Das vorliegende Kapitel stellt das sprachliche Handeln und die sprachliche Handlungsfähigkeit des Menschen in den Mittelpunkt. Mit den von Welling (1990) generierten Begriffen des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Handlungsfähigkeit wird auf den Kern der Sprachhandlungstheorie (Welling 1990) Bezug genommen, die auf den grundlegenden Annahmen der Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) beruht. Welling (1990) konzipiert auf dieser Basis den Begriff des sprachlichen Handelns als spezielle Form des menschlichen Handelns (Welling 1990, 1998, 2004). In diesem Kapitel sollen die dieser Arbeit zugrunde liegenden Konzepte des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Handlungsfähigkeit dargestellt werden. Es wird damit zwar vom konkreten Menschen in seiner alltäglichen Lebenssituation abstrahiert (Welling 1990, 338), dennoch können die Konzepte dazu herangezogen werden, den Menschen in seiner Einmaligkeit besser verstehen (Jetter 1987, 229 zit. n. Welling 1990, 338) zu können. Menschliches Handeln im Allgemeinen und sprachliches Handeln von Menschen im Besonderen zu verstehen und dadurch die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation der Menschen rekonstruieren zu können, ist ein Ziel, das mit Verwendung des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (siehe Kapitel 6), erreicht werden kann. Daher erscheint es zunächst notwendig, die Konzepte sprachlichen Handelns und sprachlicher Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Aspekte ‚Sprachbegriff‘, ‚Spracherwerb‘ und ‚Sprachgebrauch‘ zu beschreiben (3.1), um anschließend auf die Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit durch pädagogische Sprachförderung einzugehen (3.2). Danach steht die Erfassung der sprachlichen Handlungsfähigkeit mittels pädagogischer Sprachdiagnostik als Voraussetzung pädagogischer Sprachförderung im Fokus der Darstellung (3.3). Abschließend werden die Ausführungen zusammengefasst und Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen gezogen (3.4).

3.1 Aspekte sprachlichen Handelns und sprachlicher Handlungsfähigkeit: Sprachbegriff, Spracherwerb und Sprachgebrauch

In den folgenden Abschnitten werden mit den Begriffen ‚Sprachbegriff‘ (3.1.1), ‚Spracherwerb‘ (3.1.2) und ‚Sprachgebrauch‘ (3.1.3) drei zentrale Aspekte des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Handlungsfähigkeit fokussiert, um aufzuzeigen, wie ‚Sprache‘ in der vorliegenden Arbeit aufgefasst wird. ‚Sprache‘ konzeptualisiert sich nach Welling (1990) zum einen als System selbst, zum anderen aber auch als Teilsystem menschlicher Handlungsfähigkeit und gliedert sich in die Aspekte Spracherwerb und Sprachgebrauch. Wie ‚Sprache‘ aus dieser Perspektive genau betrachtet wird, wird im Folgenden zunächst mit den Ausführungen zum Sprachbegriff dargestellt. Im Anschluss daran wird auf die Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation des sprachlich handelnden Subjekts (3.1.4) eingegangen.

3.1.1 Sprachbegriff als Aspekt sprachlichen Handelns und sprachlicher Handlungsfähigkeit

Der von Welling bezeichnete „Doppelcharakter“ (Welling 1990, 207) der Sprache bezieht sich zunächst auf das Teilsystem menschlicher Handlungsfähigkeit, also darauf, sprachliches Handeln als menschliches Handeln zu begreifen. Der Sprachbegriff ist dabei im Sinne eines Symbols zu verstehen, das im „Bedingungsgefüge von Individuum, Kultur und Gesellschaft“ (Welling 1990, 208) sowohl der Übermittlung erkannter Zusammenhänge dient als auch selbst durch Reflexion zum Gegenstand des Erkennens wird, wie Welling (1990) konstatiert.

Zentral für die Annahme, dass Sprache in Kultur und Gesellschaft eingebunden ist, ist die Auffassung, Sprache als kulturgebundenes und gesellschaftsspezifisches Symbol zu betrachten. Sprache steht dann in gesellschaftsspezifischer Hinsicht „für soziale Gegebenheiten“ (Welling 1990, 232). Der Begriff der Kulturgebundenheit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Sprache, die in und aufgrund bestimmter kultureller Gegebenheiten des Subjekts hervorgebracht und genutzt wird. Durch die Betrachtung der Eingebundenheit von Sprache in Kultur und Gesellschaft wird ein Bezug zur alltäglichen Lebenssituation der Sprache gebrauchenden Menschen hergestellt. Denn indem von einer symbolischen Repräsentation der Inhalte der kulturellen Lebenssituation eines Individuums ausgegangen wird, wird dieser Aspekt gleichzeitig entsprechend der anthropologischen Grundannahmen als gesellschaftlich bedingt angesehen (Welling 1990, 232).

Das Postulat, dass Sprache nicht nur ein Teilsystem menschlichen Handelns ist, sondern Sprache sich auch selbst als System (Welling 1990, 209) konzeptualisiert, nimmt Bezug zu sprachwissenschaftlichen Grundlagen. Nach diesen Grundlagen stellt Sprache ein Zeichensystem dar, in dem Wörter als Zeichen zu bestimmen sind. Sprachliche Zeichen mit ihrer „Stellvertreterfunktion“ (Welling 1990, 209) und der Unterscheidung von Bezeichnung und Bezeichnetem beziehen sich auf etwas von ihnen Verschiedenes. Welling (1990, 209) verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen de Saussures (1967), wonach sich Sprache als Zeichensystem anhand struktureller Eigenschaften beschreiben lässt. Jedoch wird durch die hohe Abstraktion ein bedeutsamer Aspekt außer Acht gelassen, nämlich die „Beziehung zwischen Sprache, Kultur und Gesellschaft“ (Welling 1990, 211). Diese Beziehung zieht eine Einbindung der Sprache in Kultur und Gesellschaft nach sich. Der vorliegenden Arbeit soll ein Sprachbegriff zugrunde liegen, der, wie Welling (1990, 211 f) hervorhebt, die Beziehung von Bezeichnung und Bezeichnetem impliziert und wonach Sprache als Teilsystem menschlicher Handlungsfähigkeit aufgefasst wird. Es wird zum einen die Beziehung des Subjekts sowohl zur Bezeichnung als auch zum Bezeichnetem hervorgehoben, zum anderen wird sich von der Annahme abgewendet, dass Sprechen die „Praxis der Sprache“ (Welling 1990, 231) sei. Stattdessen wird als ‚Praxis der Sprache‘ die Lebenspraxis der Sprache gebrauchenden Subjekte fokussiert, in der „das Sprechen bestimmte Aufgaben erfüllt und ein Inhaltliches ausgedrückt erscheint“ (Welling 1990, 231).

Die Ausführungen verdeutlichen, inwiefern Sprache sowohl als Mittel der Repräsentation und Kommunikation als auch als Gegenstand des Erkennens betrachtet werden kann. Sprache ist somit weit davon entfernt, lediglich ein „Kommunikationsinstrument“ (Welling 1990, 207 f.) zu sein. Inwiefern so verstandene Sprache erworben wird, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.

3.1.2 Spracherwerb als Aspekt sprachlichen Handelns und sprachlicher Handlungsfähigkeit

Der menschliche Spracherwerb wird in der vorliegenden Arbeit im Zugriff der Erkenntnistheorie Piagets (u. a. Piaget 1973) dargestellt. Piaget liefert zwar keine konkrete Theorie des kindlichen Spracherwerbs, dennoch können die wesentlichen Annahmen Piagets (z. B. 1973) zur kognitiven Entwicklung des Kindes und ihr Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprache zur Darstellung des Spracherwerbs angewendet werden (Welling 1990, 244 ff.). Der Rückgriff auf die Kognitionstheorie Piagets liegt in einem konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriff und den hier zugrunde liegenden anthropologischen Grundannahmen des Menschen als ein aktives, erkennendes und konstruierendes Subjekt begründet. Begründet ist diese Grundannahme der vorliegenden Arbeit dadurch, dass die Wirklichkeit für den Menschen keine objektiv vorliegende Angelegenheit ist, sondern sie ist in der Form gegeben, wie der Mensch sie aufgrund seiner bisher entwickelten Strukturen im Sinne subjektiver Konstruktion erfasst (von Knebel 2000, 52; u. a. Welling 1990; Piaget 2015; Praschak 1993, Praschak-Wolf & Praschak 1979).

Auch Spracherwerb (und Sprachgebrauch – siehe Abschnitt 3.1.3) werden aus diesem konstruktivistischen Verständnis heraus als Konstruktion betrachtet. Es lässt sich daher schlussfolgern, dass das spracherwerbende Kind auf Grundlage seiner bereits entwickelten Erkenntnisformen seine Sprache aktiv konstruiert und sie nicht als objektiv gegeben vorfindet. Aus dieser Sicht wird Spracherwerb als organisierende Tätigkeit verstanden, die eine Ordnung des Subjekts hervorbringt und währenddessen eine Einwirkung des Subjekts auf und eine Anpassung an seine Umwelt stattfindet. Welling (1990, 333 f.) konstatiert in diesem Zusammenhang, dass Sprache „als Ganzes“ (Welling 1990, 333) erworben wird. Die organisierende Tätigkeit des Subjekts beinhaltet keine „ebenen-gebundenen Ordnungen“ (Welling 1990, 333 f.), sondern findet übergeordnet über die aus linguistischer Sicht getrennten Ebenen der Phonologie-Phonetik, Semantik, Morphologie und Syntax sowie Pragmatik statt.

Die Voraussetzung, um Erkenntnisstrukturen zu entwickeln, die beim Kind zu der Möglichkeit führen, Sprache zu verstehen und sich mittels Sprache zu verständigen, liegt in der sensumotorischen Handlungskoordination des Kindes (Welling 1990, 243; Nagel 2012, 40). Welling (1990, 234) nennt die zentralen Entwicklungen, die der Sprache vorausgehen und sie vorbereiten, um hervorzuheben, inwiefern sich sprachliches Handeln ähnlich anderen Handlungsformen, wie beispielsweise Bewegungshandeln, entwickelt. Diese Entwicklungen sind: Sprache, symbolisches Spiel, verschobene Nachahmung und geistiges Bild. Das sensumotorische Handeln als Wurzel von Sprache und Sprachfähigkeit zu betrachten, bedeutet eine Abkehr von der Annahme einer Universalgrammatik und damit der nativistischen Hypothese Chomskys (z. B. 1987), ein Kind würde in seiner sprachlichen Entwicklung aufgrund eines angeborenen Spracherwerbsmechanismus ein sprachliches Regelsystem erwerben. Zudem geht eine genetische Sichtweise auf den Spracherwerb im Sinne der genetischen Erkenntnistheorie Piagets (u. a. 2015) über die Annahmen des Funktionalismus nach Bruner (1987) hinaus, der zwar von einem aktiven Subjekt ausgeht und die Rolle der Interaktion zwischen spracherwerbendem Kind und der Umwelt betont, aber der strukturellen Ausdifferenzierung des sprachlichen Handelns keine Beachtung schenkt und somit die einzelnen Entwicklungsschritte im Unklaren lässt (Welling 1990, 299).

Vielmehr entwickelt das Kind Erkenntnisstrukturen und nimmt entsprechend dieser beim Sprachgebrauch Markierungen vor, die, wie Welling (1990, 308) ausdrückt, einzelnen linguistischen Ebenen (morpho-syntaktisch, semantisch-lexikalisch, pragmatisch und phonologisch-phonetisch) zugeordnet werden können. Demnach ist nicht davon auszugehen, dass Sprache ‚stufenförmig‘ erworben oder linguistisch getrennte sprachliche Ebenen nacheinander erworben wird. Vielmehr stellt Sprache aus genetischer Perspektive eine Einheit dar und entwickelt sich als Ganzes (Welling 1990, 318).

