In Kapitel 7 werden zentrale Befunde der vorliegenden Arbeit zusammengefasst, diskutiert und reflektiert. Zunächst wird eine theoretische Zusammenfassung (7.1) vorgenommen, bei der die vier theoretischen Bezugssysteme im Fokus stehen, um mit Bezug auf dieses theoretische Fundament im nachfolgenden Abschnitt die Beantwortung der Forschungsfragen (7.2) vornehmen zu können. Es werden also die erste Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit nach der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie die zweite Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit nach der methodischen Umsetzung der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen beantwortet. Anschließend werden die Befunde der vorliegenden Arbeit diskutiert und reflektiert, um daraus differenzierte Implikationen für die pädagogische Sprachdiagnostik und pädagogische Sprachförderung und zukünftige Forschungsfelder (siehe Kapitel 8) ableiten zu können. Die Diskussion und Reflexion bezieht sich auf drei Punkte: Erstens auf das theoretische Fundament, das zur Konzeptualisierung der alltäglichen Lebenssituation sowie für die Entwicklung des Analyseverfahrens handlungsleitend war (7.3). Zweitens erfolgen eine methodenorientierte Diskussion und Reflexion (siehe Abschnitt 7.4). Drittens wird mit einer handlungsorientierten Reflexion der Fokus auf die Anwendung des Analyseverfahrens innerhalb der pädagogischen Sprachdiagnostik gerichtet (siehe Abschnitt 7.5).

7.1 Resümee zu den theoretischen Bezugssystemen der vorliegenden Arbeit als Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen

Ausgehend von den theoretischen Bezugssystemen bestand das Ziel der vorliegenden Arbeit zum einen darin, theoriegeleitet die Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und Begriffen der Bezugssysteme zu entfalten, um ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation zu konstituieren. Zum anderen war es das Ziel, auf dem entwickelten Konzept der alltäglichen Lebenssituation aufbauend ein Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Im vorliegenden Abschnitt wird zusammenfassend auf die vier theoretischen Bezugssysteme (siehe detailliert Abschnitt 1.3), die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen, eingegangen, um mit Bezug auf diesen theoretischen Rahmen im nachfolgenden Abschnitt 7.2 die Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit beantworten zu können.

Erstes Bezugssystem: Sprachhandlungstheorie (u. a. Welling 1990)

Als erstes Bezugssystem lag die Sprachhandlungstheorie nach Welling (1990) mit den zentralen Begriffen des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Handlungsfähigkeit zugrunde. Sprachgebrauch und Spracherwerb als zentrale Aspekte sprachlichen Handelns wurden aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive als menschliches Handeln gefasst. Das erste Bezugssystem trug zum einen dazu bei, das theoretische Fundament bezüglich der in dieser Arbeit vorliegenden Auffassung von Spracherwerb und Sprachgebrauch als menschliches Handeln zu legen. Zum anderen stellte das sprachhandlungstheoretisch fundierte Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) für die vorliegende Arbeit sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel der Überlegungen zum Konzept von alltäglicher Lebenssituation als diagnostischem Gegenstand dar.

Zweites Bezugssystem: Konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (u. a. Schönberger, Jetter & Praschak 1987)

Mit der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) wurde ein Bezugssystem herangezogen, das den Menschen als aktiv handelndes Subjekt auffasst, das sowohl kulturgebunden als auch gesellschaftsbezogen ist. Der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik liegt mit dieser Auffassung ein Welt- und Menschenbild zugrunde, das den Menschen als verantwortlich handelnd betrachtet. Das zweite Bezugssystem trug dazu bei, die handlungsleitenden Grundannahmen und das daraus resultierende und der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Menschenbild theoretisch zu fundieren. Außerdem leistete das Konzept der Kooperativen Pädagogik mit den Grundbegriffen ‚Handlung‘, ‚Kooperation‘ und ‚Kooperationsfähigkeit‘ einen wesentlichen Beitrag zur Konzipierung von alltäglicher Lebenssituation.

Drittes Bezugssystem: Kritische Psychologie: Subjektwissenschaft und Psychologie vom Standpunkt des Subjekts (u. a. Holzkamp (1985)

Das dritte Bezugssystem stellt die Subjektwissenschaft der Kritischen Psychologie (u. a. Holzkamp 1985) dar. Mit der subjektwissenschaftlichen Perspektive wurde in der vorliegenden Arbeit die Gesellschaftlichkeit des Menschen sowie der Subjektstandpunkt als wissenschaftlicher und diagnostischer Standpunkt der Überlegungen hinsichtlich der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie hinsichtlich der Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen betont. Das dritte Bezugssystem trug insbesondere dazu bei, den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu erkennen und den Subjektstandpunkt als wissenschaftlichen beziehungsweise diagnostischen Standpunkt zu vertreten. Außerdem wurde auf Grundlage dieses dritten Bezugssystems bei der Beantwortung der Forschungsfragen die zentrale Auffassung der Einheit von Subjekt und Objekt, also von Individuum und Welt, berücksichtigt.

Viertes Bezugssystem: Zivilisationstheorie beziehungsweise Theorie der Menschenwissenschaften (Elias 2001; 2006)

Mit der ‚Zivilisationstheorie‘ beziehungsweise der ‚Theorie der Menschenwissenschaften‘ (Elias 1997; 2001; 2006) wurde viertens eine sozialwissenschaftliche Perspektive bei der Konstituierung des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation eingenommen. Das vierte Bezugssystem trug dazu bei, aus sozialwissenschaftlicher Sicht theoretisch zu fundieren, dass der Mensch als aktiv handelnd und in Kultur und Gesellschaft eingebunden zu betrachten ist.

Fünftes Bezugssystem: Kooperative Kommunikation (Tomasello 2006; 2011)

Mit dem fünften Bezugssystem der Kooperativen Kommunikation (Tomasellos 2006, 2011) wurde eine kulturwissenschaftlich geprägte kommunikationstheoretische Sicht der Spracherwerbsforschung eingenommen. Aus dieser Perspektive stellten sich Kooperation sowie geteilte Intentionalität als wesentliche Faktoren bei der Entwicklung menschlicher Kommunikation heraus. Das fünfte Bezugssystem trug dazu bei, dass die sprachhandlungstheoretisch fundierten Annahmen zum sprachlichen Handeln und zur sprachlichen Handlungsfähigkeit mit der kulturwissenschaftlich geprägten Perspektive Tomasellos (2006; 2011) ergänzt werden konnten, und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung der Annahmen hinsichtlich Sprache und Kommunikation.

Auf Basis der bisherigen Ausführungen sowie der im vorliegenden Abschnitt dargestellten Zusammenfassung des theoretischen Fundaments werden nachfolgend die zwei Forschungsfragen beantwortet.

7.2 Zusammenfassende, integrative Beantwortung der Forschungsfragen

In den folgenden Abschnitten werden die Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit beantwortet. Zunächst wird die Frage knapp und präzise beantwortet, welche Konstruktionsfaktoren das bislang in Theorie und Forschung noch wenig ausgereifte Konzept der alltäglichen Lebenssituation ausmachen. Darauf folgend wird die zweite Forschungsfrage beantwortet, und zwar wie mit diesem neuen Wissen zur alltäglichen Lebenssituation die Informationen zu dieser Situation in pädagogischer Sprachdiagnostik erfasst und ausgewertet werden können, damit förderliche beziehungsweise hinderliche Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation in Bezug auf die Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit rekonstruiert werden können. Einhergehend mit der Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wird die Durchführung des in der vorliegenden Arbeit eigenentwickelten, mehrfach erprobten und mehrstufig evaluierten Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen erläutert.

7.2.1 Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation

Die erste Forschungsfrage lautet:

Welche Konstruktionsfaktoren konstituieren die alltägliche Lebenssituation?

Die Forschungsfrage wird anhand von vier Thesen beantwortet, die ausführen, wie sich das Konzept von alltäglicher Lebenssituation charakterisieren lässt. Bevor die Thesen vorgestellt werden, werden ihnen zugrunde liegende Annahmen im Vorfeld jeder These knapp dargeboten. Diese Thesen führen aus, wie das Konzept der alltäglichen Lebenssituation aus Perspektive der vorliegenden Arbeit aufgefasst wird und wie sich daraus Annahmen zu den Faktoren, die das Konzept der alltäglichen Lebenssituation konstruieren, schließen lassen. Die Annahmen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation werden nun als Thesen inklusiver knapper Erläuterungen gebündelt dargestellt, um anschließend prägnant und übersichtlich Konstruktionsfaktoren des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation formulieren zu können.

These 1: Das Subjekt konstruiert seine alltägliche Lebenssituation durch eigenaktives Handeln.

