2.1 Zu den Bedingungen von Kritiklernen in der Institution Schule

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Schulkritik zu einem konstituierenden Element der deutschen Bildungskultur entwickelt. Nahezu jede empirische Studie zur Bildungsrealität in Deutschland zeigt desolate Schulverhältnisse. Dies gilt nicht erst seit PISA, wenn auch seither medienwirksam darauf aufmerksam gemacht wird (Klemm 2004: 242). Bereits in den 1970er Jahren weisen Schulstudien auf die soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem hin. Jenseits hehrer Versprechungen in den jeweiligen Länderverfassungen hat sich wenig geändert und von einer Chancen- oder Bildungsgleichheit kann auch heute keineswegs gesprochen werden (Becker/Lauterbach 2016; Hofstetter 2017; Rutter 2021). Schule zeigt sich veränderungsresistent, in der Grundstruktur unantastbar (Klemm 2004: 242) und trägt zweifelsohne auch zur Legitimation und Reproduktion bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse bei (Riegel 2012; Heitz 2014). Vor diesem Hintergrund wirkt die Frage, ob ein Kritiklernen in der Institution Schule möglich ist, nahezu rhetorisch.

Dennoch geht die Verfasserin davon aus, dass die Problematik komplexer und wesentlich widersprüchlicher ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zunächst kann festgehalten werden, dass in Deutschland eine Schulpflicht existiert, die aufgrund der Kulturhoheit der Bundesländer in den einzelnen Landesverfassungen geregelt ist.Footnote 1 Trotz dieses Bildungsföderalismus sind die Länder rechtlich nicht gänzlich frei in der Gestaltung des Schulverhältnisses. Die höherrangigen Vorgaben des Grundgesetzes müssen beachtet werden (Handschell 2012: 94 ff.;150 ff.).Footnote 2 Jenseits des föderalistischen Organisationsprinzips ist für das staatliche Regelschulsystem in Deutschland seine Mehrgliedrigkeit charakteristisch (NyssenFootnote 3 1995: 130 ff.). In der Sekundarstufe I besuchen Schüler:innen zumeist – entsprechend der numerisch von Lehrkräften erteilten Zeugnisnoten am Ende der Primarstufe – verschiedene Schulformen.Footnote 4 Zudem zeichnen organisatorische Spezifika den Schulunterricht aus: das Jahrgangsklassenprinzip; der überwiegend von fachspezifisch ausgebildeten Lehrkräften erteilte Unterricht; die individuelle numerische Leistungsbeurteilung ab Jahrgangsstufe 3Footnote 5; die Prägung des Unterrichts durch die jeweiligen fachwissenschaftlichen Disziplinen; die Gliederung des Unterrichts im 45-Minutentakt; die regelmäßige Erteilung von vorrangig im häuslichen Umfeld zu erledigenden Hausaufgaben; verbindliche curriculare Vorgaben sowie hierarchische Kommunikationsformen (alle Angaben Nyssen 1995: 130 ff.).

Neben den genannten Funktionen sowie dem zur Verfügung gestellten ausgebildeten Personal, den entsprechenden Räumlichkeiten, Materialien etc. bewegen sich Lehrende und Lernende in der Institution Schule in vorgeprägten komplementären hierarchischen Strukturen, die nicht frei gewählt und von Rollenerwartungen durchzogen sind. Dieses normierte und reglementierte Verhältnis eröffnet Handlungsspielräume, begrenzt sie aber auch zugleich (Nyssen 1995: 130). Die Institution hat – wie Institutionen im Allgemeinen – durchaus eine entlastende Funktion, indem sie soziale Grundbedürfnisse kollektiv befriedigt und das eigene Handeln sowie das Handeln anderer vorhersehbar macht (Seyfert 2011: 47 ff.). Gleichzeitig fordert sie Unterordnung unter nicht selbst gewählte Gestaltungsprinzipien und kontrolliert in vielfältiger Weise die Lebensäußerungen ihrer Mitglieder (Gudjons 2006: 315 ff.).

Die Schule ist somit ein Ort institutionalisierter Erziehung. Diese größte soziale Institution in Deutschland prägt und strukturiert das Leben von Kindern und Jugendlichen entscheidend (Nyssen 1995: 128). Der Begriff der Institution wird in dem hier diskutierten Zusammenhang aus einer soziologischen Perspektive verwendet. Er verweist darauf,

„dass es sich bei der heutigen Schule um eine Organisation, einen Betrieb, eine Einrichtung handelt, in der kontinuierlich und dauerhaft eine bestimmte Aufgabe gesellschaftlich erfüllt wird, nämlich die Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf die Welt der Erwachsenen, aus der sie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ausgegrenzt worden sind.“ (Nyssen 1995: 129, Hervorh. im Orig.)

Der Blick auf die Schule als gesellschaftliche Institution ermöglicht nicht nur, die Auswirkungen der Gesellschaft auf die Schule zu bestimmen. Er gestattet zugleich, die Funktionen und Aufgaben von Schule in der historisch spezifischen Gesellschaftsform zu analysieren. Und diese sind in hohem Maße ambivalent. So erfüllt die Schule bestimmte gesamtgesellschaftliche Aufgaben und Funktionen, wie etwa die Schüler:innen zu „sortieren“, was sich in der Dreigliedrigkeit des Schulsystems niederschlägt und über standardisierte Leistungsmessungsverfahren in regelmäßigen Abständen hergestellt wird (Nyssen 1995: 129). Historisch gesehen, übernahm „die schulische Institutionalisierung von Bildung und Lernen“ die Funktion, die Nationalstaatenbildung zu befördern (Klemm 2004: 244); sie bedeutete aber auch höhere Bildung für größere Bevölkerungsteile und schuf damit die Möglichkeit eines „wachsenden Kritik- und Protestpotentials“ (Holzkamp 1992: 1). Einerseits folgen Schüler:innen und Lehrer:innen im Unterricht „vor- und fremdbestimmten Ordnungsschemata“; ihre Beziehung zueinander ist von einem „besonderen Gewaltverhältnis“ geprägt (Klemm 2004: 244). Als „ein Ort der Herrschaftserfahrung und der hierarchischen Kommunikation“ trägt die staatliche Regelschule wesentlich zur „Herstellung von Differenz“ bei (Klemm 2004: 245). „Das Schulsystem (hat) gesellschaftlich gesehen die Funktion“, so der Erziehungswissenschaftler Hans-Günter Rolff, „soziale Strukturen und die damit verbundenen ökonomischen, politischen und kulturellen Herrschaftssysteme zu reproduzieren“ (Rolff 1980: 21). Stets diente das Bildungs- und Erziehungssystem der Reproduktion und damit auch der Legitimation bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Andererseits war aber die Einführung und gesetzliche Verankerung einer allgemeinen Schulpflicht und einer gemeinsamen vierjährigen Grundschulzeit im Weimarer Reichsgrundschulgesetz von 1920, wie der Mitbegründer der Kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp, im Verweis auf die widerspruchsvollen Entwicklungsverläufe festhält, „ein wesentlicher Erfolg der Arbeiterbewegung beim Kampf um die Brechung des Bildungsprivilegs und die Demokratisierung der Schule“ (Holzkamp 1992: 1). Die Forderung nach einem umfassenderen Zugang zu Wissen und Bildung gehörte von Beginn an zu den Kernanliegen der proletarischen wie der bürgerlich-sozialreformerischen Bewegungen. Ein Recht auf Schule war Teil dieser Bestrebungen. Auch heute ermöglicht die Schule Kindern aus den subalternen Klassen einen Zugang zu kognitiven und kulturellen Ressourcen. Dies eröffnet ihnen Entwicklungspotentiale, die in den sozialen Herkunftsmilieus kaum zugänglich waren und sind. Daraus können gesellschaftliche Impulse hervorgehen, die über die einfache Reproduktion und Legitimation sozialer Klassenstrukturen hinausweisen. Wie limitiert diese Zugänge und Entwicklungschancen in Klassengesellschaften auch sein mögen, so zeugen sie doch von der ambivalenten gesellschaftlichen Funktion der Bildungsinstitution Schule.

Vor diesem Hintergrund können in Anlehnung an Helmut Fend widerstreitende gesellschaftliche Funktionen des Schulsystems benannt werden: die Qualifikationsfunktion, die Allokations- und Selektionsfunktion sowie die Integrations- und Legitimationsfunktion (Fend 1981: 19 ff.).

Unter Qualifikationsfunktion wird zunächst die Aufgabe der Schule gefasst, Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu vermitteln, die Heranwachsende zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigen sollen (Nyssen 1995: 134; Fend 1981: 19 ff.). Die zunehmende Fokussierung auf eine möglichst reibungslose spätere Eingliederung der Lernenden in den Arbeitsmarkt hat im Zeitablauf zu einem Paradigmenwechsel geführt und die Forderung nach Kompetenzerwerb ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Der Kompetenzbegriff und die damit verbundenen Selbstorganisationsdispositionen sowie der Wunsch nach einer vermehrten Mess-, Vergleich- und Operationalisierbarkeit sind seither zu einem bestimmenden Moment in Forschung und Schulpraxis geworden, zugleich aber gesellschaftlich höchst umstritten (Hammermeister 2011; Barth 2016; Eder 2021).

Indem die Schule über ein Benotungssystem Lernende klassifiziert und sie so unterschiedlichen Schulzweigen zuführt, strukturiert sie den künftigen Weg der Heranwachsenden vor, ohne ihn gänzlich zu bestimmen. In diesem Zusammenhang kann von einer Allokations- und Selektionsfunktion gesprochen werden (Nyssen 1995: 134; Fend 1981: 29 ff.). Eine folgenschwere erste Entscheidung findet am Ende der Primarstufe beim Übergang in die Sekundarstufe I statt, bei der die Lernenden unterschiedlichen Schulformen, der Haupt- oder Realschule bzw. dem Gymnasium, zugewiesen werden (Nyssen 1995: 135; Hofstetter 2017: 11 ff.) Letztlich wird damit nicht nur über unterschiedliche Bildungswege und Abschlüsse, sondern zugleich über differente gesellschaftliche Positionen entschieden. Zweifelsohne sind die so vorbestimmten Bildungsgänge nicht alternativlos. Momente der sozialen Aufwärtsmobilität über Bildung sind nicht ausgeschlossen. In ihrer Gänze führen sie jedoch zu einer relativ stabilen Reproduktion der gesellschaftlichen Sozialstruktur und der damit verbundenen Verteilung von sozialen Privilegien und Aufstiegschancen (Rolff 1980; Hofstetter 2017; Reh/Bühler/Hofmann/Moser 2021) Nyssen, die insbesondere die Selektionsfunktion hervorhebt, betont: „Solange in der Schule einzelnen SchülerInnen Zertifikate zugewiesen werden, die mit speziellen Berechtigungen oder Abschlüssen verknüpft sind, prägt die schulische Selektion nachhaltig alle in der Schule ablaufenden Lern- und Erziehungsprozesse (Nyssen 1995: 135).

Der Schule kommt aber auch eine Integrations- und Legitimationsfunktion zu (Nyssen 1995: 134 f.; Fend 1981: 39 ff.). Indem sie die bestehenden gesellschaftlichen Werte und Normen vermittelt, legitimiert und integriert sie in bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, habitualisiert sie soziale Rollen etc. und fördert als Institution Prozesse der Vergesellschaftung und Individuation (Hummrich/Kramer 2017). Das gilt zunehmend auch für soziale Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen auf soziale Integrations- und Inklusionshürden treffen. Der Begriff der schulischen Integration zielt mittlerweile ebenfalls auf den sozialen Einbezug (Inklusion) von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Tege 2020; Klemm 2021).Footnote 6 Zugleich kommt im Prozess der Rollenzuweisung die widersprüchliche Funktion der Schule zum Ausdruck. „Der Prozess der Einübung kann jedoch nicht mechanistisch und widerspruchsfrei gedacht werden“, so Nyssen, denn er erzeugt immer auch widerständige Praxen (Nyssen 1995: 135). Diese Widersprüchlichkeit wirkt gleichfalls nach außen: In ihrer Funktion als Sozialisationsinstanz tritt die Schule zum Beispiel mit außerschulischen Institutionen wie der Familie, dem Jugendamt etc. in Kontakt. Bei diesen „Kontaktaufnahmen“ können sowohl eher restriktiv-integrierende als auch situativ schützende Faktoren zum Tragen kommen.

Die auf Fend zurückgehende Typisierung der gesellschaftlichen Funktionen der Schule ermöglicht einen ersten Einblick in die komplexe Rolle dieser Kerninstitution moderner Gesellschaften. Sie lässt aber zugleich viele (historische) Aspekte unterbelichtet und blendet Widersprüche innerhalb und zwischen den einzelnen Funktionen weitgehend aus (Nyssen 1995: 136 ff.). So könnte beispielsweise die Frage aufgeworfen werden, warum die Schule in ihrer Grundstruktur niemals grundlegend zur Disposition stand, obwohl andere Institutionen wie etwa die Kirche, das Militär oder die historische Verfasstheit der Familie immer wieder im Zuge von Emanzipationsbestrebungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert strukturell in Frage gestellt wurden (Klemm 2004: 242). Konstatiert werden kann aber auch, dass schulische Sozialisationsprozesse Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung von Kindern haben, die nicht nur negativ besetzt sein müssen. Kinder treten etwa aus dem familiären Umfeld in einen öffentlichen Raum ein, das Aufeinandertreffen mit Gleichaltrigen ermöglicht die Einübung von sozialen Praxen innerhalb der Peer Group und die Konfrontation mit den Anforderungen befördern Anpassungs- oder auch widerständige Verhaltensweisen.

Die kursorische Darstellung der gesellschaftlichen Funktionen der Institution Schule skizzierte die widersprüchlichen Rahmenbedingungen, auf die Lernen in der Schule trifft. Doch die Anerkennung ermöglichender Faktoren und Funktionen sollte nicht dazu verleiten, das unabweisbare demokratische Defizit der Institution Schule zu übersehen. Mit Blick auf den politischen Unterricht bleibt die Frage offen, wie schulischer Unterricht kritisches Denken befördern will, bewegt er sich doch prinzipiell in einem widersprüchlichen Verhältnis zur Institution Schule. Wie kann politische Bildung eine freie Entfaltung von Kindern und Jugendlichen befördern und sie zu Kritik sowie zu politischer Teilhabe befähigen, obwohl dies unter dem Paradoxon geschehen soll, dass Schule eine „Zwangsveranstaltung“ ist, in der Schüler:innen einer Anwesenheitspflicht obliegen und nicht über die sie betreffenden Themen wie Curricula, Benotung etc. zumindest mitentscheiden können? (Nonnenmacher 2010: 467 f.).