Mit fortschreitender Entwicklung der Erkenntnisstrukturen gelingt es dem Kind, sich sprachlich zu verständigen und Sprache zu verstehen. Vom Standpunkt der Entwicklungstheorie Piagets wird Sprache sowohl als Mittel der Repräsentation und Kommunikation als auch als Gegenstand des Erkennens bezeichnet (Klann-Delius 2016, 94; Nagel 2012, 40; Welling 1990, 249 ff.). Beim Spracherwerb erlangt das Subjekt durch die Symbolfunktion bedingt die Fähigkeit, außerhalb seiner aktuellen Wahrnehmung liegende Dinge oder Ereignisse gedanklich zu repräsentieren (Nagel 2012, 41). Dies ist im Sinne der genetischen Erkenntnistheorie Piagets (2015) gleichbedeutend mit begrifflichem Denken und symbolischen Handeln. Die Symbolfunktion bekommt in der Entwicklungstheorie Piagets (2015) eine bedeutende Stellung, da sie es dem Subjekt ermöglicht, Bedeutungen aufgrund der Unterscheidung von Bezeichnung und Bezeichnetem auszudrücken, wobei das Bezeichnete nicht die in objektiver Form erkannten Dinge oder Ereignisse sind, sondern immer das vom Subjekt Erkannte (Welling 1990, 252 ff; Nagel 2012, 41 ff).

Welling (1990, 234 ff.) stellt die sprachlichen Entwicklungen unter Zugriff der Erkenntnisse von Piaget und Inhelder (Piaget 1969; Piaget & Inhelder 1977) in einen klaren Zusammenhang zu Nachahmung, innerem Bild und symbolischem Handeln. Im Wesentlichen beschreibt dieser Zusammenhang die Entwicklung des Subjekts, das zuerst auf Objekte beziehungsweise Ereignisse reagiert (als Signale oder Anzeichen) und mit zunehmender Entwicklung der Symbolfunktion Objekte beziehungsweise Ereignisse erkennt und „seinem Wissen mit Hilfe von Bedeutungsträgern Ausdruck verleiht“ (Welling 1990, 243), also Sprache gebraucht, um Erkanntes auszudrücken. Dieser Zusammenhang wird von Welling prägnant als „Relation Erkennender– Symbolisierung– Erkanntes“ (Welling 1990, 244) formuliert, wobei Symbolisierung mit menschlicher Sprache gleichzusetzen ist.

Die dargestellte Perspektive zum menschlichen Spracherwerb wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Ansatz Tomasellos (2006; 2011) erweitert, da Tomasello entwicklungspsychologische Annahmen in den Zusammenhang mit menschlicher Kommunikation stellt. Menschliche Kommunikation wird aus dieser Sicht „als grundlegend kooperatives Unternehmen“ (Tomasello 2011, 17) betrachtet und ein gemeinsamer begrifflicher Hintergrund der an der Kommunikation Beteiligten vorausgesetzt (genauer siehe Abschnitt 4.4.2 in dieser Arbeit). Dabei ist von einem Sprachbegriff auszugehen, der die Bedeutungsentwicklung, das heißt im Sinne Piagets die Entwicklung der Symbolfunktion, zur Grundlage macht.

Subsumiert man die bisherigen Ausführungen, so wird deutlich: Sprachliches Handeln wird durch die Annahme Piagets (1969), Gegenstände durch Zeichen und Bewegungen durch ihre Vorstellungen zu ersetzen, zu einem Spezialfall menschlichen Handelns (Welling 1990, 301). Diese Auffassung bezieht sich neben Spracherwerb auch auf den Aspekt des Sprachgebrauchs, der im nächsten Abschnitt dargestellt wird.

3.1.3 Sprachgebrauch als Aspekt sprachlichen Handelns und sprachlicher Handlungsfähigkeit

Sprachgebrauch wird im Folgenden unter Zugriff der Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) anhand dreier Bestimmungsmerkmale des sprachlichen Handelns beschrieben. Dies sind Merkmale, die in diesem Denkrahmen auch für allgemein-menschliches Handeln gelten (Welling 1990, 1998, 2004):

  • Zielgerichtetheit

  • Plangeleitetheit

  • Wertorientiertheit

Diese Bestimmungsmerkmale erschließen sich aus der ontogenetischen Perspektive, die bereits zur Beschreibung des Spracherwerbs (siehe Abschnitt 3.1.2) herangezogen wurde und der Darstellung zum Sprachgebrauch ebenfalls zugrunde liegt, denn Sprachgebrauch wird wie Spracherwerb als sprachliches Handeln (Welling 1990) gefasst.

Im Folgenden aus analytischen Gründen zwar getrennt aufgeführt, stellen die Bestimmungsmerkmale aus handlungstheoretischer Sicht tatsächlich aber eine untrennbare Einheit dar (Jetter, Schönberger & Praschak 1987). Sie beziehen sich auf die „Aktivität des Sprechens“ (Welling 1990, 306), die „in der Beziehung zum Angesprochenem (…), zum Gegenstand (im Sinne eines kognitiven Problems) und zu den eigenen sprachlichen (oder nicht-sprachlichen) Mitteln realisiert“ (Welling 1990, 306) wird. Näher betrachtet wird zunächst, inwiefern sprachliches Handeln als zielgerichtet gefasst werden kann.

Zielgerichtetheit sprachlichen Handelns

Der bereits angesprochene Ursprung sprachlicher Entwicklung in Form der sensumotorischen Handlungskoordination des Subjekts findet sich beim Aspekt der Zielgerichtetheit aufgrund der Annahme wieder, dass ein Kind in den Stadien der sensumotorischen Entwicklung Handlungspläne entwickelt, die nach Welling (1990, 303 ff.) sowohl der Zielfindung als auch der Zielverwirklichung dienen, wobei Zielverwirklichung als übergeordnet betrachtet wird und die Zielfindung integriert.

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist jede Zielverwirklichung und damit auch Zielfindung ein „Modus des Erkennens [ist], bei dem die Mittel von den Zielen unterschieden werden“ (Welling 1990, 303). Auf sprachliches Handeln bezogen kann ein Ziel in der sprachlichen Äußerung selbst liegen, aber sich auch nichtsprachlich oder außersprachlich darstellen, denn grundsätzlich ist Zielgerichtetheit sprachlichen Handelns mit „Sinnbezügen“ (Welling 1990, 304) verbunden, die mittels sprachlicher Äußerungen verändert werden sollen (Welling 1990, 303 ff.). Das bedeutet, Sprache erhält einen Sinnbezug, indem sie an Zielen ausgerichtet wird.

Sprachliches Handeln als zielgerichtete Tätigkeit zu betrachten, erfolgt nach von Knebel (2008a, 122) unter drei Aspekten: Sprache dient erstens der Kommunikation, ist also ein Mittel, dessen Gebrauch das Ziel verfolgt, auf andere menschliche Handlungen einzuwirken. Sprache dient zweitens der Repräsentation und wird so auch ohne absichtsvolle Kommunikation mit dem Ziel verwendet, sich selbst über einen Sachverhalt Klarheit zu verschaffen. Sprache wird drittens zum Erkenntnisgegenstand, wenn die sprachliche Äußerung selbst das Ziel darstellt, wie es beispielsweise bei einem Reim der Fall ist. Sprachliches Handeln an Zielen auszurichten, setzt Plangeleitetheit des sprachlichen Handelns voraus. Daher wird das Bestimmungsmerkmal der Plangeleitetheit sprachlichen Handelns im Folgenden behandelt.

Plangeleitetheit sprachlichen Handelns

Plangeleitet bedeutet beispielsweise „konzeptgeleitet“, „begriffsorientiert“ oder „begriffsgeleitet“ (Welling 1990, 306). Diese Bedeutungen von plangeleitet haben gemeinsam, Plan als „allgemeine Form einer spezifischen Erkenntnistätigkeit“ (Welling 1990, 306) zu betrachten, worin sowohl das „praktisch-vorsprachliche“ (Welling 1990, 306) als auch das „begrifflich-reflexiv-sprachliche Tun“ (Welling 1990, 306) inbegriffen ist. Das bedeutet, plangeleitetes Handeln „umgreift strukturell alle Formen menschlichen Tuns, so auch die spezifisch menschliche Form sprachlichen Handelns“ (Welling 1990, 336). Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass, ohne Handlungspläne entwickelt zu haben, sprachliche Äußerungen im Hinblick auf die Zielsetzung des sprachlichen Handelns durch das Subjekt weder ausgewählt noch realisiert werden können (Welling 1990).

Welling betont die „Ganzheit“ (Welling 1990, 307) der Sprache und setzt Plangeleitetheit in Zusammenhang mit der begriffsorientierten Theorie von Wortbedeutungsentwicklung. Dieser liegt eine entwicklungspsychologische Perspektive zugrunde, weshalb aus dieser Sicht angenommen wird, dass begriffliche Strukturen vom Subjekt aktiv konstruiert werden. Beispielsweise werden semantische Merkmale aktiv konstruiert, und Wortbedeutung wird deshalb nicht als Kombination entwicklungsinvarianter Merkmale, wie es in Theorien zur Wortbedeutungsentwicklung nach Clark und Clark (1979, zit. n. Szagun 1983, 17) dargestellt wird, aufgefasst. Vielmehr ist von Wortbedeutung als Vernetzung von Strukturen auszugehen. Die merkmalsorientierte Theorie (Clark & Clark 1979, zit. n. Szagun 1983) oder die Theorie des funktionalen Kerns (Nelson 1974, zit. n. Szagun 1983) können die Entstehung der Wortbedeutung nicht angemessen erklären, wenn Bedeutetes und Wahrgenommenes im Sinne einer Abbildfunktion gleichgesetzt werden (Welling 1990, 314 ff.).

Aus der entwicklungspsychologischen Perspektive findet die Konstruktion des sprachlichen, beispielsweise semantischen, Wissens nicht nur als Eigenaktivität des Subjekts statt, sondern in Interaktion mit der Umwelt. Das bedeutet für die Entwicklung des Bedeutungssystems eines Kindes, dass eine Abhängigkeit von der „Interaktion des Kindes mit konkreten Objekten“ (Welling 1990, 316), mit seiner sprachlichen Umwelt und mit den Werten seiner Kultur anzunehmen ist (Welling 1990, 316). Für die Entwicklung von Handlungsplänen kann daher angenommen werden, dass diese im Sinne sprachlichen Wissens aufgrund verschiedener Interaktionen mit der Umwelt entwickelt werden und nicht aufgrund der Wirkung einzelner und getrennter linguistischer Ebenen (Welling 1990, 322).

Sprachliches Handeln als plangeleitet zu betrachten, bedeutet darüber hinaus, dass sprachliches Handeln eine „kognitiv immer schon strukturierte, zugleich aber auch kognitive Strukturen verändernde“ (von Knebel 2008, 120) Tätigkeit darstellt. Das bedeutet, Handeln wird dann plangeleitet, wenn das Subjekt aufgrund einer allgemeinen Form des Erkennens ordnend tätig wird. Raum, Zeit und Kausalität stellen nach Piaget (1969; 1974; 1996) Gegenstände beziehungsweise Handlungsbedingungen dar, die vom Subjekt erkannt und organisiert beziehungsweise geordnet werden. Daher wird Plan als Begriff von dem verstanden, was das Subjekt durch Erfahrung entwickelt und das vom Subjekt sprachlich dargestellt werden soll. Mit der Organisation des Gegenstands Sprache wird plangeleitetes allgemein-menschliches Handeln zum plangeleiteten sprachlichen Handeln (Welling 1990, 322). Das bedeutet, Sprache ist als eine Handlungsbedingung des Subjekts aufzufassen, die vom kulturell und gesellschaftlich eingebundenen Subjekt durch Herstellung seiner Ordnung genauso erkannt wird wie die Handlungsbedingungen Raum, Zeit oder Kausalität (Welling 1990, 302). Der Aspekt der kulturellen und gesellschaftlichen Eingebundenheit des Subjekts wird im folgenden Abschnitt mit dem Fokus auf der Wertorientiertheit sprachlichen Handelns näher betrachtet.