Für diese These sprechen die Erkenntnisse der genetischen Erkenntnistheorie nach Piaget (u. a. 2015), insbesondere jene zur aktiven Rolle des Subjekts im Konstruktionsprozess (Piaget 2015; Praschak 1993; Jetter 1979). Der Mensch setzt sich mit der Wirklichkeit aktiv auseinander und beeinflusst so aktiv sein Leben auf der Basis der bisher entwickelten Möglichkeiten (Praschak 1993, Praschak-Wolf & Praschak 1979). Mittels eines autopoietischen Erkenntnissystems verarbeitet das Subjekt die Wirklichkeit, macht sie durch konkretes Handeln in der Wirklichkeit, also durch die aktive Auseinandersetzung mit ihr, zu ‚seiner‘ Realität und entwickelt damit Deutungskriterien (Praschak 1993), mit denen die Informationen der Wirklichkeit wiederum geordnet werden und zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beitragen.

These 2: Das Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation ist kulturgebunden.

Die Betrachtung des Menschen als aktives Wesen bedeutet im Zusammenhang mit dem Begriff Kultur, den Menschen sowohl als kulturabhängig als auch kulturschaffend anzusehen. Kulturgebundenes Handeln ist als Konstruktionsfaktor des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation zu bezeichnen, da insbesondere durch sprachliches Handeln kulturelles Wissen durch kommunikative Handlungen von Menschen an andere Menschen weitergegeben wird (Welling 1990; Tomasello 2006) und damit zu den Bedingungen zu zählen ist, die die Menschen vorfinden und zu denen sie sich aktiv verhalten. Durch dieses Wissen lassen sich die Erfahrungen der alltäglichen Lebenssituation ordnen.

These 3: Das Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation ist gesellschaftsbezogen.

Die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sind als gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen zu fassen, die das Subjekt als personale beziehungsweise situationale Bedingungen (Holzkamp 1985) erfährt. Durch Bezug zu konkreten Handlungsmöglichkeiten des Subjekts werden die personalen beziehungsweise situationalen Bedingungen zu Prämissen seines Handelns. Indem das Subjekt handelt, trägt es zur Schaffung seiner Lebensbedingungen bei, die mit anderen gesellschaftlichen Bedingungen verbunden sind. Vor diesem Hintergrund wird von der Gesellschaftsbezogenheit der vom Subjekt geschaffenen Bedingungen ausgegangen, die das Subjekt als gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen erfährt und in denen die individuellen Handlungsziele des Subjekts inbegriffen sind.

These 4: Das Konstrukt alltägliche Lebenssituation ist das Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen.

Kooperation und Kommunikation bestimmen den Konstruktionsfaktor ‚zwischenmenschliche Beziehungen‘. Zwar wird in jeder Hinsicht bei der Konstruktion eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation vom Subjektstandpunkt ausgegangen und die Konstruktion als individuelle, eigenaktive Leistung des Subjekts betrachtet; dies ist aber nicht gleichzusetzen mit einer von den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen losgelösten Angelegenheit. Vielmehr bezieht sich die Individualität auf die jeweils besonderen Ausformungen der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation, die der Mensch eigenaktiv durch sein Handeln konstruiert. Dieses Handeln, so wurde gezeigt, ist Handeln unter Menschen und bezogen auf menschliches Handeln (von Knebel 2000, 47 f.). Im Gesamtzusammenhang der Kooperation finden sich die gemeinsam verfolgten Handlungsziele sowie die dem gemeinsamen Handeln zugrunde liegenden kulturellen Werte und auch die gemeinsam koordinierten Handlungspläne wieder (Holzkamp 1985). Zwischenmenschliche Beziehungen, speziell Kooperationen, prägen das menschliche Handeln und tragen damit zur Konstruktion eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation bei.

Kommunikation wirkt als Konstruktionsfaktor bei der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation, indem durch kommunikatives Handeln Menschen zueinander in Beziehung treten und kulturbezogenes Weltwissen austauschen (Welling 1990). Das Konzept von alltäglicher Lebenssituation wird dadurch konstruiert, indem vor einem gemeinsamen begrifflichen Hintergrund der an der Kommunikation beteiligten Menschen diese ihr kulturbezogenes Wissen austauschen. Durch kommunikatives Handeln konstruiert das Subjekt sein Konzept von alltäglicher Lebenssituation.

Zusammenfassend lässt sich aufgrund der erarbeiteten Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation feststellen, dass die Auffassung von alltäglicher Lebenssituation als eine Situation als zentral betrachtet wird, die als eine vom Subjekt individuell erfahrene Situation verstanden wird, in der das Subjekt begründet handelt und begründet sowie eigenaktiv sein Leben führt. Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sind Erfahrungen des Subjekts, die es unter Zugriff ordnender Strukturen macht. Die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts werden in der vorliegenden Arbeit in biografische, gegenwärtige und lebensperspektivische Bedingungen unterschieden. Es werden abschließend die Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation prägnant aufgeführt:

  • das eigenaktive Handeln des Subjekts

  • das kulturgebundene Handeln der Menschen

  • der begründet handelnde, gesellschaftliche Mensch

  • die personalen beziehungsweise situationalen Bedingungen

  • die zwischenmenschlichen Beziehungen, speziell Kooperationen

  • das kommunikative Handeln der Menschen

Mit den Ausführungen zum Konzept von alltäglicher Lebenssituation wird der Gegenstand pädagogischer Sprachdiagnostik beschrieben, den es zu analysieren gilt, wenn förderliche beziehungsweise hinderliche Bedingungen sprachlicher Handlungsfähigkeit von Kindern erkannt und einer pädagogischen Sprachförderung zugänglich gemacht werden sollen. Im nächsten Abschnitt wird die zweite Forschungsteilfrage beantwortet und aufgezeigt, wie Informationen zur alltäglichen Lebenssituation in pädagogischer Sprachdiagnostik erfasst und ausgewertet werden können.

7.2.2 Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik

Die in dem vorliegenden Abschnitt zu beantwortende Forschungsfrage lautet:

Wie können Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik erfasst und ausgewertet werden?

In der vorliegenden Arbeit wurde ein Verfahren entwickelt, das zum Ziel hat, die Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu erfassen und zu analysieren. Die Beantwortung der Forschungsfrage bezieht sich auf die Ergebnisse der Untersuchungen zur Evaluation des entwickelten Analyseverfahrens (dargestellt in den Abschnitten 6.2.3.5, 6.2.4.5 und 6.2.5.6). Das Verfahren wurde unter Zugriff der zugrunde liegenden Bezugsysteme und handlungsleitenden Grundannahmen entwickelt, erprobt und evaluiert. Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung, Erprobung und Evaluation wird auf das Kapitel 6 dieser Arbeit verwiesen.

Die Forschungsfrage wird beantwortet, indem die Vorgehensweise bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen beschrieben wird. Die Beschreibung erfolgt auf Basis der Erkenntnisse der drei Teilevaluationen, wobei im Folgenden das Analyseverfahren in der Form dargestellt wird, wie es seit Abschluss der dritten Evaluation vorliegt. Für eine detaillierte Übersicht über die Modifikationen des Analyseverfahren, die im Anschluss an jede der drei Teilevaluationen vorgenommen wurden, wird auf die Darstellungen im Anhang (siehe Anhang, S. 10–12, S. 29 f. und S. 32–39 im elektronischen Zusatzmaterial) verwiesen.

Das Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen erfasst in einer Erhebungsphase

  • individuelle Situationen und Beziehungsgeflechte und

  • fragt nach den sprachlichen und allgemeinen Handlungen des Kindes

  • sowie den jeweils subjektiven Begründungen.

Diese gesammelten Informationen werden anschließend anhand eines strukturierten Vorgehens ausgewertet und können so einer individuellen Sprachförderung zur Verfügung gestellt werden.

In den folgenden Abschnitten werden zuerst die Vorgehensweise bei der Erhebungsphase (7.2.2.1) und anschließend die Handanweisung zur Auswertung (7.2.2.2) der gewonnenen Informationen hinsichtlich sprachförderlich relevanter Lebensbedingungen dargestellt. Erhebungs- und Auswertungsphase werden hier aufgrund besserer Übersichtlichkeit und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit getrennt voneinander aufgeführt und beschrieben, stellen aber eine untrennbare Einheit dar und sind deshalb nur gedanklich in zwei Phasen zu teilen. In der Durchführung greifen Informationsbeschaffung und -auswertung zirkulär ineinander, was im Abschnitt zur Erhebungsphase deutlich wird.

