Im vorliegenden Kapitel werden im Hinblick auf die Beantwortung der ersten Forschungsfrage nach den Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation die theoretischen Bezugssysteme der vorliegenden Arbeit untersucht. Ziel der Untersuchung ist es, herauszuarbeiten, wie alltägliche Lebenssituation vom Subjekt konstruiert wird. Um Erkenntnisse zu gewinnen, die der Beantwortung der ersten Forschungsfrage zugrunde liegen, wird das vorliegende Kapitel wie folgt gegliedert: Zunächst erfolgt eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt alltägliche Lebenssituation. Es wird einführend auf die grundsätzliche Unterscheidung von alltäglicher Lebenssituation in biografische, lebensperspektivische und aktuelle Bedingungen (4.1) eingegangen. Anschließend wird die subjektive, eigenaktive Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation (4.2) genauer betrachtet. Darauf aufbauend wird erläutert, inwiefern alltägliche Lebenssituation das Resultat von kulturgebundenem und gesellschaftsbezogenem Handeln (4.3) ist. Darauf wiederum aufbauend wird das Konstrukt alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen (4.4) expliziert. Im Anschluss an die theoretische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation wird auf empirische Untersuchungen von Welling (1990), Kracht (2000) und Nagel (2012) eingegangen, denn diese ausgewählten biografischen Analysen zeichnen sich dadurch aus, dass sie handlungstheoretisch orientiert den Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation untersuchen. So schließt das vorliegende Kapitel mit einer detaillierten Darstellung forschungsmethodischer Zugänge zur Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation in ausgewählten biografischen Analysen (4.5).

4.1 Einführung zum Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation

Für ein Subjekt sind die Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation zunächst Erfahrungen, die sich ihm erst unter Zugriff ordnender Strukturen erschließen. Ausgehend von der Darstellung Holzkamps (1985) wird das Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation in der vorliegenden Arbeit in folgende Aspekte gegliedert:

  • biografische Bedingungen

  • lebensperspektivische Bedingungen

  • aktuelle Bedingungen

Diese Unterscheidung wird zunächst zur systematischen Verdeutlichung des handlungsleitenden Verständnisses von alltäglicher Lebenssituation erläutert, bevor im weiteren Verlauf der Ausführungen auf die vorliegende Auffassung von alltäglicher Lebenssituation in ihrer Komplexität, in der das Subjekt sein Leben führt, als zentraler Begriff dieser Arbeit eingegangen wird.

Biografische Bedingungen

Holzkamp (1985, 337) unterscheidet zwischen Phänomenal- und Realbiografie. Beiden gemeinsam ist ihre Rückwärtsgerichtetheit. Den Unterschied trifft Holzkamp mit Bezug auf die subjektive Befindlichkeit: die phänomenale Biografie rekurriert im Gegensatz zur Realbiografie, der tatsächlichen, wirklich vorliegenden Biografie, auf die subjektiv erfahrene Vergangenheit im Sinne früherer Möglichkeiten, die dem Subjekt gegeben waren und zu denen es sich verhalten hat, das heißt, die es wahrgenommen, zurückgewiesen oder nicht realisiert hat. Diese Phänomenalbiografie stellt also den vom Subjekt erfahrenen Aspekt beziehungsweise Ausschnitt seiner Realbiografie dar. Das heißt, die subjektiv erfahrenen früheren Möglichkeiten sind als phänomenale Seite der realen, also tatsächlichen Möglichkeiten und Beschränkungen anzusehen, da das Subjekt seine Realbiografie nicht umfänglich, sondern aufgrund seiner bisher gewonnenen Erkenntnisse und seiner individuellen Erfahrungen ausschnitthaft, nämlich phänomenal, erfährt. Die Geschichte des Subjekts darf dabei nicht als Aneinanderreihung von Ereignissen gesehen werden, sondern die biografischen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sind dialektisch aus den vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen zu erkennen (Jetter 1985b).

Lebensperspektivische Bedingungen

Mit der Lebensperspektive erhält die individuelle Geschichte einen Zukunftsbezug (Holzkamp 1985). Basierend auf dieser Annahme werden in dieser Arbeit Bedingungen, die in Zusammenhang mit zukünftigen Handlungsmöglichkeiten beziehungsweise Handlungsbeschränkungen des Subjekts stehen, als lebensperspektivische Bedingungen bezeichnet.

Die reale beziehungsweise phänomenale Vergangenheit und entsprechend der reale beziehungsweise phänomenale Zukunftsbezug des Subjekts stehen in einem engen Zusammenhang, da nach Holzkamp (1985, 340) die Erfahrungen des Subjekts in ständigem Übergang zwischen vergangenen und zukünftigen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen zu sehen sind.

Aktuelle Bedingungen

Dazwischen, also im Prozess des Übergangs von Vergangenem zu Zukünftigem, liegen die Erfahrungen des Subjekts, die sich als gegenwärtig beziehungsweise aktuell repräsentieren und für die gleichermaßen die Unterscheidung von realen beziehungsweise phänomenalen Bedingungen zu treffen ist. Holzkamp (1985) weist der subjektiven Lebensperspektive, also den zukünftigen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die zentrale Bestimmung der „je gegenwärtigen Befindlichkeit“ (Holzkamp 1985, 341) zu. Die zukünftigen Möglichkeiten und Beschränkungen des Subjekts stehen also in engem Zusammenhang mit der aktuellen subjektiven Handlungsfähigkeit, das heißt, die Frage, wie sich ein Individuum entwickelt, korreliert mit der Frage, welche Handlungsmöglichkeiten das Individuum zur eigenen Entwicklung ergreift beziehungsweise zurückweist.

Schlussfolgerung

Mit der gegenwärtigen Befindlichkeit sind diejenigen Bedingungen angesprochen, die aktuell vom Subjekt erfahren werden. Diese aktuellen Bedingungen nehmen Bezug auf die gegenwärtigen Handlungen des Subjekts (ergriffene beziehungsweise nicht ergriffene Handlungsmöglichkeiten oder Handlungsbeschränkungen). Anders ausgedrückt: Die aktuellen Bedingungen sind die Bedingungen der aktuellen Situation, in der das Subjekt handelt. Alltägliche Lebenssituation kann so also gleichbedeutend gefasst werden mit der – um im Sprachgebrauch der Kritischen Psychologie zu bleiben – je individuell erfahrenen Situation, in der das Subjekt begründet handelt und sein Leben führt.

Als Schlussfolgerung für die weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff der alltäglichen Lebenssituation ergibt sich, dass die phänomenalen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation, also die Erfahrungen des Subjekts, im Übergang zwischen Vergangenem und Zukünftigen liegen. In dem Moment, in dem die aktuellen Handlungen des Subjekts einen Vergangenheitsbezug, also einen Bezug zur individuellen Geschichte des Subjekts, herstellen lassen, werden sie zu biografischen Bedingungen. Dementsprechend werden die aktuellen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation zu lebensperspektivischen Bedingungen, wenn sie einen Zukunftsbezug herstellen lassen, also auf zukünftige Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen rekurrieren. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht daher die alltägliche Lebenspraxis des Subjekts, also die aktuelle alltägliche Lebenssituation, in der es begründet handelt und in die es verändernd eingreift.

Nachdem hier aufgezeigt wurde, auf welches grundlegende Verständnis die Auseinandersetzung mit Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation zurückgeht, wird im Folgenden die Konstruktion des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation fokussiert. Die Strukturierung der nachfolgenden Ausführungen ergibt sich aus den handlungsleitenden Grundannahmen (Abschnitt 1.2), welche in den folgenden Absätzen zusammenfassend, und im Folgekapitel ausführlich erläutert werden. Die handlungsleitenden Grundannahmen lauten:

  • Alltägliche Lebenssituation wird vom gesellschaftlichen Subjekt eigenaktiv konstruiert (siehe Abschnitt 4.2)

  • Alltägliche Lebenssituation ist gekennzeichnet durch Gebundenheit zu Kultur und Gesellschaft (siehe Abschnitt 4.3)

  • Alltägliche Lebenssituation entwickelt sich in zwischenmenschlichen Beziehungen (siehe Abschnitt 4.4)

Beginnend mit dem dieser Arbeit im Ganzen zugrunde liegenden Aktivitätspostulat (siehe Abschnitt 1.2.2), wird konsequenterweise eine Sicht von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation eingenommen, bei der das Konzept der alltäglichen Lebenssituation als eigenaktive Konstruktion des gesellschaftlichen Subjekts zu betrachten ist (siehe Abschnitt 4.2).

Die anthropologischen Grundannahmen wiederum verweisen auf ein Welt- und Menschenbild, das das Subjekt als kulturgebundenes und gesellschaftsbezogenes Wesen anerkennt (Abschnitt 1.2.2). Aus dieser Tatsache ergibt sich für die Frage nach der Konstruktion des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation, diese ebenso als kulturgebunden und gesellschaftsbezogen zu fassen (Abschnitt 4.3).

Die dritte wesentliche Annahme ist, alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen zu betrachten (siehe Abschnitt 4.4). Hier liegt die anthropologische Annahme des Menschen als ein auf „Mitmenschen bezogenes Wesen“ (von Knebel 2000, 47) (siehe Abschnitt 1.2.2) zugrunde.

4.2 Alltägliche Lebenssituation als Resultat eigenaktiver Konstruktion des Subjekts

In den folgenden Ausführungen wird dargestellt, inwiefern alltägliche Lebenssituation als eigenaktive Konstruktion des Subjekts zu betrachten ist. Das menschliche Handeln steht dabei im Mittelpunkt, da aufgrund der anthropologischen Annahmen von dem Verständnis eines eigenaktiv handelnden Menschen ausgegangen wird (siehe Abschnitt 1.2.2), der sich die Strukturen seiner Wirklichkeit erkennend aneignet, also die Wirklichkeit eigenaktiv konstruiert.

Die Konzeptualisierung der alltäglichen Lebenssituation als die Lebenspraxis, in der das Subjekt begründet handelt, wird in dieser Arbeit aufgrund der zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Annahmen (siehe Abschnitt 1.2.4) als Konstrukt verstanden.

Folgt man der Auffassung, die alltägliche Lebenssituation des Subjekts als seine Lebenspraxis zu sehen, in der seine Handlungen zu verorten sind, stellt sich die Frage nach der Konstitution dieser alltäglichen Lebenssituation. Zur Beantwortung der Frage wird auf die Erkenntnisse der genetischen Erkenntnistheorie nach Piaget (u. a. 1973; 2015) zurückgegriffen, die die aktive Rolle des Subjekts im Konstruktionsprozess betonen (Piaget 2015, Praschak 1993, Jetter 1979).

4.2.1 Genetische Erkenntnistheorie als Grundlage der Bestimmung von alltäglicher Lebenssituation als eigenaktives Konstrukt

Die genetische Erkenntnistheorie nach Piaget (u. a. 1973; 2015) liegt der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik zugrunde, nach der Erkennen und Handeln des Menschen als Einheit zu betrachten sind (Praschak 1993). Indem sich das Subjekt handelnd mit den Objekten seiner Wirklichkeit aktiv auseinandersetzt, erkennt es die Wirklichkeitszusammenhänge. Piaget (2015) legt bei der Erkenntnistätigkeit die Annahme von Entwicklungsstadien beziehungsweise Entwicklungsstufen zugrunde, die hier beschreibend dargestellt werden, um im Abschnitt 4.2.2 bei der Erläuterung der Bedeutung dieser theoretischen Grundlage darauf zurückzukommen. Mit den angenommenen Entwicklungsstufen beziehungsweise -stadien wird die fortschreitende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beschrieben. Demnach handelt es sich bei jeder einzelnen Handlungsform um einen Erkenntnismodus, das heißt Erkennen, also Handeln, findet auf der sensumotorischen, präoperationalen, konkret operationalen und formal operationalen Stufe statt. Die mit fortschreitender Auseinandersetzung gemeinte soziale und gegenständliche Auseinandersetzung des Subjekts mit den Gegebenheiten seiner Umwelt wird von Maturana (1985) mit dem Begriff der Autopoiese aufgegriffen. Der Begriff beschreibt die psychische Verarbeitung der Wirklichkeit (Praschak 1993) als Grundlage ihrer Wahrnehmung. Wirklichkeitszusammenhänge werden interpretiert und aktiv konstruiert, was gleichbedeutend mit der mentalen Repräsentation der Wirklichkeit ist. Erkenntnis führt zu neuen Strukturen, deren Vorhandensein jedoch schon notwendig ist, um die Wirklichkeit zu konstruieren. Nach Jetter (1979) bedingt die dialektische Einheit von Subjekt und Objekt die Entwicklung von Erkenntnisstrukturen, die wiederum den Ausgangspunkt für neu zu entwickelnde Strukturen im Sinne von Deutungskriterien darstellen. Durch diese Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beeinflusst der Mensch sein Leben aktiv gemäß seiner entwickelten Möglichkeit (Praschak 1993, Praschak-Wolf & Praschak 1979).

Die beschriebene aktive Konstruktion ist als Repräsentation von Bedeutungen der Wirklichkeitszusammenhänge zu verstehen (Praschak 1991). Voraussetzung für die aktive Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist die Intelligenz des Menschen, denn damit wird Handeln ermöglicht (Praschak-Wolf & Praschak 1979). Praschak (1993) nennt als Grundlage des repräsentierenden Denkens die sensumotorische Handlungsfähigkeit, deren fortschreitende Entwicklung zur Herausbildung der Intelligenz und damit zur Konstruktion von Wirklichkeit beiträgt.

Die Ausführungen zeigen, inwiefern Erkennen und Handeln als einheitlich zu betrachten sind und wie ‚erkennendes Handeln‘ beziehungsweise ‚handelndes Erkennen‘ zur Konstruktion von Wirklichkeitszusammenhängen beitragen. Menschliche Intelligenz wird dafür als Voraussetzung benannt. Daher wird im folgenden Abschnitt auf die fortschreitende Entwicklung der Intelligenz eingegangen, um den Zusammenhang zu der Annahme, Handeln als geordnete und ordnende Tätigkeit zu verstehen (siehe Abschnitte 1.2.2 und 1.2.3), herzustellen.

Mit Piaget (1974b) wird davon ausgegangen, dass Äquilibration als grundlegend für die Entwicklung von Strukturen betrachtet wird, indem prozesshaft die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den Mechanismen Assimilation und Akkommodation erfolgt.

Assimilation und Akkommodation sind aktive Vorgänge, die zur Ausdifferenzierung vorhandener Pläne führen und damit der kognitiven Organisation des Subjekts dienen (Jetter 1975, Jetter 2013). Eine neue Struktur entsteht auf Basis der schon vorhandenen Struktur und mündet letztendlich wieder in dieser. Damit sind sie die bestimmenden Momente der Entwicklung von Erkenntnisprozessen beziehungsweise sensumotorischer Intelligenz (Praschak 1991, Praschak-Wolf & Praschak 1979, Jetter 1979).