Wie bereits dargelegt, liegt die thematische Schwerpunktsetzung dieser Arbeit nicht auf einer schulsoziologischen, sondern auf einer lerntheoretischen und politikdidaktischen Bearbeitung des Themas. Nicht nur die Schule, sondern die Gesellschaft insgesamt wird als Lernort gefasst. Nicht die Rahmenbedingungen der Institution Schule, sondern Soziallagen, Alltagserfahrungen und Hegemoniekonstellationen werden als Kontexte schulischen wie außerschulischen Lernens reflektiert und im Hinblick auf Möglichkeiten und Begrenzungen von Kritiklernen analysiert. Insofern lassen sich weite Teile der Arbeit eher als theoriegeleitete Bearbeitung politikdidaktischer Fragen kritischer politischer Bildung verstehen, die gleichwohl die Anforderungen der konkreten Schulpraxis und Unterrichtsgestaltung stets im Blick behalten.

2.2 Die Alltagskategorie in politischen Lernprozessen

„Eine Politische Bildung, die sich vor allem als gesellschaftliche Bildung versteht, muss die Alltagsrealität der Menschen in sich aufnehmen, die Probleme, Konflikte und Bedürfnisse, die sich aus ihrer konkreten Situation im täglichen Leben ergeben. […]. Der Schüler erhält […] die Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen und seine Urteile – einschließlich der Vorurteile – sowie seine mitgebrachten politischen Einstellungen immer wieder selbst zu überprüfen. […] Auf diesem Wege lernt der Schüler schließlich, auch seine eigene Situation und das Geschehen in seinem Alltagsleben soziologisch und politisch zu begreifen.“

(Schmiederer 1971: 105 f.)

Auch schulische politische Bildung ist gefordert, über die Schule hinauszudenken und Schule als eine Institution der Gesellschaft zu begreifen. In diesem Sinne ist politische Bildung, wie Schmiederer es formuliert, immer zugleich „gesellschaftliche Bildung“ (Schmiederer 1971: 105). Dass Politik und Alltag Elemente des Gesellschaftlichen sind, dürfte allgemein anerkannt sein. In welchem Verhältnis sie zueinanderstehen und welche Konsequenzen daraus für die politische Bildung zu ziehen sind, ist hingegen Bestandteil kontroverser wissenschaftlicher Debatten.

Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich konkret mit der Bedeutung der Alltagsorientierung in der Politikdidaktik. Explizit wird hier der einschlägige Ansatz des Politikdidaktikers Dirk Lange einer näheren Betrachtung unterzogen, da er auf der Vermittlung von Alltag und Politik besteht. Laut Lange ist diesem Zusammenhang bisher weder aus politikwissenschaftlicher noch aus politikdidaktischer Sicht angemessene Aufmerksamkeit geschenkt worden (Lange 2002: 8). Seinen interdisziplinären Ansatz siedelt er „im Spannungsfeld von Politik- und Geschichtswissenschaft“ als Politische Alltagsgeschichte an (Lange 2002: 1).

Im Folgenden finden einzelne Elemente der von Lange dargestellten Alltagsgeschichte – sofern sie für die erörterte Problematik von Bedeutung sind – ebenso Berücksichtigung wie implizit ausgewählte Politikdidaktiken, welche die Alltagsorientierung (grundsätzlich) in Frage stellen. Vor diesem Hintergrund werden sowohl kategoriale Innovationen der Langeschen Überlegungen aufgezeigt, als auch analytische Defizite und widersprüchliche Argumentationsweisen kritisch reflektiert. Am Ende des Kapitels gehe ich dann auf die Sinnbilder in Langes fachdidaktischem Ansatz ein, die m. E. ein produktiver Ausgangspunkt für die Konzeption einer kritischen politischen BildungFootnote 7 sind.

In traditionellen Konzeptionen politischer Bildung wird das didaktische Prinzip der Alltagsorientierung weitestgehend unter dem von Walter Gagel eingeführten Begriff des „Brückenproblem[s]“ thematisiert (Gagel 2005: 290). Dem alltagsorientierten Prinzip wird dabei die Funktion einer „Brücke“ zugesprochen, welche „Lebenswelt und Politik“ didaktisch verbinden soll (Gagel 2005: 290). Die auf der Brückenmetapher basierenden alltagsorientierten Ansätze beabsichtigen, „im politischen Lernprozess eine Verbindung zwischen den Voraussetzungen der Lernenden einerseits und den Gegenständen des Faches andererseits herzustellen“, so der Politikdidaktiker Dirk Lange (Lange 2002: 5). Letztlich würden diese politikdidaktischen Konzeptionen auf der Vorstellung beruhen, dass „eine „‚unpolitische‘ mit einer ‚politischen Sphäre‘“ erst verbunden werden müsse (Lange 2002: 6). Der Grund dafür sei, „dass in all diesen Varianten der ‚Alltag‘ mit der unpolitischen Seite der ‚didaktischen Brücke‘ identifiziert wird“ (Lange 2002: 7 ff; 2007a: 108), der Alltag also letztlich als nicht politikrelevant gelte:

„Die an den Alltagsbegriff geknüpften Konnotationen der Subjektivität, der Lebensnähe, des Privaten und des Sozialen verweisen in den Bereich des ‚oikos‘ (den privaten Haushalt) und damit in das Nichtpolitische. In der griechischen Wortbedeutung entsteht der ‚politikon‘ (das die Öffentlichkeit Betreffende) erst aus der dichotomischen Gegenüberstellung zur Privatsphäre. Daraus resultiert ein Politikverständnis, das den Ort des Politischen eng an die Regelung der öffentlichen Belange knüpft.“ (Lange 2002: 71 f.; 2007a:108)

Herkömmlichen politikdidaktischen Konzepten ist, so Lange, somit ein alltagsfernes Politikverständnis gemein. Etymologisch würden sie an ein Erbe anknüpfen, in dem „sich das Politische aus der Kontrastierung zum Alltäglichen begründet“ (Lange 2007a: 108). Diese Vorstellungen würden den Anschein erwecken, als handele es sich um zwei voneinander getrennt zu betrachtende Sphären:

„Der Alltag wird dabei durch eine Routinenhaftigkeit gekennzeichnet, die den Gestaltungsansprüchen des politischen Handelns diametral gegenübersteht. Diese statische Alltagsdefinition ist durch ihre immanente Gegenüberstellung zum Nicht-Alltag geprägt. Indem Alltag und Politik so deutlich voneinander abgegrenzt werden, unterliegt das alltagsbezogene Lernen einer Tendenz zur Entpolitisierung.“ (Lange 2007a: 108 f.)

Diese Entpolitisierungstendenz einer so vereinfachten Alltagskategorie kritisiert Lange bereits 2002 in seiner Dissertationsschrift Die Alltagsgeschichte in der historisch-politischen Didaktik. Zur politischen Relevanz alltagsorientierten Lernens (Lange 2002).Footnote 8 In der Einleitung hebt er hervor, dass seine Untersuchung von dem Erkenntnisinteresse geleitet wird, „wie auch dann zu politischem Sehen, Beurteilen und Handeln befähigt werden kann, wenn alltagsbezogene Inhalte, Methoden und Medien Gegenstand des politischen Lernens sind“ (Lange 2002: 8). Er verfolge das Ziel, „das politikdidaktische Prinzip der Alltagsorientierung nicht nur subjekt-, sondern auch fachadäquat zu begründen“ (Lange 2002: 8). Bisher sei der Zusammenhang von Politik und Alltag weder aus politikwissenschaftlicher noch aus politikdidaktischer Perspektive hinreichend analysiert worden (Lange 2002: 8). Vergeblich suche man in diesen Disziplinen „nach einer konzeptionellen Entfaltung der Beziehungshaltigkeit zwischen Politik und Alltag“ (Lange 2002: 9). In Anlehnung an Heidrun Hoppe betont Lange, dass eine zentrale Aufgabe politischer Bildungsarbeit darin besteht, „Politik und Alltag in einen Dialog“ miteinander zu bringen, um politische Zusammenhänge und persönliche Sinnmuster als miteinander vermittelte sichtbar zu machen“ (Hoppe 1996: 323; Lange 2002: 9). Nur wenn dies gelänge, könne die Gefahr einer Entpolitisierung politischen Lernens vermieden werden und „das Prinzip der Alltagsorientierung beanspruchen, substantiell ‚politisches Politiklernen‘ anzuleiten“ (Lange 2002: 9).

Lange geht davon aus, dass zur Erörterung der oben genannten Problematik ein Blick in die Geschichtswissenschaft, insbesondere in die historisch-politische Didaktik, hilfreich sein kann. In Deutschland habe sich – nach langen und erbittert geführten Kämpfen – „die Alltagsorientierung in Form der Alltagsgeschichte als eigenständiges Forschungskonzept“ etabliert (Lange 2002: 9). Der alltagsgeschichtliche Ansatz erfahre nun breite Akzeptanz bei „der Vergegenwärtigung vom Vergangenem“ (Lange 2002: 9).Footnote 9

Ausgehend von dieser Annahme widmet sich der erste Teil von Langes Dissertationsschrift der Bedeutung der (politischen) Alltagsgeschichte. Wenn die in der Politikdidaktik vielfach vorgetragene Kritik – exemplarisch nennt Lange hier u. a. Walter Gagel (1985), Peter Massing (1995), Wolfgang Sander (1997) und Hans-Jürgen Pandel (1999) – berechtigt sei, dass die Alltagsorientierung zur Konturlosigkeit und Entpolitisierung politischen Lernens beitrage, so müsse dies auch für die Alltagsgeschichte in der Geschichtswissenschaft gelten (Lange 2002: 6 ff.). Es gehe um die Frage, „ob der Alltagsbezug auch das historische Lernen entpolitisiert“ habe bzw. ob „die Alltagsgeschichte ‚unpolitisches‘ oder ‚politisches‘ Lernen anleitet“ (Lange 2002: 9 f.).

Vor diesem Hintergrund werden die spezifischen Entstehungsbedingungen der Alltagsgeschichte, dieses sich Ende der 1970er Jahre in Deutschland ausbildenden Ansatzes in der Geschichtswissenschaft, skizziert (Lange 2002: 26 ff.). Die alltagsgeschichtliche Forschung verfüge über kein einheitliches, in sich konsistentes Wissenschaftsparadigma, vielmehr zeichne sich dieser Ansatz durch vielfältige Zugänge und interdisziplinäre Verflechtungen aus (Lange 2002: 26). Das gemeinsame Interesse der alltagsgeschichtlichen Forscher:innen bestehe in der „Kritik an herkömmlichen Prämissen und Methoden der historischen Forschung“ (Lange 2002: 26). So müsse dieser Ansatz als eine Antwort auf die traditionelle Sozialgeschichtsschreibung verstanden werden (Lange 2002: 33 f.).Footnote 10 Zentraler Forschungsgegenstand der Alltagsgeschichte seien die sozialen Praktiken der Menschen und ihre Einflussmöglichkeiten auf die gesellschaftlichen Strukturen, „die von der Sozialgeschichte meist nur von außen und als handlungsunabhängige Ablaufnotwendigkeiten dargestellt“ worden wären (Lange 2002: 34). Auch nehme „die Alltagsgeschichte gesellschaftliche Strukturen wie etwa Klassen-, Geschlechter- und andere Herrschaftsverhältnisse nicht als statische Determinanten der sozialen Wirklichkeit“ in den Blick (Lange 2002: 35). „Die Wiederentdeckung des Individuums“ dürfe dabei „nicht als Renaissance des Historismus“ verstanden werden, denn nicht die Handlungen einzelner „großer Staatsmänner“ würden im Mittelpunkt stehen, sondern der alltagsgeschichtliche Ansatz richte sich „auf die Praxis der kleinen Leute, der’Vielen’, die bislang nur als Marginalie“ in das Blickfeld der Geschichtswissenschaft gelangt seien (Lange 2002: 35).

