1.1 Thema und Fragestellung

Die Orthographie wurde in der gesamten Arbeit – sofern nicht anders ausgewiesen – der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 angepasst.

Konzeptionen schulischer politischer Bildung beschreiben Zusammenhänge politischen Lehrens und Lernens. Wenngleich in der Politikdidaktik zu problematisierende Inhaltsfelder sowie Fragen nach dem Prozess der Aneignung bzw. Vermittlung höchst kontrovers diskutiert werden, scheint doch das Ziel politischen Unterrichts unstrittig: Lernende sollen zu politischer Mündigkeit befähigt werden. Epistemologisch nimmt diese Zielsetzung ihren Ausgang in der Epoche der Aufklärung, für die ein Satz Immanuel Kants paradigmatisch steht: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1995: 162).

Das von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule hervorgehobene dialektische Moment der Aufklärung findet in den 1970er und 1980er Jahren über die Arbeiten Rolf Schmiederers – insbesondere sei hier an die 1971 veröffentlichte Dissertationsschrift Zur Kritik der politischen Bildung erinnert (Schmiederer 1971) – Eingang in die Politikdidaktik. Die Kritische Theorie unterzieht den Vernunftbegriff – die Zentralkategorie philosophischer Aufklärungstheorien – einer radikalen Kritik: Je mehr die objektiven Voraussetzungen für eine befreite Gesellschaft gegeben seien, umso wirksamer werde sie herrschaftlich verhindert (Adorno/Horkheimer 2003). Angesichts der waren- und verwaltungsförmigen Zurichtung des Denkens müsse in Frage gestellt werden, ob noch von einem „Zeitalter der Aufklärung“ gesprochen werden könne (Adorno 1971: 144). Wenn das Wort „Mündigkeit“ nicht der Beliebigkeit anheimfallen solle, bedürfe es der kritischen Reflexion jener „unbeschreiblichen Schwierigkeiten […], die in dieser Einrichtung der Welt der Mündigkeit“ entgegenständen (Adorno 1971: 144). Heteronome gesellschaftliche Strukturen würden ein autonomes und selbstbestimmtes Leben verhindern, die Menschen seien „durch ungezählte Vermittlungsinstanzen und Kanäle“ derart geformt, dass sie in dieser „ihr in ihrem eigenen Bewusstsein entrückten Gestalt alles schlucken und akzeptieren“ würden (Adorno 1971: 144). Die Gesamtheit der Institutionen, Praktiken und Prozeduren, somit auch die Erziehung und der politische Unterricht seien von diesem Widerspruch durchdrungen; die eigentliche Frage sei, wer wie entgegenwirken könne (Adorno 1971: 144).

Der diesen Überlegungen zugrunde liegende Dualismus von Heteronomie und Autonomie verweist allgemein auf ein für die Gesellschaftswissenschaften bedeutendes Spannungsfeld, in dem sich Fragen nach möglicher Selbstbestimmung von Subjekten im gesellschaftlichen Kontext situieren lassen. Er ist aber auch für die kritischen Erziehungswissenschaften, die Politikdidaktik und die politische Bildung sowie deren explizit formuliertes Ziel – Erziehung zur Mündigkeit – von außerordentlicher Bedeutung. Politischer Unterricht – wie Erziehung und Bildung insgesamt – kann nur im Zusammenhang mit den jeweiligen sozialen und ökonomischen, aber auch politischen und institutionellen Kontexten verstanden und bestimmt werden.