Wertorientiertheit sprachlichen Handelns

Als spezifisch sprachlich sind nach Welling (1990, 326) mindestens fünf Handlungsbedingungen zu unterscheiden: linguistische Formelemente und ihre Beziehungen zueinander, verbale und nonverbale Kontexte, Konventionen, Kommunikationsformen und Normen in der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit.

Mit dieser Unterscheidung von fünf Handlungsbedingungen sind zwei Dimensionen sprachlichen Handelns (Welling 1990, 325) angesprochen. Erstens zeigt sich eine strukturelle Seite (Welling 1990, 325), welche die Erkenntnistätigkeit des Subjekts meint und zum Erkennen der sprachlichen Handlungsbedingungen führt. Zweitens zeigt sich eine inhaltliche Seite (Welling 1990, 325), welche auf die Gebrauchsbedingungen bezogen ist, die zu bestimmten Varianten sprachlicher Äußerungen führen (Welling 1990, 326). Gemeint sind damit normgemäße Realisierungen (Welling 1990, 326), in der die wirklichen Lebensbezüge eines Menschen normativ ausgedrückt werden. In der Korrelation beider Dimensionen wird schließlich die Wertorientiertheit sprachlichen Handelns ausgedrückt (Welling 1990, 325 f.). Die Wertorientiertheit sprachlichen Handelns handlungstheoretisch zu bestimmen, verlangt nach Welling (1990, 326) eine gedankliche Verknüpfung des erkennenden Subjekts mit seiner entwickelten Sprachkultur einerseits und des individuell kulturell-gesellschaftlichen Subjekts mit seiner bestimmten Kultursprache und ihren Bedingungen andererseits und soll in den folgenden Ausführungen erläutert werden. Dieser Gedanke mit dem Fokus auf die Wertorientiertheit sprachlichen Handelns ist dementsprechend maßgeblich für die folgenden Ausführungen.

Mit dem Terminus Wertorientiertheit ist aus handlungstheoretischer Perspektive die wertschaffende Seite sprachlichen Handelns (Welling 1990, 324) angesprochen. Sie bezieht sich auf die aus der kulturell-gesellschaftlichen Umwelt entwickelten Normen und Regeln des Sprachgebrauchs und basiert auf den Annahmen, Sprache als kulturgebundene und gesellschaftliche Erfahrung zu fassen und die Praxis der Sprache als Lebenspraxis des Sprechenden zu bestimmen (Welling 1990, 323 ff.). So gesehen bezieht sich die wertschaffende Seite sprachlichen Handelns auf die strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen, die menschliche Sprache und Sprechtätigkeit wertvoll erscheinen lassen und in der strukturellen beziehungsweise inhaltlichen Dimension sprachlichen Handelns aufgegriffen ist (Welling 1990, 323 ff.). So werden die Begriffe der strukturellen und inhaltlichen Wertorientiertheit im Folgenden zusammenfassend erläutert, um dabei herauszustellen, inwiefern hinsichtlich dieser zu unterscheidenden Dimensionen von Wertorientiertheit sprachlichen Handelns gesprochen werden kann.

Wie Welling (1990, 326 ff.) ausführt, ist in struktureller Hinsicht Wertorientiertheit sprachlichen Handelns durch drei Bedingungen gegeben:

  1. 1.

    Es muss den Sprechenden gelingen, durch Kommunikation Kognitionen wie Ideen, Wünsche und Bedürfnisse auszutauschen. In dem Sinne ist sprachliches Handeln wertvoll, wenn im Hinblick auf ein gemeinsames Handlungsziel das gegenseitige Verständnis kommuniziert wird.

  2. 2.

    Durch die Sprechtätigkeit muss Repräsentation gewährleistet werden. Bei diesem Punkt spielen Bedeutungen eine wichtige Rolle: Das sprachlich handelnde Subjekt entnimmt die Bedeutungen aus den sprachlichen Äußerungen und baut selbst Bedeutungen auf, um die Sprache ebenfalls wieder mit Bedeutungen zu versehen.

  3. 3.

    Für das sprachlich handelnde Subjekt muss die Möglichkeit bestehen, auf die eigene und die Sprache der Kommunikations- und Kooperationspartner im Sinne brauchbarer Erfahrungen einzuwirken. Dies betrifft den Spracherwerb des Kindes, in dem es Theorien im Sinne von Wissen über Sprache aufbaut und Erfahrungen in Bezug auf seine Sprache sammelt. Kooperative Beziehungen wirken unterstützend auf den kindlichen Aufbau von Sprachtheorien hinsichtlich der Ermöglichung positiver Erfahrungen in Bezug auf seine Sprache und der Entwicklung von Interesse und Freude am Sprechen.

Die drei Punkte heben die Bedeutung des durch Erfahrung mit der Umwelt entwickelten Wissens des Subjekts hervor. Da sprachliches Handeln zwischen Menschen stattfindet, also sprachliche Kommunikation im Sinne gemeinsamen sprachlichen Handelns als Kooperation von Menschen aufzufassen ist, spielt der Aspekt der Kooperation hinsichtlich wertorientierten sprachlichen Handelns eine zentrale Rolle. Kooperation als gemeinsames Handeln von Menschen wird in Bezug auf sprachliches Handeln dann bedeutsam, wenn es darum geht, Sprache und Sprechtätigkeit wertvoll werden zu lassen. Von Knebel (2008, 124 f.) formuliert dafür fünf Voraussetzungen, die ebenfalls für die strukturelle Hinsicht von Wertorientiertheit sprachlichen Handelns gelten:

  1. 1.

    Es besteht ein Bedürfnis nach gedanklichem Austausch mit anderen Menschen, und der Austausch selbst und die Menschen erfahren Wertschätzung.

  2. 2.

    Es besteht der Wunsch, diesen Austausch zu vollziehen, da der Mensch Wertschätzung erfährt. Es erfolgen plangeleitetes Handeln in Form von Wissen über Inhalte des Austauschs und zielgerichtetes Handeln mit dem Ziel des Austauschs.

  3. 3.

    Es besteht die Fähigkeit des Enkodierens der eigenen Gedanken zum Verständnis des Gesprächspartners. Plangeleitetes Handeln liegt zugrunde, indem Wissen über sprachliche Strukturen besteht.

  4. 4.

    Es erfolgt die Abstimmung von Handlungszielen der Gesprächspartner auf Basis gemeinsamer Wertkonzepte.

  5. 5.

    Es besteht gegebenenfalls bei Asymmetrie der Kooperation (zum Beispiel in Form von Sprachtherapie) die Fähigkeit zur Empathie, um die Perspektive des anderen und seine Handlungsmöglichkeiten nachvollziehen zu können.

In inhaltlicher Hinsicht ist nach Welling (1990, 330 ff.) zu betonen, dass Kinder nicht „Werte und Normen an sich“ (Welling 1990, 332) lernen, sondern ein Wertkonzept aufbauen und verinnerlichen hinsichtlich der

  • sinnvollen Verwendung von Wörtern in bestimmten Situationen,

  • Möglichkeit, Bedeutungen auszudrücken,

  • Zuordnung verfügbarer Begriffe zu sprachlichen Formen und

  • Entwicklung und Differenzierung von Begriffen mittels sprachlicher Formen (Welling 1990, 332).

Sprachliche Normen, die sich auf diese vier Punkte beziehen, entwickeln sich nicht losgelöst vom sprachlichen Handeln, sondern im gemeinsamen Gebrauch von Sprache mit anderen. Daher werden Normen des Sprachgebrauchs, die durch kulturell-gesellschaftlich geformte Kommunikationsstrukturen (Welling 1990, 331 f.) hervorgebracht werden, zu spezifischen kulturellen Werten, und auch Sprache selbst wird zum „Wert einer Kultur“ (Welling 1990, 330).

Wertorientiertheit sprachlichen Handelns in struktureller und inhaltlicher Hinsicht zu beschreiben, hat zur Folge, sprachliches Handeln als wertorientierte Tätigkeit zu fassen. In der Form, wie das Subjekt den Gebrauchswert von Sprache erfährt, kann es selbst Sprache gebrauchen, beispielsweise in Form von Sprechen oder Zuhören (von Knebel 2008, 123). Das wiederum bedeutet, die Eingebundenheit des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs in das Wertesystem des Subjekts (von Knebel 2008, 123) zu berücksichtigen. Welche Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts dem Spracherwerb und Sprachgebrauch konkret zugewiesen wird, wird im folgenden Abschnitt fokussiert.

3.1.4 Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation für den sprachlich handelnden Menschen

Sprache wird gebraucht, weil der Mensch damit etwas „Außersprachliches erreichen möchte“ (von Knebel 2007, 1095). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der Mensch das Bedürfnis hat, sprachlich zu handeln (Welling 2004, 134 f.). Symbolisch repräsentierte Inhalte der alltäglichen Lebenssituation werden ausgedrückt (Welling 1990, 232), was dazu beiträgt, dass „mit den Mitteln und Gegenständen der Sprache“ (Welling 2004, 135) die mitmenschliche Lebenssituation geordnet werden kann. Sprachliche Leistungen sind aus dieser Sicht als lebenssituational bedingte biografische Errungenschaften zu betrachten (Welling 2004, 133).

Wie die Ausführungen zum Sprachgebrauch verdeutlichen, wird dann vom sprachlichen Handeln eines Menschen gesprochen, wenn die Kriterien der Zielgerichtetheit, Wertorientiertheit und Plangeleitetheit erfüllt sind, denn dann ist der Mensch sprachlich handlungsfähig (Welling 2004, 138). Um sprachlich handlungsfähig zu werden, erwirbt das Subjekt erstens begriffliches Wissen in Form einer Ordnung der sprachlichen Regelhaftigkeiten, zweitens eignet es sich die Werte und Normen der Sprachverwendung an und bewertet und verändert diese drittens gegebenenfalls, indem es an der Gestaltung seiner lebenssituationalen Bedingungen aktiv mitwirkt (Welling 2004, 138). Sprachlich handlungsfähig zu sein bedeutet dann für das Subjekt, eigenaktiv sein Leben mit den Mitteln und Gegenständen von Sprache ordnen zu können, da im Denkrahmen der Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik Handeln zugleich als ordnende und geordnete Tätigkeit verstanden wird (Jetter 1987). Sprachliches Handeln ist eine geordnete Tätigkeit, weil in jedem Sprachgebrauch das bereits erworbene Wissen eingebracht wird, und zudem eine ordnende Tätigkeit, weil das Subjekt zur Veränderung im Sinne von Erweiterung seiner Möglichkeit der Sprachverwendung angeregt wird (von Knebel 2008, 124). Für das Subjekt bedeutet das, die Grenzen seiner sprachlichen Handlungsfähigkeit zu erkennen, anzuerkennen oder überwinden zu können (Schönberger 1987, 121 zit. n. Welling 2004, 138).

Sprachliche Handlungsfähigkeit ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich unter den jeweils gegebenen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation (Welling 2004, 133). Der alltäglichen Lebenssituation kommt daher eine konstituierende Bedeutung für die Entwicklung der sprachlichen Handlungsfähigkeit zu, sind es doch ihre Bedingungen, unter denen Sprache erworben und gebraucht wird (von Knebel & Schuck 2007, 495 f.). Welche Bedeutung die alltägliche Lebenssituation des Menschen konkret für seinen Spracherwerb und Sprachgebrauch hat, kann in zweierlei Hinsicht aufgefasst werden. Erstens ist damit die Frage danach angesprochen, welche Bedeutung die Sprache im Leben des Menschen hat. Auf kindlichen Sprachgebrauch bezogen, meint dies beispielsweise, welche Personen in der alltäglichen Lebenssituation des Kindes auf seine sprachlichen Äußerungen reagieren, wie sie als sprachliche Vorbilder fungieren und wie sie dadurch korrigierend auf die kindliche Sprache wirken (von Knebel 2015, 379). Zweitens ist die Frage danach angesprochen, welche Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes wie und in welcher Form „an der Entstehung und Ausformung einer sprachlichen Problemlage beteiligt“ (von Knebel und Schuck 2007, 495) sind oder waren. Grundlegend bei der Frage nach der Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation eines Menschen für seinen Spracherwerb und Sprachgebrauch ist aus sprachhandlungstheoretischer Sicht das Verständnis von sprachlicher Beeinträchtigung, wonach eine ‚Sprachstörung‘ nicht als Eigenschaft des Menschen, sondern als Eigenschaft seiner alltäglichen Lebenssituation (Welling 2004, 133) betrachtet wird.