Trotz aller Differenzen eint, so Lange, die alltagsgeschichtlichen Zugänge

„die skeptische Beurteilung von forschungsleitenden Theorien, die Menschen auf ihre Funktion als Rollenträger oder Positionsinhaber reduzieren und die eine fortschrittsoptimistische Interpretation der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse implizieren. Die ‚Kosten der Moderne‘, die dadurch hervorgerufenen gesellschaftlichen Destruktivkräfte und die Suche nach historischen Alternativen bestimmen das alltagsgeschichtliche Erkenntnisinteresse.“ (Lange 2002: 69)

Historisch, so Lange weiter, ist für die alltagsgeschichtliche Forschung das postmoderne Denken von entscheidender Bedeutung gewesen (Lange 2002: 71). Die Auseinandersetzung verdanke sich einem „Wandel der Wahrnehmungsformen“, der sich nicht auf die Geschichtswissenschaft beschränke (Lange 2002: 71). Klaus von Beyme habe dargelegt, dass die Postmoderne als „weltbildträchtige Supertheorie“ auch in andere Sozialwissenschaften hineinwirke (Beyme 1991: 147; siehe Lange 2002: 71). Um die politische Wichtigkeit und Relevanz der Alltagsgeschichte aufzeigen zu können, erachtet es Lange als „zweckmäßig, den Einfluss des postmodernen Denkens auf die Politikwissenschaft zu reflektieren“ (Lange 2002: 71). In diesem Zusammenhang hält er fest:

„Betrachtet man zunächst die Politikwissenschaft der Moderne, dann ist fraglich, ob überhaupt von einer Relevanz des Alltags gesprochen werden kann, denn das politische Denken der Moderne baut gerade auf den Ausschluss der alltagsgeschichtlichen Zentralkategorie auf.“ (Lange 2002: 71)

Laut Lange ist für die wissenschaftliche Aufnahme der Alltagskategorie „das Interesse an der Subjektivität von Lebenserfahrungen“ von Bedeutung; die Forschung setze so der „anonymen Gesellschaftsanalyse der Sozialgeschichtsschreibung eine subjektorientierte Lebensweltanalyse gegenüber“ (Lange 2002: 21). Diese neueren Forschungsansätze wären zunächst auf wenig Gegenliebe gestoßen. Es sei aber eine zentrale Aufgabe der Politikwissenschaft, „einen methodisch und theoretisch kontrollierten Zugang zu den Fragestellungen der Mikroebene zu finden“ (Lange 2002: 21 f.). Dort hätte lange Zeit eine „Skepsis vor den individualisierenden Fragestellungen und den damit verbundenen Schwierigkeiten der Verallgemeinerung“ existiert (Lange 2002: 21), mittlerweile würden jedoch Analysen auf der Mikroebene einen Bedeutungszuwachs erfahren. Auch diese Bedeutungszunahme müsse „im Zusammenhang mit dem Einfluss der Postmoderne“ gesehen werden, da sie zur Dekonstruktion wesentlicher Grundannahmen in der Politikwissenschaft beigetragen habe:

„Die sphärischen Abgrenzungen der Disziplin, die durch die Dichotomie von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ und die Trennung von Staat und Gesellschaft legitimiert waren, haben dadurch im gleichen Maß an Aussagekraft eingebüßt, wie Fragen nach Macht in ‚privaten‘ Beziehungen oder nach Formen der Herstellung von verbindlichen Normen im Alltag an Bedeutung gewonnen haben. Unter Zugrundelegung von Erkenntnissen aus der feministischen Theorie, dem Poststrukturalismus oder auch der anthropologischen Kulturtheorie, die einem weiten Postmodernebegriff unterzuordnen sind, müssen einige bislang als ‚unpolitisch‘ kategorisierte Aspekte der sozialen Wirklichkeit als politikrelevant betrachtet werden.“ (Lange 2002: 22)

Ob sich die allgemeine Auseinandersetzung in und mit der Alltagskategorie und die bisweilen synonym gesetzte Alltagsgeschichte bzw. das didaktische Prinzip der Alltagsorientierung tatsächlich erst im Zuge postmoderner Theoriebildung in den Sozialwissenschaften durchsetzen konnte, soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch diskutiert werden.Footnote 11 Ich werde auch darauf eingehen, ob sich die Sozialgeschichtsschreibung insgesamt, wie von Lange angenommen, „vornehmlich objektivistischer Erklärungsmuster“ bedient (hat) und ihr eine „teleologische Geschichtsbetrachtung“ eigen (gewesen) ist (Lange 2002: 34). Problematisiert werden soll, ob „die in der Tradition von Webers Modernisierungstheorie oder Marx’ Geschichtsphilosophie stehende Forschungspraxis zu einer Vernachlässigung der Aktivität von handelnden Menschen im historischen Prozess geführt“ hat (Lange 2002: 33).

Positiv hervorheben und aufnehmen möchte ich Langes Kritik an der Dichotomie von Alltag und Politik, von privat und öffentlich (Lange 2002: 71 f.). Lange weist immer wieder darauf hin, dass der Politikbegriff begriffsgeschichtlich auf dem Ausschluss des Alltags basiert (Lange 2002: 71). Zugleich ist das von Lange problematisierte dichotome, unpolitische Verständnis der Alltagskategorie in vielen politikdidaktischen Diskursen augenfällig: Peter Massing etwa betont, dass es eine „didaktisch bedeutsame Frage“ für alltagsorientierte Konzepte ist, „[w]ie im Lernprozess eine Brücke von der Lebenswelt zur Politik geschlagen werden (kann), da Politik im Allgemeinen und politische Institutionen im Besonderen abstrakt und alltagsfern“ seien (Massing 1996: 7). Es bestehe „die Gefahr“, diese „strukturelle Distanz“ „in die eine [LebensweltFootnote 12, J.H.] oder in die andere [Politik, J.H.] Richtung aufzulösen“ (Massing 1996: 7).

Die hier als Gefahr beschriebene Vereinseitigung in die lebensweltliche oder die politische Richtung ist im politikdidaktischen Diskurs keine Seltenheit. Zumeist verläuft sie zulasten der alltags- oder lebensweltlichen Dimension. Georg Weißeno, Joachim Detjen, Ingo Juchler, Peter Massing und Dagmar Richter argumentieren in ihrer Darstellung Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell, die politische Bildung müsse einen geeigneten Politikbegriff definieren,

„weil die Politik ein außerordentlich vielschichtiges sowie an den Rändern auch unscharfes Phänomen ist. So zerfließen die Grenzen zwischen Politik und Nichtpolitik bei Schlagworten wie ‚Politik der Lebensführung‘, ‚Politik der Lebensstile‘, ‚Alltagspolitik‘. Denn diese um Anerkennung von Lebensentwürfen kreisenden ‚Politiken‘ schlagen sich institutionell überhaupt nicht nieder und ereignen sich jenseits aller Verfasstheit. Der Ort des Politischen lässt sich in ihnen jedenfalls nicht mehr erkennen.“ (Weißeno u.a. 2010: 28)

Dieses mehr als fragwürdige Verständnis von Politik, Lebenswelt und Alltag isoliert das Politische von allen Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die dem engen traditionellen Begriff von Politik nicht unterzuordnen sind. Damit erklärt es alle Dimensionen und Sachverhalte außerhalb dieses traditionalistischen Politikverständnisses zur Nicht-Politik. Letztlich endet die Logik dieser Argumentation in einer Auffassung, nach der die Kritik der herrschenden Politik mit der Abwesenheit von Politik gleichzusetzen sei. „Lebensweltliche Orientierung bedeutet vielfach Kritik an der vorherrschenden Politik, und aus der Hinwendung zur Lebenswelt folgt gleichzeitig die Abwendung von der Politik“ (Massing 1996: 8). Kritik als Abwendung? Eine eigentümliche Logik!

Walter Gagel spricht im Hinblick auf ein alltagsorientiertes Prinzip von der möglichen Gefahr, dass bei einer Orientierung an der Lebenswelt der Lernenden „subjektive Betroffenheit zum Selbstwert“ erhoben werde, was sich als ein „‘Syndrom’ von fünf Merkmalen“ beschreiben lasse: „Kultivierung des Ichs“; „Beziehung wichtiger als Inhalte“; „Lob der Nähe“; „Verflüchtigung der Strukturen“ und „Entwertung des Kognitiven“ (Gagel 2005: 286 ff.).Footnote 13 Auch Hans-Jürgen Pandel kritisiert im Handbuch zur politischen Bildung die in seinen Augen „begrenzte Reichweite“ des Alltags, welche – sofern „durch direkte persönliche Erfahrung geprägt“ – „in die Irre“ führe (Pandel 1999: 230). Als alleinige Orientierung politischer Bildung würden so nicht nur die „objektiv strukturellen Bedingungen […] ausgeblendet“, sondern die nur auf der „Binnensicht“ beruhende politische Bildung werde zu einer „‘Betroffenheitspädagogik’, die auf der persönlichen Betroffenheit, den Affekten der Lernenden“ basiere und dort moralisierend verharre (Pandel 1999: 230). Der Entpolitisierungstendenz könne entgegengewirkt werden, wenn der politische Unterricht sich nicht als Lernbereich verstehe, sondern sich in den regulären Fächerkanon einfüge und einen „weiten Politikbegriff“ verwerfe (Weißeno 1995: 34).Footnote 14 So müssten die Inhalte des politischen Unterrichts der Rationalität der Politikwissenschaft folgen. Zwar sei eine fachdidaktische Auswahl zu treffen, der Unterricht folge aber dem dreifachen Prinzip des „angelsächsische[n] Begriffstrio[s] polity, policy, politics“ (Weißeno 1995: 35); den „Politikzyklus“ gelte es „als Analysemodell“ zu nutzen (Massing 1995: 86 ff.).

Im Gegensatz zu der hier zum Ausdruck kommenden Skepsis und Ablehnung einer alltags- und lebensweltlich orientierten politischen Bildung fußt Langes Konzept auf der Vorstellung einer wechselseitigen Durchdringung von Alltag und Politik. Eine Vorstellung, die insbesondere auf einer erweiterten Auffassung des Politischen basiert. Lange betont dabei, dass sich die politische Bildung von anderen schulischen Fächern unterscheidet. Hier stünden nicht die zu vermittelnden Fachgegenstände im Zentrum, sondern es gehe „um die Förderung von Urteilskraft, von kritischem Denken und die Befähigung zu interessegeleitetem Handeln“ (Lange 2016: 340).Footnote 15 Alltagspolitische Bildung stelle eine Chance dar und ziele nicht primär auf Betroffenheit. Sie benötige „eine[n] Politikbegriff, der einerseits der staatszentrierten Verengung begegnet und andererseits nicht konturlos wird“ (Lange 2007a: 110). Aufgabe der politischen Bildung müsse es sein, „sowohl die Politikbezüge des Alltags als auch die Alltagsbezüge der Politik zu reflektieren“ (Lange 2007a: 110), was letztlich die Disqualifizierung des alltagsorientierten Prinzips als ‚unpolitisch‘ verunmögliche (Lange 2007a: 110). Es gelte Transparenz zu schaffen, dass wir alle „durch unser Handeln und Unterlassen an der Herstellung von politischer Wirklichkeit beteiligt sind“ (Lange 2007a: 111). Aufgabe der alltagspolitischen Bildung sei es, die sozialen Mikroprozesse zu thematisieren,

„die im Rahmen informeller Strukturen an der Konstitution von politischer Wirklichkeit beteiligt sind. Alltägliche Phänomene sind in ihren politischen Auswirkungen ebenso zu berücksichtigen, wie das Einwirken politischer Phänomene auf den Alltag.“ (Lange 2007a: 111)

Die bereits angesprochene staatszentrierte Verengung, die Lange in traditionellen didaktischen Konzeptionen sieht, kritisiert er, indem er sich für ein erweitertes Staatsverständnis ausspricht:

„Die Gegenüberstellung von alltäglichem und politischem Handeln zentriert das Politische auf die engeren Sphären des politischen Systems. Politik lässt sich aber nicht auf das Entscheidungshandeln von Politikern reduzieren. Wird ein erweitertes Staatsverständnis zu Grunde gelegt, sind auch diejenigen alltäglichen Handlungsformen interessant, die als Subpolitiken Staatsfunktionen übernehmen und am Prozess der Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit beteiligt sind.“ (Lange 2007a: 109)Footnote 16

Notwendig sei eine Entgrenzung des Politischen, denn „Politik und Alltag“ seien „kein Gegensatzpaar, sondern ein gegenseitiges Bedingungsgeflecht“ (Lange 2007a: 111).

2.2.1 Zur Kompatibilität von (politischer) Alltag(sgeschichte) und Politik

Grundsätzlich teile ich die von Dirk Lange vertretene Position, dass die Alltagserfahrungen Dreh- und Angelpunkt politischer Lernprozesse sind bzw. sein sollten. Eine (selbst-)kritische Analyse erfahrener alltäglicher Praxen und Selbstverständnisse sowie die Reflexion des eigenen Handelns im Wissen um die eigene Verstrickung in die gesellschaftlichen Strukturen bedingen und ermöglichen m. E. erst politische Lernprozesse.

Lange hebt – wider die Skepsis vieler Politikdidaktiker:innen – die Bedeutung der Alltagserfahrungen sowohl für die Unterrichtsforschung als auch für die praktische Unterrichtsplanung, -durchführung und -reflexion hervor, die nichts mit einer moralisierenden Betroffenheitspädagogik gemein hat (Lange 2002: 5 ff). Als fächerübergreifenden Ausgangspunkt wählt er – wie bereits genannt – die vielfältigen historiographischen Forschungsansätze der Alltagsgeschichte, die nicht nur einfache routinierte Alltagshandlungen nachzeichnen:

„Im Rahmen der Untersuchung [gemeint ist hier Langes Dissertationsschrift, J.H.] wird Alltagsgeschichte als Oberbegriff für diejenigen neueren historiographischen Ansätze benutzt, die einen theoretischen und praktischen Zugang zu den historischen Prozessen und Strukturen des subjektiven Handelns eröffnen.“ (Lange 2002: 11)

Das heißt,

„die versuchen, den Austauschprozess zwischen aktivem, interaktivem und reaktivem Handeln von Menschen und der ihnen vorgefundenen Wirklichkeit konzeptionell zu erfassen.“ (Lange 2002: 69, Hervorh. im Orig.)

Eine solche Perspektive fokussiert insbesondere das Subjektive und Individuelle. Unterschiede zwischen den einzelnen alltagsgeschichtlichen Forschungsansätzen würden sich aus der differenten Bedeutung ergeben,

„welche die verwendeten Hintergrundtheorien der Subjektivität bei der Herstellung der sozialen Wirklichkeit beimessen. Ob die Subjektivität des Menschen subjektivistisch auf die Intentionalität des autonomen Individuums verkürzt wird, ob sie im ständigen Wechselspiel mit ihren objektiven Rahmenbedingungen untersucht wird oder ob sie als analytisch nicht mehr trennbarer Bestandteil der sozialen Praxis begriffen wird, hat weitreichende Auswirkungen auf die alltagsgeschichtliche Forschungspraxis und […] auch auf ihre politische Relevanz.“ (Lange 2002: 69)

Alltagsgeschichtliche Zugänge, so Lange, verbindet letztlich die Annahme der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse durch konkrete Individuen, Personengruppen und Lebensweisen. Dies bedeute, die sozialen Praktiken und Einflussmöglichkeiten der Menschen in den Blick zu nehmen, was nichts mit den personalisierten Erklärungsansätzen des klassischen Historismus gemein habe (Lange 2002: 34 f.). Die Zusammenfassung disparater historiographischer Zugänge unter dem Begriff „Alltagsgeschichte“ sei – wie schon in Grundzügen im vorangegangenen Kapitel skizziert – in Abgrenzung zur Sozialgeschichtsschreibung legitimiert, deren Forschung durch die Vorstellung bestimmt werde,

„dass die Prägungskraft der Verhältnisse auf die Menschen die Beeinflussungsmöglichkeiten der Verhältnisse durch die Menschen bei weitem dominiert. […]

Individuelles Handeln und Sinngebung wurden [in der Sozialgeschichtsschreibung, J.H.] nunmehr als Reflex auf die formierende Kraft von Systemen und Strukturen und Institutionen interpretiert.“ (Lange 2002: 31)

In Anlehnung an die Historiker Richard van Dülmen und Alf Lüdtke ist Lange davon überzeugt, dass die Alltagsgeschichte die „komplexen Beziehungen zwischen determinierenden Strukturen und der Praxis der Subjekte“ (Dülmen 1991: 696), zwischen den „Orientierungsmustern (Lebensweise) und den Formen täglichen Verhaltens und Erfahrens (Alltagsleben)“ erfassen und dechiffrieren will (Lüdtke 1989: 12; zitiert nach Lange 2002: 35). Alltagshistoriker:innen versuchen demnach, die „kulturelle[] und soziale[] Konstruktion von Herrschaft und Ökonomie in den alltäglichen Lebensverhältnissen“ aufzuspüren und „alternative Handlungsmöglichkeiten“ zu entwerfen (Lange 2002: 35). Alltagsgeschichtliche Zugänge seien Ausdruck eines postmodernen Diskurses, der als „eine metatheoretische ‚Brücke‘ zwischen historischer und politischer Alltagsorientierung“ fungiere (Lange 2002: 71).