7.2.2.1 Erhebungsphase: Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation

Die Erfassung von Informationen zu Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen erfolgt anhand eines Erhebungsverfahrens, das im Folgenden zunächst bezüglich des Ziels der Erhebung und anschließend hinsichtlich der Vorgehensweise bei der Erhebung beschrieben wird.

Ziel der Erhebung

Das Ziel der Erhebung ist die Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation des beteiligten Kindes. Diese gewonnenen Informationen dienen in der Folge dazu, mit dem Auswertungsverfahren (siehe 7.2.2.2) ausgewertet werden zu können.

Vorgehensweise bei der Erhebung

Es werden Gespräche in Form des problemzentrierten Interviews nach Witzel (2000) mit dem Kind geführt, die den Alltag des Kindes fokussieren. Dazu werden Fragen nach alltäglich wiederkehrenden Situationen, sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen und deren subjektiven Begründungen gestellt und die Antworten frei, das heißt ohne Vorstrukturierung, notiert. Im Falle einer Audioaufnahme wird diese transkribiert. Eine Audioaufnahme der Gespräche kann vorgenommen werden, ist aber nicht zwingend geboten beziehungsweise aus Gründen der Praktikabilität verzichtbar, wenn Gespräche spontan entstehen. Auch sollen die Gespräche möglichst wenig inszeniert wirken, vielmehr könnten sie in den alltäglichen Ablauf integriert werden, wie zum Beispiel in Unterrichtspausen. Die Gespräche richten sich nach der Motiviertheit des Kindes, über sich und seinen Alltag zu berichten. Des Weiteren sind aus entwicklungspsychologischer Perspektive die Konzentrationsfähigkeit und Belastbarkeit des Kindes zu berücksichtigen, was in der Regel zu Gesprächen von wenigen Minuten führt. Ergänzend können Informationen notiert werden, die anhand von Beobachtungen gesammelt werden.

Die Fragen oder Erzählaufforderungen, die an das Kind gerichtet werden, werden entweder ausgewählt, weil bestimmte Handlungen oder Ereignisse, die das Kind betreffen, der diagnostizierenden Person bekannt sind, oder es werden allgemeine und offene Fragen und Erzählaufforderungen gestellt, um Gesprächsanlässe schaffen zu können, aus denen dann konkrete Nachfragen resultieren. Anders ausgedrückt: Es werden Fragen formuliert, die Aufschluss darüber geben, wie das Kind in welcher Situation sprachlich beziehungsweise nichtsprachlich handelt, in welchem Beziehungsgeflecht es bei Ausführung der Handlungen steht und welche Begründungen dem sprachlichen beziehungsweise nichtsprachlichen Handeln zugrunde liegen. Des Weiteren stehen die sprachlichen und nichtsprachlichen Erfahrungen des Kindes im Mittelpunkt, die aus sprachlichen beziehungsweise nichtsprachlichen Handlungen resultieren. Aufgrund der Perspektive der Förderdiagnostik beziehungsweise der Annahmen der Verstehenden Diagnostik gilt es, bei dieser Phase Fragen nach der Strukturierung des Alltags zu stellen, um aus alltäglich wiederkehrenden Ereignissen und Handlungen Rückschluss auf zugrunde liegende Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation ziehen zu können. Die Informationen, die jeweils mit einem Gespräch gewonnen werden, dienen zum einen durch ihre Auswertung der Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation, zum anderen stellen sie wiederum zugleich einen neuen Gesprächsanlass dar und können im weiteren Verlauf unterstützend auf die Auswahl von weiteren Fragen und Erzählaufforderungen wirken. Somit greifen Erhebung und Auswertung der Informationen zirkulär ineinander.

Die folgende Auflistung zeigt beispielgebend auf, welche Fragen als Gesprächsanlass dienen können:

  • Stell dir vor, du gehst in dein Klassenzimmer und setzt dich anschließend auf deinen Platz. Neben dir sitzt bereits ein Kind und legt gerade einen Stift vor sich auf den Tisch. Was tust du als Nächstes? Warum?

  • Warum erzählst du, wenn du im Sitzkreis mit den anderen Kindern aus deiner Klasse sitzt, was du am Wochenende erlebt hast?

  • Stell dir vor, die Schule ist zu Ende und du gehst nach Hause. Was machst du dort als Erstes? Warum?

  • Warum erzählst du deiner Schwester/deinem Bruder, mit wem du in der ersten Pause auf dem Schulhof gespielt hast?

Solche Fragen können als Gesprächsanlass verwendet werden, wobei zu prüfen ist, ob diese konkreten Fragen auf die individuelle Situation des beteiligten Kindes angepasst werden müssten, um ein möglichst individuell zugeschnittenes Gesprächsthema gemeinsam mit dem beteiligten Kind zu finden. Immer vorausgesetzt wird, dass bekannt ist, dass das beteiligte Kind diese Dinge tut, die in den genannten Fragen angesprochen werden, wie beispielsweise im Sitzkreis mit anderen Kindern aus der Klasse vom Wochenende zu berichten.

Der folgende Gesprächsausschnitt zeigt, wie ein Gespräch beispielsweise gestaltet werden kann:

E =:

Erwachsene Person

K =:

Kind (5;11)

N1 =:

Person Name 1

E und K:

unterhalten sich über den Moment, wenn K in der Kita ankommt und den Gruppenraum betritt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden Pausen, soweit sie nicht relevant sind für den Gesprächsinhalt nicht gekennzeichnet.

E::

Stell dir vor, es ist morgens. Du kommst in der Kita an, kommst gerade aus der Garderobe raus, gehst die Treppe hoch in den Raum, in den Gruppenraum rein und was passiert als Nächstes?

K::

Warte kurz. N1 sagt „Hallo guten Morgen“. Und ich sage dann ob es mir gut geht oder nicht.

E::

Und wie macht sie das, fragt sie, ob es dir gut geht?

K::

Mhm (ja)

E::

Wie denn?

K::

Sie sagt erstmal Na? Geht es dir gut?

E::

Und was machst du dann?

K::

Hm ich stelle mich erstmal an den Tisch dann gehe ich rüber und gucke, was da los ist, dann gehe ich auf die Hochebene und gucke, was da los ist, dann gehe ich in die Puppenecke und gucke, was da los ist und dann gucke ich an den Spieltisch und was da los ist.

E::

Aber N1 hat dich ja gefragt „Na geht es dir gut“?

K::

Mhm (ja)

E::

Und antwortest du dann darauf?

K::

Ja, ich sage dann, ich nicke dann.

E::

Du nickst?

K::

Mhm (ja)

E::

Hm nickst und was heißt das dann?

K::

Ja!

E::

Und du sagst aber nicht „ja“, du nickst. Du nickst mit dem Kopf.

Wie dem Gesprächsausschnitt zu entnehmen ist, liegt am Ende der Erhebungsphase ein Gesprächsausschnitt vor, entweder in Form einer Interviewtranskription oder als Gesprächsprotokoll, das während oder im Anschluss an das Gespräch erstellt wird. Im folgenden Abschnitt wird aufgezeigt, wie die in der Erhebungsphase gewonnenen Informationen ausgewertet werden können.

7.2.2.2 Auswertungsphase: Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation

Die Auswertung der gewonnenen Informationen zu Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen erfolgt anhand eines in dieser Arbeit erarbeiteten Auswertungsverfahrens, das im Folgenden zunächst bezüglich der Zielsetzung und anschließend hinsichtlich der Vorgehensweise beschrieben wird.

Ziel der Auswertung

In der Auswertungsphase werden die gesammelten Informationen anhand einer in der vorliegenden Arbeit erarbeiteten Handanweisung handlungstheoretisch strukturiert ausgewertet und hinsichtlich sprachförderlich relevanter Lebensbedingungen analysiert.

Vorgehensweise bei der Auswertung

Im Folgenden wird der Auswertungsbogen erläuternd dargestellt, in den die Ergebnisse der einzelnen Auswertungsschritte der Handanweisung eingetragen werden können.

Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen: Auswertungsbogen

1. Falldarstellung:

Welche Themen werden vom beteiligten Kind angesprochen beziehungsweise wovon berichtet das Kind?

2. Darstellung von Handlungen und Handlungsbegründungen:

Welche Handlungen werden vom Kind aktiv vollzogen und aus welchen Gründen?

3. Rekonstruktion personaler beziehungsweise situationaler Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation:

Welche Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen hat das Kind?