Dies gilt auch – zumindest in den Ländern des kapitalistischen Nordens – für die Schule. Sie stellt einen gesellschaftlich definierten und für die individuelle Vergesellschaftung zentralen Lernort dar. Die staatliche Aufsicht über das Schulwesen und die allgemeine Schulpflicht sichern diesen hervorgehobenen Status. Die kapitalistische Gesellschaft insgesamt und damit auch die staatliche Regelschule ist von Macht- und Herrschaftsmechanismen durchzogen. Sie kann aber nicht, wie der Sozialökonom Andreas Merkens anschaulich darlegt, auf eine „funktionale und widerspruchsfreie Reproduktionsbeziehung“, auf „dichotome Herrschaftsverhältnisse“ reduziert werden, „in der die herrschenden Kapitalinteressen unmittelbar zur Geltung kommen“ (Merkens 2004: 29). Wirft man einen Blick auf die Genese wie auch auf die aktuellen Reformen in Schule und Unterricht, so eröffnet sich ein Feld höchst widersprüchlicher Entwicklungen und „Spannungen, die unauflösbar sind wie das Verhältnis von Theorie und Praxis, das im Mittelpunkt unserer modernen Erziehung steht“ (Becker 1971: 119).Footnote 1

Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Untersuchung der übergeordneten Fragestellung, ob Kritiklernen im institutionell gebundenen politischen Unterricht möglich ist. Prinzipiell kann diese Fragestellung aus zwei Perspektiven hergeleitet, begründet und diskutiert werden. Dies kann aus einer primär institutionen- bzw. schulsoziologischen Perspektive geschehen. Eine solche Vorgehensweise muss die angedeuteten Ambivalenzen schulischen Lernens entfalten, um neben den Zwängen auch vorhandene Spielräume kritischer Reflexion in der Institution ausloten zu können. Dem dient die Skizze der Bedeutung der Institution Schule, mit der das zweite Kapitel dieser Arbeit eingeleitet wird. Doch im Zentrum der Untersuchung steht weniger das Wo, sondern eher das Ob und das Wie von Kritiklernen. Diese Orientierung erfordert eine bildungs- und lerntheoretische Herangehensweise. Vorliegende Arbeit beschreitet diesen Weg. Nicht die Institution Schule und die Rahmenbedingungen, die sie für politische Lernprozesse zur Verfügung stellt, werden in den Vordergrund gerückt. Vielmehr richtet sich der Analysefokus auf die Frage, wie subjektorientierte Lernprozesse in einer Gesellschaft strukturiert werden können, die durch spezifische soziale Verhältnisse geprägt ist. Dabei liegt der Untersuchung vor allem ein hegemonietheoretisches Erkenntnisinteresse zugrunde. Sie wählt einen bisher wenig ausgeleuchteten Zugang zur Theorie kritischer politischer Bildung, der in der Tradition der Kritischen Theorie, vor allem aber in der Tradition des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891–1937) steht. Das Kernanliegen der vorliegenden Arbeit besteht in der Erschließung der Gedankenwelt Gramscis für die aktuelle lerntheoretische und politikdidaktische Debatte. Dieses Anliegen begründet sich aus der Überzeugung, dass zeithistorische Einsichten, vor allem aber einige analytische Kategorien, Gramscis einen wertvollen Beitrag zur theoretischen Grundlegung jener Ansätze zu leisten vermögen, die macht- und herrschaftskritische Perspektiven stärker in den Fokus der politischen Bildung rücken wollen und die sich in bildungswissenschaftlichen und politikdidaktischen Auseinandersetzungen nicht immer einer nur diskursiv vorgetragenen Kritik ausgesetzt sahen und sehen.Footnote 2 Dabei soll der Nachweis der analytischen Ergiebigkeit zentraler Kategorien aus den Schriften Antonio Gramscis, insbesondere der Hegemonie und des Alltagsverstandes, über den Weg einer systematischen Reflexion einschlägiger Sinnbilderkonstruktionen geführt werden, denen in der aktuellen Fachdebatte eine zentrale Bedeutung zukommt. Die diversen Argumentationsstränge münden schließlich in einer hegemonietheoretisch gestützten konstruktiven Kritik der diskutierten Sinnbilderkonstruktionen. Daraus werden Schlussfolgerungen für Bildungs- und Lernprozesse im Feld der politischen Bildung gezogen und zugleich Anregungen zur Weiterentwicklung der Politikdidaktik gegeben.