Die Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts für Spracherwerb und Sprachgebrauch erschließt sich aus handlungstheoretischer Perspektive aus den Wesensmerkmalen sprachlichen Handelns: Plangeleitetheit, Wertorientiertheit und Zielgerichtetheit (Jetter 1987). Als Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation liefern sie nach von Knebel (2007, 1092) Anhaltspunkte dazu,

  1. 1.

    welches Wissen das Kind über die Sprache und das sprachlich Darzustellende hat (Plangeleitetheit),

  2. 2.

    inwiefern der Gebrauch und Erwerb von Sprache dem Kind wertvoll erscheint beziehungsweise wertvoll werden kann (Wertorientierung) und

  3. 3.

    welche Ziele das Kind mit seinem sprachlichen Handeln verfolgt (Zielgerichtetheit).

Die Überlegungen zeigen zwar, dass die Bedingungen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation sind, die für das Subjekt zu Prämissen seines sprachlichen Handelns werden. Als problematisch erweist sich jedoch, dass aus sprachhandlungstheoretischer Sicht nicht fundiert beschrieben wird, wie der Begriff ‚alltägliche Lebenssituation‘ zu fassen ist. Sprachgebrauch und Spracherwerb mit Rückgriff auf die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (Jetter, Schönberger & Praschak 1987) als menschliches Handeln zu fassen und sprachliches Handeln als zielgerichtet, plangeleitet und wertorientiert zu bestimmen (u. a. Welling 1990; von Knebel 2008), legt den Schluss nahe, die alltägliche Lebenssituation des Menschen als Konstrukt zu betrachten. Daher wird in Kapitel 4 das Konzept von alltäglicher Lebenssituation aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive entwickelt. Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Blick auf die Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit gerichtet. Daher steht im folgenden Abschnitt pädagogische Sprachförderung im Mittelpunkt der Ausführungen.

3.2 Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit: Sprachförderung als pädagogisches Aufgabenfeld

Mit Rückgriff auf die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen nach Benner (1995; 2001) wird von einer Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit des Menschen ausgegangen. Im Zusammenhang mit sprachlichen und kommunikativen Beeinträchtigungen bedeutet das: In dem Moment, in dem es dem Kind selbst nicht gelingt, durch Selbstaufforderung zur Selbsttätigkeit seine sprachliche Handlungsfähigkeit zu erweitern, besteht innerhalb pädagogisch konzipierter Sprachförderung in Unterricht und Therapie die Möglichkeit, durch äußere Einwirkung das Kind in diese Lage zu versetzen (von Knebel 2012a, 495). Pädagogische Sprachförderung stellt aufgrund ihres Menschen- und Weltbildes sowie ihrer erziehungswissenschaftlichen Verankerung die geeignete Form dar, die sprachliche Handlungsfähigkeit eines Kindes in den Mittelpunkt zu stellen. Daher wird sich aus dieser pädagogischen Perspektive heraus von einer Sprachförderung distanziert, die ausschließlich sprachliche Normen oder schulische Leistungsanforderungen fokussiert (von Knebel 2007; 2012a; 2015).

In den Praxisfeldern Therapie und Unterricht vom pädagogischen Standpunkt aus Sprachfördersequenzen zu planen und zu gestalten, beansprucht eine Auseinandersetzung mit diesem didaktischen Aufgabenfeld. Daher wird erstens Bezug auf die erziehungswissenschaftliche Bestimmung pädagogischer Sprachförderung (3.2.1) genommen und zweitens das Ziel pädagogischer Sprachförderung (3.2.2) betrachtet. Darin wird auf das Planungskonzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004), also auf die didaktische Strukturierung pädagogischer Sprachförderung, eingegangen, da dieses sprachhandlungstheoretisch fundierte Konzept sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel bei der Anwendung des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Analyseverfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen für die pädagogische Sprachdiagnostik darstellt.

3.2.1 Erziehungswissenschaftliche Bestimmung pädagogischer Sprachförderung

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht sind drei Merkmale bestimmend, um Sprachförderung als pädagogisch bezeichnen zu können (von Knebel 2000; 2012a; 2015). Die bestimmenden Aspekte nehmen Bezug auf die Allgemeine Erziehungswissenschaft und zu den Theorien der Bildung, Theorien der Erziehung und Theorien pädagogischer Institutionen nach Benner (2001), worauf im Folgenden genauer eingegangen wird.

Ein erstes Bestimmungsmerkmal liegt nach von Knebel (2015) im Bezug zu den Theorien der Bildung, die den Zweck von Erziehung thematisieren, sie stellen das allgemeine Bildungsziel in den Mittelpunkt. Auf Sprachförderung übertragen bedeutet der Bezug auf die Theorien der Bildung, ein sprachliches Bildungsziel zu fokussieren. Als sprachliches Bildungsziel gilt aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive die Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit des Menschen. Es werden daher nicht einzig Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben als Bildungsziel betrachtet, sondern mit Bezug auf die Theorien der Bildung und damit auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen werden auch allgemeine Bildungsziele wie Freiheit sowie Selbst- und Mitbestimmung angestrebt (von Knebel 2000; 2012a; 2015).

Als zweites Bestimmungsmerkmal ist nach von Knebel (2015) der Bezug zu Theorien der Erziehung zu nennen. Nicht der Zweck von Erziehung, sondern der Weg dorthin, wird mit diesen Theorien fokussiert. Das heißt, es steht die Frage nach der Organisation pädagogischer Situationen im Mittelpunkt. Daher gilt es zu überlegen, wie eine pädagogische Fachkraft erzieherisch handeln kann, um das zu fördernde Kind zur Selbsttätigkeit anzuregen. Denn die Selbsttätigkeit ist bei der Verwirklichung der eigenen Bildung für jeden Menschen ausschlaggebend (von Knebel 2015, 375).

Das dritte Bestimmungsmerkmal ist nach von Knebel (2015) der Einbezug der Theorien pädagogischer Institutionen. Hier steht die Frage nach den Organisationsformen pädagogischen Handelns im Mittelpunkt, denn um Menschen bei der Verwirklichung ihres Bildungsziels zu unterstützen, ist es notwendig, die geeigneten Orte pädagogischen Handelns zu identifizieren. Als Organisationsformen pädagogischen Handelns sind beispielsweise Unterricht, Einzeltherapie, Gruppentherapie sowie Beratung von Lehrkräften und Eltern zu nennen (von Knebel 2015, 375).

Die Ausführungen zeigen, dass pädagogische Sprachförderung im Hinblick auf den Bezug zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft durch drei Kriterien definiert ist (von Knebel 2015, 375):

  1. 1.

    Ausrichtung auf ein allgemeines Bildungsziel,

  2. 2.

    erziehungstheoretische Verankerung der Situationsgestaltung und

  3. 3.

    Schaffung notwendiger organisatorischer Rahmenbedingungen.

Insbesondere mit dem ersten Kriterium, der Ausrichtung auf ein allgemeines Bildungsziel, wird der Blick auf das Ziel pädagogischer Sprachförderung gerichtet, welches daher im folgenden Abschnitt erläutert wird.

3.2.2 Ziel pädagogischer Sprachförderung

Das Ziel pädagogischer Sprachförderung besteht in der Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit eines Menschen (von Knebel 2012a; 2015), die im Sinne der erziehungswissenschaftlichen Verankerung zur Selbst- und Mitbestimmung des Menschen beiträgt. Eine auf das Kind individuell zugeschnittene Sprachförderung verlangt eine Beachtung von sprachdidaktischen Gegenstandsbereichen (Welling 2004; 2007; von Knebel 2015), die sich übergreifend auf Planung, Durchführung und Reflexion (von Knebel 2015, 376) pädagogischer Sprachfördersituationen beziehen. Diese Gegenstandsbereiche werden im Folgenden zusammenfassend erläutert.

Der sprachliche Lerngegenstand, also ein dem Kind noch nicht zur Verfügung stehender Strukturbereich, wird so ausgewählt, dass er innerhalb der Fördersituation erschlossen werden kann. Damit dient der sprachliche Lerngegenstand der Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit des Kindes (von Knebel 2015, 376).

Erschlossen wird der sprachliche Lerngegenstand auf der Grundlage des Förderbedürfnisses des Kindes, das sich aus der je individuellen alltäglichen Lebenssituation mit entweder förderlichen oder hinderlichen lebenssituationalen Bedingungen ergibt (von Knebel 2015, 376).

Ebenfalls aus den je individuellen lebenssituationalen Bedingungen lassen sich Rückschlüsse auf die Thematik der Fördersituation ziehen, die sich in den Interessen und Fähigkeiten des Kindes ausdrückt. Jede Thematik der Fördersituation kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden, die als Förderintentionen jeweils andere Schwerpunkte innerhalb der pädagogischen Sprachförderung setzen. Solche Schwerpunkte können kognitive, emotionale, soziale oder motorische Aspekte beinhalten (von Knebel 2015, 376 f.).

Im Hinblick auf die Methodik der Sprachförderung ist der letzte Gegenstandsbereich, die methodische Gestaltung, zu nennen. Die gewählten Methoden beziehen sich beispielsweise auf die Handlungen beteiligter Personen oder auf den Einsatz von Medien und richten sich nach den Förderbedürfnissen des Kindes sowie nach dem gewählten sprachlichen Lerngegenstand (von Knebel 2015, 376 f.).

Für eine inhaltliche Begründung der Zielsetzung und Methodenwahl pädagogischer Sprachförderung gilt es auf ein Förderkonzept zurückzugreifen, das diagnose- und theoriegeleitet die Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer pädagogischen Sprachförderung zu bestimmen weiß (von Knebel 2007, 1084). Mit dem Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik hat Welling (2004; 2007) vor dem theoretischen Hintergrund der Sprachhandlungstheorie ein umfassendes pädagogisches Rahmenkonzept entwickelt, das den Voraussetzungen und Zielsetzungen pädagogischer Sprachförderung gerecht wird. Dieses Sprachförderkonzept bildet die theoretische Grundlage didaktisch strukturierter pädagogischer Sprachförderung und schafft Transparenz hinsichtlich der Entscheidungsgrundlagen für bestimmte Fördermethoden (von Knebel 2010, 233 f). Das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) hat die Sprache des beteiligten Kindes weder zum Gegenstand noch zum Ziel, sondern im Mittelpunkt steht das Kind in seiner alltäglichen Lebenssituation und der je individuelle Spracherwerb und Sprachgebrauch des Kindes. Situationen pädagogischer Sprachförderung, beispielsweise in einem Unterricht, der nach dem Planungskonzept der Kooperativen Sprachdidaktik konzipiert wird, zielen auf die Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit des Einzelnen im Alltag und werden so den geforderten Ansprüchen der Theoriegeleitetheit, Diagnosegeleitetheit und Institutionsoffenheit gerecht (von Knebel 2007, 1087). Aufgrund diagnostischer Fundierung kann festgelegt werden, worin die sprachlichen Problemlagen bestehen. Das Aufzeigen der lebenssituationalen Bedingungen, unter denen die sprachlichen Problemlagen entstanden sind und aufrechterhalten werden beziehungsweise die sprachliche Handlungsfähigkeit erweitert werden kann, führt zu einer individuell zugeschnittenen Sprachförderung. Begründete didaktische Entscheidungen für eine pädagogische Sprachförderung lassen sich nur unter den Voraussetzungen der Theorie- und Diagnosegeleitetheit treffen (von Knebel 2007, 1087). Erst daran anschließend gilt es, sich aufgrund des Anspruchs der Institutionsoffenheit mit der Frage auseinanderzusetzen, unter welcher organisatorischen Form eine Realisierung möglich erscheint (von Knebel 2007, 1087).

