Das vorliegende Kapitel gibt auf Basis der vorherigen Ausführungen zur Reflexion und Diskussion der Vorgehensweise und Ergebnisse der vorliegenden Arbeit einen Ausblick auf Implikationen für das Aufgabenfeld der pädagogischen Sprachdiagnostik und pädagogischen Sprachförderung (8.1). Daran anschließend werden Implikationen für zukünftige Forschungsfelder (8.2) beschrieben.

8.1 Implikationen für pädagogische Sprachdiagnostik und pädagogische Sprachförderung

Um das Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen beteiligten Personen, also Agierenden in pädagogischer Sprachdiagnostik und pädagogischer Sprachförderung, zugänglich zu machen, gilt es, die Befunde dieser Arbeit im Sinne eines Wissenschaftstransfers zu kommunizieren. So ist zum einen eine Einbindung der Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit in die universitäre Lehre im Studium des Lehramts für Sonderpädagogik wünschenswert. Zum anderen wären beispielsweise Workshops für Lehrkräfte denkbar, die vor der Herausforderung stehen, im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik die alltägliche Lebenssituation von Kindern zu erfassen, um den Lehrkräften mit den Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation eine mögliche Lösung vorschlagen zu können. Außerdem wäre es erstrebenswert, durch Publikationen in einschlägigen Zeitschriften, die von Agierenden in pädagogischer Sprachdiagnostik und Sprachförderung gelesen werden, die Erkenntnisse zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie zur Durchführung des Analyseverfahrens anzubieten.

Eine Anwendung des Analyseverfahrens in förderdiagnostischen Situationen anderer Bereiche der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung erscheint auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse zur Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens durchführbar, sofern eine Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern angestrebt wird. Ein möglicher Anknüpfungspunkt liegt beispielsweise in der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens und bei sozial-emotionalen Beeinträchtigungen, wenn förderliche beziehungsweise hinderliche Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation für eine pädagogische Förderung bei Beeinträchtigung des Lernens und der emotionalen und sozialen Entwicklung rekonstruiert werden sollen. Dadurch könnte der im Bereich Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens verbreitete Ansatz der Lebenslage beziehungsweise sozialen Lage durch die Erkenntnisse zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation der vorliegenden Arbeit unterstützt werden.

Anwendungsmöglichkeiten des Analyseverfahrens ergeben sich zudem nicht nur bei Schulkindern, sondern auch bei Personen anderer Altersgruppen wie Vorschulkinder oder Jugendliche und Erwachsene, die an pädagogischer Sprachförderung und pädagogischer Sprachdiagnostik beteiligt sind. Auch bei diesen Zielgruppen wäre eine Anwendung in anderen förderdiagnostischen Situationen denkbar, da Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation nicht nur förderlich beziehungsweise hinderlich in Bezug auf Sprachentwicklung und Sprachgebrauch wirken, sondern eine Rekonstruktion förderlicher und hinderlicher Bedingungen für alle Bereiche, in denen Lernen und Entwicklung stattfinden, fruchtbar gemacht werden kann. Zu beachten wäre bei einer Durchführung mit jüngeren Kindern wie beispielsweise Vorschulkindern, dass das Verfahren unter entwicklungspsychologischer Fragestellung bezüglich des Erinnerns und des Gedächtnisses explizit evaluiert und gegebenenfalls angepasst wird (siehe nächsten Abschnitt 8.2).

Des Weiteren ergibt sich aufgrund der Ergebnisse der Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens in Bezug auf die pädagogische Sprachdiagnostik und Sprachförderung im inklusiven Unterricht die Notwendigkeit, die diagnostizierenden Personen, beispielsweise Lehrkräfte, in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation und die praktische Anwendung des Analyseverfahrens zu schulen und bei der Durchführung zu unterstützen. Denkbar erscheint darüber hinaus, im Sinne eines Wissenschafts-Praxis-Transfers eine weitere Handlungsanweisung zu formulieren, die sich auf die Nachbereitung der Analyseergebnisse bezieht, sodass es den diagnostizierenden Personen möglich wird, zu erkennen, wie sie die gewonnenen Erkenntnisse für eine pädagogische Sprachförderung nutzen können.

8.2 Implikationen für zukünftige Forschungsfelder

In Anlehnung an die geschlossenen Forschungslücken und die Reflexion dazu ergeben sich weitere Forschungsfragen sowohl in Bezug auf die theoretische Fundierung des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation als auch hinsichtlich der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation.