1.2 Anmerkungen zur Editionsgeschichte der Schriften Antonio Gramscis und Hinweis auf eine Lücke in der Gramsci-Forschung

In den kritischen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften gelten Antonio Gramscis Schriften, vor allem die Gefängnishefte und -briefe, als ein philosophischer und politischer Klassiker. Unter den Bedingungen der faschistischen Zensur in Gefangenschaft verfasst, loten sie die Möglichkeiten emanzipatorischer Politik aus (Barfuss/Jehle 2014: 15).Footnote 3 Auch die früheren Schriften und Reden finden Beachtung und werden breit rezipiert: seine Kolumnen, seine (tages-)politischen Analysen und kleineren philosophischen Abhandlungen, seine Theater- und Kulturkritiken sowie seine Vorträge in sozialistischen Arbeiterbildungs- und Kulturvereinen, in denen er als Theoretiker der italienischen Linken die Fabrikbesetzungen und Streiks der Turiner Arbeiterbewegung unterstützt und an der Organisation von Arbeiterräten mitwirkt.Footnote 4 In den Nachkriegsjahren finden in Italien zunächst Gramscis Lettre dal cacere literarische Anerkennung, sind sie doch „das bewegende Zeugnis eines Menschen, der standhaft seine Würde gegen den Faschismus verteidigt hat“ (Barfuss/Jehle 2014: 11). Erstmalig von Harold Theile ins Deutsche übersetzt, werden die Briefe aus dem Kerker in Auszügen 1956 im Dietz Verlag in Berlin Ost veröffentlicht (Gramsci 1956). Rund vier Jahrzehnte später, 1994, erscheint ein erster Band einer deutschen kritischen Ausgabe der Gefängnisbriefe, zwei weitere folgen (2008 und 2014), ein vierter Band steht noch aus.Footnote 5

Die Gefängnishefte, die in 33 Schulheften festgehaltenen Notizen aus der Zeit von 1929–1937, bringen Gramsci Weltruhm ein, den er nicht mehr erleben wird. Zu seinen Lebzeiten bleiben seine im Gefängnis angefertigten Aufzeichnungen unveröffentlicht. Nach seinem Tod im April 1937 gelingt es seiner Schwägerin Tatjana Schucht, die Manuskripte zu sichern (Gerratana 1991: 36). Ein Jahr später, im Juli 1938, werden sie illegal nach Moskau verbracht, dort vom kommunistischen Generalsekretär Palmiro Togliatti und einigen anderen Parteifreunden bearbeitet und in rascher Abfolge nach dem Krieg – ein Jahr nach den Gefängnisbriefenin Italien publiziert (Gerratana 1991: 37; Barfuss/Jehle 2014: 12).Footnote 6 Unter dem Titel Philosophie der Praxis erscheint 1967 in Westdeutschland ein erster deutschsprachiger Auswahlband aus den Gefängnisheften (Gramsci 1967), deren Herausgeber und Übersetzer, Christian Riechers, gemeinhin als „Pionier der Gramsci-Übersetzung“ gilt (Haug 1991: 9).Footnote 7 Die erste vollständige, editorisch von Valentino Gerratana bearbeitete italienische Ausgabe der Gefängnishefte wird 1975 veröffentlicht (Barfuss/Jehle 2014: 12). Sie hält sich an den fragmentarischen Charakter der Gefängnishefte, wahrt die chronologische Abfolge der Entstehung und wird zur Textvorlage für die 1991 ff. in deutscher Sprache erschienene kritische Gesamtausgabe der GefängnishefteFootnote 8. Gramsci hat „kein geschlossenes Werk, sondern eine offene Werkstatt hinterlassen“ (Barfuss/Jehle 2014: 15). „Dies“, so Wolfgang Fritz Haug im Vorwort zur kritischen Gesamtausgabe der Gefängnishefte,