Im Hinblick auf den Anspruch der Diagnosegeleitetheit wird im nächsten Abschnitt auf die Anforderungen an eine pädagogische Sprachdiagnostik als Voraussetzung einer individuell zugeschnittenen Sprachförderung eingegangen. Die in diesem Kapitel gedanklich aufgeteilten Bereiche Sprachförderung und Sprachdiagnostik sind jedoch in der Praxis nicht zu trennen, was durch den Begriff der Förderdiagnostik ausgedrückt wird, auf den im nächsten Abschnitt ebenfalls näher eingegangen wird.

3.3 Erfassung sprachlicher Handlungsfähigkeit: Pädagogische Sprachdiagnostik als Voraussetzung pädagogischer Sprachförderung

Die Berücksichtigung der im Abschnitt 3.2.1 genannten fünf Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachförderung im Sinne von zu treffenden didaktischen Entscheidungen setzt ein Wissen über das sprachliche Handeln des Kindes und über die lebenssituationalen Bedingungen voraus, unter denen das Kind seine Sprache erwirbt und gebraucht. Dieses Wissen gilt es diagnostisch zu erschließen (von Knebel 2015, 374), weshalb pädagogische Sprachförderung eine diagnostische Verankerung verlangt. Zunächst werden im Abschnitt 3.3.1 die der pädagogischen Sprachdiagnostik zugrunde liegenden allgemeinen Bestimmungen förderungsorientierter Diagnostik erläutert. Die Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachdiagnostik beziehen sich erstens auf die vom Kind verwendete Sprache, zweitens auf seine sprachliche Handlungsfähigkeit und drittens auf die lebenssituationalen Bedingungen, unter denen das Kind Sprache erwirbt und gebraucht (von Knebel 2015, 378 ff.). Auf die Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachdiagnostik wird im Abschnitt 3.3.2 mit den Bestimmungen pädagogischer Sprachdiagnostik Bezug genommen. Nach von Knebel (2015, 380) ergibt sich aus der Annahme von Gegenstandsbereichen pädagogischer Sprachdiagnostik die Begründung für die Annahme von drei Analyseebenen pädagogischer Sprachdiagnostik: biografische Analyse, Sprachhandlungsanalyse und Mikroanalyse der Sprache. Diese Analyseebenen pädagogischer Sprachdiagnostik werden im Abschnitt 3.3.3 fokussiert. Die Bedeutung der Ausführungen für die Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit wird im Abschnitt 3.4 (Zusammenfassung) erläutert.

3.3.1 Pädagogische Diagnostik als bildungszielorientierte Förderdiagnostik

So, wie sonderpädagogische Förderung vor dem Hintergrund eines pädagogischen Konzepts als pädagogische Förderung aufgefasst wird, ist sonderpädagogische Diagnostik als pädagogische Diagnostik zu betrachten (Schuck 2000; 2003). In der vorliegenden Arbeit werden von einem pädagogischen Standpunkt aus Diagnostik und Förderung nicht als getrennt betrachtet, sondern als einheitlich und sich gegenseitig bedingend als Förderdiagnostik aufgefasst, da sie, wie im Abschnitt 3.2 bezüglich pädagogischer Sprachförderung aus handlungstheoretischer Sicht erklärt wurde, gleichermaßen als bildungszielorientiert zu betrachten sind. Im folgenden Abschnitt wird zur allgemeinen Bestimmung pädagogischer Diagnostik als bildungszielorientierter Förderdiagnostik eine Einordnung sowie Abgrenzung im Hinblick auf Vorgehensweisen der sonderpädagogischen Diagnostik vorgenommen (3.3.1.1). Daran anschließend werden der Anspruch und das Ziel (3.3.1.2) bildungszielorientierter Förderdiagnostik erläutert, bevor im Abschnitt 3.3.1.3 auf Gütekriterien aus förderdiagnostischer Sicht eingegangen wird.

3.3.1.1 Einordnung und Abgrenzung bildungszielorientierter Förderdiagnostik

Zur Einordnung und damit einhergehender Abgrenzung bildungszielorientierter Förderdiagnostik zu Konzepten und Methoden psychologischer Testdiagnostik wird auf folgende Begriffe vertiefend eingegangen: Strukturorientierte Diagnostik, Verstehende Diagnostik und Subjektwissenschaftlicher Standpunkt. Außerdem wird die Inklusionsorientierung bildungszielorientierter Förderdiagnostik betrachtet. Der Abschnitt endet mit einem Resümee zu bildungszielorientierter Förderdiagnostik.

Strukturorientierte Diagnostik

Nach Schuck (2000, 245) und von Knebel und Schuck (2007, 484) ist pädagogische Diagnostik eine handlungsorientierte, strukturorientierte Diagnostik, die sich von einer auf klassischen Testtheorien basierenden psychologischen Diagnostik abwendet. Schuck (2003) verwendet zudem zur Beschreibung pädagogischer Diagnostik den Begriff „lernprozessbegleitende Diagnostik“ (Schuck 2003, 25) und hebt damit die Abgrenzung zur reinen Statusdiagnostik hervor. Lernprozessbegleitende Diagnostik hat nach Schuck (2003, 26 f.) drei Aufgaben: Die erste Aufgabe stellt die Darstellung der operativen Möglichkeiten des Kindes im Sinne von Fertigkeiten und Kompetenzen beziehungsweise als gegenstandsspezifisches Repräsentationsniveau dar. Eine zweite Aufgabe ist die Beschreibung externer Bedingungen, nämlich materieller und personaler Gegebenheiten des Lernumfeldes. Diese Bedingungen wirken förderlich oder hinderlich hinsichtlich der individuellen Aktivitäten zur Veränderung interner Repräsentationen. Eine dritte Aufgabe liegt in der Beschreibung der internen Bedingungen des Subjekts im Sinne von individuellen Begründungen der subjektiven Lernhandlungen. Grundlegende Annahme lernprozessbegleitender Diagnostik ist daher die „Aktivitätsannahme“ (Schuck 2003, 26), also die Annahme von einem Subjekt als aktiv handelnd.

Bei dieser strukturorientierten diagnostischen Vorgehensweise steht das Kind im Mittelpunkt, das als Subjekt die Struktur des Gegenstands in seine innere Struktur überführt. Diagnostiziert wird deshalb konkret das individuelle Aneignungsniveau des Kindes. Dafür sind die Kenntnisse über die Struktur des Gegenstandes notwendig, um den möglichen nächsten Entwicklungsschritt des Kindes zu beschreiben. Die diagnostizierende Person benötigt deshalb Wissen über die Struktur des Gegenstands und unter Rückgriff auf dieses Bezugssystem zieht dieser Schlussfolgerungen für die Förderung, die die Aneignung des Gegenstands fokussiert. Förderung ist damit gegenstandsbezogen, personenorientiert und individuell (Schuck 2000; 2003).

Ansätze für bildungszielorientierte Förderdiagnostik stellen aufgrund der Aktivitätsannahme der strukturorientierten Diagnostik (Schuck 2000; 2003) also strukturorientierte Konzepte dar (beispielsweise Kornmann 2018; Schuck 2000; 2003; von Knebel und Schuck 2007). Im Gegensatz zur Eigenschafts- oder Verhaltensdiagnostik, die unter der Passivitätsannahme produktorientiert ausgerichtet ist, steht hinter strukturorientierten Konzepten eine personale Orientierung, womit angestrebt wird, Wissen über die inneren Vorgänge des einzelnen Menschen zu erlangen. Strukturorientierte Diagnostik verknüpft Diagnostik und Förderung, welche sich vom „Makel der Selektion“ (Schuck 1993, 73, zit. n. von Knebel & Schuck 2007, 478) befreien soll. Strukturorientiert wird Diagnostik also, indem sie einerseits die konkrete Struktur des Gegenstands betrachtet, der vom Kind angeeignet wird, andererseits das Kind und sein individuelles Aneignungsniveau untersucht.

Zusammenfassend kann in Bezug auf Strukturorientierung bildungszielorientierter Förderdiagnostik festgestellt werden, dass in Übereinstimmung mit Schuck (2000, 245 f.) und entsprechend der handlungsleitenden Grundannahmen dieser Arbeit als handlungsorientierter Diagnostik folgende Prinzipien pädagogischer Diagnostik zugrunde liegen:

  1. 1.

    Das kooperativ an der Diagnostik beteiligte Subjekt steht im Mittelpunkt der diagnostischen Situation.

  2. 2.

    Handlungsbedingungen und deren Repräsentationen beim Subjekt gilt es zu rekonstruieren.

  3. 3.

    Die Informationsgewinnung geschieht in einem zyklischen Verfahren, woraus Handlungsorientierungen zu entwickeln sind, deren Umsetzung im weiteren Verlauf zu beurteilen ist.

Der in diesen drei Prinzipien zu erkennende Subjektstandpunkt wird auch in der von Schuck (2003, 24 f.) hervorgehobenen Kategorie des Bedürfnisses deutlich. In dieser sind Entwicklungsziele, Motive und Handlungsbegründungen des Subjekts aufgehoben, die in der diagnostischen Situation zu erschließen sind. Im engen Zusammenhang zu den Bedürfnissen steht das individuelle Förderbedürfnis als Rekonstruktion der subjektiven Handlungsbegründungen.

Zentral bei der Auseinandersetzung mit der Bestimmung bildungszielorientierter Förderdiagnostik ist die Annahme, dass nicht von ‚der einen‘ Förderdiagnostik gesprochen werden kann, sondern es wird von einer Vielzahl förderdiagnostischer Modelle ausgegangen. Im Anschluss an Kaminskis (1970) Vorschlag einer erneuerten diagnostischen Form, die nicht als „operationalisierte Rechtfertigung der Ausgliederung und besonderer Maßnahmen“ (Jetter 1986, 255) verstanden werden darf, wurden unterschiedlichste förderdiagnostische Modelle entworfen (z. B. Bundschuh 1998; Jetter, Schmidt & Schönberger 1983; Sander 2002; Suhrweier & Hetzner 1993). Bundschuh (1998) fordert mit der von ihm formulierten „Lebensraum- (Lifespace-) Diagnostik“ (Bundschuh 1998, S. 167 ff.) die Ursachen einer Problemlage im sozialen Umfeld anstatt beim Kind zu suchen. Förderdiagnostik wendet sich mit dem Anspruch, die besonderen Entwicklungsbedingungen, die zur Entstehung oder Aufrechterhaltung einer Problemlage führen, aufzudecken, von reiner Selektionsdiagnostik ab (Jetter 1996, 33). Daher wird Förderdiagnostik als Begleitdiagnostik verstanden, die weder Eingangs- noch Übergangsdiagnostik (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983) darstellt und in Einheit mit „Erziehung, Therapie, Förderung, Unterricht und gestaltetem Alltagsleben“ (Jetter 1994, 305 f.) steht. Dieser Aspekt bezieht sich auf die Annahme einer Diagnostik als „Verstehende Diagnostik“ (Jetter 1994, 297) und die Haltung der diagnostizierenden Person, die auf das Ziel der diagnostischen Tätigkeit, ein Bild vom Menschen zu erstellen, verweist. Das Bild wird dann nicht als Abbild verstanden, sondern als Rekonstruktion der Handlungen des Subjekts und damit als Rekonstruktion der kindlichen Erfahrungen mit dem Ziel, durch ein gemeinsames Verständnis mit allen Beteiligten Hinweise für gelingende Kooperation zu erlangen (Jetter 2013; Jetter 1994; Jetter 1985b).