Im Unterschied dazu baue die Politikwissenschaft der Moderne mit ihren „großen System- und Totalitätsentwürfen“ unmittelbar „auf den Ausschluss der alltagsgeschichtlichen Zentralkategorie“ (Lange 2002: 71). Sie operiere mit einem „Politikverständnis, das den Ort des Politischen eng an die Regelung der öffentlichen Belange“ knüpfe, der „erst aus der dichotomen Gegenüberstellung zur Privatsphäre“ entstehen könne (Lange 2002: 72). Insofern bestehe „der Ausschluss der Privatsphäre“ als „ein Fundament des Politischen“ in der Politikwissenschaft der Moderne fort (Lange 2002: 72). Es gehe aber darum, „den Schlüssel zur Kompatibilität von Alltag und Politik zu finden“ (Lange 2002: 72). Dafür müssten jene Tendenzen in der Politikwissenschaft beschrieben und analysiert werden, in denen die apodiktische Trennung von privater und öffentlicher Sphäre in Frage gestellt werde (Lange 2002: 72). In diesem Zusammenhang betont Lange: „Es ist zu erörtern, welche ‚großen Erzählungen‘ der Politikwissenschaft durch das postmoderne Denken dekonstruiert worden sind und wie dadurch zu einer Dezentrierung des Politikbegriffs beigetragen worden ist“ (Lange 2002: 72). Von einer Dezentrierung des Politikbegriffs könne dort gesprochen werden, wo das „Politikverständnis sich vom Staat gelöst“ habe (Lange 2002: 73).Footnote 17 Den Politikwissenschaftler Klaus von Beyme rezipierend, ist Lange davon überzeugt, dass diese Veränderungen mit einem seit den 60er Jahren einsetzenden Paradigmenwechsel einhergehen, der sich im differenten politischen Denken zwischen der Moderne und Postmoderne manifestiert habe (Lange 2002: 73 f.). Laut Lange lässt sich dieser postmoderne Wandel, der das Paradigma der Moderne in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Phasen in Zweifel gezogen hat, an folgenden Bestrebungen festmachen:

„– an der Abkehr von der Suche nach Makrotheorien hin zu fragmentiertem Denken,

– an der Betonung der Interdisziplinarität,

– an der Radikalisierung des Pluralitätsbegriffs und

– an der Aufwertung des Kulturellen gegenüber dem Primat der Politik oder der Ökonomie“ (Lange 2002: 74).Footnote 18

Die Postmoderne unternehme den „Versuch, die vielfältigen Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen“ innerhalb der Gesellschaft zu erfassen und habe zu einem „Wandel im Staatsdenken“ geführt (Lange 2002: 74). Dabei würden system- und strukturtheoretische Konzeptionen an Wichtigkeit verlieren, während „Prozessmodelle und handlungstheoretische Grundlegungen“ an Bedeutung gewännen (Lange 2002: 74).

Lange bezieht sich auf diese Veränderungen und leitet daraus die Forderung nach einem neuen, vor allem umfassenderen Politikbegriff ab. Das enge Politikverständnis, das mit einem staatszentrierten Politikbegriff operiert und Privatheit und Öffentlichkeit dichotomisiert habe (Lange 2002: 79 ff), müsse einem weiten, veränderten Verständnis weichen: So habe nicht zuletzt das „kulturalistische Politikverständnis“ eines radikalen Feminismus zur Modifizierung des Politikbegriffs beigetragen (Lange 2002: 89 ff.). Denn hier sei beispielsweise die politische Frage aufgeworfen worden, „wie die für das soziale Zusammenleben doch relativ irrelevanten biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern“ so bedeutsam hätten werden können (Lange 2002: 91). Um die „Habitualisierung und Typisierung der sozialen Geschlechtercharaktere“ analysieren zu können, habe die Politikwissenschaft in den Bereich der (Alltags-)Kultur vordringen müssen, was mit herkömmlichen staatszentrierten Politikbegriff nicht möglich gewesen sei (Lange 2002: 92). Alltägliche Prozesse der Sinngebung und Bedeutungszuschreibung hätten in der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen erfasst werden müssen, die bis zu diesem Zeitpunkt als „ahistorische natürliche Konstanten der politischen Wirklichkeit“ wahrgenommen worden wären (Lange 2002: 93). Auch dürfe im Hinblick auf die Modifikation eines engen staatszentrierten Politikbegriffs die Bedeutung eines horizontalen Machtbegriffs (Michel Foucault) und eines polyzentrischen Politikverständnisses (Michael Thomas Greven) nicht verkannt werden (Lange 2002: 93 ff). Zusammenfassend könne konstatiert werden, dass jene Mikroprozesse in den Blick genommen werden müssten, „die im Rahmen informeller Strukturen an der Konstitution von politischer Wirklichkeit beteiligt sind“ (Lange 2002: 101). Ein neues Politikverständnis wäre dafür unerlässlich:

„Dabei müssen alltägliche Phänomene in ihren politischen Auswirkungen ebenso berücksichtigt werden wie das Einwirken politischer Phänomene auf den Alltag. Politik und Alltag ist deshalb nicht als ein Gegensatzpaar, sondern als ein gegenseitiges Bedingungsgeflecht zu verstehen. Es interessieren die Politikformen auf der Ebene des Alltags: Alltagspolitiken, deren Strukturen, Inhalte und Prozesse durch die politische Alltagsgeschichte einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden können.“ (Lange 2002: 101)

Diese Transformationen im Beziehungsgefüge zwischen dem Alltäglichen und dem Politischen begründen nach Lange „keine neue oder gar eigenständige politikwissenschaftliche ‚Schule‘, die der triadischen Disziplintrennung in normativ-ontologisch, empirisch-analytisch und kritisch-dialektisch […] eine vierte Ausrichtung hinzufügen würde“ (Lange 2002: 101).Footnote 19 Im Gegensatz dazu bringt er sein Plädoyer für eine Neubestimmung des Politikbegriffs mit der in der etablierten Politikwissenschaft geläufigen Unterscheidung zwischen politischen Strukturen, politischen Prozessen und politischen Inhalten in Verbindung, die er in Anlehnung an die im angelsächsischen Sprachgebrauch übliche Differenzierung zwischen polity, politics und policy trifft. Denn, so sein Argument, der modifizierte Politikbegriff und die damit einhergehende Fassung des Politischen lasse sich in diese Systematik integrieren, da in dieser der Politikbegriff ebenfalls aus der Fixierung auf den Staat herausgelöst und ins Alltägliche ausgedehnt werde.Footnote 20

2.3 Blinde Flecken, analytische Leerstellen und argumentative Lücken

„Selbstreflexion der Aufklärung ist nicht deren Widerruf“

(Adorno 2018: 160)

Analysen, Argumente und Schlussfolgerungen des Politikdidaktikers Dirk Lange haben Bewegung in die wissenschaftliche Debatte um geeignete Prämissen und Konzepte der politischen Bildung gebracht. Dabei lassen sich aus der in dieser Arbeit gewählten kritischen Perspektive kategoriale Innovationen, aber auch analytische Defizite und Ungereimtheiten ausmachen. Lange weist einen engen Politikbegriff, demzufolge Politik auf deutlich abgrenzbare staatliche Institutionen wie Regierungen, Parlamente und institutionelle Wege der Entscheidungsfindung und -durchsetzung reduzierbar sei, überzeugend zurück. Politik fasst er als einen Prozess, der potentiell in allen gesellschaftlichen Bereichen existiert, in denen Herrschafts- und Machtverhältnisse eine Rolle spielen; insofern ist der Alltag politisch und die Alltagskategorie für die politische Wissenschaft wie für die politische Bildung von Bedeutung. Als innovativ erweist sich auch Langes fächerübergreifende Fokusverschiebung. Gemeint ist damit die Hinwendung zur (politischen) Alltagsgeschichte, zur „Subjektivität im historischen Prozess“ und die damit verbundene Erweiterung des Politikbegriffes sowie die Ablehnung der dichotomen Trennung von privat und öffentlich, von Staat und Gesellschaft (Lange 2002: 69).

Weniger überzeugend erscheinen mir zwei andere Kernelemente in Langes Argumentation: die gewählte Legitimationsstrategie der Alltagsgeschichte (Erstens) sowie die präsentierte Form der Abgrenzung von Alltags- und Sozialgeschichte (Zweitens).

Erstens: Widersprüchlich bleibt die Legitimation der politischen Alltagsgeschichte bzw. der Alltagskategorie insgesamt über die Zuordnung zum Begriffspaar Moderne – Postmoderne. Lange betont zunächst, dass es fraglich sei, ob für die Politikwissenschaft der Moderne der Alltag relevant sei, „denn das politische Denken der Moderne“ baue „gerade auf den Ausschluss der alltagsgeschichtlichen Zentralkategorie auf“ (Lange 2002: 71). Die Sozialgeschichte, Ausdruck der Moderne, beurteile die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse grundsätzlich optimistisch, vor allem aber als einen zwangsläufigen, deterministischen Geschichtsprozess:

„Als Hintergrundtheorien dienten dabei die Modernisierungstheorien Marxscher und Weberscher Provenienz. Beide verband die Vorstellung, dass die Geschichts- und Gesellschaftsentwicklung als ein linearer Fortschrittsprozess zu interpretieren ist, der sich seit dem 19. Jahrhundert in den Folgen der Entfaltung von Industrialisierungs- und Rationalisierungspotenzialen nachzeichnen lässt.“ (Lange 2002: 31 f.)

In Opposition dazu ständen die sehr heterogenen Ansätze der Alltagsgeschichte, deren Zusammenfassung über die Abgrenzung zur Sozialgeschichte gerechtfertigt werden könne:

„Die Popularität, welche die Alltagsgeschichte in den achtziger Jahren fand, war in erster Linie eine Reaktion auf das Manko einer Sozialgeschichtsschreibung, die sich vornehmlich objektivistischer Erklärungsmuster bediente und deren teleologische Geschichtsbetrachtung zu einem retrospektiven Determinismus neigte, der nur noch das als historisch möglich ansah, was sich als gesellschaftlich durchsetzungsfähig erwiesen hatte.“ (Lange 2002: 33 f.)

Zentral für die alltagsgeschichtliche Forschung sei

„weniger die Frage, welche Ereignisse, Abläufe und Intentionen den Alltag bestimmten. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Problematik, wie historische Prozesse und Strukturen von Menschen und Gruppen erfahren, wahrgenommen, gedeutet und verarbeitet wurden und wie diese Rezeptionsweisen gleichzeitig zur (Re-)Produktion der prozessualen und strukturellen Rahmenbedingungen beigetragen haben.“ (Lange 2002: 35 f.)

Alltagshistoriker:innen würden an der Sozialgeschichtsschreibung kritisieren

„dass die in der Tradition von Webers Modernisierungstheorie oder Marx Geschichtsphilosophie stehende Forschungspraxis zu einer Vernachlässigung der Aktivität von handelnden Menschen im historischen Prozess geführt habe. Zwischen den Messreihen und Statistiken zur Erforschung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seien die Menschen in Funktionen und Strukturen entschwunden.“ (Lange 2002: 33)

Nach Lange ist die „Vernachlässigung der Aktivität von handelnden Menschen“, wie er in einer Fußnote darlegt, nicht primär Marx, sondern der sozialgeschichtlichen Marx-Rezeption zuzuschreiben, welche nur „Funktionen und Strukturen“ kenne (Lange 2002: 33).Footnote 21 Die These, die Alltagsgeschichte der 80er Jahre sei ausschließlich in Opposition zu einer objektivistischen, nur Funktionen und Strukturen kennenden Sozialgeschichtsschreibung entstanden, „deren teleologische Geschichtsbetrachtung zu einem retrospektiven Determinismus“ geneigt habe (Lange 2002: 34), greift zu kurz und lässt sich so kaum aufrechterhalten. Festgehalten werden kann, dass es in der mehr als komplexen und differenzierten Rezeptionsgeschichte immer wieder auch deterministische Interpretationen der Marxschen Schriften gegeben hat; weder soll noch kann dies bestritten werden. So waren in der Geschichtsauffassung der deutschen Sozialdemokratie um die Wende zum 20. Jahrhundert – wie in der gesamten II. Internationale – Vorstellungen präsent, die davon ausgingen, dass die Entwicklung des Kapitalismus, insbesondere die ökonomische Entwicklung, gleichsam im Selbstlauf zur „revolutionären Situation“ führe, die dann – und nur dann – durch eine entsprechende revolutionäre Praxis der Sozialdemokratie als historischer Eintritt in die Periode des Sozialismus genutzt werden könne (Kautsky 1972: 52 ff.).Footnote 22 Noch ausgeprägter fanden sich Elemente eines Geschichtsdeterminismus in der politischen Ideologie des (regierungs-) offiziellen Marxismus-Leninismus in den Ländern des bürokratischen Staatssozialismus. Je mehr der Marxismus zur affirmativen Staatsideologie mutierte, umso mehr konnten sich Vorstellungen durchsetzen, denen zufolge sich der historische Prozess im Sinne naturwissenschaftlich nachweisbarer Gesetzmäßigkeiten bestimmen lasse.Footnote 23