– in personaler beziehungsweise situationaler Perspektive Bedingungen benennen

– personal = zum Beispiel Wissen, Können, Fähigkeiten, Interessen, Ziele, Werte, Pläne

– situational = zum Beispiel Beziehungen (Kooperationsformen), räumliche und zeitliche Bedingungen

Im Folgenden werden die einzelnen Auswertungsschritte aufgeführt und beschrieben, die als Handanweisung der diagnostizierenden Person zur Unterstützung bei der Auswertung dienen. Dafür werden zuerst die Schritte benannt, darunter erscheinen die Anweisungen, wie sie in der Handanweisung zu finden sind. Anschließend werden sie hinsichtlich ihres Ziels beschrieben und mit Beispielen illustriert, wozu der beispielhaft dargestellte Gesprächsausschnitt genutzt wird.

Handlungsanweisung zum Auswertungsbogen: Darstellung der Auswertungsschritte

Die Auswertung der Gesprächsnotizen erfolgt in den nachfolgend aufgeführten vier Schritten:

Schritt 1: Falldarstellung

Im ersten Schritt erfolgen eine sachliche Darstellung des Gesprächsinhaltes und ein Aufzeigen der angesprochenen Ereignisse, Themen der sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen und ihrer Begründungen. Diese Falldarstellung zielt auf einen Gesprächsbericht ohne Bewertung oder Interpretation der einzelnen Aspekte. Somit dient diese Dokumentation auch der Wahrung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit.

Ziel der Falldarstellung: Beantwortung des folgenden Fragenkomplexes: Welche Themen werden angesprochen? Wovon berichtet das Kind? → Stellen Sie die Gesprächsinhalte sachlich und ohne subjektive Bewertung dar.

Beispiel zur Falldarstellung: E und K unterhalten sich über den Moment, in dem K in der Kita ankommt und den Gruppenraum betritt. K berichtet von der Begrüßung durch Erzieherin N1. N1 fragt nach dem Befinden und K antwortet darauf mit einem Nicken, um die Frage ‚Geht es dir gut?‘ mit ‚Ja.‘ zu beantworten. K berichtet weiter davon, wie K nachsieht, was an verschiedenen Orten im Raum (Tisch, Hochebene, Puppenecke) ‚los ist‘, sich damit also einen Überblick über die aktuelle Situation verschafft.

Schritt 2: Darstellung von Handlungen und Handlungsbegründungen

Im zweiten Schritt werden die vom befragten Subjekt konkret geäußerten oder thematisierten ausgeführten Handlungen, also Handlungsmöglichkeiten beziehungsweise nicht ausgeführte Handlungen, also Handlungsbeschränkungen sowie die jeweiligen Begründungen des Handelns dargestellt. Das heißt, es werden die konkreten Handlungen im Hinblick auf das Ergreifen, Ausklammern oder Verwerfen von Handlungsmöglichkeiten hin dargestellt, je nachdem, worin das Handeln besteht.

Ziel der Darstellung von Handlungen und Handlungsbegründungen: Beantwortung des folgenden Fragenkomplexes: Welche Handlungsmöglichkeiten (im Sinne ausgeführter Handlungen) und Handlungsbeschränkungen (im Sinne nicht ausgeführter Handlungen) werden vom Kind konkret geäußert oder thematisiert? Welche Gründe für a) das Ergreifen von Handlungsmöglichkeiten, b) das Ausklammern von Handlungsmöglichkeiten, c) das Verwerfen von Handlungsmöglichkeiten werden vom Kind konkret geäußert oder thematisiert? → Stellen Sie die Handlungen und Handlungsbegründungen sachlich und ohne subjektive Bewertung dar.

Beispiel zur Darstellung von Handlungen und Handlungsbegründungen:

  • K antwortet mit Kopfnicken auf die Frage von N1 nach dem Befinden.

  • K geht durch den Gruppenraum und sieht nach, ‚was da los ist‘.

  • K weiß, dass N1 ihr Kopfnicken als Zustimmung beziehungsweise Bestätigung verstehen wird, und antwortet deshalb entsprechend. K kennt die räumliche Aufteilung in der Kita und weiß, wo Kinder spielen könnten (Tisch, Hochebene, Puppenecke).

Schritt 3: Rekonstruktion personaler beziehungsweise situationaler Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation

Im dritten Schritt erfolgt eine Kategorisierung der Handlungsmöglichkeiten und ihrer Begründungen im Sinne einer Rekonstruktion der Bedingungen des Handelns.

Die Grundlage für die Rekonstruktion der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation ist die Unterscheidung des situationalen Aspekts und personalen Aspekts der Bedingungen. Die Handlungsmöglichkeiten werden erstens hinsichtlich äußerer, das heißt situationaler Bedingungen, wie zum Beispiel räumlicher, zeitlicher oder die Ereignisse oder Personen betreffende Bedingungen, betrachtet. Zweitens erfolgt die Auswertung der Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich innerer, das heißt personaler Bedingungen, wie zum Beispiel Wissen, Können oder Interesse.

  • Beispiele für einen situationalen Aspekt des Subjekts: räumliche Anordnung, Gegenstände, Ereignisse, zeitliche Ordnung, zwischenmenschliche Beziehungen, gesellschaftliche Struktur und so weiter

  • Beispiele für einen personalen Aspekt des Subjekts: Wissen, Können, Fertigkeiten, Interesse, Bedürfnisse, Kooperationsfähigkeit, Lernfähigkeit, Motivation/Zwang, und so weiter

Diese Aufzählung ist exemplarisch und nicht als erschöpfend zu betrachten.

Ziel der Rekonstruktion personaler beziehungsweise situationaler Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation: Beantwortung des folgenden Fragenkomplexes: Welche konkreten äußeren beziehungsweise inneren Bedingungen können aus den geäußerten Handlungsmöglichkeiten und ihren Begründungen geschlussfolgert werden? → Stellen Sie die personalen beziehungsweise situationalen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sachlich und ohne subjektive Bewertung dar.

Beispiel zur Rekonstruktion personaler beziehungsweise situationaler Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation:

Situationaler Aspekt:

  1. 1.

    räumliche Aufteilung des Gruppenraums in der Kita: Puppenecke, Hochebene, Spieltisch, Sitzkreis

  2. 2.

    Personen: Erzieherin N1 und weitere Kinder im Gruppenraum

  3. 3.

    Situation/Ereignis: Begrüßung durch N1

Personaler Aspekt:

  1. 1.

    Wissen:

    • K kennt N1

    • K weiß, dass N1 das Kopfnicken als Bestätigung verstehen wird

    • K kennt die Aufteilung des Gruppenraums

    • K weiß, dass sie dort spielen darf

  2. 2.

    Interesse:

    • K möchte nachsehen, ‚was so los ist‘

    • K möchte ausdrücken, dass es ihr gut geht

Anschluss an die Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation: Im Anschluss an den dritten Auswertungsschritt gilt es, Schlussfolgerungen für die didaktische Planung der Sprachförderung zu ziehen. Dazu werden die rekonstruierten äußeren beziehungsweise inneren Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation hinsichtlich ihrer sprachförderlichen Relevanz untersucht, wozu sowohl diagnostische Erkenntnisse der anderen Analyseebenen (Schritt 1–3) der sprachhandlungstheoretisch begründeten Diagnostik als auch die Gegenstandsbereiche der Sprachförderung sowie individuelle Förderziele herangezogen werden müssen. Dieser Schritt stellt die Grundlage für eine individuell zugeschnittene Sprachförderung dar.

Ziel der Schlussfolgerung für die didaktische Planung pädagogischer Sprachförderung: Beantwortung des folgenden Fragenkomplexes: Welche förderlichen beziehungsweise hinderlichen Bedingungen in Bezug auf die sprachliche Problemlage unter Einbezug aller diagnostischen Erkenntnisse der Analyseebenen pädagogischer Sprachdiagnostik, das heißt neben der alltäglichen Lebenssituationsanalyse und Sprachhandlungsanalyse auch Mikroanalyse der Sprache, sowie unter Berücksichtigung der Gegenstandsbereiche der Sprachförderung und individueller Förderziele sind erkennbar?

Sinnvoll erscheint bei der didaktischen Planung der pädagogischen Sprachförderung, das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004; 2007) als Planungsgrundlage für die Sprachförderung im Unterricht oder in der Therapie zu nutzen (zur genauen Erläuterung dieses Konzepts siehe Abschnitt 3.2 in dieser Arbeit), denn es greift diejenigen Aspekte auf, die innerhalb der Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachförderung beschrieben werden. Als solche sind in Anlehnung an Welling (2009) und von Knebel (2015) zu nennen:

  • Art des sprachlichen Handelns (Gebrauchsfunktion, Gebrauchsinhalt, Gebrauchswert)

  • sprachliche Handlungserfahrungen (Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Handlungsfähigkeit)

  • sprachliche und außersprachliche Handlungsinhalte/Handlungsgegenstände (Interessen und Fähigkeiten)

  • förderliche/hinderliche Kontexte in der alltäglichen Lebenssituation (Beziehungen)

  • Erfahrungen des Kindes bezüglich Institutionen und Methoden sprachlicher Förderung.