Ausgangspunkt ist bei dieser Entwicklung von Erkenntnisprozessen ein lebender Organismus, dessen Anpassung an die Umwelt einem gesetzmäßigen Verlauf folgt. Die Umwelt hat dabei so viel Einfluss auf den Organismus, wie dieser es zulässt, gleichzeitig entfaltet der Organismus selbst eine Wirkung auf die Umwelt (Jetter 1975, 1979). Es handelt sich um ein dialektisches Verhältnis, dessen Wirkung durch die Austauschprozesse Assimilation und Akkommodation gekennzeichnet ist, und zwar mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen herzustellen (Jetter 1975, 1979, 2013).

Den beschriebenen Vorgängen der Assimilation und Akkommodation von Handlungsplänen und der damit in Zusammenhang stehenden Realisierung von Handlungsplänen liegt die sensumotorische Entwicklung der Intelligenz zugrunde. Das ist dadurch begründet, dass jede neue Struktur aus einer bereits vorhandenen Struktur entsteht. So besteht kein Widerspruch darin, dass die Austauschprozesse Assimilation und Akkommodation sowohl der Entwicklung senusmotorischer Intelligenz zugrunde liegen als auch selbst die sensumotorische Intelligenz zugrunde legen. Piaget (1996; 2015) beschreibt anhand von Stadien, wie sich aus den grundlegenden Handlungen des Säuglings die „höchsten Formen der menschlichen Intelligenz“ (Jetter 2013) entwickeln. Hier wird auf die Erkenntnisse zur Entwicklung des sensumotorischen Handelns zurückgegriffen, da sich so die Herausbildung von Handlungsstrukturen beschreiben lässt, die, knapp formuliert, von Symbolisierung über gedanklich koordinierte und anschließend ausgeführte Handlungen zu verinnerlichten Handlungen führt, die letztendlich aufeinander bezogen werden können (Jetter 1975, Jetter 2013, Praschak 1993).

Zentral hierbei ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, welche die Unterscheidung zwischen Mensch und Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation meint. Durch Assimilation und Akkommodation wirkt das Subjekt auf das Objekt, indem es sich dieses aneignet, was gleichbedeutend damit ist, dass sich das Objekt an die interne Struktur des Subjekts assimiliert, also angleicht (Jetter 1975, 1979). Übertragen auf die Unterscheidung zwischen Mensch und Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation bedeutet das eine Einflussnahme des Menschen auf seine alltägliche Lebenssituation in dem Sinne, dass er die ihm vorfindlichen Gegebenheiten beziehungsweise Bedingungen erkennt, das heißt aufnimmt und durch Differenzierung einer bereits vorhandenen Struktur verändernd auf diese einwirkt. Dies erfolgt folgendermaßen:

Das Erkennen der Bedingungen und die darauffolgende Anpassung ist eine innere plangeleitete Organisation des Subjekts mit dem Bestreben, diese innere Organisation aufrecht zu erhalten, also den Kontakt zum Objekt nicht zu verlieren, sodass die Erkenntnismöglichkeiten aufrechterhalten bleiben. Die Assimilationspläne ermöglichen es dem Subjekt also, mit den Objekten in Verbindung zu treten und eine Veränderung hervorzurufen (Jetter 2013).

Das beschriebene dialektische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt beziehungsweise zwischen Mensch und Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation stellt die Grundlage jeder Handlung dar. Jetter (1979) bezeichnet das Assimilationsverhältnis als „Motor des menschlichen Handelns“ (Jetter 1979, 213). Die erkannten Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation beeinflussen durch die Mechanismen der Assimilation beziehungsweise Akkommodation den Handlungsplan des Subjekts. Die bewegliche Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, also die Möglichkeit der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Assimilation und Akkommodation, führt zu einer Erweiterung der Handlungspläne und damit zu einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Subjekts.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass den beschriebenen Vorgängen der Assimilation und Akkommodation von Handlungsplänen und der damit in Zusammenhang stehenden Realisierung von Handlungsplänen die sensumotorische Entwicklung der Intelligenz zugrunde liegt. Anhand von sensumotorischen Stadien lässt sich beschreiben, wie sich aus den grundlegenden Handlungen des Säuglings die „höchsten Formen der menschlichen Intelligenz“ (Jetter 2013) entwickeln. Hier wird auf die ‚stufenförmige‘ Entwicklung des sensumotorischen Handelns zurückgegriffen, da sich so die Herausbildung von Handlungsstrukturen (Jetter 1975, Jetter 2013, Praschak 1993) beschreiben lässt, die von Symbolisierung über gedanklich koordinierte und anschließend ausgeführte Handlungen zu verinnerlichten Handlungen führt, die letztendlich aufeinander bezogen werden können.

Für die Beschreibung eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation bedeutet das, dass die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation die Bedingungen der Handlungsmöglichkeiten des Subjekts darstellen. In dem Moment, in dem der Mensch auf seine alltägliche Lebenssituation durch Handeln einwirkt und damit die Bedingungen seiner Handlungsmöglichkeiten erkennt (Jetter 1979) und im Falle von Akkommodation eine Anpassung von vorhandenen Strukturen beziehungsweise Handlungsplänen vornimmt, erkennt er die Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation, die er damit als erkannte Wirklichkeit repräsentiert und konstruiert. Die vergangenen Handlungen des Subjekts bestimmen als objektive Seite die zukünftige Entwicklung von Handlungsplänen mit, die als subjektive Handlungspläne schließlich realisiert werden. Bei der Konstruktion eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation werden damit subjektive und objektive Handlungspläne und verwirklichte Handlungsmöglichkeiten zu bestimmenden Faktoren. Im folgenden Abschnitt wird die Bedeutung der Erkenntnisse der bisherigen Ausführungen dieses Kapitels genauer betrachtet.

4.2.2 Bedeutung der Annahmen der genetischen Erkenntnistheorie für die eigenaktive Konstruktion alltäglicher Lebenssituation

Die bisherigen Ausführungen des vorliegenden Kapitels zeigen den Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln des Subjekts bei der Konstruktion von Wirklichkeitszusammenhängen auf. Mit den Austauschprozessen Assimilation und Akkommodation wird auf die nach innen beziehungsweise nach außen gerichteten operationalen Prozesse verwiesen, die zu einer Strukturierung der erkannten Wirklichkeit führen. Dabei spielen die im Abschnitt 4.2.1 benannten Stufen der Entwicklung sensumotorischer Intelligenz eine entscheidende Rolle. Daher werden im Folgenden wesentliche Erkenntnisse aus der Annahme von Entwicklungsstufen im Zusammenhang mit dem Erkennen von Wirklichkeitszusammenhängen erläutert, um die Bedeutung der daraus gewonnenen Erkenntnisse des genetischen Strukturalismus für das Konzept der alltäglichen Lebenssituation herausstellen zu können.

Mit der Stufe des präoperativen Denkens vollzieht sich eine teilweise Bewusstwerdung der Handlungen, was gleichbedeutend ist mit einer zunehmenden Verinnerlichung von Handlungen. Bisher bestand die Wirklichkeit, somit die alltägliche Lebenssituation des Subjekts, als wirksame Handlung beziehungsweise als wirklich erlebtes Ereignis, nicht als mögliche andere Handlungen (Jetter 2013). Mit der Entwicklung des präoperativen Denkens findet eine erste Begriffsentwicklung statt und es werden die Objekte der alltäglichen Lebenssituation an die Möglichkeiten der Handlungen des Subjekts assimiliert (Piaget 2015). Anstatt also eine erfolgreiche Handlung wie bisher einfach zu wiederholen, sucht das Subjekt nach Gründen des Erfolgs, es erfolgt Akkommodation und das Subjekt erkennt, dass es in seiner alltäglichen Lebenssituation etwas bewirken kann (Jetter 2013). Piaget führt hierzu den Begriff der „Vorbegriffe[n]“ (Piaget 2015, 32) an, die dieses Stadium kennzeichnen. Damit Handlungen verinnerlicht werden können, muss das Subjekt Erkenntnisinstrumente entwickeln, die aus fortschreitender Imitation resultieren, was bedeutet, dass die Verinnerlichung von Nachahmungen über Symbolisierung zu Repräsentationen führt (Piaget 2015, 31–38).

Die fortschreitende Koordination der inzwischen zielgerichteten Handlungen führt zu Handlungen, die zwar noch an anschauliche Gegebenheiten gebunden sind (Jetter 1975), allerdings den Status von Operationen erlangen, wodurch es auf dieser Stufe der konkreten Operationen zu einer „entscheidenden Wende“ (Piaget 2015, 43) in Bezug auf die Konstruktion der Erkenntnisinstrumente kommt. Als Folge vollzieht sich eine Erweiterung des Kausalitäts- und Raumbegriffs, indem Objekte von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet und Zusammenhänge auf anschaulicher Basis hergestellt werden (Piaget 2015).

Für die Beschreibung der eigenaktiven Konstruktion des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation bedeutet das: Während die Stufe der konkreten Operationen wirkliche Objekte verlangt und Bedingungen alltäglicher Lebenssituation in dieser Hinsicht mithilfe konkreter Gegenstände konstruiert werden, können im Stadium der formalen Operationen Konstruktionen der alltäglichen Lebenssituation auch in Abstraktion von der aktuell gegenständlich erfahrenen Wirklichkeit vollzogen werden.

Insgesamt ist bei der Frage nach der Konstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation resümierend festzuhalten: Der Mensch verarbeitet die Wirklichkeit, indem er sie auf subjektive Weise repräsentiert und so zu ‚seiner‘ Realität macht. Dies geschieht mittels eines autopoietischen Erkenntnissystems, welches durch Selbstorganisation zur Ausbildung von Strukturen führt, die wiederum zu Deutungskriterien übergehen (Praschak 1993), mit denen das Subjekt die aus der Wirklichkeit gewonnenen Informationen ordnet und zur Konstruktion der erkannten Bedingungen alltäglicher Lebenssituation nutzt. Praschak (1993) bezeichnet die so erfahrene Wirklichkeit mit ihren Informationen als „physikalische Welt“ (Praschak 1993, 45). Die vom Subjekt konstruierte alltägliche Lebenssituation kann, je nach Information, als

  • „eine Welt des eigenen Körpers, als Welt der Erfahrung mit der eigenen Beweglichkeit und den eigenen Sinnen (Aufbau eines Wissens in Aktion),

  • Welt der Dinge und Personen (Aufbau von Repräsentationsstrukturen) und

  • Welt der Gefühle und Motive, als Ausdruck energetischer Neugier (Aufbau von Emotionen)“ (Praschak 1993, 45) erkannt werden.

Praschak (1993) betont, dass die Informationen der Wirklichkeit, die hier als physikalische Welt bezeichnet werden, erst durch die subjektive Konstruktion in Lebenszusammenhängen bedeutsam werden. Anders ausgedrückt, die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation erlangen für ein Subjekt erst dann Bedeutung, wenn es diese in aktiver Auseinandersetzung erkennt und seinen Strukturen, beispielsweise Handlungsplänen, gemäß seinen Möglichkeiten anpasst.

Die Ausführungen zur Bedeutung der Erkenntnisse des genetischen Strukturalismus zeigen drei zentrale Annahmen zur Konstruktion eines Konzepts von Lebenswelt auf.

Erstens werden die Deutungskriterien Raum, Zeit und Kausalität (siehe Abschnitt 1.2.3) relevant, denn die aktive Auseinandersetzung mit den erkannten Informationen der Wirklichkeit geschieht in Form einer strukturierten Ordnung auf Basis dieser Erkenntniskategorien.

Zweitens werden diese Erkenntniskategorien aufgrund des dialektischen Verhältnisses zwischen Mensch und Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation durch die aktive Auseinandersetzung mit den Bedingungen, also durch konkretes Handeln, konstruiert (Jetter 2013).

Drittens führt die fortschreitende Entwicklung der sensumotorischen Handlungsfähigkeit zu einer Konstruktion des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation. Dadurch dass sich das Subjekt zunehmend Wissen über die Welt aneignet, entwickelt es Handlungspläne, die sich immer weiter ausdifferenzieren (Jetter 1975; 2013).

Die Erkenntnis der alltäglichen Lebenssituation beruht also auf den entwickelten subjektiven Ordnungskategorien Raum, Zeit und Kausalität, die nicht Ergebnis der Wahrnehmung durch die Sinne sind, sondern durch konkretes Handeln in der alltäglichen Lebenssituation konstruiert werden und aus den grundlegenden Mechanismen der Assimilation und Akkommodation resultieren. Auf Basis dieser Annahme und unter Anbetracht der Prämisse, den Menschen als aktiv handelndes Wesen zu sehen, das auf Mitmenschen bezogen ist (siehe Abschnitt 1.2.2) stellt sich weiterführend die Frage danach, welche Bedeutung die Kultur und Gesellschaft der Menschen bei der Konstruktion alltäglicher Lebenssituation erhält. Daher wird im folgenden Abschnitt alltägliche Lebenssituation als kulturgebundenes und gesellschaftsbezogenes Konstrukt betrachtet.

4.3 Alltägliche Lebenssituation als Resultat kulturgebundener und gesellschaftsbezogener Konstruktion des Subjekts

Die folgenden Ausführungen stehen in engem Zusammenhang mit den anthropologischen Grundannahmen, die sich auf die Kulturgebundenheit des Menschen beziehen (siehe Abschnitt 1.2.2). Den Menschen als handelndes Wesen zu begreifen und das Handeln des Menschen als kulturgebunden zu fassen, führt direkt zu der Annahme, dass ebenso sprachliches Handeln als kulturgebunden anzusehen ist, da, wie gezeigt wurde, Sprachgebrauch und Spracherwerb aus handlungstheoretischer Sicht als menschliches Handeln zu fassen sind (siehe Abschnitt 3.1).

Die Sprache, die vom handelnden Menschen gebraucht beziehungsweise erworben wird, ist ein kulturelles Produkt (Jetter 1987; Welling 1990; Tomasello 2011) und damit als Konstruktionsfaktor des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation zu betrachten. Die alltägliche Lebenssituation wird durch das menschliche Handeln konstruiert und ist entsprechend der im Abschnitt 1.2.2 genannten anthropologischen Grundannahmen als kulturgebunden zu verstehen. In den nächsten beiden Abschnitten werden daher nacheinander Kulturgebundenheit (4.3.1) und Gesellschaftsbezogenheit (4.3.2) des Handelns im Allgemeinen und des sprachlichen Handelns im Speziellen konkret dahingehend betrachtet, Zusammenhänge zwischen kulturgebundenem beziehungsweise gesellschaftsbezogenem Handeln mit der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation herzustellen. Schließlich wird daraus die Bedeutung kulturgebundenen beziehungsweise gesellschaftsbezogenen Handelns als Konstruktionsfaktor für alltägliche Lebenssituation hergeleitet.

Als Erstes steht die Kulturgebundenheit des menschlichen Handelns im Fokus, wobei zum einen der Normbegriff und zum anderen die Bezeichnung von Kommunikation als fünfte Dimension nach Elias (2001a, 76 f.) eine wesentliche Rolle spielen, um die Kulturgebundenheit menschlichen Handelns nachzuzeichnen.

Der zugrunde liegende Kulturbegriff steht in engem Zusammenhang mit dem in den anthropologischen Grundannahmen beschriebenen Aktivitätspostulat: Der Mensch wird als aktives Wesen betrachtet (Welling 1990). Daraus lässt sich folgern, den ‚kulturgebundenen‘ Menschen nicht nur als kulturabhängig, sondern insbesondere als kulturschaffend zu bezeichnen.