Verstehende Diagnostik

Rekonstruktion ist eng mit einem Verstehen verbunden. Eine solche „Verstehende Diagnostik“ (Jetter 1994, 297) stellt einen ständigen Prozess dar, bei dem alle an der Diagnostik Beteiligten gemeinsam interagieren. Diese Kooperation führt zum Verstehen, gleichzeitig wird Verstehen erst durch Kooperation ermöglicht. Förderdiagnostik mit dem Ziel der Rekonstruktion der Handlungen des Kindes ist auf die individuelle alltägliche Lebenssituation bezogen, denn die lebenssituationalen Bedingungen, die förderlich oder hinderlich auf die bisherige Entwicklung gewirkt haben, werden durch das Erkennen der Geschichte des Kindes sichtbar. Zugrunde liegt diesem Verständnis von ‚Verstehender Diagnostik‘ die anthropologische Annahme von ordnender Tätigkeit des Menschen.

Um die Entwicklung eines Menschen rekonstruieren und seine Lebensordnungen verstehen zu können, gilt es, seine Entstehungsgeschichte zu verstehen, wozu entwicklungstheoretisches Wissen notwendig ist. Zur Rekonstruktion der Geschichte eines Menschen und damit zur Erfassung der sich daraus erschließenden lebenssituationalen Bedingungen benötigt die diagnostizierende Person also theoretisches Wissen über die Entwicklung innerer Strukturen, das dieser zur Reflexion der vorerst nur beobachtbaren oder beschriebenen Handlungen benötigt. Solches Erklärungswissen führt zum Verstehen der Handlungen und damit zum Erkennen lebenssituationaler Bedingungen. Die beobachteten Daten müssen dafür von der diagnostizierenden Person unter Bezugnahme ihres theoretischen Wissens und ihrer eigenen Erfahrungen geordnet und bewertet werden (Jantzen 2018; Jantzen 2012; Jantzen 2009; Jetter 1994). Objektive Verfahren können eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des einzelnen Menschen nicht leisten, „weil diese von normativen Vorstellungen ausgehen, die von den individuellen Lebenszusammenhängen der Kinder (notwendigerweise!) abstrahieren müssen“ (Jetter 1994, 297). Das bedeutet, dass durch eine Analyse der Handlungen des Kindes im Alltag die notwendigen diagnostischen Informationen gefunden werden müssen.

Subjektwissenschaftlicher Standpunkt

Die Handlungen des Kindes im Alltag zu analysieren bedeutet, dass nicht das Kind im Mittelpunkt der Diagnostik steht, sondern aus subjektwissenschaftlicher Sicht die jeweiligen Situationen und Beziehungen, die die Grundlage für das begründete Handeln des Kindes darstellen. Mit dem Kind gemeinsam werden die Begründungen für sein individuelles Handeln erschlossen, denn das Kind wird als mitforschend (Markard & Kaindl 2014, 205) betrachtet und nicht als beforschtes Individuum. Nur aus der ‚je eigenen‘ Perspektive kann das ‚je eigene‘ Handeln in den jeweiligen Situationen rekonstruiert und dahingehend befragt werden, inwieweit eine Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit ermöglicht werden kann (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann 2000). Diese Annahme hat zur Folge, dass Diagnostik und Förderung zum Ziel haben, die Handlungsfähigkeit der Subjekte zu erweitern, was durch Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen erreicht werden kann.

Aus subjektwissenschaftlicher Sicht (Markard & Kaindl 2014) erscheint Förderung im Sinne einer Übung oder eines Trainings nicht zielführend, wenn die Übung oder das Training nicht in einen für das Subjekt sinnvollen Handlungszusammenhang eingebunden sind. Des Weiteren wird aus subjektwissenschaftlicher Sicht (Markard & Kaindl 2014, 196 ff.) davon ausgegangen, dass aus Verfahren der klassischen Testdiagnostik kein Rückschluss auf subjektive Probleme und Lebensumstände gezogen werden kann, denn bei den Verfahren der klassischen Testdiagnostik wird in vorgegebenen Kategorien gedacht. Diese Vorgehensweise führt zu einer Abstraktion der je individuellen Handlungsgründe und Handlungsprämissen des Subjekts (Markard & Kaindl 2014, 200 f.). Zwar können individuelle Eigenschaften festgestellt werden, diese erklären und begründen jedoch nicht das Handeln des Menschen. Ausschließlich die konkreten Lebensumstände liefern Begründungen für das individuelle Handeln und werden so zu Prämissen des Handelns (Markard & Kaindl 2014, 201).

Mit dem Verweis auf die konkreten Lebensumstände als Begründungen des individuellen Handelns ist der Begründungsdiskurs angesprochen: Gesellschaftliche Bedingungen sind zwar objektiv gegeben, bedingen aber nicht das Handeln eines Menschen, sondern bestimmen es insoweit, wie sie zu Prämissen für die je individuellen Handlungsbegründungen werden. Welche konkreten Handlungen aufgrund welcher Prämissen wie begründet sind, ist das Ergebnis der individuellen Lebensinteressen (Holzkamp 1991; Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann 2000; Markard & Kaindl 2014). Das Subjekt verhält sich zu den Handlungsmöglichkeiten, die es aufgrund der objektiv gegebenen Bedingungen vorfindet.

Diagnostik, die die konkreten Situationen rekonstruiert, um auf Basis dieser Erkenntnisse Rückschlüsse auf die individuellen Handlungsgründe und damit auf die lebenssituationalen Bedingungen ziehen zu können, wird vom subjektwissenschaftlichen Standpunkt aus konzipiert und durchgeführt. Daher werden keine Aussagen über Menschen getroffen, sondern über gegebenenfalls verallgemeinerbare Handlungserfahrungen, indem Prämissen-Gründe-Zusammenhänge aufgeschlüsselt werden (Markard & Kaindl 2014). So sollen Schlussfolgerungen für die Förderung gezogen werden können, in der die subjektiven Verfügungsbedingungen und damit die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann 2000) erweitert werden können.

Inklusionsorientierung

Aufgrund der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention 2006), deren Ratifizierung im Jahr 2009 in der Bundesrepublik Deutschland zur Folge hatte, dass Schulgesetze im Hinblick auf gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf geändert wurden, ist es wichtig, dass sich pädagogische Diagnostik die Frage nach der Inklusionstauglichkeit stellt. Die Ausführungen zur Bestimmung bildungszielorientierter Förderdiagnostik (siehe Abschnitt 3.3.1n) zeigen, dass sich förderdiagnostische Fragen überall dort ergeben, wo Lernen und Entwicklung eines Kindes stattfinden. Das bedeutet, dass Lernen und Entwicklung nicht nur auf den schulischen Rahmen oder auf besondere Schulformen bezogen sind (Schuck 1994). Da förderdiagnostische Konzepte, wie sie hier vertreten werden, den Anspruch erheben, nicht selektiv zu wirken, und damit nicht der Zuordnung zu Schulformen dienen, sondern „im Dienst der Förderarbeit“ (Jetter 1994, 299) stehen, sind sie zweifelsohne inklusionsorientiert (von Knebel 2015, 378).

Resümee

Resümierend kann festgestellt werden, dass bildungszielorientierte Förderdiagnostik, die sich von Verfahren klassischer psychologischer Testdiagnostik und sogenannter Selektionsdiagnostik abwendet, in der vorliegenden Arbeit als strukturorientiert (Schuck 2000; von Knebel & Schuck 2007) betrachtet wird. Es wird davon ausgegangen, dass es sich um inklusionsorientierte Diagnostik handelt, die lernprozessbegleitend (Schuck 2003) ist und der die Annahme eines aktiv handelnden Menschen zugrunde liegt. Bildungszielorientierte Förderdiagnostik ist aufgrund der handlungstheoretischen Bestimmung und des eingenommenen subjektwissenschaftlichen Standpunkts als „Verstehende Diagnostik“ (Jetter 1994, 297) zu bezeichnen, bei der das Kind nicht als ‚Proband‘ betrachtet wird, sondern als ‚mitforschend‘ (Markard 2017, 234; Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann 2000, 251) am diagnostischen Prozess mitwirkt. Diese zentralen Annahmen so verstandener pädagogischer Diagnostik wirken handlungsleitend für die vorliegende Arbeit. Im folgenden Abschnitt wird auf Basis der Ausführungen zur Einordnung und Abgrenzung der Anspruch bildungszielorientierter Förderdiagnostik dargelegt.

3.3.1.2 Anspruch und Ziel bildungszielorientierter Förderdiagnostik

Förderdiagnostik erhebt den Anspruch, das Kind in jede diagnostische Situation einzubeziehen (Jetter 1985a). Dieser Anspruch kann durch normorientierte Diagnostik, da sie „von oben“ (Jantzen 1985, 11) durchgeführt wird, nicht gewährleistet werden.

Verfechter der klassischen Testdiagnostik verweisen auf die Prognostizierbarkeit kindlichen Verhaltens anhand der Normorientierung gemessener Eigenschaften und Fähigkeiten (Goldfried & Kent 1974, zit. n. Schuck 2000, 239), jedoch lassen die mittels standardisierter Verfahren gemessenen Funktionen wie Intelligenz, Verhalten oder Konzentration keinen Rückschluss auf die Entwicklung der subjektiven Strukturen zu (Schuck 2000, 240). Es erscheint aus förderdiagnostischer Perspektive nicht zielführend, zwar individuelle Leistungen zu erfassen und diese anschließend mit einer standardisierten Norm zu vergleichen, denn die Leistungen der Gruppe, die als Norm herangezogen wird, stehen in keinem Zusammenhang mit der individuellen Leistung des Kindes. Solche eigenschaftsorientierte Diagnostik ist keinesfalls individuell, treffen die Normwerte doch lediglich Aussagen über die Leistungen der zugrunde liegenden Gruppe und nicht über die individuellen Leistungen des Kindes (Schuck 2000, 240).

Jantzen (1985, 12) problematisiert, dass die Kritik an normorientierter Diagnostik an deren Verwendung gerichtet sein muss, wenn die Erkenntnisse normorientierter Diagnostik „Einzelentscheidungen über Kinder legitimieren“ (Jantzen 1985, 12) sollen. Begründen lässt sich dieser Punkt mit der Annahme, dass aus förderdiagnostischer Perspektive menschliche Verhaltensweisen nicht zur Erklärung von Persönlichkeitseigenschaften des handelnden Subjekts herangezogen werden können. Mit der Annahme eines aktiv handelnden Subjekts wendet sich Förderdiagnostik von der klassischen Testtheorie ab, deren Gegenstand das objektive Messen unveränderlicher Merkmale darstellt. Testtheorie kann keine ‚richtigen‘ diagnostischen Entscheidungen treffen (Jetter 1985a, 65 ff.), da durch reine Eigenschafts- oder Verhaltensorientierung Testsituationen geschaffen werden, in denen das Verhalten des Probanden erfasst und in Bezug zu Normwerten gesetzt wird. Unter der dahinterstehenden Passivitätsannahme versucht die diagnostizierende Person, allgemeine Persönlichkeitseigenschaften zur Erklärung menschlichen Verhaltens heranzuziehen beziehungsweise sogar auf dieser Basis Prognosen für zukünftiges Verhalten zu erteilen (Schuck 2000, 238). Insbesondere wurde und wird verhaltensorientierte Diagnostik zur Prognose schulischer Leistungen verwendet, das heißt auch zur Rechtfertigung herangezogen, Kinder bestimmten Schulformen zuzuweisen (Schuck 2000, 235).