Es wird deutlich, dass Ausgangspunkt und Ziel bei der Anwendung dieses Analyseverfahrens das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) ist, denn durch Anwendung des Analyseverfahrens können diejenigen Informationen gewonnen werden, die zur Ausgestaltung des in diesem Konzept enthaltenen Aspekts ‚Lebenssituation‘ benötigt werden. Mit dem in Zusammenhang mit dieser Arbeit eigenständig entwickelten Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen können daher förderliche beziehungsweise hinderliche Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern rekonstruiert und für eine pädagogische Sprachförderung genutzt werden.

Mit Beantwortung dieser zweiten Forschungsfrage wurde der Blick auf die methodische Umsetzung bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen gerichtet.

Im nachfolgenden Abschnitt werden die theoretische Untermauerung und methodische Durchführung des Verfahrens diskutiert und reflektiert.

7.3 Diskussion und Reflexion des theoretischen Fundaments zur Konzeptualisierung des Konstrukts der alltäglichen Lebenssituation sowie zur Entwicklung und Erprobung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen

Im vorliegenden Abschnitt steht das theoretische Fundament in Form der handlungsleitenden Grundannahmen (vertiefend siehe Abschnitt 1.2) im Mittelpunkt der Diskussion und Reflexion. Auf diesem Fundament basieren die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie die Entwicklung des Analyseverfahrens der pädagogischen Sprachdiagnostik. Daher werden im Folgenden die handlungsleitenden Annahmen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen bei der erfolgten Beantwortung der Forschungsfragen diskutiert und kritisch reflektiert. Das bedeutet, dass nachfolgend das theoretische Fundament der vorliegenden Arbeit erstens dahingehend hinterfragt wird, welchen Beitrag es zur Konzeptualisierung alltäglicher Lebenssituation leisten konnte, sowie zweitens, wie praktisch hilfreich und wissenschaftlich solide es zu der Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen beitragen konnte.

Zum theoretischen Fundament gehörten der Subjektstandpunkt, anthropologische Grundannahmen, erziehungswissenschaftliche Grundannahmen sowie erkenntnistheoretische Grundlagen. Diese theoretischen Untermauerungen werden im Folgenden aufgegriffen und hinsichtlich der zwei genannten Ziele diskutiert und reflektiert.

Der Subjektstandpunkt

Die Ergebnisse zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation verdeutlichen, inwiefern alltägliche Lebenssituation als subjektive Konstruktion aufzufassen ist. Der Beitrag des Subjektstandpunktes zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation liegt also darin, dass davon ausgegangen wird, dass das Subjekt, eingebunden in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, begründet handelt und damit die Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation produziert.

Hinsichtlich der Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens zeigt sich, dass der Subjektstandpunkt einen Beitrag leisten konnte, da das Einnehmen des Subjektstandpunktes in der Diagnostik dazu führt, die subjektiven Handlungsgründe der beteiligten Personen verstehen und damit Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation rekonstruieren zu können. Der Wechsel vom Außenstandpunkt hin zum Standpunkt des Subjekts bedeutet dann, von Schulkindern als Subjekten in dem Prozess ihrer individuellen Entwicklung sprachlicher Handlungsfähigkeit auszugehen. Das Verstehen von Handlungsgründen trägt dann entscheidend dazu bei, pädagogische Sprachförderprozesse diagnosegeleitet zu gestalten. Für die pädagogische Sprachförderung wiederum bedeutet der Wechsel zum Subjektstandpunkt das Potenzial, Schulkinder als Subjekte zu betrachten, die im Rahmen der pädagogischen Sprachförderung aktiv an der Entwicklung ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit teilhaben.

Die Prinzipien dieses Standpunktes reichen insofern nicht aus, als die Subjektwissenschaft der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1985) keinen Beitrag zur anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen leistet. Aus diesem Grund wurden die handlungsleitenden Annahmen zum Subjektstandpunkt der Kritischen Psychologie ergänzt mit dem Menschen- und Weltbild der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik.

Anthropologische Grundannahmen

Die Ausführungen zur Beantwortung der Forschungsfrage zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation zeigen auf, inwiefern die anthropologischen Grundannahmen, mit denen ein Bild vom Wesen des Menschen skizziert wird, als handlungsleitend zu betrachten sind. Zentral in diesem Welt- und Menschenbild ist die Annahme eines Menschen als aktiv handelndes Subjekt. Diese wesentliche anthropologische Annahme über den Menschen leistet dadurch einen Beitrag für die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation, sodass für die alltägliche Lebenssituation, die als Konstrukt zu betrachten ist, angenommen wird, dass sie durch eigenaktives Handeln des Subjekts konstruiert wird. Der Beitrag der anthropologischen Grundannahmen für die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen liegt darin, dass auf Basis der Annahme eines aktiv handelnden Menschen die Handlungen der Schulkinder als ihre aktive Auseinandersetzung mit der Welt sowie die subjektiven Handlungsgründe fokussiert werden.

Mit der Annahme von alltäglicher Lebenssituation als kulturgebundenes sowie gesellschaftsbezogenes Konstrukt wird ebenfalls deutlich, inwiefern die anthropologischen Grundannahmen als handlungsleitend zu betrachten sind. Denn, so wurde deutlich, die Menschen ordnen die Erfahrungen, die sie in und mit ihrer Wirklichkeit machen, nach kulturellen Ordnungsstrukturen. Kulturelles Wissen wird durch kommunikative Handlungen an andere Menschen weitergegeben, womit der Bezug zu der Annahme über den Menschen als kulturgebunden und kulturschaffend hergestellt ist. Gleiches lässt sich für die Annahme über den Menschen als gesellschaftsbezogenes Wesen feststellen. Das Konstrukt von alltäglicher Lebenssituation ist ein gesellschaftsbezogenes Konstrukt, da die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation als gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen dem Menschen gegenübertreten. Die Ergebnisse zur zweiten Forschungsfrage, die sich auf die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens bezieht, verweisen allerdings nicht explizit auf die Gesellschaftsbezogenheit des Menschen. An dieser Stelle zeigt sich ein Entwicklungspotenzial hinsichtlich der Weiterentwicklung des Analyseverfahrens, nämlich die Gesellschaftsbezogenheit zu berücksichtigen, worauf im Abschnitt 8.2 (Implikationen für zukünftige Forschungsfelder) zurückgekommen wird.

Es wurde festgestellt, dass das Konstrukt alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich in Kooperation und Kommunikation manifestieren, zu betrachten ist. Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, als Konstruktionsfaktor von alltäglicher Lebenssituation kooperative beziehungsweise nicht-kooperative Beziehungen zu fassen, lässt sich ein Bezug zu der anthropologischen Grundannahme, dass menschliches Handeln stets Handeln unter Menschen darstellt und auf menschliches Handeln bezogen ist, herstellen. Festgestellt wurde in der vorliegenden Arbeit darüber hinaus, Kommunikation als Konstruktionsfaktor von alltäglicher Lebenssituation zu betrachten, da von kommunikativen Handlungen innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgegangen wird. Die Ergebnisse zur zweiten Forschungsfrage unterstreichen den Beitrag der anthropologischen Grundannahmen, da zwischenmenschliche Beziehungen als zu rekonstruierende Bedingung in das Analyseverfahren integriert wurden. An dieser Stelle zeigt sich zugleich ein ‚Blindfleck‘ innerhalb der anthropologischen Grundannahmen. Zwar wird an mehreren Stellen in den Ausführungen zu den anthropologischen Grundannahmen (von Knebel 2000) deutlich, inwiefern zwischenmenschliche Kommunikation implizit mitgedacht wird, beispielsweise bei der Annahme des Menschen als ein auf Mitmenschen bezogenes Wesen, jedoch wird nicht explizit auf zwischenmenschliche Kommunikation Bezug genommen. Welche Implikationen diese Feststellung mit sich bringt, wird in Kapitel 8 aufgegriffen.

