkeit von Führung überhaupt.“ (Merkens 2007a: 163)

3.6.2 Die Einheitsschule

In der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gentile-Reform und den vielfältigen, keineswegs einheitlichen reformpädagogischen Bewegungen seiner Zeit entwickelt Gramsci im Vorgang der Kritik Ansatzpunkte eines Schul- und Bildungsmodells, das die radikale Demokratisierung aller gesellschaftlichen und politischen Strukturen intendiert und mit einer neuen gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensweise verbunden wird (Gramsci 1991ff.: 1168 ff.; 1521 ff.; siehe Bernhard 2005: 193 ff.).Footnote 70

Die Einheitsschule insgesamt wird als eine „kreative und aktive Schule“ konzipiert, die von der aktiv rezipierenden Lerntätigkeit der Schüler:innen ausgeht (Gramsci 1991ff.: 1518). Insofern nimmt sie reformpädagogische Ansätze auf, befreit sie aber zugleich – in ihrem gesellschaftspolitischen Anspruch – von dem idealistischen Überschuss einer „libertär-idealistische[n] Pädagogik, mit ihrer mythischen Überhöhung der kindlichen Natur“ (Merkens 2004: 44, siehe Gramsci 1991ff.: 1519).

Dieses Schul- und Bildungsmodell reagiert auf die grundlegend veränderten Sozialisationsbedingungen von Heranwachsenden, wie sie sich durch die gesellschaftlichen Umbrüche des beginnenden Industriekapitalismus im 19. Jahrhunderts gestalteten. Um den Nexus zwischen der sozialen Schicht und einem auf diese Zugehörigkeit fixierten Bildungsgang aufzubrechen, sollte dieses neue Schul- und Bildungsmodell auf einer intellektuellen und die praktischen Fähigkeiten integrierenden allgemeinen (politischen) Bildung basieren (GzK: 79). Mit den konzeptionellen Überlegungen zur Einheitsschule will Gramsci, wie im vorangegangenen Unterkapitel dargelegt, die vorherrschende institutionelle Zweiteilung aufheben (Merkens 2004: 39 ff.).

Zugleich wendet sich Gramscis bildungspolitische Kritik, wie auch das Konzept der Einheitsschule, gegen eine abstrakte Negation der Vergangenheit. Systematischer Ansatzpunkt seiner Überlegungen wird so die in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeleitete Bildungsreform der italienischen Bildungslandschaft, die er sowohl entlang ihrer fortschrittlichen, aber auch ihrer rückwärtsgewandten Elemente analysiert (Gramsci 1991ff.: 1521 ff.). In Gramscis Überlegungen werden Tradition und Neubeginn dialektisch miteinander verknüpft und weiterentwickelt (Bernhard 2005: 173 ff.). Er kritisiert jenen durch „die Gentile-Reform herbeigeführte[n] Bruch zwischen Grund- und Mittelschule auf der einen und der höheren Schule auf der anderen Seite“ (Gramsci 1991ff.: 1521). So konstatiert Gramsci:

„Heute besteht die Tendenz, jeden ‚zweckfreien‘ (nicht unmittelbar zweckgebundenen) und ‚bildenden‘ Schultyp abzuschaffen oder nur ein Exemplar davon zu erhalten, beschränkt auf eine kleine Elite von Herren und Damen, die nicht darauf bedacht sein müssen, sich auf eine berufliche Zukunft vorzubereiten, und immer mehr die spezialisierten Berufsschulen zu verbreiten, in denen das Schicksal des Schülers und seine künftige Tätigkeit von vornherein feststehen“ (Gramsci 1991ff.: 1513 f.)

Vor der Machtübernahme des faschistischen Regimes habe es diesen abrupten Bruch nicht gegeben. Vielmehr sei die Grundschule eine Art „Vorhof“ für die Mittelschule gewesen, die alle Schüler:innen gleichermaßen besucht hätten (Gramsci 1991ff.: 1521).