4.3.1 Alltägliche Lebenssituation als Resultat kulturgebundener Konstruktion des Subjekts

Elias (2001b) thematisiert bei der Beschreibung kultureller Aspekte gesellschaftlicher Prozesse den ‚Kultur-Natur-Dualismus‘ und spricht dabei von Kultur als Struktur, die eine Weitergabe von Wissen durch Kommunikation ermöglicht. Die Begriffe Natur und Kultur beziehen sich bei Elias (2001b) nicht auf voneinander unabhängige oder gegensätzliche Teile der menschlichen Welt, vielmehr hängen sie beide zusammen, da Menschen „von Natur aus für Kultur und Gesellschaft“ (Elias 2001b, 133) geschaffen sind. Damit wendet sich Elias (2001b) gegen die Annahme, dass Gesellschaft und Kultur von der Natur getrennt oder gegensätzlich zu ihr zu betrachten sind. Sprache als kulturelles Produkt werde von beiden Aspekten beeinflusst.

Menschen werden nach Elias (2001) immer in eine Gesellschaft, das heißt in eine Gruppe von Menschen, hineingeboren. Diese Gruppe war bereits vor ihnen da und hat die Bedingungen, auch kulturelle, geschaffen, die jene vorfinden und unter denen sie handeln. Kultur wird somit zu einem Handlungsfeld mit vom Menschen geschaffenen Inhalten (Welling 1990, 329), und Menschen bringen darin ihre „eigenen kulturellen Produkte für ihre ganz bestimmte Gesellschaft“ (Elias 2001, 14) hervor.

Zu einem kulturellen Produkt kann auch die Sprache gezählt werden, denn sie hat kulturelle Wurzeln. Menschen entwickeln und gebrauchen Sprache unter den kulturell-gesellschaftlichen Ansprüchen und Verhältnissen ihrer alltäglichen Lebenssituation (Tomasello 2011), wodurch Sprache einerseits an die kulturellen Bedingungen gebunden wird und andererseits zu einem „Symbol für soziale Gegebenheiten“ (Welling 1990, 221) wird. Anders ausgedrückt gelingt es den Menschen mittels Sprache, sich die Bereiche ihrer Kultur anzueignen. Den Kindern den kulturellen Wert der Sprache bei der Aneignung von Kultur erfahrbar zu machen, ist nach Jetter (1987) die Voraussetzung, um sprachliche Handlungsfähigkeit erweitern zu können.

Gleichzeitig geht es nicht nur um die Weitergabe des Wissens und die damit verbundene Aneignung der Kultur, sondern die kulturell entwickelten sprachlichen Symbole beeinflussen die kognitiven Repräsentationen von Kindern (Tomasello 2006). Kulturell geprägt ist damit ebenfalls der Spracherwerb des Kindes: Die Imitation des Rollenwechsels, nach Tomasello Grundlage des Spracherwerbs, führt zu einem aktiven Gebrauch der sprachlichen Symbole bei Kindern, die die Werte der Erwachsenen innerhalb dieser Rollenwechselimitation übernehmen. Spracherwerb ist kulturelles Lernen, denn in der Kultur liegt das vorhandene Wissen, das dem Erwerb der sprachlichen Symbole zugrunde liegt (Tomasello 2006).

Über die Kultur, die Kinder umgibt, erlernen sie, wie kommunikative Situationen aufgefasst werden können. Jene Kultur ist dadurch entstanden, dass die Menschen zuvor ebenfalls ihre Aufmerksamkeit gemeinsam mit anderen geteilt haben. Das Lernen durch Imitation führt zu einer kreativen Anpassung an die jeweilige kommunikative Situation.

Mit Elias (2001a) lässt sich der Zusammenhang von Spracherwerb und Kulturgebundenheit zusammenfassend folgendermaßen ausdrücken: Kinder erwerben „mit ihrer Sprache auch Aspekte des Wissensfundus der Gesellschaft, in der sie heranwachsen, und diese Aspekte vermischen sich ständig mit dem Wissen, das sie durch eigene Erfahrungen erwerben“ (Elias 2001a, 61). Dabei verweben sich das erworbene Wissen des Kindes und das Wissen der Gesellschaft beziehungsweise der Kultur immer enger miteinander. Eindeutig zeigt sich an dieser Stell erneut, dass Kommunikation dabei als Grundlage für den Wissenserwerb gilt.

Wenn also Kommunikation Grundlage für den Wissenserwerb ist, lohnt sich ein Blick darauf, wie genau beziehungsweise wodurch sich dieser Erwerb vollzieht. Die menschliche Kommunikation, die die Weitergabe des kulturellen Wissens ermöglicht, wird durch spezifische sprachliche-kommunikative Normen bestimmt (Welling 1990, 223), die sich zum einen auf die sprachlichen Äußerungen (wie ist das sprachliche Produkt beschaffen) und zum anderen auf die normierenden Bedingungen (wie ist die Regelkonformität bestimmt) beziehen. Die jeweilige Kultur bringt solche Normen hervor, die als „gedankliche Festsetzungen“ (Welling 1990, 223) auf das menschliche Handeln bezogen sind und mit dem Ziel der Regulation eine ganz bestimmte Art des Handelns fordern. Jedoch werden Werte und Normen nicht isoliert gelernt, sondern durch die Verwendung von Worten in bestimmten Situationen sprachlichen Handelns. Menschen lernen, Bedeutungen auszudrücken, das heißt begriffliches Wissen, das sich auf Normen und Werte beziehen kann, aufzubauen und die Begriffe den sprachlichen Symbolen zuzuordnen (Welling 1990, 332).

Die Annahme eines begriffsorientierten Erwerbs von Normen und Werten wird durch die Ausführungen Piagets (2015) untermauert. Nach Piaget (2015) entstehen Normen aus den konkreten Handlungen der Wirklichkeit und lassen sich nicht aus Tatsachen ableiten. Entsprechend der Annahmen zur kognitiven Entwicklung des Kindes lässt sich feststellen: Bei den damit beschriebenen Vorgängen begriffsorientierten Erwerbs von Normen und Werten handelt es sich um „gedankliche Konstruktionen“ (Welling 1990, 225), die nicht von außen gesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass es sich um persönliche Erfindungen des Individuums handelt (Welling 1990, 323), vielmehr kommt damit die konstruktivistische Sichtweise zum Ausdruck. Zwar werden Normen als gedankliche Festsetzungen bezeichnet, die aber nicht als äußerliche Festsetzungen betrachtet werden, sondern vom Individuum unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur konstruiert werden. Die kulturell-gesellschaftliche Umwelt beeinflusst durch Normen das Individuum, was durch den Begriff der Wertorientiertheit ausgedrückt wird (Welling 1990). Damit stehen Normen und Werte in engem Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung beziehungsweise dem kulturellen Wandel.

In Bezug auf das sprachliche Handeln sind nach Schönberger (1987) diejenigen Regeln als sprachliche Normen zu fassen, die in der kulturellen Entwicklung vom zielgerichteten, wertorientierten, plangeleiteten Handeln und nicht von den jeweiligen Handlungsergebnissen abgeleitet werden. Diese Regelmäßigkeiten, die sich im sprachlichen Handeln zeigen, werden durch Verallgemeinerung zu sprachlich-kommunikativen Normen (Welling 1990, 332) und betreffen als Aspekt der Wertorientiertheit die strukturelle und inhaltliche Seite des sprachlichen Handelns. In diesem Sinne werden Sprache und Sprechtätigkeit wertvoll, das heißt als Wert erfahren, wenn sie erstens dem kommunikativen Austausch, zweitens der Repräsentationsfunktion dienen und drittens auf die Sprache selbst einwirken und Erfahrungen mit Sprache und Sprechtätigkeit selbst ermöglicht werden (Welling 1990, 326 f.).

Zusammenfassend lassen sich die theoretischen Annahmen wie folgt in Verbindung bringen: Handeln, also auch sprachliches Handeln, ist als kulturgebunden zu bezeichnen, da die Kultur Wertkonzepte und Normen hervorbringt, unter denen sprachliche Handlungen stattfinden. Gleichzeitig wird in sprachlichen Handlungen und mittels Sprache das Wissen der Kultur, also auch Normen und Werte, weitergegeben und weiterentwickelt. Kultur als ‚bereitgestelltes‘ Wissen liefert diejenigen Bedingungen, unter denen Menschen leben, also sprachlich sowie nichtsprachlich handeln (Welling 1990; Tomasello 2011). Kulturgebundenes Handeln wird damit zu einem Konstruktionsfaktor des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation, da insbesondere durch sprachliches Handeln das kulturelle Wissen an die Kinder weitergegeben wird, die mittels Kommunikation ihre alltägliche Lebenssituation ordnen, das heißt ihr eine Struktur verleihen, die auf eben den Werten und Normen ihrer Kultur basieren. Handeln, auch sprachliches Handeln in der alltäglichen Lebenssituation, wird unter dem Aspekt der Wertorientiertheit vollzogen. Elias (2001a, 76 f.) beschreibt die menschliche Welt als fünfdimensional und meint dabei Sprache als fünfte Dimension, die dazu beiträgt die Welt erfahren und sich über sie verständigen zu können. In diesem Sinne ist kulturgebundenes sprachliches Handeln als Konstruktionsfaktor des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation zu verstehen und in Übereinstimmung mit Elias (2001b) Kultur als eine Art, wie die Wahrnehmung geordnet wird.

Wenngleich durch die bisherigen Überlegungen zur Kulturgebundenheit menschlichen Handelns postuliert werden kann, dass allgemeines und im Besonderen sprachliches Handeln aufgrund der Kulturgebundenheit zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beiträgt, so fehlt bei Betrachtung der anthropologischen Annahmen (siehe Abschnitt 1.2.2) doch noch ein wesentlicher Aspekt, nämlich die Gesellschaftsbezogenheit menschlichen Handelns. Inwiefern gesellschaftsbezogenes Handeln als Konstruktionsfaktor des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation verstanden kann, wird im folgenden Abschnitt abgewogen und erörtert.

4.3.2 Alltägliche Lebenssituation als Resultat gesellschaftsbezogener Konstruktion des Subjekts

Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation als gesellschaftsbezogenes Konstrukt zu begreifen meint, die Gesellschaftlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, also den Menschen als gesellschaftlich zu betrachten. Gesellschaftlichkeit ist dabei sowohl Ausgangspunkt als auch Ergebnis des gleichen Prozesses, nämlich der Herstellung von Lebensbedingungen. So wird im Folgenden auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen und der damit zusammenhängenden gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit des Menschen Bezug genommen. Dadurch soll erörtert und abgewogen werden, inwiefern diese Annahmen zu einer Konstruktion des Konzepts der alltäglichen Lebenssituation beitragen.

Holzkamp (1985) verwendet bezüglich der Gesellschaftsbezogenheit menschlichen Handelns den Begriff der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der menschlichen Existenz. Dies kann als das Mensch-Gesellschaftsverhältnis interpretiert werden. Das bedeutet, dass die menschliche Existenz durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt wird, die als vorfindbare Voraussetzungen vorhanden sind und der individuellen Existenzsicherung zugrunde liegen. Diese Voraussetzungen muss der Mensch selbst produzieren, um zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung beizutragen. Gesamtgesellschaftlich vermittelt bedeutet also, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse die doppelte Beziehung des Menschen bestimmen: Dieser lebt erstens unter den Bedingungen und produziert diese zweitens selbst (Holzkamp 1985). Inbegriffen ist dieser Zusammenhang in dem Begriff der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1985; 1987). Die Handlungsfähigkeit wird damit zu einer Grundkategorie, mit der die Fähigkeit gemeint ist, gemeinsam mit anderen „Verfügung über meine jeweiligen individuell relevanten Lebensbedingungen zu erlangen“ (Holzkamp 1987, 14).

Bei der Betrachtung gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit menschlicher Existenz ist nach Holzkamp (1985) ein Zusammenhang herzustellen zwischen der Art und dem Grad der Handlungsfähigkeit und der subjektiven Befindlichkeit. Mit der subjektiven Befindlichkeit werden der Aspekt des Grades und der Art der subjektiven Handlungsfähigkeit ausgedrückt. Gemeint sind damit diejenigen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen (Holzkamp 1987, 15), die das Subjekt in den objektiven Bedingungen, die es umgeben, vorfindet. Für die Beschreibung subjektiver Erfahrung von Handlungsmöglichkeiten wählt Holzkamp (1985) den Begriff der subjektiven Befindlichkeit und unterscheidet in einen situationalen Pol und einen personalen Pol. Da die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts erstens in seinen äußeren Bedingungen und zweitens in seinen inneren, also personalen Bedingungen seiner Lebenssituation liegen, handelt es sich beim situationalen Pol um objektive Bedingungen (‚Situation‘),

„soweit und in der besonderen Weise, wie sie in ihren Bedeutungsbezügen und darin liegenden Handlungszusammenhängen samt deren Fassung in gesellschaftlichen Denkformen etc. vom Individuum als dessen Handlungsmöglichkeiten beziehungsweise deren ‚faktische‘ Beschränkungen kogniziert und emotional bewertet, also ‚erfahren‘ werden. Die (i.e.S.) ‚personale‘ Befindlichkeit umfaßt demgegenüber die geschilderte ‚Funktionsgrundlage‘ in ihrem jeweiligen Erkenntnisstand, die operativen Fertigkeiten, das ‚Können‘, das ‚Wissen‘, die praktisch-symbolische Begrifflichkeit etc. als ‚funktionale‘ Ausprägungen der allgemeinen emotionalen Wertungsgrundlage, also ‚inhaltliche‘ Bedürftigkeit etc., soweit und in der besonderen Weise, wie sie vom Individuum in bewusstem ‚Verhalten‘ zu sich selbst erfahren werden.“ (Holzkamp 1985, 335 f.)

Die Wertung der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten wird durch den Aspekt der Emotionalität ermöglicht, der als Moment der Handlungsfähigkeit einen Teilaspekt dieser darstellt. Einen weiteren Aspekt der Handlungsfähigkeit stellt die Motiviertheit dar: Dadurch wird es dem Subjekt möglich seine Lebensmöglichkeiten zu erweitern, wobei es vom Inhalt des Ziels abhängig ist, ob das Ziel motiviert verfolgt wird oder nicht (Holzkamp 1985). Daher führen die Bedingungen, von denen die individuellen Lebens- und Entwicklungschancen abhängen, zur Handlungsfähigkeit, die ausdrückt, inwiefern das Subjekt über seine Lebensbedingungen verfügt.

Die Ausführungen zur Handlungsfähigkeit zeigen, dass Handlungsfähigkeit aus subjektwissenschaftlicher Sicht keine „individuelle Möglichkeit“ (Holzkamp 1987, 15) zu handeln darstellt, sondern es wird damit die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, zusammen mit anderen Menschen über die jeweils „individuell relevanten Lebensbedingungen“ (Holzkamp 1987, 15) zu verfügen. Es wird Verfügung über die Bedingungen erlangt, von denen die je individuelle „Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit“ (Holzkamp 1987, 15) des Menschen abhängig ist.