Erziehungswissenschaftliche Grundannahmen – Bestimmung des Pädagogischen

Mit den Grundannahmen zur Bestimmung des Pädagogischen nach Benner (1995; 2001) wird auf allgemein-erziehungswissenschaftliche Bezugspunkte verwiesen. Diese Bezugspunkte leisten einen wesentlichen Beitrag sowohl für die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation als auch für die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen, da so auf den pädagogischen Standpunkt verwiesen wird, der in der vorliegenden Arbeit eingenommen wird. Die dargestellten Grundannahmen beantworten die Frage danach, welche Aspekte den pädagogischen Standpunkt kennzeichnen. Die Ausführungen zur Bestimmung des Pädagogischen sind daher unverzichtbar bei der Entwicklung eines Analyseverfahrens, das in den Rahmen einer pädagogischen Sprachdiagnostik eingebettet ist. Wie im Abschnitt 3.3.1 dargestellt, handelt es sich um ein Verfahren, das förderdiagnostischen Prinzipien verpflichtet ist. Damit ist auf die theoretische Rahmung verwiesen, in die die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens eingebettet ist. Die theoretische Rahmung des Analyseverfahrens ist gekennzeichnet durch eben diese erziehungswissenschaftlichen Grundannahmen, insbesondere durch die Bestimmung des Pädagogischen nach Benner (2001; 2005), die in der vorliegenden Arbeit als handlungsleitend betrachtet werden. Eine Grenze weisen die allgemein-erziehungswissenschaftlichen Grundannahmen insofern auf, als dass sie keinen konkreten Bezug zu dem Begriff der Kooperation herstellen, obwohl doch zwischenmenschliche Beziehungen nicht unberücksichtigt bleiben bei der Annahme eines Menschen als ein erziehungsbedürftiges und erziehungsfähiges Wesen. Aus diesem Grund werden die allgemein-erziehungswissenschaftlichen Grundannahmen ergänzt mit Grundannahmen der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik, die sich als allgemein-erziehungswissenschaftliches Konzept versteht.

Erziehungswissenschaftliche Grundannahmen – Konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik

Menschliches Handeln steht im Mittelpunkt des Menschen- und Weltbildes, das sich auf Basis dieser Grundannahmen entwickeln lässt. Die Konstruktionsfaktoren des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation und das entwickelte Analyseverfahren beziehen sich auf dieses Menschenbild. Daher lässt sich mit der Annahme, dass alltägliche Lebenssituation als Konstrukt aufgefasst wird, das im Wesentlichen durch menschliches Handeln konstruiert wird, auf die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik rekurrieren. Das zeigt den Beitrag auf, den die Grundannahmen der Kooperativen Pädagogik für die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation leisten.

Auch die Ergebnisse hinsichtlich der Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens verdeutlichen, welchen Beitrag die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik hierzu leistet, da davon ausgegangen wird, dass die Bedingungen, die mittels des Analyseverfahrens rekonstruiert werden, vom Subjekt konstruiert werden. Dies ist in doppelter Hinsicht bedeutsam, denn zum einen werden die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation vom Subjekt konstruiert, beispielsweise vom Schulkind, das an der pädagogischen Sprachdiagnostik beteiligt ist und Auskunft über seine Handlungen und Handlungsgründe gibt. Zum anderen werden bei der Auswertung der Informationen zu Handlungen und Handlungsgründen des beteiligten Schulkindes die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von dem Subjekt rekonstruiert, welches als diagnostizierende Person an der Diagnostik beteiligt ist. Daher handelt es sich um eine doppelte Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation. Im ersten Fall konstruiert das Schulkind als Subjekt seine alltägliche Lebenssituation, im zweiten Fall konstruiert das Subjekt als diagnostizierende Person die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Schulkindes.

Sowohl die Ergebnisse zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation als auch jene bezüglich der Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens verdeutlichen insofern die Bedeutung der Grundannahmen zur Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik, als dass sie sich auf das Hauptanliegen dieses allgemein-erziehungswissenschaftlichen Ansatzes beziehen, nämlich den Menschen als erkennendes und handelndes Wesen anzuerkennen. Unberücksichtigt bleibt im Denkrahmen der Kooperativen Pädagogik allerdings die Gesellschaftlichkeit des Menschen, weshalb die Annahmen der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik in der vorliegenden Arbeit mit den subjektwissenschaftlichen Grundannahmen ergänzt werden.

Erkenntnistheoretische Grundlagen

Die Ausführungen zur Annahme einer subjektiven Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation steht in engem Zusammenhang mit den erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit verdeutlichen den Beitrag, den die erkenntnistheoretischen Grundannahmen sowohl für die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation als auch für die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens leisten. Bei der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation wird auf eben dieses erkenntnistheoretische Verständnis rekurriert, da vom Subjekt erkannte Inhalte der Wirklichkeit strukturiert werden und die Grundlage für neue beziehungsweise weitere Erkenntnisse bilden. Konkret bezogen auf gesellschaftliche Erkenntnis bedeutet dies, dass vom Subjekt die gesellschaftlichen Zusammenhänge erkannt und geordnet werden, was mit der im Konzept von alltäglicher Lebenssituation beschriebenen Gesellschaftsbezogenheit gemeint ist. Der Beitrag zeigt sich außerdem in den Annahmen zur Haltung der diagnostizierenden Person, die ein auf den erkenntnistheoretischen Annahmen basierendes Menschen- und Weltbild vertritt.

Abschließend kann festgehalten werden, dass alle theoretischen Grundannahmen für sich genommen einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit leisten. Doch nur in ihrer sinnvollen Ergänzung bilden die theoretischen Grundannahmen die handlungsleitenden Annahmen der vorliegenden Arbeit sowohl für die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation als auch für die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen. So zusammengeführt bilden die handlungsleitenden Annahmen das theoretische Fundament der in der vorliegenden Arbeit gewonnenen Erkenntnisse zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie zur Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen. Um auf Grundlage dieses theoretischen Fundaments die Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit beantworten zu können, wurde ein methodischer Ansatz gewählt, der theoretische und empirische Arbeitsweisen kombiniert. In der nachfolgenden methodenorientierten Diskussion und Reflexion wird der Blick auf die methodische Vorgehensweise zur Beantwortung der Forschungsfragen gerichtet.

7.4 Methodenorientierte Diskussion und Reflexion

Im vorliegenden Abschnitt wird die methodische Vorgehensweise zur Beantwortung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit diskutiert und hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen kritisch reflektiert. Für die methodische Vorgehensweise zur Beantwortung der zwei Forschungsfragen wurden zwei Ansätze gewählt: Es wurde erstens ein theoretischer Ansatz gewählt, bei dem auf Basis ausgewählter Konzepte und Annahmen der theoretischen Bezugsysteme der vorliegenden Arbeit der Frage nachgegangen wurde, welche Faktoren zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beitragen und wie alltägliche Lebenssituation konzeptualisiert wird. Zweitens wurde ein empirischer Ansatz verfolgt, um die zweite Forschungsfrage nach der Möglichkeit der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu beantworten. Das heißt, es wurden für die Erprobung und Evaluation des entwickelten Analyseverfahrens qualitative und quantitative Methoden zur Datenerhebung und Datenauswertung aller drei Teilevaluationen gewählt.

Der theoretische Ansatz zur Beantwortung der Frage nach den Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation wurde gewählt, da er die Möglichkeit bietet, die ausgewählten theoretischen Bezugssysteme (zur Auswahl siehe 1.3) systematisch zu untersuchen. So konnte sich hinsichtlich der Frage nach der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation mit bereits vorhandenen wissenschaftlichen Ansätzen und Konzepten der theoretischen Bezugssysteme auseinandergesetzt werden. Daraus konnten schließlich die Erkenntnisse dazu gewonnen werden, wie aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit alltägliche Lebenssituation konzeptualisiert wird.

Kritisch zu betrachten ist die gewählte Vorgehensweise der literaturbasierten Auseinandersetzung dahingehend, dass kein Praxisbezug zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage vorliegt. Das bedeutet, dass die Frage nach der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation zusätzlich empirisch fundiert werden könnte.

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wurde ein empirischer Ansatz gewählt, der sowohl qualitative als auch quantitative Forschungsmethoden kombiniert. Die gewählte Vorgehensweise, die Erprobung und Evaluation des eigenständig entwickelten Analyseverfahrens in drei Schritten vorzunehmen, hat den Vorteil, dass die gewonnenen Erkenntnisse jeder der Teilevaluationen zur Modifizierung des Analyseverfahrens genutzt werden konnten und so die Grundlage für weitere Erkenntnismöglichkeiten der nachfolgenden Evaluation darstellen. Nachfolgend wird die gewählte Vorgehensweise übergreifend über alle drei Teilevaluationen reflektiert. Für eine detaillierte Reflexion der gewählten methodischen Vorgehensweise in den drei Teilevaluationen wird auf den Abschnitt 6.3.2 verwiesen.