Gramscis Konzept der Einheitsschule basiert auf einer ersten allgemeinbildenden drei bis vierjährigen Schulstufe, „welche die Entwicklung der Fähigkeit zur manuellen (technischen, industriellen) Arbeit und die Entwicklung der Fähigkeit zur intellektuellen Arbeit in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringt“ (Gramsci 1991ff.: 1514). Er nimmt in seinem Schulkonzept jene Strukturelemente der Erziehung vor der Gentile-Reform an italienischen Grundschulen auf, die sich dem Erwerb elementarer Grundkenntnisse in den Naturwissenschaften widmen und den Kindern einen ersten Einblick in die Arbeitsweise von Staat und Gesellschaft vermitteln sollten:

„Die wissenschaftlichen Kenntnisse traten in Widerstreit mit der magischen Welt- und Naturauffassung, die das Kind aus dem von Folklore durchdrungenen Milieu aufnimmt, wie die Begriffe von Rechten und Pflichten in Widerstreit treten mit den Tendenzen zur individualistischen und lokalpatriotischen Barbarei, die ebenfalls ein Aspekt der Folklore ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1521 f.)

Wider die „Folklore“, d. h. gegen die „traditionellen Ablagerungen von Weltauffassungen“ (Gramsci 1991ff.: 1522), die sich im Alltagsverstand gleich Gesteinsschichten sedimentiert haben, integriert dieses Grundschulkonzept vermittelt über den Begriff der Arbeit neben Lesen und Schreiben einen gesellschaftstheoretischen und naturwissenschaftlichen Zugang:

„Der Begriff und die Tatsache der Arbeit (der praktisch-theoretischen Tätigkeit) ist das der Grundschule immanente Erziehungsprinzip, da die gesellschaftliche und staatliche Ordnung (Rechte und Pflichten) durch die Arbeit in die Naturordnung eingebracht und (mit ihr) identifiziert wird.“ (Gramsci 1991ff.: 1522)

Die „[z]ivilen und staatlichen Gesetze“, so Gramsci, sind Produkte der menschlichen Tätigkeit, „die vom Menschen vereinbart sind und vom Menschen für die Zwecke seiner gemeinsamen Entwicklung verändert werden können“ (Gramsci 1991ff.: 1522). Eingeschlossen in diese menschliche Tätigkeit ist die Teilhabe des Menschen an der Naturordnung, insofern der Mensch die Natur umgestaltet, sie vergesellschaftet, um sich die Organisation seiner Lebensverhältnisse zu erleichtern. Gramscis auf dem Begriff der Arbeit, d. h. der praktisch-theoretischen Tätigkeit des Menschen beruhendes Erziehungsprinzip der drei- bis vierjährigen Elementarstufe,

„schafft die ersten Elemente eines von aller Magie und Zauberei befreiten intuitiven WeltverständnissesFootnote 71 und gibt den Anlass für die Weiterentwicklung einer historischen, dialektischen Weltauffassung, um die Bewegung und das Werden zu begreifen, die Summe der Anstrengungen und Opfer abzuschätzen, welche die Gegenwart der Vergangenheit abgefordert hat und welche die Zukunft der Gegenwart abfordert, das Gegenwärtige als Synthese des Vergangenen, aller vergangener Generationen zu begreifen, das sich in die Zukunft hinein entwirft.“ (Gramsci 1991ff.: 1522)

Gramsci greift Strukturelemente und Grundsätze der italienischen Elementarschule vor der Gentile-Reform auf, weist aber auf die unzureichende Umsetzung hin: „[O]b im Lehrkörper das Bewusstsein seiner Aufgabe und des philosophischen Gehalts seiner Aufgabe vorhanden war, ist eine andere Frage“ (Gramsci 1991ff.: 1522 f.; siehe Bernhard 2005: 177).