Zudem wird zwischen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit unterschieden. Restriktive Handlungsfähigkeit bezieht sich auf die „individuell-unmittelbare Bedürfnisbefriedigung“ (Holzkamp 1985, 2), wohingegen die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit auf die „gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten“ (Holzkamp 1985, 2) verweist.

Das beschriebene Begriffspaar wird zur Erklärung des Mensch-Welt-Zusammenhangs, also des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, herangezogen (Holzkamp 1985, 371 f.; Holzkamp 1987, 15). Handlungsfähigkeit wird dann durch die Herstellung eines Zusammenhangs mit dem Begriff der Handlungsmöglichkeit sinnvoll. Handlungsmöglichkeiten, die in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen liegen, also als Bedingungen zu fassen sind, bestimmen in gesellschaftlicher Hinsicht, was getan werden muss, und verweisen damit auf objektive Handlungsmöglichkeiten. In individueller Hinsicht bestimmen sie, was getan werden kann, und verweisen so auf individuelle Handlungsmöglichkeiten (Holzkamp 1985). Mit den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind dem Individuum nie in ihrer Gesamtheit gegeben, sondern in Ausschnitten, die in einem konkreten individuellen Handlungszusammenhang stehen (Holzkamp 1985). Der Moment, in dem das Subjekt über seine konkreten individuellen Lebensbedingungen verfügt, wird aus subjektwissenschaftlicher Sicht mit dem Begriff der personalen Handlungsfähigkeit ausgedrückt. Diese individuelle Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen wird durch beziehungsweise in Teilhabe an der Verfügung über den gesamtgesellschaftlichen Prozess ermöglicht.

Die Handlungsfähigkeit des Individuums bestimmt seine subjektive Freiheit, die sich auf die individuelle Handlungsmöglichkeit bezieht: Erstens kann das Individuum die Bedingungen seines Handelns, die es vorfindet, hinnehmen und zweitens verändern. Daraus ergibt sich die Freiheit des Individuums, die aber abhängig von der Art seiner Teilhabe an der gesellschaftlichen Verfügung über die vorfindbaren Lebensbedingungen ist. Um Einschränkungen seines Handelns zu überwinden, muss das Individuum die Bedingungen seiner Handlungsfähigkeit erweitern. Mit Holzkamp (1985) ist in diesem Zusammenhang Folgendes festzustellen: Erstens ist der Mensch für seine Handlungen verantwortlich, was in den Begriffen Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeit ausgedrückt ist. Zweitens gibt es immer eine Handlungsalternative, also eine weitere Möglichkeit des Handelns, auch wenn eine Alternative für das Subjekt nicht als solche ersichtlich ist und es daher auf die Handlungsalternative verzichtet (Holzkamp 1985, 355 ff.).

Mit dem Verantwortungsbegriff wird auf die dem Handeln zugrunde liegenden Handlungsgründe verwiesen. Für Holzkamp (1985, 349) ist der Begriff der Handlungsgründe ein Vermittlungsbegriff: Damit wird kein Dualismus ausgedrückt, der sich beispielsweise auf den Gegensatz determinierte Handlung versus beliebige Sinnstiftung des Individuums bezieht, sondern die subjektiven Handlungsgründe sind in den individuellen Lebensbedingungen begründet. Das bedeutet, subjektive Freiheit meint keine Beliebigkeit von Entscheidungen, sondern die Begründetheit jeder einzelnen Entscheidung des Subjekts.

An dieser Stelle kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Vermittlungsbegriff das Verhältnis der objektiven Bedingungen und deren subjektive Realisierung durch das Individuum ausdrückt und in Zusammenhang mit der Annahme steht, dass Handeln im Begründungsdiskurs stattfindet.

Wie gezeigt wurde, stellen sich die objektiven Bedingungen dem Subjekt als Bedeutungsstrukturen dar, zu denen es sich verhält und welche es in Prämissen überführt. Prämissen sind diejenigen Bedeutungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Lebensinteressen des Subjekts stehen und zu denen sich das Subjekt in Form von begründeten Handlungen verhält.

Zusammenfassend kann für ein Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation festgestellt werden, dass die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation immer in gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen zu fassen sind. Zudem sind die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation dem Menschen nur in dieser Form gegeben, wodurch die Menschen entsprechend begründet handeln. Zentral bei der Auseinandersetzung mit menschlichem Handeln im Begründungsdiskurs ist der Begriff der Prämissen. Prämissen sind in diesem Zusammenhang als diejenigen Bedingungen zu verstehen, die die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts bestimmen, also die objektiven äußeren beziehungsweise inneren Bedingungen, die für das Subjekt in Bezug auf seine Lebensinteressen relevant erscheinen. Die Unterscheidung von objektiven äußeren Lebensbedingungen und inneren Lebensbedingungen bedeutet, situationale von personalen Lebensbedingungen zu unterscheiden. Dadurch dass das Subjekt in Zusammenhang mit seinen Lebensinteressen situationale beziehungsweise personale Lebensbedingungen zu Prämissen seines Handelns macht, sind situationale und personale Lebensbedingungen als Konstruktionsfaktoren von alltäglicher Lebenssituation zu betrachten. Es sind individuelle Handlungsziele, die das Subjekt bildet, indem es durch Gestalten seiner Lebensbedingungen seine Existenz erhält. Die individuellen Ziele des Handelns sind zum einen inbegriffen in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen. Zum anderen sind sie auf diese bezogen, da das Subjekt in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen seine individuelle Existenzerhaltung sichert. Die individuellen Handlungsziele dienen also der Lebensgewinnung und werden daher ebenfalls als Moment der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation verstanden.

Die Ausführungen in dem vorliegenden Abschnitt stellen die Bedeutung des kulturgebundenen und gesellschaftsbezogenen menschlichen Handelns für die Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation heraus. Ungeklärt bleibt an dieser Stelle trotz der Ausführungen zur menschlichen Eingebundenheit in Kultur und Gesellschaft, welchen Beitrag die Individuen selbst für die Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation leisten. Daher wird im folgenden Abschnitt (4.4) auf Kooperation und Kommunikation als Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen eingegangen, um zu erörtern, inwiefern alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen gefasst werden kann.

4.4 Alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Beziehungen

Ausgehend von der Annahme, den Menschen als ein auf Mitmenschen bezogenes Wesen (siehe Abschnitt 1.2.2) zu betrachten, werden im vorliegenden Abschnitt die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt gestellt. Zunächst wird im Abschnitt 4.4.1 der Fokus auf Kooperation gelegt, da von dem Menschen als kooperationsfähiges und kooperationsbereites Wesen ausgegangen wird. Als Grundlage hierfür dienen die Grundannahmen der Kooperativen Pädagogik nach Schönberger, Jetter und Praschak (1987) und die Ausführungen Tomasellos (2006; 2011). Außerdem wird zur Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen mit Holzkamp (u. a. 1985) der Blick auf eine subjektwissenschaftliche und mit Elias (u. a. 1977) auf eine soziologische Perspektive gerichtet. Zudem wird im Abschnitt 4.4.2 die Kommunikation betrachtet, die gleichermaßen wie Kooperation zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beiträgt.

4.4.1 Alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Kooperation

Bei der folgenden Darstellung zur Konstruktion der alltäglichen Lebenssituation wird der Begriff Kooperation im Sinne der Kooperativen Pädagogik nach Praschak, Schönberger und Jetter (1987) verwendet. Dies erscheint insofern angemessen, da das Handlungsmodell mit den Begriffen Kooperation, Handlung und Bildung für diese Arbeit als handlungsleitend betrachtet werden kann (siehe Abschnitt 1.2.3). Zusätzlich wird auf die theoretischen Annahmen Tomasellos, Elias’ und Holzkamps rekurriert, und zwar weil die dahinterstehenden Bezugssysteme strukturidentisch mit der Sprachhandlungstheorie sind (siehe Abschnitt 1.3).

Im Verständnis der Kooperativen Pädagogik meint der Begriff Kooperation nicht nur die Arbeitsteilung beziehungsweise Zusammenarbeit Erwachsener (Jetter 2013). Vielmehr handelt es sich um die Form des Zusammenlebens der Menschen in ihrer Kultur und Gesellschaft. In dieser Gesellschaft handeln die Menschen gemeinsam und ordnen ihr Leben, indem sie ihre jeweiligen individuellen Handlungen und Ziele aufeinander abstimmen (Jetter 1985, 1986). Zwei Bedingungen menschlicher Kooperation sind Ziele und Werte des gemeinsamen Handelns. Darüber hinaus zu nennen sind die „gemeinsame Freude am gemeinsamen Erleben des Ziels“ (Jetter 2013, 35 f.), eine emotionale Beziehung und den Fähigkeiten der Beteiligten, Sinn zu verleihen (Jetter 2013). So entsteht eine „Einheit von emotionaler Bindung, menschlicher Beziehung und gesellschaftlicher Nützlichkeit des Handelns“ (Jetter 2013, 38).

Bezüglich der Bestimmung menschlicher Kooperation nach Praschak, Schönberger und Jetter (1987) finden sich Anknüpfungspunkte bei Holzkamp (1985). Diese sind gekennzeichnet durch Bestimmung von Kooperation als Beziehungsform, die sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als auch auf individueller Handlungsebene auftreten kann. Das bedeutet, dass die Unterscheidung in gesamtgesellschaftliche Kooperation und Kooperation als interpersonaler Prozess getroffen werden kann. Gesamtgesellschaftliche Kooperation meint dabei Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene und Kooperation als interpersonaler Prozess bezieht sich auf die Kooperation auf individueller Handlungsebene (Holzkamp 1985, 325).

Wesentliches Merkmal von Kooperation ist nach Holzkamp (1985) das Verwirklichen gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele. Daher ist Kooperation von unmittelbarem Zusammenwirken von Individuen abzugrenzen, denn dabei werden keine gemeinsamen gesellschaftlichen Ziele verfolgt, das heißt Verfügung über die Lebensbedingungen gewonnen. Für das unmittelbare Zusammenwirken von Individuen verwendet Holzkamp (1985) den Begriff der Interaktion. Das heißt, es treten interaktive Beziehungen zwischen Menschen auf, die auf der individuellen Handlungsebene zu verorten sind, in denen jedoch keine gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse realisiert werden. Nach Holzkamp (1985, 325 ff.) sind solche interaktiven Beziehungen in primär-interaktive, beispielsweise familiale, und sekundär-interaktive, beispielsweise bekanntschaftliche, Beziehungen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung der nicht-kooperativen, „bloß interaktiven Beziehungen“ (Holzkamp 1985, 326) von kooperativen Beziehungen ist aufgrund der Möglichkeitsbeziehung zu treffen, da die Individuen immer auch die Möglichkeit haben, eine kooperative Beziehung nicht einzugehen. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, auf individueller Handlungsebene gemeinsam zu handeln, ohne gesamtgesellschaftliche Ziele zu verfolgen, da die Sicherung der Existenz des Individuums durch die Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene, das heißt durch die Gesellschaft an sich, gesichert ist (Holzkamp 1985, 326 f.).

Kurz gesagt, im Mittelpunkt steht die Gesellschaft, welche zu einem „erhaltungsfähigen Kooperationssystem“ (Holzkamp 1985, 325) wird, in dem interaktive, nicht-kooperative Beziehungen genauso möglich sind wie kooperative Beziehungen. Kooperation ist bestimmt durch die Realisierung gemeinsamer Ziele, die nur durch gemeinsames Handeln erreicht werden können. Im Gegensatz dazu steht die Interaktion, die durch nebeneinander stattfindendes individuelles Tun gekennzeichnet ist. Holzkamp (1985) weist darauf hin, dass es sich bei der kategorialen Unterscheidung kooperativer und interaktiver Beziehungen um analytische Mittel handelt, die keine Bestimmung getrennt vorliegender Sachverhalte fordern, sondern der Analyse und „zum Zweck der Gewinnung größerer Klarheit“ (Holzkamp 1985, 327) dienen.

Im Bezugssystem der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) wird dieses Verständnis von Kooperation als gemeinsames Handeln zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele durch den Begriff der Verantwortung ausgedrückt. In Kooperation wird es für jeden Menschen möglich, sich das gemeinschaftliche Leben zu erschließen und „Anteil an den gesellschaftlichen Verhältnissen“ (Praschak, Schönberger & Jetter 1987, 201) zu nehmen, so wie „eigene Verantwortung“ (Praschak, Schönberger & Jetter 1987, 201) übernommen werden kann und darf. Dadurch zeigt sich, dass Kooperation also nicht in der Bedeutung unmittelbaren gemeinsamen Tuns zu verstehen ist, sondern sich auf gesellschaftliche Zusammenhänge bezieht. Pädagogische Kooperation, wie im Bezugssystem der Kooperativen Pädagogik spezifiziert wird, stellt den „gemeinsam zu gestaltende[n] und gemeinsam zu verantwortende[n] Lebensalltag“ (Jetter 1985, 12) der Menschen in den Mittelpunkt.

Ein gemeinsam verantworteter Lebensalltag setzt eine gewisse Fähigkeit zur Kooperation voraus. Kooperationsfähigkeit entwickelt sich in kooperativen Handlungen, die ihrem Wesen nach gemeinsame Wert- und Zielorientierung aufweisen. Diese gemeinsamen Wertvorstellungen der am gemeinsamen Handeln beteiligten Menschen sind zugleich Grundlage der gemeinsamen Zielorientierung und als Voraussetzung für sinnvolle Kooperation zu betrachten, da so die Koordination eines gemeinsamen Handlungsplans ermöglicht wird (von Knebel 2005, Praschak 1993, Schönberger 1985; 1987).

Eine sinnvolle Kooperation ist die Grundlage dafür, andere Menschen verstehen zu können. Dies bildet den Kern sozialer Beziehungen, da auf dieser Grundlage gemeinsame Bedeutungen entstehen können. Sinnvoll meint in diesem Kontext, dass die jeweiligen Ordnungen der an der Kooperation beteiligten Menschen zueinander passen (Jetter 1994, 302).

Ergänzt werden müssen diese Annahmen über Kooperation durch die soziologische Perspektive Elias’ (z. B. 2001b), da diese den Aspekt der Gesellschaftlichkeit des Menschen unterstreicht. Elias begreift Menschen nur im Plural und weist damit eine individualistische Sicht zurück. Das menschliche Handeln wird aus der Perspektive nur verständlich im Zusammenhang mit dem Handeln anderer Menschen (Treibel 2006). Ausgedrückt wird diese „plurale Existenz von Menschen“ (Treibel 2006, 200) durch den Begriff der Figuration. Elias beschreibt damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, wobei Gesellschaft nicht als Anhäufung von Personen gesehen werden darf, sondern als Figurationen (Elias 2001b). Menschen existieren in Figurationen, deren Geschichte in jedem einzelnen Menschen gegenwärtig ist. Die vorfindbaren gesellschaftlichen Zustände sind aus dieser Perspektive als Ergebnis der Verflechtungen der verschiedenen Interessen und Absichten der Menschen zu verstehen (Elias 2001b).