„mutet zu, sich geduldig darauf einzulassen, wie Gramsci sich auf das Gedankenmaterial seiner Zeit eingelassen hat, den mosaikartig auseinandergelegten Produktionsakt seiner Einsichten zu verfolgen, den Weg durchs Material mitzugehen, das Ungesicherte, die Mehrdeutigkeiten auszuhalten.“ (Haug 1991: 12)

Dabei ist offensichtlich, dass die nationalen und internationalen Forschungsstände zur Biographie Gramscis und vor allem zu seinen theoretischen und politischen Schriften kaum mehr zu überblicken sind. Der Versuch, eine auch nur annähernd vollständige Rekonstruktion der verästelten Gramsci-Forschung zu erstellen, liefe auf ein eigenständiges Forschungsprojekt hinaus, das in dieser Arbeit weder geleistet werden kann noch soll. Nahezu in allen Teildisziplinen der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften sind Arbeiten vorzufinden, die seine Analysen und Kategorien diskutieren. Seit 2008 trägt auch ein internationales wissenschaftliches Journal, das International Gramsci Journal, seinen Namen und hat sich als Plattform einer globalen Gramsci-Debatte etabliert.Footnote 9 Im deutschsprachigen Raum zeichnet die Arbeiterkammer Wien in inhaltlicher Kooperation mit dem Center for Migration, Education and Cultural Studies der Carl von Ossietzky Universität interdisziplinär angelegte Dissertationsarbeiten mit einem Antonio Gramsci Dissertationspreis für kritische Forschung in der Migrationsgesellschaft aus.Footnote 10 Und politische Stiftungen versammeln engagierte Wissenschaftler:innen, die „Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis“ vorlegen, um die analytische Produktivität der Gedanken Gramscis für wichtige Forschungs- und Politikfelder nachzuweisen.Footnote 11

In den 1960er Jahren erhalten zunächst Gramscis Aufzeichnungen über den fächerübergreifenden Forschungsansatz der britischen Cultural Studies Eingang in die sozialwissenschaftliche Debatte. Die Analyse der Alltagskultur sowie des kapitalistischen Massen- und Medienkonsums verbinden sich hier mit der Frage nach kultureller Hegemonie (siehe Hall 1989 ff.; Thompson 1987). Aber auch die seit den 1970er und 1980er Jahren an Bedeutung gewinnenden politisch-ökonomischen Ansätze der Regulationstheorie nehmen vor allem Gramscis hegemonietheoretische Überlegungen und dessen Ausführungen zum Fordismus auf (siehe Hirsch/Roth 1986; Lipietz 1989; Aglietta 2001; Jessop 2007). Ebenso finden sich neogramsciansche Gedanken in der Internationalen Politischen Ökonomie (siehe Cox 1987; Gill 1993; Bieling 2011), die ebenfalls hegemonietheoretische Konzepte zur Analyse von asymmetrischen Macht- und Einflussstrukturen im internationalen Staatensystem entwickelt. Und schließlich sind auch in den kritischen Erziehungswissenschaften und der Politischen Pädagogik Essentials von Gramscis Überlegungen zu Hegemonie, Erziehung und Bildung präsent (siehe Merkens 2004; Bernhard 2005, 2006; Niggemann 2022).