Ein weiteres wichtiges Merkmal von Gramscis Modell der drei- bis vierjährigen Eingangsstufe ist die Einübung intellektueller Disziplin (Merkens 2004: 41):

Man hat es mit Knirpsen zu tun, denen man bestimmte Gewohnheiten des Fleißes, der Genauigkeit, auch der Körperbeherrschung, der psychischen Konzentration auf bestimmte Gegenstände beibringen muss, die nicht ohne eine mechanische Wiederholung disziplinierter und methodischer Akte erworben werden können.“ (Gramsci 1991ff.: 1525)

An diese erste Grundschulphase knüpft eine zweite „kreative Phase“ an (Gramsci 1991ff.: 1518), die „nicht länger als sechs Jahre dauern“ soll (Gramsci 1991ff.: 1517). Während die erste Grundschulphase vornehmlich auf Kontrolle und auf einer äußerlichen Lernweise beruht, basiert die zweite Phase primär auf selbsttätiger Anstrengung:

„[K]reative Schule bedeutet nicht Schule von ‚Erfindern und Entdeckern‘, damit wird eine Phase und eine Methode des Forschens und Erkennens bezeichnet, und kein von vornherein feststehendes ‚Programm‘ mit der Verpflichtung zur Originalität und Innovation um jeden Preis. Sie besagt, dass das Lernen insbesondere durch eine spontane und selbstständige Anstrengung des Lernenden erfolgt, bei der der Lehrer nur eine Funktion freundschaftlicher Anleitung ausübt, wie es an der Universität geschieht oder geschehen sollte.“ (Gramsci 1991ff.: 1519)

Dem Übergang zwischen diesen beiden Phasen misst Gramsci eine besondere Bedeutung bei, denn „[d]as didaktische Problem, das dabei zu lösen ist, besteht darin, die in diesen ersten Jahren unabdingbare dogmatische Ausrichtung zu mildern und fruchtbar zu machen“ (Gramsci 1991ff.: 1517).

Gramscis Differenzierung in eine erste disziplinierende und eine zweite kreative Schulphase ist ein Resultat von Überlegungen zur Klassenstruktur (Merkens 2004: 42). Auf den ersten Blick mag es befremdlich wirken, dass Gramsci insbesondere für die Kinder der Arbeiter- und Bauernklasse „die disziplinierende Einübung grundlegender Lerntechniken als eine Voraussetzung“ betrachtet, „um später in einen kreativen Bildungsabschnitt einzutreten“ (Merkens 2004: 42). Diese Überlegungen berücksichtigen jedoch die internalisierten primären Sozialisationserfahrungen:

„Gewiss bewältigt das Kind aus einer traditionellen Intellektuellenfamilie den psycho-physischen Adaptionsprozess leichter, es hat, schon wenn es das erste Mal den Fuß in die Klasse setzt, etliche Pluspunkte gegenüber seinen Gefährten, es hat eine Orientierung, die es sich schon aufgrund seiner Familiengewohnheiten erworben hat: Beim Aufpassen konzentriert es sich mit größerer Leichtigkeit, weil es den Habitus der Körperbeherrschung hat, usw.“ (Gramsci 1991ff.: 1530)

In einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung verfügen Kinder der subalternen Klassen qua ihrer Herkunft nicht über die gleichen sozialen und ökonomischen Ressourcen wie (männliche) Heranwachsende aus den Intellektuellenschichten:

„In einer Reihe von Familien vor allem der Intellektuellenschichten finden die Jungen im Familienleben eine Vorbereitung, eine Fortsetzung und Ergänzung des schulischen Lebens, sie schnappen sozusagen aus der ‚Luft‘ eine ganze Menge von Kenntnissen und Haltungen auf, welche die eigentliche schulische Laufbahn erleichtern: Sie kennen bereits die Literatursprache und entwickeln diese Kenntnis weiter, und damit das Ausdrucks- und Erkenntnismittel, das den vom Durchschnitt der Schülerschaft von 6-12 Jahren beherrschten Mitteln technisch überlegen ist.“ (Gramsci 1991ff.: 1517)

