Wie in den Ausführungen in Kapitel 4 zur Konzeption von alltäglicher Lebenssituation herausgearbeitet wurde, wird in der vorliegenden Arbeit ‚alltägliche Lebenssituation‘ als Konstrukt betrachtet, das vom Subjekt eigenaktiv konstruiert wird. Zudem wurde das Konzept von alltäglicher Lebenssituation aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen wurde aus theoretischer Perspektive beschrieben, wie unter Bezugnahme der gewählten theoretischen Bezugssysteme der vorliegenden Arbeit das Konzept alltägliche Lebenssituation gefasst wird (siehe Abschnitte 4.2, 4.3 und 4.4). Zum anderen wurden ausgewählte Untersuchungen zu biografischen Analysen (Kracht 2000; Nagel 2012; Welling 1990) hinsichtlich möglicher Vorgehensweisen bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern untersucht (siehe Abschnitt 4.5).

Im vorliegenden Kapitel werden die Ausführungen des vierten Kapitels hinsichtlich ihrer zentralen Aspekte zusammengefasst und in ihren inhaltlichen Aspekten verknüpft (5.1), um auf dieser Basis Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ziehen zu können (5.2).

5.1 Zusammenfassung zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation

Die Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation werden im Folgenden thesenartig dargestellt, um übersichtlich und prägnant die wesentlichen Aspekte der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation zusammenzufassen. Zu jeder These erfolgt für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Inhalten ein Verweis auf den Abschnitt des vierten Kapitels.

Alltägliche Lebenssituation als Konstrukt

Das Konzept der alltäglichen Lebenssituation wird in der vorliegenden Arbeit als Konstrukt aufgefasst. Genauer handelt es sich dabei um eine eigenaktive Konstruktion der Wirklichkeit, wobei die Annahme der genetischen Erkenntnistheorie Piagets (1973; 2015) zugrunde gelegt wird (Praschak 1993; Praschak-Wolf & Praschak 1979).

Bei der aktiven Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entwickeln sich Strukturen, mit denen das Subjekt seine Erfahrungen ordnet, was wiederum zur Weiterentwicklung der Strukturen beziehungsweise zu neuen Strukturen führt. Handlungspläne werden in Zusammenhang mit verwirklichten Handlungsmöglichkeiten zu denjenigen Faktoren, die zur Konstruktion der alltäglichen Lebenssituation beitragen. Der Mensch, der die Wirklichkeit erkennt, und die Bedingungen, die in der Wirklichkeit erkannt werden, stehen als Subjekt und Objekt in einem dialektischen Verhältnis. Die erkannten Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sind Grundlage jeder Handlung und werden daher gleichzeitig erkannt und produziert. Aus entwicklungspsychologischer Sicht führt die subjektive Repräsentation der Wirklichkeit durch das Subjekt zu einer Entwicklung von Realität des Subjekts. Diese Entwicklung ist gleichzusetzen mit der Konstruktion der alltäglichen Lebenssituation durch Erkennen und Verarbeiten von Wirklichkeit in Form konkreten Handelns in der Wirklichkeit, das heißt der alltäglichen Lebenssituation.

Ableitung These 1: Die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation werden vom Menschen eigenaktiv durch sein Handeln konstruiert (siehe Abschnitt 4.2).

Alltägliche Lebenssituation als kulturgebundenes Konstrukt

Bei der Entfaltung des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation wurde die anthropologische Grundannahme des Menschen als kulturgebunden und kulturschaffend zugrunde gelegt. Sprache als kulturelles Produkt zu betrachten, leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung des Konstrukts der alltäglichen Lebenssituation. Die Kultur stellt das Wissen der Gesellschaft bereit, in die jeder Mensch hineingeboren wird. Dieses kulturelle Wissen ist als Bedingung der alltäglichen Lebenssituation aufzufassen.

Ableitung These 2: Alltägliche Lebenssituation ist ein kulturgebundenes Konstrukt. Die kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die beispielsweise in Form von Normen und Werten das menschliche Handeln begründen, sind Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation (siehe Abschnitt 4.3).

Alltägliche Lebenssituation als gesellschaftsbezogenes Konstrukt

Neben der Betrachtung des Menschen als kulturgebunden und kulturschaffend, tritt ein weiterer Aspekt in den Mittelpunkt: die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Aufgrund der Annahme der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der menschlichen Existenz (Holzkamp 1985) ist von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation auszugehen, die vom Menschen zum einen produziert werden und zum anderen von ihm erkannt werden und zu denen er sich im Sinne von Handlungsmöglichkeiten verhält. Unterschieden werden die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation in personale und situationale Bedingungen, die allerdings rein analytisch zu trennen sind und die sich im alltäglichen Handeln des Subjekts vielmehr gegenseitig bedingen beziehungsweise nicht isoliert auftreten.