Umso erstaunlicher ist es, dass im Bereich der politischen Bildung die Bedeutung Gramscis zwar in einzelnen politikwissenschaftlichen und pädagogischen Arbeiten hervorgehoben wird (Mayo 2006; 2015; Sternfeld 2009; Merkens 2010; Süß 2015; Hirschfeld 2015), seine Analysen und Kategorien jedoch bisher nahezu keinen Eingang in die (schulische) Politikdidaktik und die damit verbundene politische Lernprozessanalyse gefunden haben. Hier klafft eine Forschungslücke, die in der Gramsci-Debatte seit Jahrzehnten überlebt hat. Bereits 1968 betont der Politikdidaktiker Kurt Gerhard Fischer, der keiner marxistischen Denktradition zugeordnet werden kann, dass Gramscis theoretisches Vermächtnis „eine notwendige ‚Entdeckung‘“ sei, die bis dato in Deutschland wenig Beachtung gefunden hätte.Footnote 12 Doch Fischer konstatiert nicht nur ein eigentümliches Desinteresse der politikdidaktischen Wissenschaft an Gramscis Gedanken, er bringt es zugleich mit der politischen Kultur der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1960er Jahre in Verbindung, die bis in die Wissenschaften hinein vom Konservatismus der Nachkriegsjahrzehnte geprägt war und offenbar keinerlei Bedürfnis nach kulturellem Pluralismus verspürte. „Zwanzigjähriges Verschweigen und wohl auch Verhindern von Veröffentlichungen mit wohlfeilen Mitteln“, so Fischer, „ist symptomatisch für eine Gesellschaft der Selbstgefälligkeit, in der und für die schon sozialdemokratischer Revisionismus ungeheuer progressiv erscheint“ (Fischer 1968: 352).

Richtet sich der Blick auf die politikdidaktische Forschung, so hat sich die von Fischer angeprangerte Missachtung Gramscis bis in die Gegenwart erhalten. Noch immer besteht eine eklatante Kluft zwischen den Potentialen, die Gramscis Analysen und Konzepte für die politikdidaktische Forschung bereithält und dem geringen Interesse, das diese seinen Ausarbeitungen entgegenbringt. Vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, diese Lücke, wenn nicht zu schließen, so doch zu verkleinern. Dieses Anliegen wird getragen von der Überzeugung, dass insbesondere Gramscis Konzepte zur Hegemonie und zum Alltagsverstand sowie seine Analysen zu den Funktionen der Kultur und der Intellektuellen ein vertieftes Verständnis politischer Lernprozesse ermöglichen, das vor allem neue Sichtweisen auf das Postulat politischen Unterrichts – Erziehung zur Mündigkeit – eröffnet.

1.3 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen

Insgesamt gliedert sich die Argumentation der Arbeit in drei inhaltliche Abschnitte, denen die drei Kapitel entsprechen. Obwohl die Bedingungen des Lernortes Schule nicht im Zentrum stehen, erweist es sich als sinnvoll, der Kernargumentation in Kapitel 2 eine kurze Skizze der Rahmenbedingungen institutionell gebundener politischer Bildung voranzustellen. Dabei kommen insbesondere die Ambivalenzen der Institution Schule mit Blick auf die Spielräume für Kritiklernen zur Sprache. Im Zentrum dieses Kapitels steht jedoch die kritische Auseinandersetzung mit den Kategorien des Alltags und der Sinnbilder, wie sie insbesondere durch den Politikdidaktiker Dirk Lange formuliert und in die politikdidaktische Debatte eingebracht wurden. Dabei werden die Leistungen und Innovationen dieser begrifflichen Instrumente für einen schüler:innenorientierten Ansatz der politischen Bildung herausgearbeitet. Zugleich aber sollen auch analytische Leerstellen und argumentative Lücken, insbesondere im Hinblick auf die Sinnbilderkonstruktionen, beschrieben und reflektiert werden.

Das folgende Kapitel 3 ist der Person Antonio Gramscis, vor allem aber der Entfaltung seiner zentralen philosophisch-sozialwissenschaftlichen Kategorien gewidmet, um die Kernthesen der vorliegenden Arbeit zu entwickeln und zu begründen. Einer kurzen sozio-biographischen Skizze und einigen Ausführungen zu Gramscis frühem Bildungsverständnis folgt die begriffliche Herleitung jener Zentralkategorien, die nicht nur im Zentrum seiner „Philosophie der Praxis“ stehen, sondern mit denen sich zugleich seine politisch-pädagogischen Ansätze erschließen lassen. Zu diesen gehören das Konzept der Hegemonie, die Kategorie des Alltagsverstandes sowie die Figur des organischen Intellektuellen. Dass diese in einem engen Zusammenhang mit Gramscis Verständnis von Erziehung und Bildung und seinen Vorstellungen zur Einheitsschule sowie zum Verhältnis von Lehrenden und Lernenden stehen, wird am Ende des Kapitels dargelegt.