Figurationen sind daher als die Beziehungsgeflechte von Menschen zu betrachten, deren Mitglieder durch Interdependenzketten beziehungsweise -geflechte aneinandergebunden sind. Damit sind gegenseitige Abhängigkeiten gemeint, die die Figurationen kennzeichnen. Durch Interdependenzgeflechte werden die einzelnen Menschen und ihre Motive aneinandergebunden. Dieser Sachverhalt zieht wiederum die spezifischen Handlungsweisen der Menschen nach sich (Eichener & Baumgart 1991). Figurationen sind also durch Interaktionen geprägt, wovon Kooperation als eine spezifische Handlungsweise zu betrachten ist, denn grundsätzlich treten nach Elias (2006c, 363) Konkurrenz und Kooperation als Spannungsbalance in jeglichen Figurationen auf.

Die den Figurationen innewohnenden Interdependenzgeflechte können in vier Formen auftreten: als affektive Valenzen (Emotionen), soziale Interdependenzen (verflochtene individuelle Handlungen), ökonomische Interdependenzen sowie räumliche Verflechtungen (Eichener & Baumgart 1991, 112 f.). Menschen werden in diese Interdependenzen hineingeboren, was aber nicht gleichzusetzen ist mit einer Sicht auf Menschen als „Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Treibel 2006, 202), denn aufgrund der Bestimmung von Gesellschaft als sozialem Prozess muss von einem Wandel in doppelter Hinsicht ausgegangen werden: Sowohl Mensch als auch Gesellschaft sind „in Bewegung“ (Elias 2006, 155, zit. n. Treibel 200, 87), das heißt wandelbar und verändern sich beziehungsweise sind veränderbar. Diese Veränderung der Interdependenzen ist durch das Handeln der Menschen bedingt, indem innerhalb der Interdependenzen die Handlungsziele, Handlungsmöglichkeiten beziehungsweise Handlungsbeschränkungen geboten werden, die zu individuellen Handlungsentscheidungen der Menschen führen. Die Existenz von Figurationen ist dadurch nicht als unabhängig von den Individuen zu verstehen, gleichzeitig sind die Menschen nur insoweit frei in ihren Entscheidungen, wie es die Interdependenzgeflechte gestatten (Elias 1997).

Im Bezugssystem der Kritischen Psychologie wird der Zusammenhang von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen hinsichtlich des menschlichen Handelns ebenfalls beschrieben. Menschliches Handeln findet im Begründungsdiskurs statt (siehe Abschnitt 1.2.1) und wird aus dieser Sicht ebenfalls als gesellschaftsbezogen und damit Teil zwischenmenschlicher Beziehungen betrachtet (Holzkamp 1985).

Die Ausführungen des vorliegenden Abschnitts zeigen auf, inwiefern der Begriff von Kooperation als Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen zu fassen ist. In Übereinstimmung mit Holzkamp (1985) wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Kooperation verwendet, wenn der zwischen den Individuen stattfindende interpersonale Prozess von Kooperation auf Handlungsebene gemeint ist, der gemeinsame gesellschaftsbezogene Ziele der kooperierenden Menschen verfolgt. Der Zusatz gesamtgesellschaftlich verweist auf Kooperationsformen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Diese Unterscheidung von Kooperation auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und Kooperation auf individueller Handlungsebene ergänzt aufgrund der Spezifizierung des Kooperationsbegriffs die Annahmen der Kooperativen Pädagogik nach Schönberger, Jetter & Praschak (1987).

Mit Bezug auf die Annahmen der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) wird Kooperation in der vorliegenden Arbeit darüber hinaus nicht als reine „tauschwertorientierte Zusammenarbeit“ (Jetter 1985, 12) betrachtet, denn es stellt nach Holzkamp (1985) sogar einen „zentralen Fehler“ (Holzkamp 1985, 283) dar, Kooperation als unmittelbares Miteinander-Tun auf operativer Ebene zu deuten. Vielmehr stellt Kooperation das Wesensmerkmal einer gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform dar, in deren Zusammenhang jeder Einzelne an der für die individuelle Existenz verallgemeinerten Vorsorge teilhat (Holzkamp 1985, 283). Unterschieden wird dabei zwischen Operationen als Verwirklichung individueller Handlung und Handlungen als Verwirklichen gesellschaftlicher Zielkonstellationen. Die individuellen Ziele des Subjekts sind dabei eingebettet in die objektiven Zielkonstellationen, die als Teilaspekte gesellschaftlicher Bedeutungsstrukturen gefasst werden. In diesem Zusammenhang findet die subjektive Existenzsicherung statt, was dazu führt, dass aufgrund der Gesellschaftsbezogenheit des Menschen selbst „vermeintlich individuelle Ziele“ (Holzkamp 1985, 268) immer individuelle Teilziele übergeordneter gesellschaftlicher Handlungsziele darstellen (Holzkamp 1985, 324 f.), selbst dann, wenn der gesamtgesellschaftliche Rahmen für den handelnden Menschen nicht offensichtlich als solcher erkennbar ist.

Zentral ist, dass Kooperation eine besondere Form des menschlichen Handelns ist, da als Akteur der Handlungen ein „wir“ (Tomasello 2011, 83) in Erscheinung tritt, dem gemeinsame Werte und Handlungspläne zugrunde liegen und das gemeinsame Handlungsziele verfolgt. Diese Form des Zusammenlebens und die damit dem Handeln zugrunde liegenden Werte und Normen sind kulturell geprägt und gesellschaftsbezogen (siehe Abschnitte 4.3.1 und 4.3.2). Das gemeinsame Handeln von Menschen führt dazu, dass sie ihr Leben gemeinsam ordnen, indem sie ihre Ziele aufeinander abstimmen und gemeinsam Bedeutungen schaffen und geschaffen haben, die mit den aufeinander abgestimmten Handlungsplänen in Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang liegt in der Tatsache begründet, dass durch das Schaffen gemeinsamer Bedeutungen gegenseitiges Verstehen ermöglicht wird. Dadurch dass kulturgebundene Ordnungssysteme die Kooperation zwischen Menschen bestimmen, beeinflusst die Kultur das Handeln derjenigen, die miteinander kooperieren.

Die Ausführungen verdeutlichen also, inwiefern menschliche Kooperation als Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen zu verstehen ist. Mit Kooperation von Menschen befasst sich auch Tomasello (2006; 2011) hinsichtlich der Beschreibung menschlicher Kommunikation. Damit richtet sich der Fokus bei der Beschreibung von Kooperation von Menschen auf den Aspekt der geteilten Intentionalität, womit sowohl gemeinsame Ziele und Absichten als auch wechselseitiges Wissen, geteilte Überzeugungen und kooperative Motive gemeint sind (Tomasello 2011). Ausgehend von der Tatsache, dass geteilte Intentionalität als Voraussetzung für jegliche kooperativen Handlungen betrachtet wird (Searle 1997), schlägt Tomasello (2011) zur Beschreibung kooperativer menschlicher Kommunikation ein Kooperationsmodell vor und stellt damit kooperative Kommunikation als spezielle Form menschlicher Kooperation dar. Es handelt sich demnach bei kooperativer Kommunikation um Prozesse, bei denen als Akteur der Tätigkeit das „wir“ (Tomasello 2011, 83 f.) betrachtet wird.

Wenn, wie Tomasello (2006) ausführt, kooperative Kommunikation als spezielle Form menschlicher Kooperation auftritt, wird deutlich, welche Rolle menschliche Kommunikation bei der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation spielt. Dieser Zusammenhang soll im folgenden Abschnitt (4.4.2) genauer ausgeführt werden, um anschließend Schlussfolgerungen ziehen zu können, inwiefern Kommunikation als Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation beiträgt.

4.4.2 Alltägliche Lebenssituation als Resultat zwischenmenschlicher Kommunikation

Ausgehend von den Ausführungen Wellings (1990) zur kommunikativen Funktion der Sprache soll im Folgenden die Relevanz von Kommunikation bezüglich der Konstruktion des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation dargestellt werden. Dafür wird im Anschluss an die Ausführungen zu Kommunikation als Funktion von Sprache nach Welling (1990) auf das kommunikative Kooperationsmodell nach Tomasello (2006) eingegangen, um den Aspekt der Kooperation im Hinblick auf menschliche Kommunikation zu erläutern. Erweitert werden die Auffassungen hinsichtlich menschlicher Kommunikation von Tomasello (2006) sowie Welling (1990) durch Annahmen von Holzkamp (1985), um auf dieser Grundlage menschliche Kommunikation als Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen als Konstruktionsfaktor eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation auszuweisen.

Sprache hat, dies wird im Abschnitt 3.1 erläutert, als Erstes eine kommunikative Funktion. Diese Feststellung lässt sich mit der Zielgerichtetheit sprachlichen Handelns begründen. Mit sprachlichen Handlungszielen, die beispielsweise darin bestehen können, zu einer Problemlösung beizutragen, wird auf die kommunikative Funktion von Sprache rekurriert, da Menschen nicht nur Wörter mit anderen austauschen, sondern ein Austausch von entwickeltem kulturbezogenem Wissen über die Welt stattfindet (Welling 1990; 1991; 1999; 2004; von Knebel 2002; 2008).

Die erste Funktion von Sprache, nämlich jener als Mittel der Kommunikation ist, durch den Aspekt des Austausches von entwickeltem kulturbezogenen Weltwissen des Individuums mit der zweiten Funktion von Sprache, der Repräsentation im Sinne Piagets (u. a. 2015), verbunden, denn das entwickelte Wissen wird auch durch Sprache repräsentiert. Dieser Kommunikationsbegriff ist handlungstheoretisch zu fassen, und zwar auf Basis der Strukturidentität, die dieser Arbeit handlungsleitend bei der Auswahl der Bezugsysteme (siehe Abschnitt 1.3) zugrunde liegt. Es handelt sich um einen handlungstheoretischen Begriff von Kommunikation, weil mit dem Verweis auf die Zielgerichtetheit sprachlichen Handelns die individuellen Handlungsmöglichkeiten im Sinne von speziellen Zielen sprachlichen Handelns (Welling 1990) angesprochen sind.

Durch Verfolgen bestimmter Ziele beim sprachlichen Handeln „begleitet und prägt“ (Welling 1990, 12) Kommunikation das Leben der Menschen. Dadurch offenbart sich eine individuelle Komponente des Bedürfnisses nach Kommunikation. Gleichzeitig betrifft Kommunikation gesellschaftliche Prozesse, die in der Gesellschaftsbezogenheit des Menschen und des menschlichen Handelns begründet sind. Dem übergeordnet erscheint die kulturelle Entwicklung als bestimmendes Merkmal von Kommunikation, aufgrund derer sich wiederum die spezifischen Bedeutungen entwickeln, die kommuniziert werden (Welling 1990).

Tomasello (2011, 110) beschreibt mit dem Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation menschliche Kommunikation als ein grundlegendes kooperatives Unternehmen. Nach diesem Modell weist der Kommunizierende individuelle Ziele und Werte auf. Vor einem gemeinsamen Hintergrund bezieht sich dieser durch soziale Intentionalität auf den anderen, den Empfänger. Dies geschieht, indem der Kommunizierende beispielsweise Hilfe von dem Empfänger erwartet oder ihn über einen Sachverhalt informieren möchte. Diese Intentionalität, die nach Tomasello (2006) als grundlegende Voraussetzung für den Spracherwerb zu betrachten ist, soll mittels Kommunikation erreicht werden und führt so zu einer bestimmten sozialen Interaktion. Durch die referenzielle Intention wird die Aufmerksamkeit des anderen auf eine bestimmte Situation gelenkt. Grundlage für diese Vorgänge ist, dass wechselseitige Annahmen beziehungsweise Kooperationsnormen zur Erschließung der sozialen Intentionalität des anderen führen. Der oder die kooperationsbeteiligte Person (Empfänger) trifft für sich die Entscheidung, ob die Kooperation eingegangen werden soll oder nicht. Erfolgt eine kommunikative Kooperation, zeigt sich dies durch dreierlei Möglichkeiten: Kommunikation wirkt dann entweder als Befolgen von Aufforderung, Anbieten von Hilfe durch Information oder Teilen von Gefühlen und Einstellungen.

Als Voraussetzung für Kommunikation nennt Tomasello (2011) kognitive Fertigkeiten, die einen gemeinsamen Hintergrund schaffen lassen, sowie die soziale Motivation, anderen zu helfen oder Dinge mit anderen zu teilen. Die kognitiven Fertigkeiten sind insofern als Voraussetzung zu betrachten, da sie einen gemeinsamen begrifflichen Hintergrund schaffen, der durch gemeinsame Aufmerksamkeit, geteilte Erfahrung sowie gemeinsames kulturelles Wissen generiert wird (Tomasello 2011).

Hinsichtlich der beschriebenen Annahmen zur kooperativen Kommunikation können sprachliche Symbole als Kommunikationsmittel verstanden werden. Gleichzeitig wird damit die Grundlage des Spracherwerbs ausgedrückt: Für einen aktiven Gebrauch sprachlicher Symbole muss die kommunikative Absicht des anderen nicht nur erkannt werden, sondern auch auszudrücken gelernt werden, indem das gleiche kommunikative Mittel benutzt wird. Situationen geteilter Aufmerksamkeit, das Verstehen kommunikativer Intentionen sowie die kulturell geprägte Imitation des Rollenwechsels sind zusammengefasst Voraussetzungen für einen Erwerb des konventionellen Gebrauchs sprachlicher Symbole, bei dem die sprachlichen Symbole als Kommunikationsmittel von beiden Interaktionspartnern verstanden werden (Tomasello 2011).

Äquivalent zum Kooperationsmodell von Tomasello (2011) spricht Holzkamp (1985) von einer „Sender-Empfänger-Beziehung zwischen Organismen“ (Holzkamp 1985, 114). Es werden aus dieser Perspektive Symbolbedeutungen und sprachliche Zeichen analytisch voneinander unterschieden, die sich jedoch als lautliche und symbolisch-begriffliche Seite der Sprache gemeinsam herausbilden, denn ohne die sprachlichen Zeichen als Träger der Symbole wäre die symbolisch-begriffliche Seite der Sprache nicht „fassbar“ (Holzkamp 1985, 228). Es sind die Laute, die es Menschen ermöglichen, symbolisch-begrifflich repräsentierte Inhalte zu kommunizieren und damit eine Beziehung untereinander herzustellen, die durch die Sprache qualifiziert ist (Holzkamp 1985, 229). Mit der symbolisch-begrifflichen Seite der Sprache wird eine inhaltliche Beziehung zur Realität der Subjekte hergestellt, das heißt zu den von den Menschen kooperativ selbst hergestellten Lebensbedingungen. Es werden also die Bedeutungszusammenhänge repräsentiert, die die Menschen vorfinden und zu denen sie sich im Sinne der Möglichkeitsbeziehung verhalten.