Es waren aber gerade diese Vorstellungen einer kausal-determinierten Geschichte, gegen die sich viele Marx-Rezeptionen bzw. Ansätze der Sozialgeschichtsschreibung immer wieder zur Wehr setzten. Erinnert sei an jene im Gefolge des ersten Weltkriegs entstandenen sozialhistorischen und strukturtheoretischen Arbeiten, die unter dem Sammelbegriff „westlicher Marxismus“ Eingang in die Tradition kritischer Gesellschaftsanalysen im 20. Jahrhundert fanden (Anderson 1978). Zu den bedeutenden Vertretern der ersten Generation des westlichen Marxismus zählen nach Perry Anderson unter anderem Antonio Gramsci, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Herbert Marcuse sowie in zweiter Generation Henri Lefebvre, Theodor W. Adorno, Jean Paul Sartre, Louis Althusser etc. (Anderson 1978: 44 ff.). Man wird für die theoretischen Ansätze dieser Autoren weder zwingend noch in ihrer Mehrzahl davon ausgehen können, dass sie objektivistischen Erklärungsmustern gefolgt oder einer teleologischen Geschichtsbetrachtung erlegen wären und in der Alltagskategorie nicht ein Konstitutionsmoment der politischen Verhältnisse gesehen hätten! Sowohl die Frage, wie Menschen im Alltag leben als auch die Frage, wie sie ihr Leben erfahren und wahrnehmen, hat in einzelnen Theorieansätzen des westlichen Marxismus eine bedeutende Rolle gespielt.Footnote 24

Zweitens: Zu problematisieren wäre überdies, ob die Alltags- und die Sozialgeschichte in der von Lange präsentierten Form gegeneinander ausgespielt werden können bzw. sollten. Bereits ihre gemeinsame strukturtheoretische Herkunft lässt Zweifel daran aufkommen. Noch evidenter werden die Probleme dieser Kontrastierung, wenn einschlägige Studien aus dieser Tradition herangezogen werden. Hier wäre etwa Edward P. Thompsons Arbeit Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse zu nennen. Sie weist bereits mehrdeutig im englischen Originaltitel The Making of the English Working Class auf den Untersuchungsgegenstand hin: Making ist ein aktiver Prozess, der sowohl das Ergebnis aktiven menschlichen Handelns als auch das Resultat der historischen Bedingungen darstellt. Thompson betrachtet die englische Arbeiterklasse, deren (kollektiven) lebensweltlichen Erfahrungen er beschreibt, keineswegs als zwangsläufiges Resultat ökonomischer Gegebenheiten. Vielmehr konstatiert er, dass aus der sozialen Lage allein sich nichts erklären lässt. So zeigt die Studie anschaulich auf, dass die Arbeiterklasse nicht „entstanden“ ist, sondern sich selbst in ihren alltäglichen kollektiven Kämpfen um Anerkennung und Selbstbestimmung „erschafft“, auch wenn deren durchaus vorhandenen Exklusionsmechanismen nicht übersehen oder verklärt werden sollten (Thompson 1987). Lange erwähnt diese sozialgeschichtliche Tradition, argumentiert aber inkonsistent. So glaubt er im Hinblick auf Thompsons Untersuchung zu erkennen, dass die „Alltagsgeschichte […] mit der Thompsonschen Begriffsdefinition eine Kategorie (besitzt), die es erlaubt, gerade die Wechselwirkung von objektiven Strukturen und subjektiven Deutungen zu untersuchen“ (Lange 2002: 48 f.). Wenige Seiten später heißt es dann aber, „das politische Denken der Moderne baut auf den Ausschluss der alltagsgeschichtlichen Zentralkategorie auf“ bzw. „[u]nter Zugrundelegung eines weiten Postmodernebegriffs kann die Alltagsgeschichte als Ausdruck des postmodernen Denkens in der Geschichtswissenschaft verstanden werden“, was auch in andere Sozialwissenschaften hineingewirkt habe (Lange 2002: 71).Footnote 25 Gefordert wird damit aber letztlich eine Alltagsgeschichtsschreibung, die sich von den gesellschaftlichen Strukturen löst.

Am Ende des ersten Teils seiner Dissertationsschrift hält Lange dann wiederum fest, dass der

moderne Typus [der Alltagsgeschichte, J.H.] die Einbettung des Alltags in die ihn bedingenden gesellschaftlichen Prozesse, Strukturen und Herrschaftsverhältnisse (leistet). Dabei besteht die Gefahr, alltagsgeschichtliche Forschung nur als ein Anhängsel einer Sozialgeschichte zu betreiben, die aus der theoretischen Einsicht in die Bedingtheit von politischem Handeln allzu leicht Gesetzmäßigkeiten aufstellt.“ (Lange 2002: 145 f., Hervorh. im Orig.)

Im Unterschied dazu bestehe die Gefahr, dass die „postmoderne Alltagsgeschichte“ beim „Subjektivismus“ stehenbleibe,

„wenn sie bei der Aufdeckung von mikropolitischen Praktiken vergisst, dass sich diese im historischen Prozess unter anderem in politischen Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen konsolidiert haben, die selbst zu Determinanten der sozialen Praxis von Handelnden geworden sind. Politische Geschichte lässt sich nicht auf die Alltagsdimension reduzieren. Weder die makrotheoretische Zusammenhangsforschung noch die Analyse der subjektiven Geschichtserfahrung erlaubt eine Rekonstruktion der Vergangenheit als ‚histoire totale‘. Die Stärke des postmodernen Idealtypus liegt in der innovativen Kritik an dominanten Paradigmen, jedoch kann daraus noch nicht der Anspruch auf einen Paradigmenwechsel abgeleitet werden.“ (Lange 2002: 146, Hervorh. im Orig)

Letztlich habe eine fächerübergreifende „politische Alltagsgeschichte“ dann eine Chance, wenn sie „das wissenschaftliche Instrumentarium sowohl der modernen als der postmodernen Alltagsgeschichte“ nutze und sich nicht in „den objektivistischen und subjektivistischen Abgründen“ verliere (Lange 2002:145, Hervorh. im Orig.).

Langes Argumentation zur Alltagsgeschichte bzw. zur Kategorie des Alltags erweist sich als in sich widersprüchlich. Die Behauptung, die Moderne habe auf die Kategorie des Alltags und eine entsprechende Alltagsorientierung in der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung verzichtet, während die Innovation der Postmoderne darin bestehe, gerade dies geleistet zu haben, verliert sich doch etwas in Relativierungen. Zu Beginn der Dissertationsschrift wirft Lange der Sozialgeschichtsschreibung, wie der Moderne insgesamt, einen Strukturfunktionalismus vor, der die Alltagskategorie systematisch habe ausgrenzen müssen (Lange 2002: 33 ff.). Konträr dazu stehe der postmoderne Diskurs, welcher die Thematisierung der Alltagsgeschichte erst ermöglicht habe (Lange 2002: 71 ff.). Im Verlauf der Auseinandersetzung wird dann konstatiert, dass ein differenzierter Blick auf das, was gemeinhin unter dem Label „Moderne“ fungiert, notwendig sei, um die Bedeutung des Alltags in der Moderne zu erfassen (Lange 2002: 47 ff.). Gleiches gilt für die Postmoderne, die nach anfänglicher Hervorhebung ihrer Bedeutung für die Alltagsgeschichte dann „in einen konservativen und einem progressiven Postmodernismus“ unterschieden wird (Lange 2002: 74). Jean Francois Lyotard wird in diesem Kontext als „ein Vordenker des progressiven Postmodernismus“ gesehen, der „die Postmoderne als Ende der ‚Meta-Erzählungen` bestimmt“ habe (Lange 2002: 76).

„Die großen Ideale der Moderne, die im Humanitäts-, Emanzipations- und Aufklärungsgedanken versinnbildlicht sind, seien gerade auf Grund der Unilinearität und Totalität der Großprojekte, die zu ihrer Durchsetzung angetreten sind, nicht erreichbar gewesen.“ (Lange 2002: 76)

Dieser positive Bezug auf Lyotard zieht für Langes weitere Argumentation einige Probleme nach sich. M.E. verkennt er, dass Lyotard in Das postmoderne Wissen eine Sichtweise entfaltet, die in mehrfacher Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn Lyotard vom „Ende der Metaerzählungen“ spricht, dann hegt er nicht nur eine große Skepsis gegenüber den großen (modernen) Theorien, zu denen er die Wissenschaften, aber auch die Aufklärung, den Humanismus oder den Marxismus etc. zählt. Er nimmt auch Abschied von einer – wie auch immer gebrochenen – Vorstellung der „Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts“ und dessen Bemühungen und ‚Hoffnungen‘ auf eine mögliche künftige Befreiung (Lyotard 1994: 13., 47 ff.). Nach Lyotard existiert kein universelles, übergreifendes Sprachspiel, sondern nur eine Pluralität von Sprachspielen, die nebeneinander gleichwertig und gleichberechtigt existieren: „Es [das postmoderne Wissen, J.H.] verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen“ (Lyotard 1994: 16). Wird diese Denkfigur, wie es Jan Rehmann darlegt, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen, dann ist „ihrer Infragestellung und Kritik der Boden entzogen“ (Rehmann 2008: 151). Dann ginge es darum, eine Haltung zu entwickeln, welche die Inkommensurabilität, „z. B. die Gegensätze zwischen den Klassen und Geschlechtern, zwischen Eliten und in Subalternität Gehaltenen, Herrschaft und Knechtschaft, Reichtum und Armut“, aushält (Rehmann 2008: 151).

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Postmoderne die Aufklärung kritisiert und von ihr Abschied nimmt. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule hingegen kritisiert die Aufklärung und thematisiert ihre Dialektik, um die emanzipatorischen Elemente der Aufklärung zu retten. Wenn die politische Bildung das Ziel, die politische Selbstbestimmung der Lernenden, nicht vom Ausgangspunkt untergraben will, so darf sie nach Adorno der „Doppelschlächtigkeit“, „die im Begriff der Erziehung zu Bewusstsein und Rationalität von vornherein“ liegt, nicht ausweichen, auch wenn „sie (vielleicht) im Bestehenden nicht zu bewältigen (ist)“ (Adorno 1971: 109).

Festzuhalten bleibt: Die von Lange getroffene Zuordnung in Moderne und Postmoderne erweist sich – angesichts der geschilderten Problematiken – als streckenweise inkonsistent und mit Blick auf die diskutierten Themen letztlich als nicht zielführend. Nicht zuletzt die Frage nach der Konstituierung des Subjektes, die für die Politikdidaktik von enormer Bedeutung ist, kann vor diesem Hintergrund in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension nicht erfasst werden. Die Hinwendung zu den Mikroperspektiven darf nicht dazu führen, dass die vielfältigen Dependenzen der Mikro- und Makroebene, welche Lange selbst nennt (s. o.), geringgeschätzt oder gar übersehen werden. Mikro- und Makrostrukturen müssen in ihrem Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis beschrieben, analysiert und reflektiert werden. Das heißt, die Mikro- und Makroebene können nicht autonom, sondern nur in ihrer Interdependenz adäquat begriffen werden.

Diesem Defizit steht in Langes Konzeption gleichwohl ein analytisches Verdienst gegenüber, das ebenfalls benannt werden soll. Positiv hervorgehoben werden kann nämlich, dass Lange, indem er die politische Bildung als „alltagspolitische Bildung“ fasst, am Alltagsbewusstsein der Subjekte ansetzt (Lange 2007a: 110). Er geht im Unterschied zu den im vorherigen Kapitel genannten Politikdidaktiker:innen davon aus, dass das Politische schon im Bewusstsein der Schüler:innen existent ist. Demnach müssen politische Bildner:innen keine Brücken bauen, über die das Politische in das Bewusstsein der Lernenden einwandert, sondern Strategien bzw. didaktische Prinzipien entwickeln, welche die Elemente des Politischen im Alltagsbewusstsein der Schüler:innen ausfindig machen, um an ihnen anzusetzen:

„Politisches Lernen lässt sich weder als Adaption von Vorgegebenem noch als Aneignung von Realität hinreichend beschreiben. Es handelt sich um eine kreative Auseinandersetzung mit einer politischen Wirklichkeit, die dadurch zugleich interpretiert und geschaffen wird. Im Lernen erweitern und erneuern sich die subjektiven Konzepte über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Für die Didaktik der Politischen Bildung ist von Interesse, wie Lernende fachlich denken und für sich selbst Politik sinnhaft machen. Es geht um die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erklären. Dieser subjektive Sinn ermöglicht das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln.“ (Lange 2016: 347)

Die Suche nach dem Politischen im Alltagsbewusstsein der Schüler:innen führt direkt zu der Debatte über die Bedeutung von subjektiven Sinnbildern der Lernenden. Nachfolgendes Kapitel widmet sich der Frage, mit welchen Vorstellungen von Sinnbildern und Sinnbildungen in der Politikdidaktik derzeit gearbeitet wird. Dabei werde ich mich auf die Überlegungen Langes konzentrieren, der die Kategorie prominent in die politikdidaktische Debatte eingeführt hat. Zum einen sind die Sinnbilder der Lernenden Dreh- und Angelpunkt seines Ansatzes. Zum anderen erweist sich die Kategorie der Sinnbilder, wie im vierten Kapitel zu zeigen sein wird, durchaus als produktiver Ansatzpunkt einer kritischen, an Antonio Gramsci orientierten Konzeption politischer Bildung.

2.4 Sinnbilder im schüler:innenorientierten Ansatz der politischen Bildung

Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig.

Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.“

(Bertolt Brecht, GBA 1995, Bd. 18: 263)

Allgemein unterscheidet Lange in seinem 2008 verfassten Aufsatz „Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung“ zunächst die „demokratische Erziehung“ von der „Politischen Bildung“: Während die demokratische Erziehung „Bildungsprozesse mit dem Ziel, eine demokratische Ordnung subjektiv anerkennungswürdig zu machen“, organisiere, obliege die „Politische Bildung“ keinem „Primat der demokratischen Systemadaption“ (Lange 2008: 431). Lange zufolge hat zwar auch „die Politische Bildung die Funktion, demokratische Herrschaft zu legitimieren, zu fundieren und zu reproduzieren“, aber primär komme ihr die Aufgabe zu, Lernende „zur politischen Selbstbestimmung“ zu befähigen (Lange 2008: 431 f.). „[D]ie Autonomie und Mündigkeit des demokratischen Souveräns“ sei Ausgangspunkt und Orientierungsgröße des Bildungsprozesses (Lange 2008: 432). Letztlich müsse die „Politische Bildung“ urteils-, handlungs- und kritikfähige Bürger:innen bilden, „die sich ein politisches System so schaffen, so verändern und so erhalten können, dass es ihnen politische Selbstbestimmung ermöglicht“ (Lange 2008: 432). Die „Politische Bildung“ müsse sich dabei auf die individuelle, d. h. „auf die subjektive Dimension von Politik und Gesellschaft“ fokussieren (Lange 2008: 432). Diese subjektive Dimension, die Lange in dem von Kerstin Pohl herausgegebenen zweibändigen Interviewband Positionen der politischen Bildung (Band 2) auch als „politisch-kulturelle ‚Innenausstattung‘ der Demokratie“ bezeichnet (Lange 2016: 341), wird begrifflich als „Bürgerbewusstsein“Footnote 26 gefasst (Lange 2016: 341). In Langes Ansatz bezeichnet dabei das „Bürgerbewusstsein“

„die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert den Sinn, der es den Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen.“ (Lange 2008: 433, Lange 2011: 12, Lange/Onken/Slopinski 2013: 22)

In dem Interviewband differenziert Lange jedoch im Unterschied zu oben genanntem Aufsatz zwischen Demokratie als „politische[r] Herrschaftsform, die sich über die Souveränität des Volkes legitimiert“ und Demokratie als „politische[r] Lebensform, die politische Selbstbestimmung als soziale Praxis begreift“ (Lange 2016: 340). Beide Darlegungen gehen von einem individuellen „Bürgerbewusstsein“ aus (Lange 2016: 341), „in dem der Einzelne den Sinn bildet, der es ihm ermöglicht, die politisch gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen“ (Lange 2008: 432).

In der gemeinsam mit Holger Onken und Andreas Slopinski verfassten Studie Politisches Interesse und Politische Bildung. Zum Stand des Bürgerbewusstseins Jugendlicher und junger Erwachsener wird betont, dass das „Bürgerbewusstsein“ in seinem konzeptionellen Ansatz „auf der Mikroebene als ein mentales Modell des Individuums im Mittelpunkt“ steht (Lange/Onken/ Slopinski 2013: 22). In und mit welchen Begriffen, Konzepten, Sinnbildern und subjektiven Theorien, die wiederum „zum Teil eine Reflexion der gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen auf der Makroebene“ seien, sich das Individuum Gesellschaftlichkeit erkläre, müsse eine primäre Fragestellung der Fachdidaktik sein (Lange/Onken/Slopinski 2013: 22). Auf der Mesoebene wäre die Frage aufzuwerfen, „wie sich das Bürgerbewusstsein in Partizipationsformen ausdrückt“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23).

Folgt man diesen Überlegungen, so „(ist) das Bürgerbewusstsein der mentale Bereich, den die Politische Bildung aktivieren muss, um mündige Bürgerinnen und Bürger zu bilden“ (Lange 2008: 434, Lange 2011: 12, Lange 2016: 341). Demnach kann die „Didaktik der Politischen Bildung“ „ihre fachliche Substanz aus der Kategorie des Bürgerbewusstseins, das ein wissenschaftliches Konstrukt zum Zweck der Analyse darstellt, ableiten“ (Lange 2011: 12, Lange 2008: 432, Lange 2016: 341).

Lange bemängelt, dass die traditionelle Fachdidaktik zumeist an den Begrifflichkeiten, Gegenständen und Kategorien der Bezugswissenschaften – vielfach an den Politikwissenschaften – angesetzt habe. Auf diese Weise seien Inhalte didaktisch legitimiert, reduziert und methodisiert worden, um sie dann in das Denken der Lernenden zu transferieren (Lange 2016: 343). Dieser Ansatz verkenne aber, dass Lernen, „ein in höchstem Maße subjektiver Vorgang“ sei (Lange 2008: 432). Die Fachdidaktik müsse künftig einen „entgegengesetzten Weg“ gehen: Denn, so Lange, „sie findet die fachlichen Gegenstände im Bürgerbewusstsein der Lernenden und didaktisiert diese, indem adäquate Lernanlässe im Alltag und in den Wissenschaften gesucht werden“ (Lange 2016: 343). In Folge müsse die politische Didaktik

„stärker danach fragen, wie Lernende Politik denken und für sich selbst sinnhaft machen. Es interessieren die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erklären. Dieser subjektive Sinn ermöglicht ihnen das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln.“ (Lange 2008: 432, Lange/Onken/Slopinski 2013: 22, Lange 2016: 345)

Ausgangs- und Endpunkt jeglicher politischer Bildungspraxis sind demnach also die „subjektiven Konzepte von Lernenden“ (Lange 2016: 345); d. h. „[i]hre Inhaltskonzepte und Sinnbildungskompetenzen“ (Lange 2007b: 7), die es fachdidaktisch zu rekonstruieren, zu reflektieren und empirisch zu erforschen gilt:

„Dabei sollten die Vorstellungen, die Schülerinnen und Schüler in den Lernprozess einbringen, nicht als mentale Fehlbildungen interpretiert werden […]. Wir sollten anerkennen, dass das vorhandene Bürgerbewusstsein der Alltagsbewältigung dienlich ist.“ (Lange 2007b: 9)

Zwar würden die Wissenschaftsvorstellungen weiterhin von Bedeutung bleiben, doch sie könnten nicht der primäre Bezugspunkt für die Diagnose und Planung von politischen Bildungsprozessen sein, da „[d]ie fachliche Logik der Wissenschaften […] allzu leicht die fachliche Logik der Lernenden“ verdecke (Lange 2008: 432). „Politische Mündigkeit“, so Lange weiter, „ist eine Kompetenz, die ihre Plausibilität in alltäglichen Kontexten entfalten muss“ (Lange 2008: 433). Auch sei zu bedenken, dass politische Lernprozesse nicht intendiert sein müssten; sie fänden in und außerhalb des politischen Unterrichts statt (Lange 2008: 433). Von besonderer Relevanz für die politische Fachdidaktik seien die „Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins“, da sie sich in Sozialisations- und Lernprozessen verändern würden (Lange 2008: 433 ff., Lange/Onken/Slopinski 2013: 22 ff.). In der gemeinsam mit Onken und Slopinski verfassten Studie wird hervorgehoben:

„Der Wandel des Bürgerbewusstseins ist ein beständiger Teil des politischen Alltags von Lernenden und damit als ein dauerhafter Prozess zu verstehen, der durch die politische Bildung beeinflusst werden kann. Die subjektiven Sinnbildungen über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in formalen und non-formalen Lernsituationen wandeln, stellen den zentralen Gegenstand der Didaktik der Politischen Bildung dar.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 22)

„Die Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins“, mitunter auch „mentale Modelle“ oder auch „Modellierungen des Bürgerbewusstseins“ genannt, würden dem Einzelnen die „Koordination in der sozialen Umwelt“ ermöglichen; sie hätten „sowohl eine abbildende als auch eine planende Funktion“ (Lange 2007b: 8, Lange 2008: 433, Lange 2011: 13, Lange/Onken/Slopinski 2013: 22). Sie böten Schemata und würden eine Struktur zur Verfügung stellen, durch welche die Wirklichkeit erfahren, eingeordnet, erklärt und reflektiert werden könne:

„Die Strukturen des Bürgerbewusstseins […] ermöglichen vernetzte Denkbewegungen, durch die erworbene Kompetenzen in größere Sinnkontexte eingebunden werden. Das Bürgerbewusstsein bildet die vorgefundene Wirklichkeit also nicht einfach ab, sondern konstruiert mentale Modelle […], welche die politisch-gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich und erklärbar machen.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 22)

Auch der Wunsch nach Veränderung nehme hier seinen Ausgang. Lange geht in seinen Untersuchungen davon aus, dass jeder Mensch über fünf basale Sinnbilder verfügt, denen zunächst jeweils eine Leitfrage sowie fünf Heurismen zugeordnet werden (Lange 2008: 434 ff., Lange 2011: 14 ff.).Footnote 27 Die fünf Heurismen werden später auch als (Kern-)Konzepte bezeichnet (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Betont wird:

„Bei den Sinnbildern handelt es sich um mentale Figuren, durch die der Mensch Fachlichkeit herstellt. Diese Fachlichkeit lässt sich in der Lebenswelt und in der Wissenschaft rekonstruieren und ist damit unabhängig vom Grad ihrer Verwissenschaftlichung.“ (Lange 2011: 13)

Im Folgenden sollen die fünf Sinnbilder – Vergesellschaftung, Wertbegründung, Bedürfnisbefriedigung, Gesellschaftswandel und Herrschaftslegitimation mit den dazu gehörigen Heurismen bzw. Kernkonzepten beschrieben werden (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23 f.):

  1. a)

    Sinnbild Vergesellschaftung:

    „Im Sinnbild Vergesellschaftung“, so Lange, „werden Vorstellungen darüber strukturiert, wie sich Individuen in die Gesellschaft integrieren“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stände hier im Zentrum. „Lernende Jugendliche entwickeln“ laut dem konzeptionellen Ansatz „ihre eigenen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aufgrund eigener Erfahrungen sozialer Heterogenität“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). So würden „Konzepte der Pluralität von den Lernenden“ gebildet, die Antworten auf Fragen gäben, wie trotz divergierender Individualinteressen und sozialer Unterschiede/Gegensätze „gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert und was die Gesellschaft zusammenhält“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Aus diesem Grund seien „im Bürgerbewusstsein auch Vorstellungen über Formen der Kommunikation und Interaktion verankert“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Die Sinnbildung darüber, welchen Prinzipien das soziale Zusammenleben folge, basiere auf den Kernkonzepten „des ‚Individuums‘, der ‚Heterogenität‘, der ‚Gesellschaft‘, der ‚Integration‘ und der ‚Öffentlichkeit‘“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23, Lange 2008: 435, Lange 2011: 14 f).Footnote 28

  2. b)

    Sinnbild Wertbegründung:

    Im Sinnbild Wertbegründung würden Vorstellungen darüber existieren, „welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Individuelle Vorstellungen von Werten und Normen fänden in der Wahrnehmung und Bearbeitung gesellschaftlicher Konfliktfelder ihren Niederschlag: „Die in der Wertbegründung aufgebauten Sinnbilder ermöglichen eine politisch-moralische Urteilsbildung auf der Grundlage allgemein gültiger Prinzipien“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Wie jedoch „Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der politischen Gleichheit, der Friedfertigkeit des Zusammenlebens, der Anerkennung von Differenz oder der Freiheit des Individuums“ bewertet werden, könne individuell differieren (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Auch hier – ein wenig redundant – werden im Anschluss die fünf Kernkonzepte – „‚Gerechtigkeit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Frieden‘, ‚Anerkennung‘, ‚Freiheit‘“ – genannt (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23, Lange 2008: 435, Lange 2011: 15).Footnote 29

  3. c)

    Sinnbild Bedürfnisbefriedigung:

    Im Sinnbild Bedürfnisbefriedigung strukturiere das „Bürgerbewusstsein“ Ideen darüber, „wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23). Vorstellungen zu den Strukturen und Prozessen des politisch-ökonomischen Systems würden von den Lernenden entwickelt, „Modelle der Entstehung von Bedürfnissen“ angewendet und „Prozesse der Produktion von Gütern und Möglichkeiten ihrer Verteilung“ beschrieben werden (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Der Ansatz geht davon aus, dass in diesem Sinnbild „Konzepte der Arbeit und des Konsums“ ebenso zu finden sind wie „Konzeptionen der Arbeitsteilung und des Betriebs“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Die fünf Kernkonzepte dieses Sinnbildes seien: „‚Bedarf‘, ‚Produktion‘, ‚Wert‘, ‚Verteilung‘, und ‚Konsum‘“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24, Lange 2008: 435, Lange 2011: 15).Footnote 30

  4. d)

    Sinnbild Gesellschaftswandel:

    Im Sinnbild Gesellschaftswandel, so Lange weiter, „strukturiert das Bürgerbewusstsein Vorstellungen davon, wie sich sozialer Wandel vollzieht“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Politische Verhältnisse seien im ständigen Fluss und Lernende würden „individuelle Konzepte“ entwickeln, mit denen sie sich den sozialen Wandel erklären könnten: „Wichtige Grundlage dafür sind die Erinnerung an die Vergangenheit, die Erwartung an die Zukunft und damit notwendigerweise eine Vorstellung von Zeitlichkeit, durch die ein Früher, Heute und Morgen verbunden wird“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Für dieses Sinnbild, das Erklärungen für Brüche, aber auch für Beständigkeit liefere, werden die folgenden fünf Kernkonzepte angeführt: „‚Kontinuität‘, ‚Entwicklung‘, ‚Zeitlichkeit‘, ‚Vergangenheit‘, und ‚Zukunft‘“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24, Lange 2008: 435 f., Lange 2011: 16).Footnote 31

  5. e)

    Sinnbild Herrschaftslegitimation:

    Das „Bürgerbewusstsein“ strukturiere in dem Sinnbild Herrschaftslegitimation „Vorstellungen davon, wie partielle Interessen in allgemein verbindliche Regelungen transformiert werden“ würden (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). „Lernende“, so Lange weiter, können nicht nur „Verfahren der Konfliktbewältigung“ benennen (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Sie hätten auch eine Vorstellung davon, „auf welchen Wegen sich Einzelne an dem politischen Prozess beteiligen“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Sie würden theoretische Erklärungsansätze ausbilden, „wie in der Gesellschaft Macht ausgeübt“ werde, „um Interessen durchzusetzen“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). „Vorstellungen von staatlichen Strukturen und Institutionen“ seien in diesem Sinnbild ebenso präsent wie „Konzepte von Macht und Herrschaft“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Lernende seien so in der Lage, sowohl Macht- und Herrschaftsbeziehungen zu legitimieren als auch zu kritisieren. Lange ordnet diesem Sinnbild folgende fünf Konzepte zu: „‚Interesse‘, ‚Konflikt‘, ‚Partizipation‘, ‚Staatlichkeit‘, und ‚Herrschaft‘“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24, Lange 2008: 436, Lange 2011: 16).Footnote 32

Die politikdidaktische Konzeption setzt an den genannten „fünf Sinnbildern des Bürgerbewusstseins“ an, die, so Lange, „eine umfassende Erklärung für das individuelle Verständnis und für die subjektive Sinndeutung der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit“ bieten (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). Politisches Lernen könne „weder als Adaption von Vorgegebenem noch als Aneignung von Realität hinreichend“ erfasst werden (Lange 2016: 347). Vielmehr müsse von „eine[r] kreative[n] Auseinandersetzung mit einer politischen Wirklichkeit“ gesprochen werden, „die dadurch zugleich interpretiert und geschaffen“ werde (Lange 2016: 347).