Einerseits liegen Gramscis theoretischem Ansatz eigene, praktisch gewonnene Erfahrungen als Lehrender in der Zeit der Turiner Fabrikrätebewegung zugrunde: Er weiß um die mangelnde Selbstdisziplinierung der jungen Arbeiter, die jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für die theoretische Auseinandersetzung ist (Merkens 2004: 42). Andererseits grenzt er sich so von jenen reformpädagogischen Ansätzen seiner Zeit ab, die auf Grundlage einer naturalistischen Anthropologie von einer naturhaften Selbstläufigkeit menschlichen Werdens ausgehen. Sie würden den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem sich historische und gesellschaftliche Erfahrungen im Fühlen und Denken der Lernenden sedimentiert haben, leugnen. Die Vorstellung, „das Hirn des Kindes sei wie ein Garnknäuel und der Lehrer verhelfe dazu, den Faden abzuwickeln“, sei zu verwerfen (Gramsci 1991ff.: 171). „Für Gramsci“, so Merkens,

„treten Freiheit und Zwang im erzieherischen Prozess in eine dialektische Einheit, deren einseitige Auflösung er in den idealistischen Erziehungskonzepten ebenso kritisiert, wie er immer gegen autoritäre, die Selbstständigkeit der Lernenden aberkennende Bildungsmodelle streitet.“ (Merkens 2004: 42 f.)

Die Politikdidaktik und die kritische politische Bildung haben die Bedeutung von primären Sozialisationserfahrungen für die politische Lernprozessanalyse bisher nicht hinreichend erforscht. Vor dem Hintergrund des Ansatzes von Gramsci gerät in den Blick, wie wichtig eine solche Analyse wäre, da die Verschränkung von Geschichte, generativer Weitergabe und sozio-biographischer Verarbeitung Lernprozesse strukturiert. Ergänzend könnten wissenssoziologische Ansätze herangezogen werden. Peter L. Berger und Thomas Luckmann weisen in ihrem Standardwerk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit daraufhin:

„Das Kind wird nach der Geburt nicht nur in die objektiven Lebensbedingungen einer spezifischen Gesellschaft entlassen, sondern internalisiert zunächst die von den ,signifikant Anderen‘ gefilterte Sichtweise der sozialen Wirklichkeit, es wird mit einem vorab bestehenden ‚Ensemble von signifikant Anderen‘ konfrontiert, deren Einstellungen und Sichtweisen es über Identifikationen erwerben muss.“ (Berger/Luckmann 1980: 146)

Die Aufnahme und Verinnerlichung von gefilterten Perspektiven primärer Bezugspersonen ist Voraussetzung und Hindernis zugleich. Lernende können in den an die primären Sozialisationserfahrungen anschließenden Sozialisationsprozessen neue Sichtweisen eines Welt- und Selbstverständnisses erlangen. Jedoch treffen sie auf mächtige, im Gedächtnis sedimentierte primäre Wirklichkeitskonstruktionen, deren Dichte und Stabilität es in Bildungsprozessen zu erschüttern gilt (Bernhard 2005: 194). Die das Denken und Handeln strukturierenden „Nachwirkungen“ dieser primären Sozialisationserfahrungen bleiben ungleichzeitig im Gedächtnis des Lernenden präsent. Gramsci betont, dass der Lernende weder „bloße Passivität“ noch „ein ‚mechanischer Behälter‘ mit abstrakten Kenntnissen“ ist (Gramsci 1991ff.: 1523). Das Bewusstsein des Kindes spiegelt zunächst die gesellschaftlichen Verhältnisse wider, „wie sie sich in der Familie, in der Nachbarschaft, im Dorf usw. knüpfen“ (Gramsci 1991ff.: 1523), die es in politischen Lernprozessen zu reflektieren gilt. Die gesellschaftliche Verantwortung von kritischer politischer Bildung und der Politikdidaktik liegt demnach m. E. in der bewussten Förderung der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die politisch Lernenden müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse als von Menschen gemacht und veränderbar erfahren. Ihnen eröffnet sich so ein „Horizont“, der es ihnen ermöglicht, aus lähmender Passivierung herauszutreten.