Positiv hervorzuheben ist die Planung und Umsetzung der drei Teilevaluationen im Rahmen universitärer Lehrveranstaltungen im Lehramt für Sonderpädagogik. So konnten Studierende für die Durchführung der Erprobung des Analyseverfahrens sowie für die anschließende Befragung zur Erprobungssituation gewonnen werden, die zum einen den Zugang zur Schulpraxis haben (beispielsweise durch Schulpraktika), in der das Verfahren erprobt werden konnte. Zum anderen konnten sich die Studierenden in den universitären Lehrveranstaltungen im Vorfeld der Erprobung eingehend mit den theoretischen Grundlagen zur Entwicklung des Analyseverfahrens sowie zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation auseinandersetzen.

Kritisch zu betrachten ist die gewählte Vorgehensweise dahingehend, dass drei einzelne Untersuchungen mit unterschiedlichen Samples geplant wurden, die jeweils über einen kurzen Zeitraum von wenigen Wochen durchgeführt wurden. So war es nicht möglich, den Entwicklungsprozess der Studierenden mit in die Untersuchung aufzunehmen und dahingehend zu betrachten, inwiefern sich mehrfach wiederholende und aufeinander aufbauende Erprobungen des Analyseverfahrens positiv auf die Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen auswirken. Beispielsweise konnte nicht untersucht werden, ob sich eine stärkende Beziehung zwischen erwachsener Person und dem Kind, welches an der Diagnostik beteiligt ist, so auf die Gesprächsführung auswirkt, dass möglichst viele auszuwertende Informationen erfasst werden können, die im Anschluss an die handlungstheoretische Auswertung und Rekonstruktion von Bedingungen der pädagogischen Sprachförderung zugänglich gemacht werden können.

Des Weiteren liegt die Grenze der gewählten Vorgehensweise, die Erprobung und Evaluation in den so konzipierten drei Teilevaluationen durchzuführen, darin, dass drei unterschiedliche Samples gewählt wurden. Diesbezüglich erscheint es schwierig, aussagekräftige Ergebnisse hinsichtlich der Praktikabilität des Auswertungsleitfadens zu erhalten, wenn unterschiedliche Samples an der Datenerhebung und Datenauswertung beteiligt sind. Das bedeutet, dass es im Hinblick auf die Forschungsfrage nach der Praktikabilität des Auswertungsleitfadens hilfreich gewesen wäre, wenn es ein Sample gegeben hätte, das sowohl die Erfassung als auch die Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern durchgeführt hätte, damit die befragten Personen auf dieser Grundlage begründete Aussagen zur Praktikabilität hätten treffen können. In Bezug auf die verwendeten Forschungsmethoden zur Befragung der Studierenden, die das Analyseverfahren erprobt haben, ist kritisch anzumerken, dass Forschung vom Subjektstandpunkt aus subjektwissenschaftlicher Sicht, wie in der vorliegenden Arbeit angestrebt, durch Verwendung qualitativer Methoden allein nicht gewährleistet werden kann. Zwar ermöglichen es qualitative Forschungsmethoden, wie beispielsweise qualitative Interviewformen, subjektive Erfahrungen der Befragten zu erfassen (Hopf 2013, 350), dennoch erfordert Forschung vom Subjektstandpunkt eine subjektwissenschaftliche Methodologie, die in den vorliegenden Teilevaluationen nicht angewendet wurde. Die Befragung der Studierenden hätte im Begründungsdiskurs in Form der Entwicklungsfigur nach Markard (2000; 2017) durchgeführt werden können, damit eine Weiterentwicklung des Analyseverfahrens vom Subjektstandpunkt aus vorgenommen hätte werden können. Der Subjektstandpunkt gewährleistet es, dass die Forschenden den Standpunkt innerhalb derjenigen Prozesse einnehmen, in denen der Erkenntnisgegenstand, im vorliegenden Fall die Modifizierbarkeit des erprobten Analyseverfahrens, liegt.

Darüber hinaus liegt eine Grenze des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen darin, dass es noch keine Handanweisung gibt, die Möglichkeiten aufweist, wie die mittels Analyseverfahren gewonnenen Erkenntnisse zu Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation für die Planung und Umsetzung pädagogischer Sprachförderung nutzbar gemacht werden können. Das bedeutet, dass es im Hinblick auf die Gestaltung pädagogischer Sprachförderprozesse hilfreich wäre, wenn es beispielsweise Vorschläge dazu gäbe, wie bei Verwendung des Konzepts der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) die Erkenntnisse zur alltäglichen Lebenssituation eines Kindes dazu beitragen können, Entscheidungen bezüglich der Planung individueller Sprachförderung zu treffen.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die gewählte Vorgehensweise, literaturbasierte und empirische Ansätze zu kombinieren, dazu beigetragen hat, die zwei Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit zu beantworten. Die literaturbasierte, systematische Vorgehensweise, Konzepte und Ansätze der ausgewählten theoretischen Bezugssysteme unter der Leitfrage, wie alltägliche Lebenssituation konstruiert wird, zu untersuchen, konnte dazu beitragen, eine handlungstheoretisch begründete Bestimmung des Begriffs alltägliche Lebenssituation zu konstituieren. Aufgrund der kombinierten empirischen Ansätze qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden für die Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen sowie der Erprobung in der Schulpraxis ist es gelungen, solche Erkenntnisse hinsichtlich der Modifizierung des Analyseverfahrens zu erhalten, die mit rein qualitativen oder rein quantitativen Forschungsmethoden nicht erkannt worden wären. So hat die gewählte Vorgehensweise dazu beigetragen, das eigenständig entwickelte Analyseverfahren mehrfach zu erproben und mehrstufig zu evaluieren sowie auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse das Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen kontinuierlich weiterzuentwickeln.

7.5 Praxisbezogene Reflexion und Diskussion des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen

In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit reflektiert und diskutiert. Im Folgenden werden drei Aspekte betrachtet: rstens die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚alltägliche Lebenssituation‘, auf die die praktische Verwendung des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation einwirkt. Zweitens das Aufgabenfeld der pädagogischen Sprachförderung, in dem das Konzept von alltäglicher Lebenssituation Anwendung findet, da im Rahmen einer didaktischen Konzipierung pädagogischer Sprachförderung mit dem Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004) der Begriff ‚alltägliche Lebenssituation‘ verwendet wird. Drittens das Aufgabenfeld der pädagogischen Sprachdiagnostik, in dem das Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation Anwendung findet.

Theoretische Auseinandersetzung

Die herausgearbeitete und festgestellte uneinheitliche Verwendung der Begriffe ‚Lebenswelt‘ und ‚Lebensbedingungen‘ sowie die Ausklammerung der subjektwissenschaftlichen Perspektive in den Ausführungen von Beck und Greving (2015) (siehe vertiefend Kapitel 2) verdeutlichen zwei vordringliche Aspekte: Erstens die handlungstheoretisch fundierte Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation sowie zweitens die Etablierung eines subjektwissenschaftlichen Standpunktes innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚alltägliche Lebenssituation‘. Erforderlich wird daher ein wissenschaftlicher Subjektstandpunkt und damit eine gesellschaftliche Wissenschaft bei der Bestimmung des Begriffs ‚alltägliche Lebenssituation‘. Die subjektwissenschaftliche Perspektive ermöglicht es, die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge zu betrachten, in die der Erkenntnisgegenstand ‚alltägliche Lebenssituation‘ eingebunden ist.

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation weisen auf eine theoretische Weiterentwicklung des Ansatzes der Kooperativen Pädagogik nach Schönberger, Jetter & Praschak (1987) hin. Die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik stellt eines der Bezugssysteme der vorliegenden Arbeit dar (siehe Abschnitt 1.3), und der Begriff ‚alltägliche Lebenssituation‘ findet sowohl in diesem Ansatz als auch in theoretischen Auseinandersetzungen der Sprachhandlungstheorie Anwendung. Daher wird davon ausgegangen, dass, wie im Abschnitt 2.1.5 konstatiert, der Begriff von alltäglicher Lebenssituation im Denkrahmen der Kooperativen Pädagogik und der Sprachhandlungstheorie im Verständnis der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Jedoch wird in den Ausführungen der Kooperativen Pädagogik oder der Sprachhandlungstheorie nicht explizit beschrieben, inwiefern der Begriff von alltäglicher Lebenssituation zu fassen ist. Diese Forschungslücke kann mit der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation als Ergebnis der vorliegenden Arbeit geschlossen werden. In dieser Hinsicht können die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation zu einer Weiterentwicklung der Kooperativen Pädagogik und der Sprachhandlungstheorie beitragen.