Lerntheoretisch setzt diese Konzeption am Konstruktivismus an. Lange betont jedoch, dass dies „unabhängig von dessen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen“ geschehe, welche auf der Vorstellung basieren, dass ein erkannter Gegenstand von den Betrachter:innen selbst im Vorgang des Erkennens konstruiert wird (Lange 2016: 347). Im Hinblick aber auf die im politischen Lernprozess zu erwerbenden „Fähigkeiten, wie z. B. Problemlösungskompetenz, kritisches Urteilen und vernetztes Denken“ hätten in den letzten Jahren Anregungen aus dem Konstruktivismus aufgenommen werden können (Lange 2016: 347). Politisches Lernen sei „eine Denkoperation beziehungsweise Sinnbildungstätigkeit“ und könne nicht auf einen Prozess, der sich auf die Vermittlung von Kenntnissen fokussiere, reduziert werden, denn es gehe um „eine sinnhafte Auseinandersetzung mit Wissen“ (Lange 2016: 347).

Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind demnach die „mentale[n] Modellierungen, die durch Lernprozesse entstehen und sich in andauernden Prozessen des gesellschaftlichen, politisch-moralischen, ökonomischen, historisch-politischen und des politischen Lernens wandeln“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24). „Begriffe, Symbole, Termini der Lernenden“ seien letztlich in der Politikdidaktik noch relativ wenig erforscht, sodass „die genannten Konzepte nur als vorläufige Heurismen dienen“ könnten (Lange/Onken/Slopinski 2013: 24).

2.4.1 (Politische) Sozialisation und die Sinnbilder des Bürgerbewusstseins

In der bereits im vorherigen Kapitel erwähnten empirischen Studie gehen Lange, Onken und Slopinski davon aus, dass zur Erforschung des „Bürgerbewusstseins“ Ansätze aus der Sozialisationsforschung herangezogen werden müssen. Die drei Autoren verknüpfen Strukturen und Inhalte des „Bürgerbewusstseins“ mit einzelnen Aspekten des Sozialisationsmodells von Klaus Hurrelmann u. a. (Lange/Onken/Slopinski 2013: 25 ff.).Footnote 33

Das „Bürgerbewusstsein“ sei ein Resultat von Sozialisation und die jeweilige Grundlage für die Verarbeitung und Interpretation neuer Erfahrungen:

„Zum einen stellt das Bürgerbewusstsein ein vorläufiges Ergebnis des Sozialisationsprozesses dar, da interne wie externe Einflüsse zur Entwicklung der individuellen Bewusstseinsstruktur beitragen, so dass politische Vorstellungen und Einstellungen als Resultat der Sozialisation gelten können. Zum anderen ist das Bürgerbewusstsein auch die jeweilige Grundlage für neue Sozialisationseffekte, da die vorhandenen Strukturen wesentlich die Interpretation neuer Umweltbedingungen beeinflussen.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 13 f.)

In Anlehnung an den Münsteraner Soziologen Matthias Grundmann wird Sozialisation in der Studie zunächst wie folgt definiert:

„[D]er Begriff Sozialisation (meint) in einem weiten Sinne die soziale Integration von Individuen in die Gesellschaft. In einem engeren Sinne wird Sozialisation als Prozess verstanden, durch den Individuen dazu befähigt werden, sozial zu handeln und sich aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beteiligen.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 25)

Im Anschluss heißt es analytisch uneindeutig dann:

„Die gesamte Sozialisation – also auch die politische Sozialisation – findet demnach auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Integration statt. Die gesellschaftlich-politische Dimension liegt gewissermaßen quer zu diesen Ebenen.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 25)

Der hier als politisch definierte Sozialisationsbegriff soll offenbar alle Bereiche betreffen, die von Grundmann als gesamte Sozialisation gefasst werden. Die politische Sozialisation könne nicht nur „mit dem Erleben der politischen Wirklichkeit in Verbindung“ gebracht werden, sondern müsse „um Aspekte des Erwerbens und Bewertens“ erweitert werden (Lange/Onken/Slopinski 2013: 26). Folge und Ergebnis politischer Sozialisation sei „eine politische Identität, die bestimmte Handlungsdispositionen, Einstellungen und Meinungen ermöglicht und andere ausschließt oder zumindest unwahrscheinlicher macht“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 26).

Darauf aufbauend ziehen Lange, Onken und Slopinski für den theoretischen Rahmen ihrer Studie sozialisationstheoretische Forschungsergebnisse von Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und Ullrich Bauer heran, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen:

„Sozialisation bezeichnet die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und der äußeren Realität ergibt. Die körperlichen und psychischen Dispositionen und Eigenschaften bilden für einen Menschen die innere Realität, die Gegebenheiten der sozialen physischen Umwelt die äußere Realität. Die Realitätsverarbeitung ist produktiv, weil ein Mensch sich stets aktiv mit seinem Leben auseinandersetzt und die damit einher gehenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen versucht. Ob die Bewältigung gelingt oder nicht, hängt von den zur Verfügung stehenden personalen und sozialen Ressourcen ab. Durch alle Lebens- und Entwicklungsphasen zieht sich die Anforderung, die persönliche Individuation mit der gesellschaftlichen Integration in Einklang zu bringen, um die Ich-Identität zu sichern.“ (Hurrelmann/Bauer 2015: 97, zitiert nach Hurrelmann/Quenzel: 2016: 95 f.)

Diese Definition nimmt wesentliche Untersuchungsergebnisse sowie „einige zentrale Annahmen des Modells der produktiven Realitätsverarbeitung“ auf, welches wiederum laut Hurrelmann und Quenzel „wichtige Vorgaben für das Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter“ enthält (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Sozialisation wird in dem von Hurrelmann entwickelten „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ dabei „als ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung“ verstanden: Während die „Persönlichkeit […] die individuell einmalige Struktur der körperlichen und psychischen Merkmale und Eigenschaften eines Menschen bezeichnet“, meint die „Persönlichkeitsentwicklung“ in Folge „die Weiterentwicklung wesentlicher Elemente dieser Struktur im Verlauf des Lebens“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Menschen würden – entsprechend den sich ihnen im Laufe ihres Lebens stellenden Herausforderungen – „bei gleichbleibender Grundstruktur ihrer Persönlichkeit“ Strategien der Verarbeitung von Erfahrungen entwickeln „und so ihre eigene Lebensgeschichte, ihre Biographie (konstruieren)“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). In diesem sozialisationstheoretischen Modell meint „Realitätsverarbeitung“, „die Fähigkeit, sich durch eigene Aktivität Realität anzueignen“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Die äußere Realität werde dabei auf Grundlage von bereits erworbenen Erfahrungen in ein individuelles Ordnungssystem und Interpretationsmuster eingeordnet, was die eigenen Handlungen strukturiere (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Hurrelmann und Quenzel sprechen hier von der „evaluative[n] Fähigkeit des Menschen“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Die Persönlichkeitsentwicklung wird als ein aktiver lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität begriffen (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Zum einen wird so die Vorstellung verworfen, dass die „Persönlichkeitsentwicklung der Erwerb eines gesellschaftlich erwünschten Repertoires von vorgegebenen Verhaltensweisen und Orientierungen“ sei (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Zum anderen kann aber auch dem Glauben, es handele sich um einen „genetisch programmierte[n] Ablauf“, etwas entgegengesetzt werden (Hurrelmann/Quenzel 2016: 96). Im Jugendalter sei die aktive, produktive und sich im beständigen Suchprozess befindliche Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität besonders intensiv; sie sei prägend für den weiteren Lebensverlauf (Hurrelmann/Quenzel 2016: 99 f). In dieser turbulenten, äußerst spannungsgeladenen Lebensphase könne von einer besonders dichten Staffelung von Entwicklungsaufgaben gesprochen werden, von deren Bewältigung der weitere Lebenslauf abhinge. Es ginge in dieser Phase um das „Austarieren von persönlicher Individuation und sozialer Integration“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 101). Entscheidend sei, ob es den Jugendlichen gelänge, „die Anforderungen der Individuation und der Integration aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 103). Hierfür würden die Heranwachsenden „neben individuellen Bewältigungsfähigkeiten (‚personale Ressourcen‘) auch soziale Unterstützungsleistungen von den wichtigsten Bezugsgruppen (‚soziale Ressourcen‘)“ benötigen (Hurrelmann/Quenzel 2016: 104). Nicht nur die Herkunftsfamilie und der Freundeskreis wären von Bedeutung, sondern auch Medien, (Aus-)Bildungsstätten etc. würden diese Lebensphase prägen (Hurrelmann/Quenzel 2016: 106 f.). Denn im Unterschied zu vorangegangenen Jahrhunderten hätten diese Institutionen in der westlichen Welt an Einfluss gewonnen (Hurrelmann/Quenzel 2016: 107 f). Eingebunden in diese Lebenszusammenhänge würden soziale und ethnische Vielfalt, die geschlechtlich zugewiesene Identität sowie eine immer stärker werdende ökonomische Ungleichheit eine „Vielfalt jugendlicher Lebenswelten“ hervorbringen (Hurrelmann/Quenzel 2016: 108 f.).

Das hier skizzierte „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ von Hurrelmann u. a. wird – wie oben bereits genannt – von Lange, Onken und Slopinski für die politische Sozialisation adaptiert. So gehen die Autoren davon aus, dass „[di]e Persönlichkeit sich im Wechselspiel zwischen (biologischer bzw. genetischer) Anlage und der Umwelt (entwickelt)“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 26). Gleich Hurrelmanns Überlegungen will sich diese Definition einerseits von einem Verständnis abgrenzen, demzufolge der Mensch „einem im Inneren festgelegten ‚Reifungsplan‘“ folgt (Lange/Onken/Slopinski 2013: 25). Andererseits soll aber auch die Vorstellung zurückgewiesen werden, „dass die Identität des Menschen vollständig durch Umwelteinflüsse determiniert wird“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 25). Die politische Sozialisation sei „letztlich ein dynamischer, lebenslanger Prozess“, für den jedoch die Phase der Jugend prägend sei“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 27). Denn, in diesem Lebensabschnitt würden sich entscheidende „Dispositionen“ herausbilden, „die im Erwachsenenalter nur noch in deutlich eingeschränktem Umfang“ revidiert werden könnten (Lange/Onken/Slopinski 2013: 27). Die Mannigfaltigkeit der Sozialisationsinstanzen in dieser Lebensphase sei beträchtlich: Familie und gleichaltrige Jugendliche, aber auch das weitere soziale Umfeld (z. B. Nachbarschaft) würden eine erhebliche Rolle spielen; hinzu kämen die (Aus-)Bildungseinrichtungen und der permanente Umgang mit Massenmedien (Lange/Onken/Slopinski 2013: 27). Insbesondere müsse aber den individuell erfahrenen sozio-ökonomischen Lebensumständen Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie für die (politische) Sozialisation und das „Bürgerbewusstsein“ von enormer Bedeutung seien (Lange/Onken/Slopinski 2013: 27). So ziehen die Autoren am Ende ihrer empirischen Studie das Fazit, dass der soziale Hintergrund auf das politische Interesse, auf die Einschätzung der persönlichen ZukunftsperspektivenFootnote 34 und auf das politische Verhalten erheblichen Einfluss hat (Lange/Onken/Slopinski 2013: 113). Die politische Sozialisationsforschung müsse das im Blick behalten, wenngleich die weiteren, bereits oben genannten sekundären Sozialisationsinstanzen nicht vernachlässigt werden dürften. Die Empirie zeige, dass

„[d]er zweite bedeutende Faktor […] der Bildungsabschluss (ist), der angestrebt wird. Politisch wenig Interessierte sind überproportional häufig unter Schülern zu finden, die einen mittleren Abschluss anstreben […]. Für politisch gering Interessierte konnte nachgewiesen werden, dass sie durch den Schulunterricht erreicht werden können. Die Schule ist, besonders für diese Jugendlichen, ein wichtiger Ort zur Vermittlung politischer Informationen.“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 113)

Es könne kein allgemein gültiges und generelles Desinteresse von Jugendlichen konstatiert werden, allerdings Defizite, insbesondere „unter Befragten mit einem niedrigeren sozialen Status“ (Lange/Onken/Slopinski 2013: 114). Eine zunehmende Distanz dieser Jugendlichen zu den repräsentativen Institutionen bestehe aber (Lange/Onken/Slopinski 2013: 114).Footnote 35

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die soziale Interaktion in der von Lange, Onken und Slopinski angeführten und oben in Grundzügen skizzierten Sozialisationsforschung reflektiert wird. So ist im „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ von Klaus Hurrelmann die soziale Interaktion in die Modellstruktur eingelassen. Und auch in der einschlägigen Monographie „Sozialisation“ von Matthias Grundmann wird die „Sozialisation als soziale Praxis begriffen“ (Grundmann 2006: 30 ff.), die auf „sozialisatorischen Interaktionen beruht“ (Grundmann 2006: 55 ff.). Grundmann geht davon aus, dass die Sozialisation ein außerordentlich komplexer Vorgang ist, bei dem „soziale Verhältnisse auf Individuen einwirken und umgekehrt, soziale Verhältnisse durch individuelle Aktionen gestaltet werden“ (Grundmann 2006: 11). Obwohl Lange sich positiv auf Hurrelmann/Grundmann bezieht, geht seine Konzeption letztlich von einem individuellen „Bürgerbewusstsein“ aus (Lange 2016: 341), „in dem der Einzelne den Sinn bildet, der es ihm ermöglicht, die politisch gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen“ (Lange 2008: 432). Die soziale Interaktion ist kein systematischer Bestandteil der Sinnbild-Konstruktionen. Das nachfolgende Kapitel setzt sich kritisch mit den Sinnbild-Konstruktionen auseinander. In diesem Rahmen wird auch auf die m. E. für das politische Lernen zentrale Dimension der sozialen Interaktion einzugehen sein.