In Bezug auf die theoretische Fundierung lassen sich auf Grundlage der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit die gewonnenen Erkenntnisse zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation durch weitere Untersuchungen ergänzen: Es wäre zu prüfen, inwiefern weitere strukturidentische Bezugssysteme einbezogen werden könnten, um der Frage nachzugehen, ob sich daraus andere beziehungsweise neue Erkenntnisse für die Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation ergeben würden.

Des Weiteren wäre es lohnenswert, in Bezug auf die Konzipierung des Konstrukts alltägliche Lebenssituation nicht nur theoriegeleitet zu forschen, sondern auch der Frage nachzugehen, ob und wie das theoretische Konzept empirisch fundiert werden kann. In dem Zusammenhang wäre es außerdem interessant, wenn untersucht werden würde, inwiefern sich das Konstrukt von alltäglicher Lebenssituation verändert, wenn der Fokus jeweils nur auf biografische, lebensperspektivische oder aktuelle Bedingungen gelegt wird. Interessant ist diese Ausrichtung deshalb, da damit folgender Frage nachgegangen werden könnte: Wird eine Fokussierung in theoretischer Hinsicht relevant oder ist diese Frage vielmehr für die methodische Vorgehensweise zur Erfassung bedeutsam?

Hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ließe sich folgende weiterführende Forschung anschließen:

Wie in der vorliegenden Arbeit begonnen, könnte die Erprobung des Analyseverfahrens weitergeführt und ausgeweitet werden. Der Mehrwert einer umfassenderen Erprobung wäre, dass mit einer diagnostischen Erhebung und Planung von Fördersequenzen auf Basis der rekonstruierten Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sowie einer Verständigung über die Vorgehensweise in der pädagogischen Sprachförderung spezifische Erkenntnisse hinsichtlich der Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit der beteiligten Kinder gewonnen werden könnten. Dabei könnte auf individuelle sprachliche Problemlagen bei den beteiligten Kindern gezielt eingegangen werden, sodass eine Möglichkeitsverallgemeinerung im Sinne Holzkamps (1985) anvisiert werden kann.

In Bezug auf die Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens besteht weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der Stichprobe. Es müsste mit einer breit angelegten Untersuchung eine größere Stichprobe, die sowohl die beteiligten Kinder betrifft als auch die diagnostizierenden Personen einschließt, und über einen längeren Zeitraum die Evaluation durchgeführt werden, um möglichst umfassende weitere Erkenntnisse hinsichtlich der Anwendbarkeit des Analyseverfahrens zu erhalten. Im Hinblick auf die damit zusammenhängende Modifizierung der methodischen Vorgehensweise des Analyseverfahrens wäre zu prüfen, ob noch weitere qualitative und/oder quantitative Forschungsmethoden eingesetzt werden könnten, um Informationen zur alltäglichen Lebenssituation erhalten zu können. Beispielsweise wäre denkbar, dass eine teilnehmende Beobachtung und Befragung von Bezugspersonen zielführend sein könnten, denn dadurch können weitere Informationen zur alltäglichen Lebenssituation des an der Diagnostik beteiligten Kindes erfasst werden, die das Handeln und die Handlungsgründe der Bezugspersonen betreffen und zur Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des beteiligten Kindes beitragen können.

Außerdem erscheint es lohnenswert zu untersuchen, ob durch Gruppendiskussionen, an denen mehrere Bezugspersonen des an der Diagnostik beteiligten Kindes teilnehmen, weitere oder im Vergleich zum Einzelgespräch andere Informationen zur alltäglichen Lebenssituation erhalten werden können, die sich spontan aus der geführten Diskussion der beteiligten Personen heraus ergeben.

Des Weiteren könnte in zukünftigen Untersuchungen zur Erprobung des Analyseverfahrens, ausgehend von den in der vorliegenden Arbeit gewonnenen Erkenntnissen, gefragt werden, inwiefern bei der Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation eines Kindes an einer konkreten Handlungsproblematik des beteiligten Kindes angesetzt werden kann, um konkrete behindernde Bedingungen zu erkennen. Im Prozess der Verständigung über diese Bedingungen werden Konsequenzen für pädagogische Sprachförderung gezogen und deren Umsetzung wiederum in den Prozess der Verständigung eingebettet. Dieses Vorgehen würde der Entwicklungsfigur entsprechen, die von Markard (2000) vorgeschlagen wird.