Daher löst sich Förderdiagnostik nach Jetter, Schmidt und Schönberger (1983) von zwei gravierenden Forderungen der klassischen Testdiagnostik: zum einen von der „Forderung nach Quantifizierbarkeit der erfassten Merkmale“ (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983, 257), zum anderen von der „Forderung nach konkret-antizipatorischer Bestimmbarkeit allgemein-menschlicher Eigenschaften“ (Jetter, Schmidt und Schönberger 1983, 257). Das bedeutet, dass das Klassifizieren im Sinne einer Zuordnung zu allgemeinen Klassen als nicht zielführend betrachtet wird, denn Persönlichkeitsmerkmale können aus zwei Gründen nicht standardisiert erfasst werden. Erstens, da sie nicht dauerhaft bestehen, und zweitens, da sie eine subjektive Konstruktion des einzelnen Menschen darstellen. Das Zuordnen von subjektiv entwickelten Fähigkeiten und Eigenschaften zu abstrakten Kategorien, wie es bei der Anwendung von Anamneseschemata oder standardisierten Testverfahren und Beobachtungsverfahren der Fall ist, stellt daher keine zielführende Vorgehensweise aus bildungszielorientierter, förderdiagnostischer Sicht dar (Jetter 1996; Jetter, Schmidt & Schönberger 1983; Jetter 1985a; Jetter 2013).

Bildungszielorientierte Förderdiagnostik hat einen ganz anderen Anspruch: Sie verfolgt die zentrale Frage nach den Bedingungen, unter denen sich die individuellen Voraussetzungen wie beispielsweise „Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse eines Kindes“ (Jetter 1994, 298) entwickelt haben und erweitern können sowie nach den Möglichkeiten eines Einzelnen und nicht nach den Mängeln oder Abweichungen von einer Norm (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983; Bundschuh 2007; Jantzen 1985). Aus diesem Grund ist pädagogische Förderung als diagnosegeleitet zu bezeichnen, was bedeutet, dass individuelle pädagogische Sprachförderung nur auf Grundlage einer bildungszielorientierten beziehungsweise förderungsorientierten Diagnostik möglich ist (von Knebel 2015).

Dadurch, dass das Subjekt, das an der Diagnostik beteiligt ist, als aktiv handelnd anerkannt wird, wird sich in der strukturorientierten Diagnostik zum einen von einer Passivitätsannahme abgewendet, die von der Determination der Umwelteinflüsse ausgeht. Zum anderen werden eine Eigenschaftsorientierung und der Normbezug, wie sie der klassischen Testtheorie zugrunde liegen (Schuck 2000, von Knebel und Schuck 2007) zurückgewiesen. Auf die damit zusammenhängende Auseinandersetzung zur ‚Selektions-‘ und ‚Förderdiagnostik‘ (z. B. Schlee 1985) wird im Folgenden Bezug genommen, da sich aus diesen gegenüberstehenden diagnostischen Annahmen herausstellen lässt, welchen Ziel bildungszielorientierte Förderdiagnostik konkret verfolgt.

Die Bestimmung förderdiagnostischer Konzepte rief eine theoretische Auseinandersetzung hervor (z. B. Schlee 1985; Schlee 1994; Kornmann 1993; Kautter, Munz, Sautter & Schoor 1993), bei der einerseits Kritik an der in dieser Arbeit beschriebenen Förderdiagnostik geübt wurde. Die Kritiker förderdiagnostischer Ansätze weisen darauf hin, dass sich aus diagnostischen Daten keine Handlungsanweisungen ableiten lassen, da Daten über einen ‚IST-Zustand‘ keine Aussagen über den ‚SOLL-Zustand‘ zulassen würden, sondern allein eine erfolgte Maßnahme könne diagnostische Daten liefern (Schlee 1985; Schlee 1994; Schlee 2005). Genau genommen lassen sich mit der Anwendung förderdiagnostischer Konzepte keine ‚SOLL-Werte‘ aus ‚IST-Werten‘ ableiten, da eine solche Ableitung nicht das Ziel der Förderdiagnostik darstellt.

Vielmehr soll aus förderdiagnostischer Perspektive erstens erfasst werden, welche Fähigkeiten ein Kind bezüglich eines Gegenstands bereits erworben hat und welche lebenssituationalen Bedingungen hinderlich beziehungsweise förderlich in der bisherigen Entwicklung waren. Zweitens wird die Frage danach verfolgt, wie die Entwicklungsbedingungen gegebenenfalls verändert werden müssen, damit das Kind sich in seiner Handlungsfähigkeit weiter entwickeln kann. Die diagnostisch erfasste Ausgangslage ist daher Voraussetzung für die individuelle Förderung eines Kindes (von Knebel 2010). Bei der diagnostischen Erfassung der individuellen Ausgangslage stehen die Handlungspläne des beteiligten Kindes im Mittelpunkt und damit die Frage danach, wie die Handlungspläne im Alltag durch das Kind umgesetzt werden können.

Die diagnostizierende Person benötigt nach Jetter (1996) Wissen, wie sich Erkenntnissysteme entwickeln, um aus der konkreten Tätigkeit des Kindes und der Beziehung seiner Ziele und Werte die Handlungspläne des Kindes theoriegeleitet analysieren zu können (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983). Um solches Wissen zu erlangen, „müssen wir den Alltag des Kindes untersuchen“ (Jetter 1996, 41). Dabei ist eine zusätzliche Verwendung standardisierter Testmaterialien nicht ausgeschlossen, wenn sie unter den Gütekriterien der bildungszielorientierten Förderdiagnostik angewendet werden. Nach Jetter, Schmidt und Schönberger (1983) bilden nicht die Kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität der klassischen Testtheorie die Grundlage zur Qualitätssicherung diagnostischen Handelns. Vielmehr ist als „wirkliche Güte der Diagnostik“ (Jetter 1996, 42) die Entwicklung des Kindes zu betrachten, was Schuck (2000, 241 f.) mit dem Begriff des Aneignungsniveaus des Kindes ausdrückt, das den Lernprozess des Kindes sichtbar werden lässt, also welches Wissen das Kind bereits erworben hat.

Förderungsorientierte Diagnostik zielt nicht auf Zuweisung zu einer bestimmten Schulform ab, hat also keine selektive Funktion. Das Ziel förderungsorientierter Diagnostik besteht vielmehr in einem Verstehen aktueller Situationen sowie dem Erkennen förderlicher beziehungsweise hinderlicher Bedingungen. Darin inbegriffen ist das Schaffen von Bedingungen, die zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit beitragen (Schuck 2000, Schuck 2003, von Knebel & Schuck 2007). So verstandene Diagnostik ist daher ein Prozess der Entwicklung eines Förderkonzepts (Schuck 2003, 27). Indem das Ziel jeder Förderdiagnostik die Analyse behindernder Bedingungen ist (Bundschuh 1998), führt bildungszielorientierte Förderdiagnostik „anhand des noch lebendigen und dokumentierten Wissens über die Geschichte seiner Handlungen“ (Jetter 1985a, 69) unter der Leitidee der Kooperation zu einem bestimmten Bild des Menschen. Ziel ist es, herauszuarbeiten, was förderlich für die Kooperation erscheint (Jetter 1985a; Jetter 1985b). Jetter (1985a) konkretisiert die Zielsetzung förderungsorientierter Diagnostik und formuliert als handlungsleitende Fragen jedes diagnostischen Vorgehens: „Welche Möglichkeiten hat der Behinderte, sein Handeln zu planen und zu verantworten? In welchen Lebensbereichen kann er diese Möglichkeiten im gemeinsamen Handeln mit anderen sichern und entfalten?“ (Jetter 1985a, 69). Mit diesen Fragen wird auf das Menschenbild der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) verwiesen. Demnach ist diagnostisches Vorgehen dadurch geprägt, dass der zu diagnostizierende Mensch als verantwortlich Handelnder erscheint und als jemand, der zur Kooperation fähig ist (Jetter 1985a).

Was laut Jetter (1985b) den strukturorientierten Konzepten der Förderdiagnostik fehlt, ist die Frage nach der Bedeutsamkeit der Aneignung eines Gegenstands in der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts. Die diagnostizierende Person benötigt über die Kenntnis der Struktur des Gegenstands hinaus Kenntnisse über die individuellen alltäglichen lebenssituationalen Bedingungen im Sinne von Voraussetzungen für Lernen und Entwicklung. Daher setzt sich Förderdiagnostik zum Ziel, sowohl die Fähigkeiten und Kenntnisse des Kindes zu erfassen als auch zu versuchen, Antworten auf die Frage zu finden, welche Bedeutung und welchen Wert diese in der alltäglichen Lebenssituation des Kindes haben und inwiefern die Bedeutung und der Wert vom Kind erfahren werden kann (Jetter 1994, 298). Auch Suhrweier und Hetzner (1993) betonen die Notwendigkeit der diagnostischen Erfassung alltäglicher lebenssituationaler Bedingungen im Sinne förderlicher beziehungsweise hemmender Aspekte. Kenntnisse über die Verursachung einer Problemlage können zur Ableitung von Fördermaßnahmen herangezogen werden. Zwar beschreiben Suhrweier und Hetzner (1993) diese Bestimmung förderdiagnostischer Konzepte für Diagnostik und Förderung bei Beeinträchtigung des Lernens, jedoch kann der Anspruch auch für pädagogische Sprachdiagnostik übernommen werden. Denn unabhängig davon, welcher Gegenstand vom Kind angeeignet wird, steht die Tätigkeit des Kindes im Mittelpunkt der diagnostischen Situation (Suhrweier 1987). Kobi (1985) fragt dieser Anforderung entsprechend: „Wie muss eine Situation beschaffen sein, damit sie dieses Kind zu meistern vermag?“ (Kobi 1985, 251, zit. n. Jetter 1996, 41) und weist damit eindrücklich auf die Forderung hin, nicht das Kind zu untersuchen, sondern die Situationen und Handlungen im Alltag des Kindes. Die alltäglichen lebenssituationalen Bedingungen eines Kindes können nur verbessert werden, wenn vom Kind selbst die notwendigen Informationen gegeben werden.

Darüber hinaus gilt es, die gewonnenen Erkenntnisse mit den individuellen Zielen der jeweiligen Förderdiagnostik in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983). Nach Jetter liegt der „Primat des diagnostischen Vorgehens (…) im Leben selbst“ (Jetter 1996, 41), das heißt, der Alltag des Kindes muss hinsichtlich der Handlungen des Kindes in Kooperation mit anderen betrachtet werden, wobei nicht lediglich der Ablauf einzelner Handlungen erfasst wird, sondern der Alltag, der sich durch eine geordnete Wiederkehr einzelner Handlungen auszeichnet, dahingehend untersucht werden soll, wie die Ordnungsstrukturen des Kindes darin vermittelt sind, um das Ordnungssystem des Kindes zu erkennen (Jetter 1996). Die Biografie des zu diagnostizierenden Menschen stellt dabei den zentralen Aspekt dar, da diese den Hintergrund der aktuellen Entwicklung bildet (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983). Daher gilt es in den biografischen Bedingungen nach den möglichen Ursachen der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Problemlage zu suchen. Dabei kann, wie ausgeführt, eine Anhäufung und schematische Einordnung biografischer Daten nicht zielführend sein. Die diagnostizierende Person orientiert ihr Handeln am Schema und nicht mehr am Kind mit der Folge einer misslungenen Kooperation, außerdem soll die Kooperation mit dem Kind selbst und nicht der Inhalt der Kooperation betrachtet werden (Jetter 1996; Jetter 2013). Vielmehr liegt die Aufgabe der diagnostizierenden Person darin, die gesammelten Erkenntnisse über die alltäglichen lebenssituationalen Bedingungen miteinander in Beziehung zu setzen (Jetter 1985b).

Die Ausführungen verdeutlichen, dass das Ziel bildungszielorientierter Förderdiagnostik darin besteht, solche Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes zu erkennen, die förderlich beziehungsweise hinderlich auf die Entwicklung der Handlungsfähigkeit des Kindes wirken. Inwiefern die durch bildungszielorientierte Förderdiagnostik gewonnenen Daten hinsichtlich ihrer Güte beziehungsweise Qualität beurteilt werden können, wird im nächsten Abschnitt (3.3.1.3) dargestellt.