2.5 Problematisierung der Sinnbilder

„Um zu verstehen, was sich an Orten ereignet, die wie ‚Städte‘ oder ‚Großräume‘ und zahlreiche schulische Einrichtungen Menschen, die alles trennt, zusammenbringen, die sie zwingen, miteinander zu leben, sei es in gegenseitiger Unkenntnis oder wechselseitigem Unverständnis, sei es in latentem oder offen erklärtem Konflikt, samt aller daraus resultierenden Leiden, ist es unzureichend, alle einzelnen Standpunkte isoliert zu erklären. Sie müssen, wie in der Realität selbst, miteinander konfrontiert werden, nicht um sie im Wechselspiel der endlos sich kreuzenden Bilder zu relativieren, sondern ganz im Gegenteil um durch den schlichten Effekt des Nebeneinanderstellens sichtbar zu machen, was aus der Konfrontation der unterschiedlichen oder gegensätzlichen Weltsichten hervorgeht, d. h., in bestimmten Fällen, die Tragik, die aus dem konzessions- wie kompromisslosen Zusammenprall unvereinbarer, weil gleicherweise in der sozialen Vernunft begründeter Standpunkte erwächst.“

(Pierre Bourdieu 2010: 17)

Angesichts der zentralen Bedeutung, die das „Bürgerbewusstsein“ und die Sinnbilder als Strukturelemente in Langes Konzeption haben, bleiben sowohl die Ausführungen zu als auch die Begründungen der Genese dieser Strukturelemente recht kursorisch.Footnote 36

Drei Problemkomplexe sollen gesondert hervorgehoben werden:

  1. 1.

    Lange zufolge zielt die „Politische Bildung“ primär auf die Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit des Individuums (Lange 2008: 431). Zwar diene sie auch der Legitimation, Fundierung und Reproduktion demokratischer Herrschaft,

    „[a]ber sie betont die Kompetenz zur politischen Selbstbestimmung und begreift die Autonomie und Mündigkeit des demokratischen Souveräns als Ausgangspunkt und als Orientierung des Bildungsprozesses. […] Politische Bildung legitimiert demokratische Herrschaft, indem sie die Urteils-, die Kritik- und die Handlungsfähigkeit des demokratischen Souveräns bildet.“ (Lange 2008: 432)Footnote 37

    Die Gleichsetzung des Einzelnen bzw. des Individuums mit dem Souverän der Demokratie, wie es u. a. in dem 2008 erschienen Aufsatz „Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung“ erfolgt, zieht argumentative Probleme nach sich. Gängige Demokratietheorien bestimmen gerade nicht vereinzelte Individuen, sondern ihre Gesamtheit, nämlich „das Volk“, als Souverän der Demokratie (siehe Schmidt 2000; Maus 1992).Footnote 38 Durch die kurzschlüssige Gleichsetzung des Individuums mit dem „Volk“ als demokratischem Kollektiv bleibt eine äußerst wichtige Dimension demokratischer Praxis ausgespart: Auf dem Weg zum demokratischen Souverän müssen die Individuen mitunter weite Wege zurücklegen. Für den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess ist die Fähigkeit sowie der Wunsch des Einzelnen, sich in Diskurse zu begeben, unverzichtbar. Ohne Beteiligung an diesen Prozessen kann Demokratie jedoch nicht funktionieren. Diese horizontale Interaktionsfähigkeit findet keinen systematischen Eingang in den von Lange entwickelten Begriff von „Mündigkeit“ bzw. in das „Bürgerbewusstsein“, denn Lernende müssen nicht nur „Vorstellungen über Formen der Kommunikation und Interaktion“ haben, wie es der Langesche Ansatz im Sinnbild Vergesellschaftung nahelegt (Lange/Onken/Slopinski 2013: 23), sondern sich alltäglich an komplexen Verständigungsprozessen beteiligen. Mitunter können diese Diskurse aber den eigenen Autonomievorstellungen und Selbstbestimmungswünschen zuwiderlaufen. Zwar wird das Konzept des „Bürgerbewusstseins“ mit einzelnen Aspekten aus der Sozialisationsforschung angereichert, insbesondere mit dem theoretischen „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ von Klaus Hurrelmann.Footnote 39 Insgesamt aber bleibt der Ansatz einem verkürzten, in der liberalen Demokratietradition stehenden Begriff von Individuum und Bildung verhaftet, erscheint das „Bürgerbewusstsein“ als ein Kristall mit immer gleicher Struktur, indem es scheinbar ein schlummerndes Demokratiepotential gibt, welches die politische Bildung nur aktivieren muss. Die in diesem Konzept entworfene Vorstellung von Mündigkeit wird so zu einer individuellen Fähig- und Fertigkeit und resultiert nicht aus sozialer Interaktivität; sie ist kein Produkt intersubjektiver Verständigung. Es fehlt im Langeschen Ansatz sowohl die Perspektive auf die notwendigen Verständigungsfähigkeiten als auch dem Mündigkeitsbegriff das Element der Kritikfähigkeit, welches erst in der sozialen Interaktion entsteht. Damit einher geht aber die Vernachlässigung einer wichtigen Dimension individueller politischer Praxis und deren systematische Reflexion. Ob und wie sich die notwendigen Fähigkeiten herausbilden können, welche in der interpersonellen Kommunikation die Reflexion der eigenen politischen Praxis ermöglichen, bleibt ausgeblendet. Eine entscheidende Frage wäre aber, ob politische Bildung diese Fähigkeiten nicht fördern muss.

  2. 2.

    Die politikdidaktische Analyse darf m. E. nicht auf der Mikroebene verharren bzw. die Makroperspektive ausblenden. Die Diffundierung des Politischen in die Lebenswelt hinein erkannt zu haben, löst sich auf, wenn es außerhalb der Lebenswelt nichts Bedeutendes mehr gibt. Das dialektische Verhältnis von Mikro- und Makroebene gilt es in den Blick zu nehmen. Dabei darf weder die Mikroebene aus ihren sozioökonomischen Verankerungen gelöst noch können die Strukturen der Gesellschaft, des Politischen und Ökonomischen für nicht mehr relevant oder gar für obsolet erklärt werden. Denn der Versuch einer Rückwirkung von der Mikrowelt auf die Makrostrukturen, von den Elementen des Alltagsbewusstseins auf die gesellschaftlichen Strukturen ist so weder sinnvoll noch möglich. Das eigentliche (oder zumindest ein wesentliches) Kernziel politischer Bildung, die Befähigung der Lernenden zur theoretischen Auseinandersetzung und praktischen Beeinflussung der Makrostrukturen, um gesamtgesellschaftliche Entwicklungen den eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechend partizipativ und emanzipativ gestalten zu können, wäre nicht mehr begründbar und verlöre seine Bedeutung in politikdidaktischen Konzepten.

  3. 3.

    Langes Forderung, die Politikdidaktik müsse an den Sinnbildern der Schüler:innen ansetzen, um dem Ziel einer politischen Bildung näher zu kommen, welches die „Kompetenz zur politischen Selbstbestimmung“ meint und somit die Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit der Lernenden stärkt (Lange 2008: 432), gehört zu den gut begründeten Stärken seiner Argumentation und wird aus Sicht der Autorin geteilt. Seine theoretischen Überlegungen zeichnen sich durch ihre schüler:innenorientierte Herangehensweise aus und implizieren die Aufwertung der Lebenswelt sowohl für die Politikwissenschaften, insbesondere aber auch für die Politikdidaktik. Aus einer kritischen Perspektive fehlen diesem Lernverständnis jedoch zwei wesentliche Dimensionen, die für das politische Lernen und damit am Ende auch für eine auf Emanzipation zielende (individuelle) Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit unverzichtbar sind: die soziale Interaktion und die politische Praxis. Im Hinblick darauf muss die Frage aufgeworfen werden, was mit den Sinnbildern von Schüler:innen geschehen soll? Ob das „reine“ Anknüpfen an vorhandene Sinnbilder unmittelbar zu oben genanntem Ziel führt oder ob es – wider die eigentliche Intention – das Bestehende nur reproduziert und damit stabilisiert? Dies liefe auf einen eher affirmativen Bezug auf die Sinnbilder hinaus. Lernende würden so der Möglichkeit beraubt, die Fähig- und Fertigkeit zu entwickeln, nicht in vorgefertigten Strukturen zu denken und zu handeln.

Ich gehe davon aus, dass die Politikdidaktik sich mit der Genese und der inneren Struktur der Sinnbilder auseinandersetzen muss, und dies aus einer kritisch-reflexiven Perspektive. Nicht die empirisch zu erfassenden Inhalte der Sinnbilder an sich, sondern ihre inneren Spannungen und Inkonsistenzen, so meine These, müssen der analytische Ausgangspunkt sein.Footnote 40 Es geht um einen Ansatz, der weder das Subjekt und seine Bewusstseinsformen als bloßen Reflex auf die Makrostrukturen begreift noch von der Autonomie des Einzelnen ausgeht, der aber nach dem versteckten Sinngehalt sowie den Ursprüngen und Ursachen von Inkonsistenzen in vereinbarten Bildern fragt. Es bedarf eines kritisch-reflexiven Zu- bzw. Umgangs mit den Sinnbildern, der nicht nur die offensichtlichen Aussagen und Intensionen der Lernenden in den Blick nimmt, sondern auch nach den nicht offen zutage tretenden Elementen und Prozeduren der Sinnkonstruktionen fahndet.

Die Hermeneutik bietet hier einen ersten Zugang. So unterscheidet etwa Heinz Bude zwischen manifesten und latenten Bedeutungsdimensionen von Sinnkonstruktionen (Bude 1994: 114 ff.). Von besonderem Interesse sind gerade hier die Subbotschaften, das unbewusst kommunizierte, das als latente Sinnstruktur gefasst wird. Denn die Sinnbildner:in macht mehr, als den Sinnkonstruktionen unmittelbar zu entnehmen ist. „Er [der individuelle Akteur, J.H.] sagt mehr, als er zu sagen meint. Und dieses ‚Mehr‘ umschreibt die ‚latenten Sinnstrukturen‘, die jenseits der manifesten Inhalte das soziale Handeln gestalten“ (Bude 1994: 118). Will aber die Analyse von Sinn und Sinnkonstruktionen zu dieser Zweischichtung aus manifesten und latenten Bedeutungen vorstoßen, ist die analytische Be- und Verarbeitung der vorgefundenen Sinnkonstruktionen im Sinne einer „hermeneutische[n] Arbeit“ unverzichtbar. Diese wäre

„durch einen kritischen Impuls bestimmt, der ein Sinngebilde, einen Text, eine Tradition, eine Lebensform – oder ein etabliertes Verständnis desselben nicht als feste Größe bestehen lässt, sondern sie gegen den Strich liest, interne Verfälschungen aufbricht und ihren Sinn gegen ihre Selbstdeutung und tradierte Lesart expliziert.“ (Angehrn 2015: 76)

Doch auch die in der Hermeneutik wurzelnden Analysen bleiben aus einer materialistisch-kritischen Perspektive defizitär. Die Hermeneutik verzichtet weitgehend darauf, Sinnkonstruktionen in den sozio-ökonomischen Kontext einzuordnen. Sie verfügt nicht über eine hinreichend systematische Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Sinnkonstruktionen und den gesellschaftlichen Kontexten, in denen sie entstanden sind, d. h. sie verzichtet auf eine materialistische Analyse des Subjektiven. Dies leisten jedoch die politisch-pädagogischen Ansätze von Antonio Gramsci, denen sich nachfolgendes Kapitel widmet.Footnote 41 Mit Gramscis Überlegungen kann Langes Hinwendung zur Mikrowelt, die Zurückweisung mechanistischer und deterministischer Welt- und Geschichtsauffassungen, die produktive und innovative Anleihe an die Geschichtswissenschaften (Interdisziplinarität), die Hervorhebung der Bedeutung des Alltags für die Politikdidaktik und die damit einher gehende Erweiterung des Begriffs des Politischen, dessen Bindung an den Staat gelöst wird, aufgenommen werden.

Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass auch Lange in seiner Dissertationsschrift auf Gramscis erweiterten Politikbegriff eingeht. Dort ist zu lesen:

„Antonio Gramsci hat mit seinem Konzept der Zivilgesellschaft die strikte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft überwunden. Er variierte die marxistische Staatstheorie, indem er den ‚bürgerlichen Staat nicht mehr als repressiv, sondern als konsensual betrachtete. Der Staat basiere letztlich auf einer ‚kulturellen Hegemonie‘, die in der Zivilgesellschaft hergestellt werde. Der bürgerliche Staat werde nicht nur durch die politische Gesellschaft, also den Staat im engeren Sinne, sondern auch durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Praktiken getragen. Ein erweitertes Staatsverständnis geht für Gramsci deshalb in der Formel ‚Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft‘ auf. Diesem Modell liegt ein dezentralisierter Staatsbegriff zu Grunde, der die Beziehungshaltigkeit zwischen politischer und Zivilgesellschaft umfasst.“ (Lange 2002: 84)

Die Dialektik von Herrschaft und Führung, die dem Gramcianischen Ansatz eigen ist, wird hier übersehen, da die Wechselwirkung des Begriffspaares „repressiv“ und „konsensual“ auf ein dualistisches Staatsverständnis verkürzt wird. Das Besondere an diesem Ansatz ist, wie im Weiteren gezeigt werden soll, dass Gramsci erkennt, dass die bürgerliche Gesellschaft auf dem Konsens basiert, ohne dass der Zwang zum Verschwinden gebracht wird.Footnote 42