Kapitel 4 führt die Argumentationsstränge der beiden vorherigen Kapitel zusammen. Aus der kritischen Reflexion der Sinnbilderkonstruktionen und mit Hilfe der hegemonie- und bildungstheoretischen Kategorien Gramscis wird die Kernthese der Arbeit entwickelt. Nach einigen Überlegungen zur Bedeutung des Alltagsverstandes für mentale Sinnbildungsprozesse wird in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zwischen einem eher affirmativen und einem kritisch-reflexiven Bezug auf Sinnbilder unterschieden, um sodann nach dem Stellenwert von Sinnbildern des Alltags in der Kontroverse um eine kritische politische Bildung zu fragen. Dass die so generierten Erkenntnisse über die Funktion und Bedeutung von Alltagsverstand und Sinnbildern, vor allem aber von Sinnbildungsprozessen, für eine kritische politische Bildung Anknüpfungspunkte an die aktuelle Debatte aufweisen, soll anhand der Themenfelder der Europäischen Integration sowie den Einstellungen von Jugendlichen zur Arbeit illustriert werden. Überlegungen zur Weiterentwicklung einer subjekt- und handlungsorientierten Politikdidaktik schließen das Kapitel ab. Dies geschieht mittels einer Ergänzung eines profilierten (Planungs-)Modells für den schulischen Unterricht, um Tauglichkeit und Nützlichkeit der hier entwickelten Kategorien für eine kritische politische Bildungspraxis zu illustrieren.

Die Arbeit endet mit Kapital 5 und dem Versuch, die zentralen Ergebnisse der Untersuchung zusammenzufassen, um sie in konzentrierter Form der lerntheoretischen und politikdidaktischen Forschung zur Verfügung zu stellen. Zugleich werden einige Hinweise auf mögliche Forschungsdesiderate formuliert, aus denen sich für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Lernprozessen hochinteressante Fragestellungen ergeben, die aufgrund der thematischen Schwerpunktsetzung der Arbeit hier nicht bearbeitet werden konnten. Dabei bestätigt sich nach Meinung der Verfasserin die Auffassung, der zufolge Antonio Gramscis theoretischem Vermächtnis ein enormes Anregungspotential für weiterführende theoretische und empirische Forschungsfragen innewohnt, das über Fragen der kritischen politischen Bildung und Politikdidaktik hinausweist.

Die Bearbeitung der Fragestellung kommt ohne den Rückgriff auf quantitative und qualitative empirische Methoden aus, die auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit politischer Bildung in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen haben.Footnote 13 Der gewählte Zugang zum Thema, vor allem der Versuch, lerntheoretische und politikdidaktische Fragestellungen in einen gesellschafts-, genauer: kapitalismustheoretischen Zusammenhang einzuordnen, legt es nahe, einen anderen methodischen Weg zu gehen. Die Argumentation erfolgt daher unter Zuhilfenahme qualitativer Textanalysen und inhaltlicher Argumentations-Rekonstruktionen aus Primärtexten. Zugleich werden diverse fachwissenschaftliche Positionierungen einbezogen und einschlägige Sekundärliteratur ausgewertet. Dabei orientiert sich die Gewichtung von Primärtexten und Sekundärliteratur vor allem daran, ob zu den jeweiligen Fragestellungen ein hinreichend aussagefähiger Forschungsstand rekonstruiert werden kann oder ob die Argumentation genuin aus einschlägigen Primärquellen entwickelt werden muss. Die Ausführungen zur Funktion und gesellschaftlichen Rolle der Institution Schule, die Kapitel 2 einleiten, können sich auf ein gewisses Spektrum an schul- und bildungstheoretischer Literatur stützen, auf das selektiv und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit zurückgegriffen wird. Auch die folgende Diskussion über Inhalte, Wirkungsweise und Stellenwert von Sinnbildern in einer ausgewählten politikdidaktischen Konzeption kann auf umfangreiche Ausarbeitungen aufbauen. Da sie sich insbesondere auf die Konstruktionen von Sinnbildern des Politikdidaktikers Dirk Lange konzentriert, werden neben seiner Dissertationsschrift weitere Schriften herangezogen, in denen er seine Konzeption ausbaut und in die Kategorie des „Bürgerbewusstseins“ überführt. Schließlich liegen mittlerweile zu den Konzepten einer kritischen politischen Bildung sowie zur Strukturierung schulischer Lernprozesse diverse Texte vor, die sich über unterschiedliche theoretische und thematische Zugänge dem Gegenstand nähern. In allen Feldern können vorhandene Forschungsstände befragt und eigene Analysen und Arbeitshypothesen unter Rückgriff auf fachwissenschaftliche Theoreme und Kontroversen entwickelt und diskutiert werden. Dabei werden insbesondere Arbeiten von Andreas Eis, Bettina Lösch, Sophie Schmitt und Frank Nonnenmacher herangezogen.