Die Annahme Holzkamps (1985, 229), durch Kommunikation eine zwischenmenschliche Beziehung herzustellen, erweist sich als gleichbedeutend mit den Annahmen Tomasellos und betont den kooperativen Aspekt der kommunikativen Handlungen. Holzkamp (1985) hebt ebenso die gemeinsame Entwicklung der lautlichen Kommunikation mit Kooperation hervor und beschreibt Kommunikation als eine Funktion des Psychischen, womit soziale Informationen zwischen den Individuen übermittelt werden. Holzkamp (1985) stellt also Kommunikation in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Sozialstrukturen und meint daher nicht den „zufällig-äußerlichen Kontakt zwischen Tieren“ (Holzkamp 1985, 113), sondern ein gegenseitiges Aufeinandereinwirken der Organismen.

Die erklärten Annahmen zur menschlichen Kommunikation zeigen auf, inwiefern der Aspekt des kommunikativen Handelns als Konstruktionsfaktor für ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation betrachtet werden kann. Dies begründet sich wie folgt: Kommunikation als menschliche Kooperationsform dient der Übermittlung von Inhalten zwischen den Kommunikationspartnern. Diese Inhalte können, wie gezeigt wurde, verschiedener Art sein, beispielsweise handelt es sich um das Äußern von Wünschen oder Verboten. Genauer gesagt handelt es sich bei diesen übermittelten Inhalten um die Ziele des sprachlichen Handelns, deren spezielle Form die Kommunikation darstellt. Im Bezugssystem der Kritischen Psychologie wird an dieser Stelle von individuellen Handlungsmöglichkeiten gesprochen, die das Subjekt vorfindet und die die Grundlage für die individuellen subjektiven Handlungsgründe liefern. Aus dieser Sicht werden also Ziele des sprachlichen Handelns als Bedingungen betrachtet, unter denen sprachliches Handeln, also Kommunikation, erst möglich wird und stattfindet.

Auf inhaltlicher Ebene betrachtet wird das kulturbezogene, vom Subjekt entwickelte Wissen über die Welt repräsentiert und kommuniziert. Bei diesem kulturell entwickelten Wissen handelt es sich um die Bedeutungen der alltäglichen Lebenssituation, nach Holzkamp (1985) betrifft dies die begrifflich-symbolische Seite der Sprache. Mit Tomasello (2011) gesprochen ist damit der gemeinsame Hintergrund der Kommunikationspartner gemeint. Damit können die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation als Voraussetzung für menschliche Kommunikation angesehen werden. Gleichzeitig, und damit formiert sich eine Doppelbedeutung der Bedingungen für die Kommunikation, sind die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation Ergebnis menschlicher Kommunikation. Dies lässt sich damit erklären, dass kooperative Kommunikation vor dem gemeinsamen Hintergrund auf Basis eines gemeinsamen Plans der Kommunikationspartner erfolgt, sodass gemeinsame Ziele erreicht werden, die wiederum auf die alltägliche Lebenssituation einwirken.

Es kann resümiert werden: Kommunikation wirkt also auf die alltägliche Lebenssituation der Kommunikationspartner, indem sie Bedingungen schafft, die durch die Zielgerichtetheit sprachlichen Handelns ausgedrückt sind. Gleichzeitig stellt Kommunikation eine spezielle Form der Kooperation von Menschen dar, die so zueinander in Beziehung treten und damit sowohl selbst Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation darstellen, als auch eine besondere kommunikative Wirkung, wie beispielsweise Befolgen von Anforderungen oder Anbieten von Hilfe, erzielen. Auf Basis des Kooperationsmodells nach Tomasello (2011) wird deutlich, dass durch Kommunikation eine soziale Beziehung hergestellt wird, da die Kommunikationspartner in Kooperation zueinander treten. Im Sinne Holzkamps (1985) wirken die beteiligten Organismen aufeinander ein, Kommunikation „begleitet und prägt“ (Welling 1990, 12) das menschliche Leben, was durch die von Tomasello (2011) angeführten Wirkungen von Kommunikation (Befolgen von Aufforderungen, Anbieten von Hilfe durch Information oder Teilen von Gefühlen und Emotionen) spezifiziert wird. Kommunikation vollzieht sich vor einem gemeinsamen begrifflichen Hintergrund und es wird kulturbezogenes Wissen ausgetauscht, was wiederum als Bedeutungen der alltäglichen Lebenssituation zur Konstruktion eines Konzepts derselben beiträgt. Präzise für die alltägliche Lebenssituation kann konstatiert werden, dass sie sowohl Bedingung als auch Ergebnis von Kommunikation ist.

Die Ausführungen der Abschnitte 4.1, 4.2, 4.3 und 4.4 in dem vorliegenden Kapitel beschreiben theoriegeleitet die Aspekte des eigenaktiven, kulturgebundenen und gesellschaftsbezogenen menschlichen Handelns sowie der Kooperation und Kommunikation als zwischenmenschliche Beziehungen, um im Kapitel 5 auf dieser Basis ein handlungstheoretisch fundiertes Konzept von alltäglicher Lebenssituation erläutern zu können. Zunächst wird die theoretische Perspektive um eine methodische erweitert und der Fokus auf die alltägliche Lebenssituation als Gegenstand handlungstheoretisch ausgerichteter sprachbehindertenpädagogischer Forschung gelegt. Dieses Vorgehen ist in der Annahme begründet, dass durch Betrachtung der methodischen Vorgehensweise in den ausgewählten Untersuchungen (Kracht 2000, Nagel 2012 und Welling 1990) abgeleitet werden kann, welche Schlussfolgerungen für ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation sich aus der methodischen Perspektive ziehen lassen sowie welche methodische Vorgehensweise zur Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern beitragen kann (siehe Kapitel 5).

4.5 Forschungsmethodische Zugänge zum Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation in handlungstheoretisch ausgerichteter sprachbehindertenpädagogischer Forschung

In diesem Abschnitt wird die Untersuchung dreier biografischer Analysen dargestellt, die von Kracht (2000), Nagel (2012) und Welling (1990) unter Bezugnahme auf die gleichen theoretischen Bezugssysteme – Kooperative Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) und Sprachhandlungstheorie (Welling 1990) – durchgeführt wurden, wie sie der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen.

Ziel der folgenden Erläuterungen und Analysen ist es, herauszuarbeiten, welche Anhaltspunkte für eine methodische Gestaltung der Analyse von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation die genannten Ausarbeitungen liefern, die vor dem gleichen theoretischen Hintergrund, wie er auch bei dieser Arbeit vorliegt, entstanden sind. Ein Fokus liegt dem genannten Ziel entsprechend in der Betrachtung, wie Kracht (2000), Nagel (2012) und Welling (1990) bei ihren biografischen Analysen, die die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation zum Gegenstand haben, methodisch bei Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation vorgegangen sind.

Im Folgenden werden die gewählten Untersuchungen „Migration und kindliche Zweisprachigkeit“ (Kracht 2000) (siehe Abschnitt 4.5.1), „Sprachliches Handeln und kausale Bedeutungskonstruktion“ (Nagel 2012) (siehe Abschnitt 4.5.2) und „Zeitliche Orientierung und sprachliches Handeln“ (Welling 1990) (siehe Abschnitt 4.5.3) nacheinander dargestellt und schließlich in ihren wesentlichen Aspekten zusammengefasst (siehe Abschnitt 4.5.4). Im Anschluss daran werden aus diesen Ergebnissen Schlussfolgerungen zum einen für das in der vorliegenden Arbeit zu entwickelnde Analyseverfahren von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation und zum anderen hinsichtlich der Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation gezogen (siehe Kapitel 5). Um die methodischen Schlussfolgerungen, die zur Entwicklung des in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Analyseverfahrens beigetragen haben, intersubjektiv nachvollziehbar werden zu lassen, wird jede Untersuchung knapp auf inhaltlicher Ebene vorgestellt, bevor auf methodischer Ebene die Vorgehensweise dargestellt und analysiert wird.

Es wird aus zwei Gründen nicht versucht, auf inhaltlicher Ebene Schlussfolgerungen für ein Verfahren zur Analyse von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation für die erfolgten biografischen Analysen zu ziehen. Erstens sind inhaltliche Gegenstände einer pädagogischen Sprachdiagnostik individuell und in Bezug auf die jeweilige zugrunde liegende sprachliche Problemlage zu bestimmen. Zweitens wären aufgrund der Annahme der Nicht-Verallgemeinerbarkeit inhaltlicher Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachdiagnostik beziehungsweise der Möglichkeitsverallgemeinerung (Holzkamp 1985) solche Schlussfolgerungen nur für den jeweiligen individuellen Einzelfall zu ziehen, was hier als nicht zielführend erachtet wird, da die biografischen Analysen der Autorin Kracht (2000) sowie der Autoren Nagel (2012) und Welling (1990) abgeschlossen sind. Daher werden in der vorliegenden Arbeit Schlussfolgerungen hinsichtlich der methodischen Gestaltung der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation gezogen.

4.5.1 Forschungsmethodischer Zugang zum Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation im Zusammenhang mit kindlicher Zweisprachigkeit als sprachliche Handlungsfähigkeit

Bei den folgenden Ausführungen wird Bezug genommen auf das Forschungsprojekt von Kracht (2000), in dem der Zusammenhang von Migration und kindlicher Zweisprachigkeit anhand von Informationen eines Kindergartenkindes und seiner Familie erläutert wird.

Inhaltliche Erläuterung

Die Untersuchung von Kracht (2000) verfolgte das Ziel, die „individuell wirkenden (…) Bedingungen zu erfassen und sie in Beziehung zu setzen zu der entwickelten Form von Zweisprachigkeit des Kindes F.“ (Kracht 2000, 320) als Subjekt der Analyse. Den Gegenstand dieser Untersuchung stellt also die sprachliche Handlungsfähigkeit eines Kindes im Vorschulalter unter den Bedingungen der Migration und Zweisprachigkeit dar (Kracht 2000, 318).

Kracht (2000) unterscheidet in ihrer Untersuchung die Bereiche Familie und Kindergarten und bezieht sich damit auf die „familiäre und institutionelle Sozialisation zweisprachiger Kinder“ (Kracht 2000, 318), die also Zweisprachigkeit unter der Bedingung der Migration entwickeln. Zur Analyse wählt Kracht Zugänge pädagogischer Sprachdiagnostik, nämlich die biografische Analyse, die Analyse des sprachlichen Handelns und die Mikroanalyse der gesprochenen Sprache.

Zweisprachigkeit als Form sprachlicher Handlungsfähigkeit zu betrachten bedeutet, dass Zweisprachigkeit sprachliche Mittel bietet, die zielgerichtet verwendet werden. Ebenso ist zweisprachiges sprachliches Handeln plangeleitet und wertorientiert, was sich in der Untersuchung von Kracht (2000, 323) darin zeigt, dass das begriffliche Wissen des Kindes und die subjektive Bedeutsamkeit des erwünschten Sprachgebrauchs untersucht werden.

Unter dem Aspekt der Wertorientierung lässt sich die individuell entwickelte Form kindlicher Zweisprachigkeit in inhaltlicher und wertschaffender Hinsicht erschließen, denn Zweisprachigkeit wird für das Kind dann bedeutsam, wenn der selbstbestimmte Gebrauch der sprachlichen Mittel nicht eingeschränkt wird. Indem ein Kind seine Handlungsziele mit sprachlichen Mitteln verwirklichen kann, werden die sprachlichen Mittel für das Kind verwertbar. Kracht betont in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit einer bewussten und wertorientierten Haltung gegenüber der kindlichen Zweisprachigkeit (Kracht 2000, 332 ff.).

Sprache wird dann vom Kind als bedeutungsvoll erachtet, wenn im gemeinsamen Singen und Spielen durch den Sprachgebrauch ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt wird. Damit hat Sprache eine große Bedeutung bei der Bewältigung des Alltags eines Kindes, wie beispielsweise in dem untersuchten Feld des Kindergartens. Zentral ist dabei, den selbst gewählten Sprachgebrauch des Kindes zuzulassen und in solch eine Kooperation mit dem Kind zu treten, in der die verfolgten Ziele des Kindes erkannt und als wertvoll erachtet werden (Kracht 2000, 339 ff; 342).

Aufgrund der Unterscheidung der Bereiche Familie und Kindergarten, die Kracht (2000) vornimmt, ergibt sich im Hinblick auf die kindliche Zweisprachigkeit folgende Annahme: Die familiären Bedingungen sind Gegebenheiten der familiären Lebenspraxis. Darunter fasst Kracht alltagskulturelle Werte, sprachliche Werte, normative Ansprüche an den Sprachgebrauch und Sprachwechsel sowie sprachbezogene Wertorientierungen der verschiedenen Personen (Kracht 2000, 349, 352). Wertorientierung wird in diesem Sinne auch als Bedeutung verstanden, die der Sprache eines Kindes beigemessen wird, und fasst die Spracherfahrungen zusammen, die ein Kind macht und miteinander in Beziehung setzt (Kracht 2000, 352 f.).

In den unterschiedenen Bereichen Familie und Kindergarten finden sich unterschiedliche Personen wieder, die mit dem Kind F. in Beziehung stehen und deren Handeln aufeinander bezogen ist. Zu nennen sind dabei im Bereich der Familie die Eltern und die Schwester, im Bereich Kindergarten die Erzieherin und die Kinder der Kindergartengruppe. Je nach Zusammensetzung der Familiengruppe findet unterschiedliche Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern statt, was sich beispielsweise durch Sprachwechsel äußert. Darüber hinaus stellt Kracht einen entweder nur deutschen oder nur türkischen Sprachgebrauch fest. Auch Gestik und Mimik werden als Kommunikationsmittel eingesetzt (Kracht 2000, 333).

Darüber hinaus trifft Kracht Aussagen zum Bereich Sprachförderung, die Aufschluss über einen Ort des Handelns mit der Sprachtherapeutin sowie der Ausgestaltung des Handelns in der Sprachtherapie geben. Kennzeichnend für das sprachliche Handeln von F. innerhalb der Familie ist der wechselnde Sprachgebrauch mit der Schwester in Spielsituationen, in denen ein Wechsel zwischen türkischer und deutscher Sprache stattfindet (Kracht 2000, 350). Der Wechsel zwischen den Sprachen stellt außerdem ein Beispiel für die Wertorientierung dar (Kracht 2000, 356), ebenso sind die unterschiedlichen Spracherfahrungen innerhalb der Familie und im Kindergarten unter dem Aspekt der Wertorientierung zu interpretieren (Kracht 2000, 351).

Bezüglich der Kommunikation im Kindergarten fasst Kracht (2000, 335–339) zusammen: Der Sprachgebrauch des Kindes F. wurde zwar so respektiert, wie es ihn vollzogen hat, dennoch misst die Erzieherin der Sprache als Mittel der Bewältigung des Kindergartenalltags wenig Bedeutung bei. Es fand daher zum Beispiel keine Korrektur der sprachlichen Äußerungen statt, sondern es wurde versucht, die Zielsetzung der Kinder zu verstehen. Festzustellen ist außerdem, dass der ritualisierte einsprachige Ablauf im Stuhlkreis F. wenig Anlass zur sprachlichen Kommunikation bietet, da „inhaltliche Gegenstände kaum verhandelt werden“ (Kracht 2000, 339).