Für eine konzeptionelle Weiterentwicklung des Konzepts der Kooperativen Pädagogik als theoretisches Bezugssystem und der Kooperativen Sprachdidaktik erscheint die subjektwissenschaftliche Perspektive, insbesondere der Subjektstandpunkt der Kritischen Psychologie, zentral. Die Theoriesprache der pädagogischen Sprachförderung und pädagogischen Sprachdiagnostik sollte es als Diskursebene übernehmen, vom Subjektstandpunkt aus Beschreibungen vorzunehmen. Das bedeutet, dass die Subjektperspektive dabei nicht als Gegenstand pädagogischer Sprachdiagnostik betrachtet wird, sondern zum diagnostischen Standpunkt wird. Daraus folgen würde, dass es innerhalb der pädagogischen Sprachdiagnostik möglich wird, von subjektiven Handlungsproblematiken der Schulkinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen auszugehen, um diese in die didaktische Planung pädagogischer Sprachförderung einzubeziehen. Die Orientierung an subjektiven Handlungsproblematiken wird durch das Erfassen subjektiver Handlungsgründe ermöglicht und trägt so zur Entwicklung sprachlicher Handlungsfähigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe im Sinne des allgemeinen Bildungsziels bei.

Offen geblieben ist an dieser Stelle die Frage danach, inwiefern die Lerntheorie Holzkamps (1993), die auf den grundlegenden Annahmen der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1985) basiert, in die theoretische Erweiterung des Ansatzes der Kooperativen Pädagogik oder der Sprachhandlungstheorie einbezogen werden kann. Ein möglicher sinnvoller Einbezug der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie als wissenschaftliches Bezugssystem könnte dann stattfinden, wenn dahingehend gefragt wird, inwiefern subjektives Lernen im Sinne des subjektorientierten Lernverständnisses im Zusammenhang mit der Entwicklung sprachlicher Handlungsfähigkeit zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beiträgt.

Aufgabenfeld pädagogische Sprachförderung

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen auf, dass das Konzept von alltäglicher Lebenssituation einen Beitrag zur inhaltlichen Ausfüllung des Aspekts ‚alltägliche Lebenssituation‘ im Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004) liefert. Daher kann das in der vorliegenden Arbeit entfaltete Konzept von alltäglicher Lebenssituation die Konzeptualisierung einer Unterrichtsdidaktik beziehungsweise Therapiedidaktik im Kontext sprachbehindertenpädagogischer Praxis weiterentwickeln, denn es findet eine Bereicherung für das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004) statt, da die genannten Aspekte durch Rückgriff auf das Konzept von alltäglicher Lebenssituation näher bestimmt werden und so dem Anspruch und der Aufgabe Kooperativer Sprachdidaktik (siehe Abschnitt 3.2) gerecht werden können.

Bereicherung erfährt das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik unter Einbezug des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Konzepts von alltäglicher Lebenssituation weiterhin durch das Einnehmen des Subjektstandpunkts. Daraus folgt, dass das Subjekt als aktiv an der Entwicklung seiner Handlungsfähigkeit erkannt und anerkannt wird. Dies entspricht dem allgemeinen Bildungsziel der Selbst- und Mitbestimmung aus pädagogischer Perspektive mit Bezug auf allgemein-erziehungswissenschaftliche Grundlagen, denn das Subjekt entwickelt sowohl im subjektiven Möglichkeitsraum als auch in gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang subjektive Handlungsstrukturen.

Der subjektwissenschaftliche Ansatz dient auf der Reflexionsebene außerdem dazu, die Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Sprachförderprozesse zu erkennen. Als Reflexionsgrundlage können Entwicklungsmöglichkeiten oder -hindernisse erkannt werden, wenn in didaktisch-konzeptioneller Hinsicht die Frage gestellt wird, inwiefern die Einnahme des Subjektstandpunkts der Entwicklung pädagogischer Sprachförderkonzepte dienlich sein kann. Gründe für diese These sind, wie im Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004) vorgesehen, das Einnehmen des Subjektstandpunkts, das dazu führt, sich vom Vermittlungsstandpunkt und der Verfolgung normativer Zielvorgaben abzukehren und den Fokus auf die Entwicklung der sprachlichen Handlungsfähigkeit zu legen.

Aufgabenfeld pädagogische Sprachdiagnostik

Die Ergebnisse zur Konzipierung von alltäglicher Lebenssituation lassen an die theoretischen Ausführungen zur pädagogischen Sprachdiagnostik anknüpfen und weisen darauf hin, inwiefern auf Basis der Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit in theoretischer Hinsicht die Analyseebenen der ‚biografischen Analyse‘ und der ‚Sprachhandlungsanalyse‘ nicht konzeptionell, aber hinsichtlich der verwendeten Begriffe neu aufgestellt werden sollten, um die aus den Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit zur Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation resultierenden Annahmen zur Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation innerhalb der pädagogischen Sprachdiagnostik zu fundieren.

Die Analyseebenen der pädagogischen Sprachdiagnostik (von Knebel 2016, 83) wurden auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse überarbeitet. Als Ergebnis der Überarbeitung liegt eine Übersicht über die ineinandergreifenden Bereiche der Analyse der alltäglichen Lebenssituation vor (siehe Abbildung 7.1).

Abbildung 7.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Analyse der alltäglichen Lebenssituation.

Mit der Analyse der alltäglichen Lebenssituation werden biografische, gegenwärtige und lebensperspektivische Bedingungen erfasst, soweit ein Bezug zur sprachlichen Problemlage oder zur Sprachförderung herstellbar ist. Zum Beispiel wird nach vergangenen, aktuellen und zukünftigen Handlungen und Handlungsgründen sowie Erfahrungen gefragt, denn die wiederkehrende Gestaltung des Alltags steht hier im Mittelpunkt der Analyse. Dadurch dass außerdem die individuellen Handlungserfahrungen mit Sprache und ihre biografischen, aktuellen und lebensperspektivischen Bedingungen erfasst werden, wird eine Sprachhandlungsanalyse innerhalb der Analyse der alltäglichen Lebenssituation durchgeführt. Eine „Mikroanalyse der Sprache“ (von Knebel 2016, 83) sowie „nichtsprachliche Mikroanalysen“ (von Knebel 2016, 83) sind ebenfalls Teil der Analyse der alltäglichen Lebenssituation.

In methodischer Hinsicht stellt das Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen eine konkrete Möglichkeit für diagnostizierende Personen dar, pädagogische Sprachdiagnostik entsprechend der drei Analyseebenen planen und durchführen zu können, um pädagogische Sprachförderprozesse diagnosegeleitet gestalten zu können. Grund für diese These ist, dass das Analyseverfahren durch den Rückgriff auf die gewählten theoretischen Bezugssysteme und die Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation solide theoretisch fundiert ist. Auf Grundlage der Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation wurde das Analyseverfahren entwickelt, erprobt, mehrstufig evaluiert und auf Basis der Evaluationsergebnisse modifiziert, sodass die Anwendungsbezogenheit des Analyseverfahrens gestärkt werden konnte. Dadurch dass in Anwendung des Analyseverfahrens der diagnostische Standpunkt des Subjekts und damit eine subjektorientierte, erkenntnistheoretische Perspektive eingenommen wird, können die Informationen zur alltäglichen Lebenssituation in einem Verstehensdiskurs statt in einem Bedingtheitsdiskurs erfasst werden. Dies wiederum führt zu der Möglichkeit der Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation, welche relevant für individuell zugeschnittene pädagogische Sprachförderung sind.

Außerdem bieten die subjektorientierte Perspektive und das Einnehmen des Subjektstandpunkts die Möglichkeit, auf einer Reflexionsebene die strukturellen Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Sprachdiagnostik zu analysieren und zu reflektieren. Damit kann erkannt werden, inwieweit es strukturell möglich ist, mit dieser methodischen Vorgehensweise Anschluss an subjektive Handlungsmöglichkeiten in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit herzustellen.

Mit diesem theoretisch fundierten und mehrfach erprobten Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ergibt sich für diagnostizierende Personen die Möglichkeit, strukturiert Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu erfassen und zu analysieren und die Schulkinder dabei als Subjekte zu betrachten, die sowohl an der diagnostischen Situation als auch an der pädagogischen Sprachförderung und der Entwicklung ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit aktiv mitwirken.

Die Ausführungen verdeutlichen, inwiefern die im Abschnitt 2.2 aufgezeigten Forschungslücken geschlossen werden konnten: Zum einen liegt mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit ein theoretisch fundiertes Konzept von alltäglicher Lebenssituation vor. Zum anderen wird mit dem Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen eine theoretisch fundierte und empirisch erprobte strukturierte Vorgehensweise für die pädagogische Sprachdiagnostik angeboten.