Jegliche Bedingungen werden zu Prämissen des menschlichen Handelns, wenn sie im Zusammenhang mit der Erweiterung der Verfügung über die alltäglichen Lebensbedingungen stehen. Kern dieses Betrachtungspunktes ist die Annahme des Menschen als Subjekt, das in Bezug auf die für es erkennbaren gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen begründet handelt.

Ableitung These 3: Alltägliche Lebenssituation ist ein gesellschaftsbezogenes Konstrukt. Die Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation wird zwar als individuell in Bezug auf die jeweils zugrunde liegenden spezifischen Ausformungen der Lebensbedingungen betrachtet und kann nur vom Subjektstandpunkt aus beschrieben werden, sie ist dennoch aufgrund der Gesellschaftsbezogenheit des Subjekts keine individuelle, das heißt von den gesamtgesellschaftlichen Zielkonstellationen losgelöste, Angelegenheit (siehe Abschnitt 4.3.2).

Alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen

Jedes Subjekt hat die Möglichkeit, so zu handeln, dass kooperative oder konkurrierende Beziehungen entstehen oder es handelt, ohne dabei Kooperation beziehungsweise Konkurrenz einzugehen. In dem Fall bestimmen die zwischenmenschlichen Beziehungen allein ohne kooperierenden oder konkurrierenden Faktor die Lebensbedingungen. Aus soziologischer Perspektive sind es Formen der Interdependenzgeflechte, beispielsweise Emotionen wie Sympathie und Angst, oder miteinander verflochtene individuelle Handlungen und räumliche sowie wirtschaftliche Verflechtungen, die den Figurationen inbegriffen sind und aufgrund gegenseitiger Abhängigkeit die Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation bestimmen. Da sie Auswirkungen auf die individuellen Handlungen der Menschen haben, tragen sie zur Produktion der Lebensbedingungen bei.

Ableitung These 4: Alltägliche Lebenssituation wird durch zwischenmenschliche Beziehungen konstruiert. Jede Form zwischenmenschlicher Beziehung ist als Konstruktionsfaktor von alltäglicher Lebenssituation zu betrachten, da sie immer im Zusammenhang mit menschlichem Handeln und dem Erkennen von Wirklichkeit einhergeht (siehe Abschnitt 4.4).

Alltägliche Lebenssituation als Resultat von Kooperation oder Konkurrenz

In kooperativen Handlungen nehmen die gemeinsamen Handlungen der beteiligten Menschen Einfluss darauf, wie die einzelnen Kooperationsbeteiligten ihre Wirklichkeit erfahren, im Sinne Jetters (2013) nämlich als wirklich erlebte Handlungen einschließlich der zugrunde liegenden kulturellen Werte, der gemeinsam verfolgten Handlungsziele sowie der koordinierten Handlungspläne. Schönberger (1985) drückt diesen Zusammenhang mit der Feststellung aus, dass es sich bei geglückten oder gescheiterten Kooperationen um die Biografie desjenigen handelt, der an der Kooperation teilhat. Weiterhin führt Schönberger (1987) in diesem Kontext aus: Kooperation führt zu einer von Menschen selbst gestalteten Wirklichkeit, in der sie sich aufgrund der kooperativen Handlungen als verantwortlich Handelnde wahrnehmen.

Aufgrund der Möglichkeitsbeziehung können zwischenmenschliche Beziehungen in Form von Kooperationen auftreten oder, wie in Bezug auf Figurationen bei Elias (2006) beschrieben, in Form von Konkurrenz.

Ableitung These 5: Alltägliche Lebenssituation wird durch die spezielle Handlungsform der Kooperation beziehungsweise Konkurrenz konstruiert (siehe Abschnitt 4.4.1).

Alltägliche Lebenssituation als Resultat von Kommunikation

Sprache als kulturelles Produkt wirkt insofern als Konstruktionsfaktor bei der Konzeptualisierung von Lebenswelt, da durch sprachliches Handeln das kulturelle Wissen der Gesellschaft weitergegeben wird, also ein kommunikativer Austausch zwischen Menschen stattfindet, der zum Erkennen und zur Repräsentation von Wirklichkeit beiträgt. Kommunikation ist als spezielle Form von Kooperation zu betrachten. Dies wurde mit dem Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation (Tomasello 2011) gezeigt. Zentral für kooperative Kommunikation ist, dass kulturbezogenes Wissen ausgetauscht wird und sich der zugrunde liegende begriffliche Hintergrund der an der Kommunikation Beteiligten weiterentwickelt, wodurch das menschliche Leben geprägt wird.

Ableitung These 6: Kommunikation ist zum einen als ordnende Struktur und zum anderen als besondere menschliche Kooperationsform anzusehen, die zur Konstruktion der alltäglichen Lebenssituation beiträgt (siehe Abschnitt 4.4.2).