Dadurch, dass F. ihre sprachlichen Fähigkeiten wenig als Mittel der Kommunikation einsetzt, erscheint sie nicht durchgängig handlungsfähig, sodass eine Zielverwirklichung nur eingeschränkt möglich (Kracht 2000, 351) wird. Kracht zieht dabei die Schlussfolgerung, dass ein eingeschränkter selbstbestimmter Sprachgebrauch zu einer eingeschränkten Möglichkeit der Zielverwirklichung führt (Kracht 2000, 334). Der Begriff Zweisprachigkeit wird durch Verweis auf die Aspekte Handlungsfähigkeit und Zielverwirklichung handlungstheoretisch (Kracht 2000, 340) gefasst. Zweisprachigkeit beschreibt damit das Angewiesensein auf die Entwicklung und den Gebrauch zweier Sprachen zur Bewältigung des Alltags, wobei Handlungserfahrungen gemacht werden, die sowohl kognitiv strukturierbar als auch inhaltlich bedeutsam werden.

Die handlungstheoretische Fundierung zeigt sich bei der Betrachtung der Strukturentwicklung (Kracht 2000, 348), die dem Sprachgebrauch zugrunde liegt. So wird der Fokus in der Untersuchung nicht auf den Einsatz des sprachstrukturellen Wissens als Kommunikationsmittel gelegt, vielmehr steht der Einsatz der sprachlichen Fähigkeiten zur Repräsentation des entwickelten Wissens im Vordergrund. Dabei handelt es sich um rezeptiv erworbenes Sprachwissen, das produktiv verwendet (Kracht 2000, 348) wird.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Ebenso wie Migration wird Zweisprachigkeit eines Subjekts als Bedingung betrachtet, unter der Sprache und sprachliche Handlungsfähigkeit entwickelt wird und Sprachgebrauch stattfindet. Zweisprachigkeit, die als wertvoll erachtet wird, führt zur einer umfassenden Zielverwirklichung des Subjekts. Das Subjekt strukturiert die Handlungserfahrungen, die es im Zusammenhang mit dem Gebrauch zweier Sprachen machen kann, was als sprachstrukturelles Wissen eine inhaltliche Bedeutsamkeit erlangt und dadurch die Grundlage für sprachliche Repräsentation und Kommunikation darstellt.

Die Ausführungen im vorliegenden Abschnitt beschreiben den inhaltlichen Gegenstand der von Kracht (2000) durchgeführten biografischen Analyse, nämlich Zweisprachigkeit und Migration als Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes F. Die Kenntnis dieses inhaltlichen Gegenstands stellt die Grundlage für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der methodischen Vorgehensweise bei der Analyse dar, die nachfolgend erläutert wird.

Methodische Analyse

Die von Kracht (2000) verwendeten Methoden sind von einem handlungstheoretischen Standpunkt aus gewählt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie es ermöglichen, die Handlungen aller Beteiligten zu erfassen (Kracht 2000, 323). Es werden Spielsituationen gestaltet, um „subjektiv bedeutsame Sprachhandlungen zu ermöglichen“ (Kracht 2000, 322), da es sich beim Spiel um eine „kindgemäße Sprachgebrauchssituation“ (Kracht 2000, 322) handelt. So werden im Spiel sprachliche Handlungen des Kindes erkannt und gleichzeitig wird eine größtmögliche Teilhabe des Kindes am diagnostischen Prozess ermöglicht, was aus pädagogischer Sicht und insbesondere aufgrund der diesem Forschungsprozess zugrunde liegenden Leitidee der Kooperation (Kracht 2000, 325) notwendig erscheint. Diesen Spielsituationen liegt die Methode der teilnehmenden Beobachtung zugrunde, sowohl transkribierte Videoaufzeichnungen als auch Gedächtnisprotokolle werden für die Datenauswertung genutzt. Es werden darüber hinaus zur Datenerhebung Interviews mit für F. wichtigen Bezugspersonen geführt und transkribiert. Im narrativen Interview mit dem Vater werden sowohl biografische Daten erfragt als auch Fragen gestellt, die es ermöglichen, die Handlungsbegründungen der befragten Person zu rekonstruieren (Kracht 2000, 328 f.). Dies ist aus handlungstheoretischer und förderdiagnostischer Sicht ein notwendiger Schritt, um die beobachteten Daten unter Bezugnahme des theoretischen Wissens der diagnostizierenden Person ordnen und bewerten (Jantzen 2000; Jantzen 2009; Jantzen 2012; Jetter 1994) zu können. Die von Kracht (2000) vorgenommene „handlungstheoretische Interpretation und sprachentwicklungstheoretische Deutung der Analyseergebnisse“ (Kracht 2000, 322) trägt zu eben dieser Rekonstruktion und dem Verstehen der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation bei. Durch die über einen Zeitraum von 18 Monaten (Kracht 2000, 327) durchgeführte Untersuchung wird im Sinne einer Prozessdiagnostik der sprachliche Entwicklungsprozess längerfristig begleitet, sodass es sich nicht um Forschungsergebnisse handelt, die lediglich das sprachliche Handeln des Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegeln. Durch diese Prozesshaftigkeit wird die biografische Analyse zu einer entwicklungsorientierten Untersuchung, was aus förderdiagnostischer Sicht unverzichtbar für das Erkennen förderlicher beziehungsweise hinderlicher Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation erscheint (siehe Abschnitt 3.3.1).

4.5.2 Forschungsmethodischer Zugang zum Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation im Zusammenhang mit der Entwicklung sprachlichen Handelns und kausaler Bedeutungskonstruktion

Bei den folgenden Ausführungen wird auf das Forschungsprojekt von Nagel (2012) Bezug genommen, in dem der Zusammenhang von sprachlichem Handeln und kausaler Bedeutungskonstruktion untersucht wird. Dafür erläutert Nagel (2012) zwei Untersuchungen, wovon die erste mit einem Kindergartenkind und die zweite mit einem Schulkind sowie den jeweiligen Familien der Kinder durchgeführt wurde.

Inhaltliche Darstellung

Nagel (2012) versteht kausale Bedeutungskonstruktionen als „Zuschreibung von Kognitionen zu Objekten“ (Nagel 2012, 400) und untersucht die Praxis kausaler Bedeutungskonstruktionen, indem er zum einen kausale Bedeutungskonstruktionen eines Kindes im familialen Alltagshandeln (‚U1‘) und zum anderen kausale Bedeutungskonstruktionen und ihre Versprachlichung bei der Bewältigung von naturwissenschaftlichen Handlungsexperimenten (‚U2‘) im Kontext schulischen Lernens analysiert. Dabei stellt Nagel (2012) fest, dass Erklärungen und Begründungen dem Erreichen und der Absicherung von Handlungszielen dienen. Die kausalsprachlichen Handlungen ‚Begründen‘ und ‚Erklären‘ sind in ihrem kommunikativen Zweck mit den Handlungszielen des Subjekts (Nagel 2012, 288) verbunden und daher als kommunikative Mittel zu betrachten.

Innerhalb der Analyse der familialen Kommunikationsstrukturen und -bedingungen des Kindes als Subjekt der Analyse wird Folgendes deutlich: Wenn familiales Handeln in konsensuellem Alltagshandeln eingebettet ist und damit zum einen wenig exploratives Handeln und zum anderen wenig kritisch-argumentatives sprachliches Handeln zulässt (Nagel 2012, 392), führt das dazu, dass den Begründungen und Erklärungen als kausalsprachliche Handlungen im konsensuellen Familienalltag des Kindes der ‚U2‘ wenig Raum gegeben wird. Dadurch wiederum kann der kommunikative Zweck dieser kausalsprachlichen Handlungen also in diesem familialen Handeln nicht erreicht werden.

Nagel beschreibt die Ausdrucksform ‚Fragen-warum‘ als Form „erkannter Un-Ordnung“ (Nagel 2012, 294). Mit der Handlungsform Fragen-warum bringt das Subjekt unerwartete Geschehnisse zum Ausdruck beziehungsweise stellt ein Geschehen aufgrund der erkannten Un-Ordnung infrage. Damit wird auf die Tatsache Bezug genommen, menschliches Handeln als geordnete und ordnende Tätigkeit zu betrachten, denn wenn ein Subjekt ein Geschehen als nicht zu seiner bisherigen erkannten Ordnung passend erkennt und damit infrage stellt, werden die erkannten Strukturen im Sinne Piagets den neuen Strukturen angepasst, wodurch eine neue Ordnung hergestellt werden kann. Die sprachliche Handlung Fragen-warum ist damit eingebettet in die kausale Handlungsform Erklären und Begründen (Nagel 2012).

Die Handlungsform Fragen-warum hat darüber hinaus zum Ziel, die Aufmerksamkeit des Sprechers oder der Sprecherin auf eine erkannte Un-Ordnung zu lenken. Erkannte Besonderheiten sollen gemeinsam reflektiert werden, wodurch auf die weiteren Handlungen der beteiligten Personen koordinierend Einfluss genommen wird. Nagel bezeichnet sprachliches Handeln in diesem Zusammenhang als „im Fluss konsensueller Koordinationen“ (Nagel 2012, 284) stehend und meint damit die komplexe Koordination von Handlungen und sprachlichen Handlungen mit geteilter Aufmerksamkeit, deren Teil geäußerte Kommentare, Begründungen oder Erklärungen sind. Indem konkrete Warum-Fragen oder eigene Begründungen vom Subjekt geäußert werden, wird dieses „mit und in kausalsprachlichem Handeln Teil der Koordinierungen konsensueller Handlungen im sinnstiftenden Rahmen familialer Alltagshandlungen“ (Nagel 2012, 287) vollzogen.

Beobachtbar werden die kausalsprachlichen Handlungsmuster ebenso durch die genannten Formen Begründen, Erklären und Fragen-warum wie durch sprachliche Verknüpfungsmittel in der kausalen Rede mit dem Ziel der Erklärung (und, dann, weil, aber). Damit findet eine kausale Zuschreibung von Objekt-Objekt-Relationen statt, die zu Formen des Erklärens führen (Nagel 2012, 395 f.). Eine solche sprachliche Handlung ist zielgerichtetes Handeln in komplexen Gesprächen, denn die Äußerungen stehen als kausale Sprachhandlungen in einem bestimmten Handlungszusammenhang und sind Teil sinnstiftender Bedeutungskonstruktion (Nagel 2012, 282, ff., 308 f.).

Die von Nagel (2012) durchgeführte biografische Analyse sowie die Analyse zum familialen Handlungsraum zeigen auf, in welchem Maße familiäre Strukturen und Wertorientierungen innerhalb der Familie Einfluss auf die kindliche Entwicklung, auch im Bereich der kausalen Bedeutungskonstruktion, haben. So stellt Nagel fest: D. als Subjekt der Analyse ‚U2‘ wächst in einer Familie mit zwei älteren Schwestern auf, das Zusammenleben ist von Überlegenheit der Schwestern geprägt, wobei D. in ihrer Familie „emotional aufgehoben“ (Nagel 2012, 391) erscheint. Die Wertorientierungen innerhalb des konsensuellen Familienalltags stehen im Gegensatz zu den Wertorientierungen der schulischen Unterrichtspraxis, die von als wertvoll erachtetem Begründen und Erklären des eigenen Handelns und Veränderungen geprägt ist.

Die vorliegenden Ausführungen verdeutlichen, inwiefern in den Untersuchungen von Nagel (2012) der kindliche kausale Sprachgebrauch als sprachliches Handeln gefasst wird. Damit ist der inhaltliche Gegenstand der biografischen Analyse sowie der Sprachhandlungsanalyse beschrieben, die von Nagel (2012) vorgenommen werden. Die Kenntnis dieses inhaltlichen Gegenstands stellt die Grundlage für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der methodischen Vorgehensweise bei der Analyse dar, die nachfolgend erläutert wird.

Methodische Analyse

Nagel (2012) führt zwei Untersuchungen (U1 und U2) an, deren Methoden im Folgenden zusammenfassend dargestellt und analysiert werden. Es liegen der sprachhandlungstheoretisch ausgerichteten Analyse Gespräche (Nagel 2012, 274) zugrunde, die über einen Zeitraum von 21 Monaten mit einem Kind geführt wurden (U1), weshalb diese Form der Diagnostik als prozesshaft bezeichnet werden kann. Parallel zu den Gesprächen werden von der diagnostizierenden Person Beobachtungen zum kausalen Sprachgebrauch (U1) durchgeführt (Nagel 2012). Die Beobachtungen finden im alltäglichen Handeln der Familie statt (Nagel 2012, 277), sodass die Mutter und die Schwester des Kindes am Forschungsprozess teilhaben. In der zweiten Untersuchung (U2) werden im Rahmen der schulischen Sprachtherapie Gespräche im und über den Unterricht (Nagel 2012, 311 f.) mit einem anderen Kind geführt. Ergänzt werden diese Gespräche mit Elterngesprächen (Nagel 2012, 311) und einem fokussierend-problemzentrierten Interview mit den Eltern (Nagel 2012, 315), wodurch auch hier das Umfeld des beteiligten Kindes in den Forschungsprozess einbezogen wird.

Den Untersuchungen U1 und U2 ist gemeinsam, dass die Gespräche die Kinder zu einem aktiven Sprachgebrauch anregen sollen, was sich beispielsweise darin zeigt, dass von der diagnostizierenden Person Fragen an das Kind gestellt werden und es somit zu Erklärungen aufgefordert wird (Nagel 2012, 390). Es liegt den Gesprächen jeweils ein allen Beteiligten gemeinsamer Anlass zugrunde. In der Untersuchung 1 handelt es sich zum Teil um Spielsituationen, zum Teil um im Alltag der Familie auftretende Situationen wie beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten. Die Untersuchung 2 ist gekennzeichnet durch gemeinsame Anlässe, die sich aus Handlungen im Unterricht und in der Sprachtherapie ergeben und weitestgehend das Thema Experimentieren betreffen (Nagel 2012, 314). Sowohl das Kind als auch die Bezugspersonen des Kindes werden dadurch fortlaufend am Forschungsprozess beteiligt.

Verstehen und Rekonstruktion durch die untersuchende Person hinsichtlich der sprachlichen Handlungen der beteiligten Kinder werden durch Nachfragen ermöglicht, indem analytische Fragen nach den Bedingungen des sprachlichen Handelns (Nagel 2012, 279 ff.) in der jeweiligen Situation gestellt werden und die Analyseergebnisse handlungstheoretisch gedeutet werden (Nagel 2012, 315). Aus förderdiagnostischer Sicht erweist sich das Nachfragen zu Bedingungen des sprachlichen Handelns und deren handlungstheoretische Deutung als sinnvoll im Hinblick auf die Erfassung förderlicher beziehungsweise hinderlicher Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation.

4.5.3 Forschungsmethodischer Zugang zum Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation im Zusammenhang mit zeitlicher Orientierung und der Entwicklung sprachlichen Handelns

Bei den folgenden Ausführungen wird auf das Forschungsprojekt von Welling (1990) Bezug genommen, in dem der Zusammenhang der zeitlichen Orientierung und des sprachlichen Handelns anhand einer Untersuchung mit Vorschulkindern (hörgeschädigt, sprachlich beeinträchtigt) erläutert wird.