In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation auf Schulkinder, weil die Erziehung und die Bildung von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen im schulischen Kontext im Mittelpunkt der Annahmen stehen. Denkbar wäre, ergänzend andere Bereiche einzubeziehen, in denen Erziehung und Bildung von Kindern stattfindet, beispielsweise der Elementarbereich der Kindertagesbetreuung oder die Vorschule. Allerdings müsste in beiden Fällen hinsichtlich entwicklungspsychologischer Annahmen zu Erinnern und Gedächtnis das Analyseverfahren für diese Altersgruppe angepasst werden. Es wäre also zu untersuchen, inwiefern Handlungen und Handlungsgründe von jüngeren Kindern reflektiert und ausgedrückt werden können, sodass eine Verständigung ermöglicht wird. Möglich wäre bei Einbezug jüngerer Kinder, die Befragung mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung zu ergänzen oder zusätzlich enge Bezugspersonen zu befragen und diese Erkenntnisse in die Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation miteinzubeziehen.

Nicht forschend betrachtet wurde in der vorliegenden Arbeit die Ebene der Unterrichtsentwicklung als Teil von Schulentwicklungsforschung: Hier stellt sich die Frage danach, welche Bedeutung die Anwendung des Analyseverfahrens beziehungsweise das Einnehmen eines Subjektstandpunktes in der pädagogischen Sprachdiagnostik für den inklusiven Unterricht hat. Subjektwissenschaftliche Diagnostik, konkret das hier entwickelte Analyseverfahren, kann dann für die Schulentwicklungsforschung einen entscheidenden Beitrag leisten, wenn über einen längeren Zeitraum die Bedeutung eines diagnostischen Subjektstandpunkts für die pädagogische Sprachförderung im inklusiven Unterricht untersucht werden könnte. Darüber hinaus erscheint es lohnenswert im Sinne der interdisziplinären Diagnostik, eine Verständigung über die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation nicht nur hinsichtlich der Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit, sondern beispielsweise bezüglich eingeschränkter Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit schulischem Lernen zu untersuchen.

Übergeordnet zu den konkreten möglichen weiteren Untersuchungen ergeben sich Implikationen hinsichtlich der Forschungsmethoden als Mittel der Erkenntnis. Auf Basis der vorliegenden Arbeit ist zu fragen, was es bedeutet, als wissenschaftlichen Standpunkt den Standpunkt des Subjekts einzunehmen. Die Subjektperspektive wird nicht als Gegenstand, sondern als Standpunkt wissenschaftlicher Forschung betrachtet, was bedeutet, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu betrachten und subjektives Handeln in Bedeutungskonstellationen zu erforschen, da aus subjektwissenschaftlicher Perspektive der Erkenntnisgegenstand nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Entwicklungspotenzial in Bezug auf das Analyseverfahren erkennen, indem nämlich die Gesellschaftlichkeit des Menschen einbezogen wird. Die Frage, die sich dann stellt, bezieht sich auf die Weiterentwicklung des Verfahrens, sodass die gesamtgesellschaftliche Relevanz der einzelnen Handlungen und der Entwicklung von Handlungsfähigkeit des einzelnen Handelnden stärker einbezogen wird. Indem danach gefragt werden würde, wie Menschen mit sprachlichen Beeinträchtigungen sich als Subjekte aktiv zu den Bedingungen ihrer alltäglichen Lebenssituation verhalten können, um ihre sprachliche Handlungsfähigkeit und damit ihre Selbst- und Mitbestimmung erweitern zu können, könnte wissenschaftlicher Fortschritt in Verbindung mit der Entwicklung gesellschaftlicher Praxis stehen, denn Wissenschaft wird dann zu einem Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung.

In theoretischer beziehungsweise konzeptioneller Hinsicht wäre in Bezug auf eine Erweiterung des Ansatzes der Kooperativen Pädagogik um den Subjektstandpunkt zu fragen, wo die Grenzen dieses konstruktivistischen Ansatzes liegen und wie sich die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik durch theoretische Annahmen der Lerntheorie Holzkamps ergänzen lässt sowie welche Auswirkungen der Einbezug der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie auf die Weiterentwicklung des Konzepts der Kooperativen Sprachdidaktik hätte. Die subjektwissenschaftliche Lerntheorie geht davon aus, dass das Subjekt dann lernt, wenn es Gründe dafür hat, die in den Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation liegen. Menschliches Lernen ist aus Perspektive der Kooperativen Pädagogik (Jetter 1985a) als Handlungserfahrung des Menschen in seiner individuellen Lebensgeschichte zu fassen, daher könnte sich dieser Aspekt schlüssig mit den subjektwissenschaftlichen Annahmen zum menschlichen Lernen nach Holzkamp (1993) ergänzen lassen.