Diese in thesenform zusammengefassten Überlegungen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation bilden den theoretischen Hintergrund für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (siehe Kapitel 6). Aus diesem Grund werden im nachfolgenden Abschnitt die aus den theoretischen Überlegungen resultierenden Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Analyseverfahrens aufgezeigt.

5.2 Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen

Die im vorliegenden Abschnitt dargestellten Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen beziehen sich erstens auf inhaltlicher Ebene auf alltägliche Lebenssituation als diagnostischen Gegenstandsbereich (5.2.1) und zweitens auf methodischer Ebene auf die Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation (5.2.2).

5.2.1 Alltägliche Lebenssituation als diagnostischer Gegenstandsbereich

Aus den Erkenntnissen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation (siehe ausführlich Abschnitte 4.1, 4.2, 4.3 und 4.4 sowie zusammengefasst in 5.1) kondensieren sich also auf inhaltlicher Ebene folgende fünf Annahmen, die handlungsleitend für die Entwicklung des Analyseverfahrens sind:

  1. 1.

    Die Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation ist eigenaktiv, kulturbezogen, gesellschaftsbezogen und resultiert aus zwischenmenschlichen Beziehungen, sodass Kooperation und Kommunikation als bestimmende Merkmale in Erscheinung treten.

  2. 2.

    Die alltägliche Lebenssituation ist die Situation, in der das Subjekt aktiv sprachlich sowie nichtsprachlich handelt. Bedingungen dieser alltäglichen Lebenssituation sind also die, die in dieser konkreten Situation des Handelns vom Subjekt aufgrund seiner Handlungen produziert und erkannt und damit verändert werden.

  3. 3.

    Bedingungen von alltäglicher Lebenssituation können sowohl Vergangenheitsbezug, einen aktuellen Bezug oder einen Zukunftsbezug haben. Zu unterscheiden sind daher biografische, aktuelle und lebensperspektivische Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation.

  4. 4.

    Alltägliche Lebenssituation ist das Resultat geordneter und ordnender Tätigkeit. Bestimmungsmerkmale der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation sind daher räumliche, zeitliche und kausale Bedeutungsentwicklung sowie Kooperation und Kommunikation.

  5. 5.

    Das Subjekt erfährt die Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation im Zugriff bereits entwickelter ordnender Strukturen und steht im dialektischen Verhältnis zu diesen Bedingungen.

Diese fünf Annahmen wirken insofern handlungsleitend bei der Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation, da sie in inhaltlicher Hinsicht alltägliche Lebenssituation als den Gegenstand der Analyse beschreiben. Diesem Gegenstand angemessene Methoden für die Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen werden auf Basis der im Folgenden dargestellten methodischen Schlussfolgerungen ausgewählt.

5.2.2 Schlussfolgerungen für die Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen

Hinsichtlich der methodischen Umsetzung der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ergeben sich auf Basis der Ausführungen zur methodischen Vorgehensweise in ausgewählten biografischen Analysen (siehe Abschnitt 4.5) folgende fünf handlungsleitende Annahmen:

  1. 1.

    Die Entwicklung des Analyseverfahrens erfolgt von einem handlungstheoretischen Standpunkt. Daher gilt es, Methoden zur Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen auszuwählen, die es den an der Diagnostik beteiligten Personen ermöglichen, gemeinsame Ziele zu verfolgen, die auf gemeinsamen Plänen basieren und sich an gemeinsamen Werten orientieren.

  2. 2.

    Es werden solche Methoden zur Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ausgewählt, die es ermöglichen, die Handlungen und Handlungsbegründungen der beteiligten Kinder zu erfassen. Solche Methoden sind beispielsweise Spielsituationen, Experimente oder gemeinsam erlebte Situationen aus dem Alltag des Kindes. Bei der Auswahl der Methoden gilt es zu beachten, dass sie Sprachanlässe bieten, da Gespräche über alltägliche Erfahrungen es ermöglichen, Erkenntnisse über die Handlungen und Handlungsbegründungen des Kindes zu erlangen.

  3. 3.

    Es gilt, Methoden zur Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen so auszuwählen, dass eine Teilhabe des Kindes sowie der Bezugspersonen des Kindes am diagnostischen Prozess ermöglicht wird. Daher bieten sich Methoden wie teilnehmende Beobachtung sowie qualitative Interviewformen an.

  4. 4.

    Die Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation des Kindes ist aufgrund der förderdiagnostischen Ausrichtung prozesshaft über einen möglichst langen Zeitraum zu gestalten, um eine entwicklungsorientierte Analyse zu gewährleisten.

  5. 5.

    Eine handlungstheoretische Auswertung der erfassten Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ermöglicht die Rekonstruktion der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes.

Im vorliegenden Kapitel wurden die bisherigen Ausführungen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation sowie zur methodischen Umsetzung bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zusammengefasst und in handlungsleitende Schlussfolgerungen für die Entwicklung eines Analyseverfahrens überführt. Im folgenden Kapitel wird die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt der Ausführungen gestellt.