Inhaltliche Darstellung

Bei der Beschreibung der empirischen Untersuchung und der darin aufgeführten Darstellung der Entwicklung zeitlicher Orientierung wird unter der grundlegenden Annahme, dass Zeitgebrauch als menschliches Handeln zu fassen ist, durchgängig auf die alltägliche Lebenssituation der Kinder Bezug genommen. Zwei Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch die Analyse Wellings (1990): Zeitwissen und Zeiterleben. Kinder besitzen ein spezifisches Zeitwissen und Zeiterleben, das Welling unter dem Aspekt der „Pluralität“ (Welling 1990, 413) fasst, womit das Auftreten des Zeitwissens und Zeiterlebens bei Kindern in mehreren unterschiedlichen Formen (siehe hierzu weiterführend Welling 1990, 414 420) gemeint ist.

Ein zweiter grundlegender Aspekt ist der Begriff der „Mehrdimensionalität“ (Welling 1990, 420) des Zeitwissens und Zeiterlebens: Zeitorientierung impliziert „räumliche und kausale, gegenständliche und symbolische Bezüge“ (Welling 1990, 420). Beispielsweise wird zeitliches Wissen durch Bilder, Fotos, Zeichnungen und so weiter symbolisiert.

Welling (1990) stellt fest: Zeitwissen wird nicht durch „Konfrontation mit der Metrik einer kulturell bedeutsamen Zeiteinteilung“ (Welling 1990, 426) herausgebildet. Vielmehr entwickeln sich Zeitvorstellungen in Zusammenhang mit einer bestimmten sozialen Praxis, also der „konkreten Lebenspraxis“ (Welling 1990, 428) der Kinder, die aufgrund der zeitlichen Strukturierung von Tätigkeiten Anlässe bietet, Erfahrungen mit Zeit zu sammeln, die an die „Gegenstände und Symbolik ihres spezifischen Alltags“ (Welling 1990, 462) gebunden sind.

Weiterhin kennzeichnet nicht das Zeitwissen die zeitliche Orientierung des Kindes, sondern die Kommunikations- und Kooperationsstruktur zwischen Kind und Erwachsenem. Die zeitliche Orientierung kann damit zu spezifischem Zeiterleben des Kindes führen (Welling 1990, 462). Das Zeiterleben wiederum bezieht sich auf zwei Aspekte: zum einen auf das Wissen von der Zeit der eigenen Handlungen und zum anderen auf das Zeitgefühl, was sich auf die „Bewußtwerdung der zeitlichen Verhältnisse eigener Handlungen“ (Welling 1990, 153) bezieht. Das Wissen von der Zeit der eigenen Handlungen meint einen Zeitbegriff im Sinne Piagets (Welling 1990).

Im Zusammenhang mit dem Wissen von der Zeit der eigenen Handlungen steht die Erkenntnis der zeitlichen Verhältnisse der eigenen Handlungen. Diese erkennen die Kinder in strukturierten Alltagssituationen (Welling 1990, 429 f.). Die zeitlichen Verhältnisse werden dadurch konstruiert, indem sich eine Ablösung der zeitlichen Verhältnisse von den räumlichen Verhältnissen vollzieht (Welling 1990, 433). Diese Ablösung ist wie die „Vorstellungsdezentrierung“ (Piaget 1974, zit. n. Welling 1990, 433) als eine fortschreitende Trennung der Anschauung vom Räumlichen aufzufassen (Welling 1990, 433).

Welling stellt in der Analyse weiterhin fest, dass der Gebrauch sprachlicher Zeitformen in kindlichen Erzählungen durch Ordnungsbeziehungen gekennzeichnet ist. Diese können zusammengefasst als drei Kategorien formuliert werden: Es handelt sich um räumlich-örtliche und zeitliche Gegebenheiten (Welling 1990, 444), in inhaltlicher Hinsicht der kindlichen Erzählung als „Orientierung am vermeintlichen Resultat“ (Welling 1990, 448) und bei der Erzählung konkret wahrnehmbarer Dinge, beispielsweise bei der Betrachtung einer visuellen Vorlage (Bildergeschichte), ist ein „Konkretismus“ (Welling 1990, 455) erkennbar, bei dem Veränderungsabfolgen und Zeitintervalle von den Kindern nicht berücksichtigt werden. In Bezug auf die Inhalte kindlicher Erzählungen konstatiert Welling eine Abhängigkeit von den Kommunikationsbedingungen, unter denen die Erzählung vorgebracht wird (Welling 1990, 467). Weniger Abstrahierung und mehr Konkretisierung in kindlichen Erzählungen treten bei der Vorlage von Bildergeschichten auf, da dann ein scheinbar geringerer „Kommunikationsdruck“ (Welling 1990, 468) vorliegt.

Es kann Folgendes resümiert werden: Zeitliche Ordnung tritt als Kategorie neben räumlicher und kausaler Ordnung auf, womit auf den Ordnungsbegriff rekurriert wird und zeitliche Orientierung des Kindes als ordnende und geordnete Tätigkeit in Abhängigkeit der strukturierten Pläne des Kindes aufgezeigt wird. Zeitliche Orientierung ist ein vom Subjekt konstruiertes Mittel, mit dem es seine Wirklichkeit strukturiert (Welling 1990, 480 f.). In der Verwirklichung von Zielen und Aktualisierung von Plänen und Werten prägen die zeitlichen Beziehungen die Persönlichkeit des Kindes, es ist damit als ein Subjekt zu begreifen, das Ergebnis „seiner individuellen Zeitgeschichte“ (Welling 1990, 468) ist. In der Form, in der es dem Subjekt möglich wird, zeitbezogene Erfahrungen vor dem Hintergrund seiner strukturierten Handlungspläne zu machen, ergibt sich ihm eine „bedürfnisbezogene Verwertbarkeit zeitlichen Wissens“ (Welling 1990, 472), womit die individuellen zeitbezogenen Erfahrungen biografisch bedeutsam werden.

Die vorliegenden Ausführungen verdeutlichen, inwiefern in den Untersuchungen von Welling (1990) die Beziehung von zeitlicher Orientierung und sprachlichem Handeln bei Kindern herausgearbeitet wird, wobei Zeit und Sprache als Aspekte menschlichen Handelns beschrieben werden. Damit ist der inhaltliche Gegenstand der biografischen Analyse beschrieben, die von Welling (1990) vorgenommen wird. Die Kenntnis dieses inhaltlichen Gegenstands stellt die Grundlage für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der methodischen Vorgehensweise bei der Analyse dar, die nachfolgend erläutert wird.

Methodische Analyse

Welling (1990) betont bei der Beschreibung der Auswahl der Methoden seiner empirischen Untersuchung den Anspruch, den Zusammenhang kindlicher Zeitorientierungen und Sprachhandeln themengebunden zu betrachten. Dies führt zu der Datenerhebungsmethode von Planung und Realisierung von „Beobachtungssituationen“ (Welling 1990, 381) mit Kindern. Aus methodologischer Sicht beschreibt Welling (1990) daher die Grundlage seines wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns als „exemplarisch-kooperative Praxis des Forschers mit den Betroffenen“ (Welling 1990, 399), was zur Auswahl von Methoden und Aufgaben führt, die aus dem „Alltagsleben der Kinder“ (Welling 1990, 400) entnommen sind: Anlegen eines ‚Tagebuches‘, Ordnung und Vergleich von Gegenständen, Erzählungen und Gespräche, Zauberspiele, Doppelreihenbildung von Lebensalter beziehungsweise mit Flüssigkeit. Ausführlich beschrieben und begründet werden die Methoden und Aufgaben bei Welling (1990, 400–410). Die Interpretationen nimmt Welling mit der Setzung und Erläuterung thesenartiger theoriegeleiteter Schwerpunkte vor, die zum Ziel haben, Funktionen, Fähigkeiten oder Merkmale zeitlicher Orientierung und sprachlichen Handelns zu beschreiben, und so der Analyse zugrunde gelegt werden können (Welling 1990, 412).

Die Methoden, die Welling (1990, 400) im Rahmen seines Forschungsprojektes auswählt, können folgenden vier Kategorien zugeordnet werden:

  1. 1.

    Es handelt sich um das Anlegen eines Tagebuches, bei dem Gegenstände, Situationen und Personen gemalt werden oder Fotos aufgeklebt werden.

  2. 2.

    Eine weitere Methode ist das Ordnen und Vergleichen von Gegenständen wie Fotos, Bilder oder Zeichnungen.

  3. 3.

    Es werden Erzählungen und Gespräche über das Tagebuch, die Fotos und Bilder sowie über Erfahrungen und Erlebnisse des Kindes geführt.

  4. 4.

    Zudem wird die Methode der Doppelreihenbildung, bei der das In-Beziehung-Setzen von beispielsweise Bildern mit Bezug zum Lebensalter erforderlich ist (Welling 1990, 402), eingesetzt.

Welling (1990) wählt für die über 14–15 Monate (Welling 1990, 412) angelegte Untersuchung diese Methoden zur Erfassung von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation so aus, dass sie „aus dem Alltagsleben der Kinder“ (Welling 1990, 400) entspringen können, „für die Kinder interessant [sind] (…) und ihre Aufmerksamkeit wecken“ (Welling 1990, 400). Neben Spieltätigkeiten, wie beispielsweise Zauberspiele, werden Erzählungen und Gespräche mit den Kindern (Welling 1990, 402) geführt. Als Erzählanlässe dienen nach Welling (1990, 400–464) unter anderem Bilder, Geschichten, Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder, die zudem auch in einem Tagebuch festgehalten werden. Ergänzt werden diese Methoden, die das sprachliche und allgemeine Handeln der Kinder in den Mittelpunkt rücken, sowohl durch Beobachtungen, die zur handlungstheoretischen Analyse unterstützend herangezogen werden, als auch durch Gespräche mit den Eltern als Bezugspersonen der an der Untersuchung beteiligten Kinder. Dadurch wird ein „Verstehen der Einmaligkeit“ (Welling 1990, 413) der beteiligten Kinder ermöglicht.

Die Kooperation sowohl mit den beteiligten Kindern als auch mit ihren Eltern als Bezugspersonen steht bei der Untersuchung Wellings im Vordergrund (Welling 1990, 400) und wird durch die gewählten Methoden ermöglicht. So sind die Kinder unter anderem beim Anlegen eines Tagebuches nicht nur bei der Erstellung beteiligt, sondern es wird zum einen die gemeinsame Arbeit beispielsweise in Form von Fotos oder Zeichnungen dokumentiert (Welling 1990, 404), zum anderen werden „die gemeinsam gestalteten Tätigkeiten bedürfnisbezogen und interessegeleitet“ (Welling 1990, 409) weiterentwickelt. Deutlich wird, dass mittels dieser Methoden die Untersuchung nicht hinter dem Rücken der betroffenen Kinder stattfindet, sondern im handlungstheoretischen Sinne gemeinsame Ziele verfolgt werden, die auf gemeinsamen Plänen basieren und an gemeinsamen Werten (Welling 1990, 400) orientiert sind. Eine Teilhabe sowohl der Kinder als auch der Bezugspersonen am Forschungsprozess ist durch den Einsatz der beschriebenen Methoden verwirklicht, was aus förderdiagnostischer Sicht zu einer Erfassung förderlicher beziehungsweise hinderlicher Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation beiträgt.

4.5.4 Resümee zu forschungsmethodischen Zugängen zum Gegenstand der alltäglichen Lebenssituation in handlungstheoretisch ausgerichteter sprachbehindertenpädagogischer Forschung

Allen drei Untersuchungen gemeinsam ist eine handlungstheoretische Grundlage, die die Entscheidungsgrundlage für die gewählten Methoden zur Analyse von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation darstellt. Die Haltung, die dabei von den diagnostizierenden beziehungsweise forschenden Personen eingenommen wird, ist gekennzeichnet durch das Menschenbild, das auch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, nämlich den Menschen als aktiv handelnden und zu Kooperation fähigen (Jetter 1985a; Jetter 1985b) zu betrachten. Das Aktivitätspostulat und die Leitidee der Kooperation liegen bei allen drei Untersuchungen sowohl bei der Konzeption als auch der Umsetzung zugrunde. Diese Einschätzung wird von der Auswahl der Methoden und deren Anwendung untermauert. Wie gezeigt wurde, sind Verstehen und Rekonstruktion von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation Ziel dieser drei betrachteten Untersuchungen. Dabei ermöglichen es die dargestellten Methoden, dass die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation in jeder der dargestellten Untersuchungen zueinander in Beziehung gesetzt werden und die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Kind in seiner alltäglichen Lebenssituation analysiert werden. Es ist ein Erklärungswissen, das damit erreicht wird, dass ein Erkennen der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation systematisch vollzogen wird. Dieses Ziel liegt im förderdiagnostischen Verständnis begründet (siehe Abschnitt 3.3).

In allen drei Untersuchungen zeigt sich, wie das Subjekt als Kooperationspartner im Mittelpunkt steht, jedoch nicht zum Mittelpunkt der Forschung wird. Vielmehr stehen die sprachlichen und allgemeinen Handlungen der beteiligten Kinder im Fokus, werden analysiert und handlungstheoretisch interpretiert. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Mitwirkungsorientierung: Sowohl die an der Forschung beteiligten Kinder als auch deren Bezugspersonen werden über den gesamten Forschungsprozess hinweg beteiligt.

Alle drei Untersuchungen verzichten auf eine Statusdiagnostik und sind prozesshaft angelegt, sodass die Erfassung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation der beteiligten Kinder kontinuierlich stattfinden kann. So werden nicht Momentaufnahmen von Eigenschaften der Kinder getätigt, sondern es wird eine fortschreitende Entwicklung betrachtet und der Analyse zugrunde gelegt. Mittels biografischer Analyse und Sprachhandlungsanalyse werden die Ergebnisse sodann handlungstheoretisch analysiert.

Anhand der Erläuterungen kann an dieser Stelle postuliert werden, dass die in diesen drei Untersuchungen verwendeten Methoden zur Analyse von Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation im Zusammenhang mit einer Erfassung der sprachlichen Handlungsfähigkeit in der alltäglichen Lebenssituation herangezogen werden können. Dadurch werden sowohl sprachliche Handlungserfahrungen als Resultate der besonderen alltäglichen lebenssituationalen Bedingungen der beteiligten Kinder als auch die subjektiv bedeutsamen Handlungsinhalte und wünschenswerte Veränderungen der Bedingungen der jeweiligen alltäglichen Lebenssituation (von Knebel 2010, 238 f.) erfahrbar.

Die Ausführungen des vorliegenden Kapitels betrachten das Konzept von alltäglicher Lebenssituation einerseits aus einer theoretischen Perspektive, andererseits wird mit der Untersuchung ausgewählter biografischen Analysen der Blick auf mögliches methodisches Vorgehen bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation gerichtet. Die Ergebnisse, die aus der Verschränkung theoretischer und methodischer Aspekte des Gegenstands ‚Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation‘ im vorliegenden Kapitel gewonnen werden konnten, werden im folgenden Kapitel dialektisch zusammengeführt. Daher werden im Kapitel 5 anhand der Erkenntnisse des vorliegenden Kapitels ein handlungstheoretisch fundierter Begriff der alltäglichen Lebenssituation erläutert sowie Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen in der vorliegenden Arbeit gezogen.