Auf eine andere Ausgangslage trifft die Bearbeitung der Frage, ob und welche Elemente der Theorie Antonio Gramscis mit Erkenntnisgewinn für die Politikdidaktik nutzbar gemacht werden können. Zwar gibt es aus erziehungs- und bildungswissenschaftlicher bzw. politikwissenschaftlicher Sicht ausführlichere Analysen etwa von Andreas Merkens (2002; 2004; 2007a und b; 2010) Armin Bernhard (2005; 2006) und Thomas Barfuss/Peter Jehle (2014), die für die Bearbeitung herangezogen werden sollen, aber die allenfalls randständige Beschäftigung der politikdidaktischen Forschung mit Gramsci sowie das fehlende politikdidaktische Interesse in der allgemeinen Gramsci-Forschung erzwingen eine umfassende Sichtung und Analyse seiner Textdokumente, die in Form von Zeitungsartikeln, kleineren philosophischen und politischen Abhandlungen und einigen Reden vorliegen. Zur Analyse dieser Primärquellen wird auf unterschiedlich edierte Textsammlungen, vor allem aber auf die kritische Ausgabe der Gefängnishefte und -briefe von Antonio Gramsci zurückgegriffen. Die Versuche, aus den vorherigen Analysen Impulse für die Weiterentwicklung des Planungsmodells von Frank Nonnenmacher zu generieren, stützen sich auf die Präsentation dieses Modells, die der Autor selbst vorgelegt hat.

Dass in das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse und die daraus abgeleiteten Forschungsfragen auch die Erfahrungen aus der eigenen langjährigen Schulpraxis eingeflossen sind, ist nicht unwahrscheinlich. Einige Erkenntnisse aus dieser Praxis dürften, mitunter unbemerkt und indirekt, über den Weg einer „teilnehmenden Beobachtung“, in die vorliegende Arbeit eingewandert sein. Gleichwohl wird ihre Relevanz nicht systematisch reflektiert.Footnote 14 Die Frage, welche Implikationen die eigene Verwicklung in den Forschungsgegenstand für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat, stellt zweifelsohne und zurecht eines der brisantesten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Probleme dar; und zweifellos bin ich über meine schulische Praxis seit Jahren und umfänglich in Prozesse der politischen Bildung involviert. Die vorliegende Untersuchung verzichtet jedoch auf Antwortversuche und stützt die Argumentation primär auf die skizzierte Vorgehensweise wissenschaftlichen Arbeitens. Dass die eigenen Lernfortschritte, die ich bei der intensiven Bearbeitung der Themen meiner Arbeit gewonnen habe, meine zukünftige Praxis als politische Bildnerin mitprägen werden, ist nicht nur wahrscheinlich, sondern gewollt.