3.3.1.3 Gütekriterien bildungszielorientierter Förderdiagnostik

Die Entwicklung des Kindes beziehungsweise das individuelle Aneignungsniveau des Kindes zu betrachten bedeutet, den Fokus bildungszielorientierter Förderdiagnostik auf Strukturorientierung zu legen (siehe Abschnitt 3.3.1.1). Das heißt, die diagnostizierende Person benötigt sowohl Kenntnisse über die Struktur des zu entwickelnden Gegenstandes als auch über die Struktur der Erkenntnistätigkeit des Kindes. Für die Konstruktion und Auswertung diagnostischer Situationen postulieren Jetter, Schmidt und Schönberger (1983) Gütekriterien, die zum einen die erziehungswissenschaftliche Position als auch die Haltung der diagnostizierenden Person prägen. Das Hauptkriterium diagnostischer Beobachtungen stellt zu jeder Zeit das „Verhältnis von Erkenntnistätigkeit und Wertwirklichkeit“ (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983, 260) des handelnden Kindes dar. Das bedeutet, dass Förderdiagnostik aufgrund der Bildungszielorientierung den Anspruch hat, die individuelle Handlungsfähigkeit des Kindes zu betrachten und die Bedingungen zu erfassen, unter denen sich die Handlungsfähigkeit weiterentwickeln kann.

Folgende Gütekriterien konkretisieren das Hauptkriterium bildungszielorientierter Förderdiagnostik nach Jetter, Schmidt und Schönberger (1983): Bei der Planung der diagnostischen Situation wird

  • die Ausgangslage des Kindes theoriegeleitet analysiert,

  • es werden Begründungen für die Problemstellung abgeleitet und

  • die individuelle Vorgehensweise abgeleitet.

Dabei wird auf das diagnostische beziehungsweise pädagogische Ziel im Punkt ‚Schlüssigkeit der pädagogischen Absicht‘ eingegangen (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983, 261).

Aus diesen ersten Planungspunkten heraus ergeben sich die Gütekriterien zur ‚Gestaltung der diagnostischen Situation‘. Das heißt es werden

  • die ‚Angemessenheit und Problemgerechtigkeit des Materials und der Hilfsmittel‘ durch die Problemstellung und den gewählten Ablaufplan begründet,

  • die Dokumentation der diagnostischen Erkenntnisse hinsichtlich der Praktikabilität in der diagnostischen Situation selbst sowie auf Informativität für die spätere Analyse geprüft und

  • jegliche Anweisungen und Interventionen nachvollziehbar und entsprechend der Problemstellung ausgewählt (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983, 261).

Im gesamten diagnostischen Prozess ist die Haltung der diagnostizierenden Person gekennzeichnet durch

  • Exploration,

  • Flexibilität und

  • Partnerschaftlichkeit.

Dadurch wird ermöglicht, unvoreingenommen möglichst vielseitige Informationen vom Kind zu erfahren, wobei zwar der gestellte Ablaufplan berücksichtigt wird, aber nur insoweit, wie es die Möglichkeiten des Kindes erlauben (Jetter, Schmidt & Schönberger 1983, 261).

Die Ausführungen zeigen, dass die Gütekriterien bildungszielorientierter Förderdiagnostik als Qualitätskriterien verstanden werden können, mit denen die erhobenen Daten zur Handlungsfähigkeit des Kindes beziehungsweise zu den Bedingungen, unter denen sich die Handlungsfähigkeit des Kindes entwickelt, beurteilt werden können. Die Bedeutung der Bestimmung bildungszielorientierter Förderdiagnostik für die pädagogische Sprachdiagnostik wird im folgenden Abschnitt thematisiert.

3.3.2 Pädagogische Sprachdiagnostik als bildungszielorientierte Förderdiagnostik

Die Darstellungen zur Bestimmung bildungszielorientierter Förderdiagnostik (siehe Abschnitt 3.3.1) beziehen sich auf allgemeine grundlegende Annahmen und nicht im Besonderen auf die Diagnostik sprachlich-kommunikativer Kompetenzen. Pädagogische Sprachdiagnostik wird in der vorliegenden Arbeit auf Basis dieser allgemeinen Bestimmungen und aufgrund der handlungstheoretischen (Schönberger, Jetter, & Praschak 1987) beziehungsweise sprachhandlungstheoretischen (Welling 1990) Fundierung als bildungszielorientierte Förderdiagnostik betrachtet.

Bei der Beschreibung der Bestimmungsmerkmale pädagogischer Sprachdiagnostik (von Knebel & Schuck 2007) wird auf allgemeinerziehungswissenschaftliche Theorien Bezug genommen, wodurch der Anspruch der Theoriegeleitetheit pädagogischer Sprachdiagnostik (von Knebel 2007, 1087) erfüllt wird. Die Bestimmungsmerkmale dienen nach von Knebel und Schuck (2007, 487) der kriteriengeleiteten Analyse diagnostischer Konzepte und stellen daher in der vorliegenden Arbeit die Grundlage für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (siehe Kapitel 6) dar. Es werden im vorliegenden Abschnitt aus Gründen der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und der Offenlegung der theoretischen Ausgangslage die Bestimmungsmerkmale pädagogischer Diagnostik bei Beeinträchtigung der Sprache erläutert. Bei der Erläuterung der Bestimmungsmerkmale wird der vorgeschlagenen Reihenfolge der Autoren (von Knebel & Schuck 2007) gefolgt, ohne dass damit eine Hierarchisierung angestrebt wird. Es wird zunächst vom Sprachspezifischen ausgegangen, um diese Spezifität um entwicklungstheoretische, personale und lebenssituationale Aspekte zu erweitern. Es folgt daraufhin ein Verweis auf erziehungswissenschaftliche Aspekte, bevor der Abschnitt mit Bestimmungsmerkmalen, die die diagnostische Situationsgestaltung betreffen, abschließt.

Sprachspezifischer und entwicklungstheoretischer Aspekt

In sprachspezifischer Hinsicht bezieht sich pädagogische Sprachdiagnostik auf den individuellen und von der Erwartungsnorm abweichenden Sprachgebrauch und orientiert sich somit an sprachlichen Phänomenen (von Knebel & Schuck 2007, 491 f.). Solange sich pädagogische Sprachdiagnostik mit der sprachphänomenologischen Orientierung nicht auf die Erfassung von Regelhaftigkeiten im individuellen Sprachgebrauch beschränkt, werden sprachbezogene Detailanalysen für eine pädagogische Diagnostik bei Beeinträchtigung der Sprache aus zwei Gründen relevant. Erstens, da sie zur Konkretisierung der sprachlichen Problemlage beitragen, und zweitens, da diese Details unter gegenstandsspezifischen Gesichtspunkten geordnet und daraus verallgemeinernde Schlussfolgerungen gezogen werden können. Diese Vorgehensweise führt schließlich zu einer individuell zugeschnittenen und diagnosegeleiteten Sprachförderung (von Knebel & Schuck 2007, S. 491 f.). Die individuell zugeschnittene Sprachförderung wird möglich, wenn neben dem Gegenstandsbezug, also der detaillierten Betrachtung der individuellen Sprachverwendung und der Abweichung von der zielsprachlichen Norm, ein Individuumsbezug hergestellt wird. Entwicklungsorientierung wird so bestimmend für pädagogische Sprachdiagnostik und bezieht sich sowohl auf die individuelle Entwicklung des Kindes als auch auf die Orientierung an Sprachentwicklungstheorien (von Knebel & Schuck 2007, S. 493).

Personale und lebenssituationale Aspekte

Personale und lebenssituationale Aspekte werden mit den Bestimmungsmerkmalen „Subjektorientierung“ (von Knebel & Schuck 2007, 494) und „Lebensweltorientierung“ (von Knebel & Schuck 2007, 495) thematisiert. Subjektorientierung bedeutet herauszustellen, inwiefern der Betroffene „von seinen entwickelten sprachlichen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch macht“ (von Knebel & Schuck 2007, S. 495) und wie diese zur Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit beitragen. Der Subjektbegriff ist in diesem Zusammenhang „geprägt durch das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den gesellschaftlichen Verhältnissen“ (von Knebel & Schuck 2007, S. 494), die das Subjekt aktiv mitgestaltet und dadurch sprachlich handlungsfähig wird.

„Lebensweltorientierung“ (von Knebel & Schuck 2007, 495) beziehungsweise Orientierung an der alltäglichen Lebenssituation als Bestimmungsmerkmal pädagogischer Sprachdiagnostik bezieht sich auf die alltäglichen lebenssituationalen Bedingungen, unter denen der Mensch Sprache erwirbt und gebraucht. Diese Bedingungen zu analysieren und ihre Beteiligung an der Entstehung der sprachlichen Problemlage herauszuarbeiten, ist Ziel einer pädagogischen Sprachdiagnostik (von Knebel 2004; 2012b; 2015). Die pädagogische Sprachförderung zieht aus diesen Erkenntnissen insofern ihren Nutzen, als dass sie sich auf das alltägliche lebenssituationale Bedingungsgefüge bezieht, dieses dahingehend zu verändern, dass der Betroffene seine sprachliche Handlungsfähigkeit erweitern kann (von Knebel & Schuck 2007, S. 495 f.). Pädagogische Sprachdiagnostik ist auf die Handlungsfähigkeit des Betroffenen in seiner alltäglichen Lebenssituation gerichtet, indem analysiert wird, wie und warum die Handlungsmöglichkeiten im Alltag eingeschränkt erscheinen. Diese bildungszielorientierte Diagnostik bildet die Grundlage für eine pädagogische Sprachförderung, die auf die Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit und somit auf das Erreichen des allgemeinen Bildungsziels gerichtet ist (von Knebel & Schuck 2007, S. 496 f.).

Erziehungswissenschaftliche Aspekte

Bezogen auf die Theorien der Erziehung nach Benner (2001) entspricht pädagogische Sprachdiagnostik mit dem Bestimmungsmerkmal der Erziehungsorientierung dem pädagogischen Anspruch aus zwei Gründen: Erstens, da innerhalb der diagnostischen Situation sowohl die „Bedingungen und Möglichkeiten nachfolgender Erziehung“ (von Knebel und Schuck 2007, 498), also pädagogischer Sprachförderungssituationen, bestimmt werden. Zweitens, da die Diagnostik selbst entsprechend dieser Bedingungen und Möglichkeiten geplant und durchgeführt wird. Handlungstheoretisch begründete Analysen, die nach Handlungsgrundlagen (Plangeleitetheit), Wertesystemen (Wertorientiertheit) und Handlungszielen (Zielgerichtetheit) fragen, liefern Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Betroffenen, ihre alltägliche Lebenssituation mitzugestalten, zu verändern und so ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern (von Knebel & Schuck 2007, S. 497).

Die diagnostischen Ergebnisse, die gewonnen werden, fließen in eine Beurteilung hinsichtlich der Eignung pädagogischer Institutionen der Förderung ein. Eine solche Institutionsorientierung wird damit zu einer Bedingung pädagogischer Sprachdiagnostik, da eine reine ‚Zuordnung‘ von Schülerinnen und Schülern mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu bestimmten Schulformen oder Formen von Sprachtherapie und Sprachförderung nicht mehr „zeitgemäß“ (von Knebel & Schuck 2007, 498) und im Hinblick auf die genannten allgemein erziehungswissenschaftlichen Prinzipien nicht angemessen ist (von Knebel & Schuck 2007, 498 f.).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die aufgeführten Bestimmungsmerkmale sich auf den diagnostischen Gegenstand beziehen. Daher definieren sie, was in diagnostischen Situationen eruiert werden soll. Hinsichtlich pädagogischer Sprachdiagnostik ist der Gegenstand der subjektive Spracherwerb und Sprachgebrauch, was durch Orientierung an den genannten Bestimmungsmerkmalen gesichert wird. Die Bestimmungsmerkmale werden durch ihr Wesen als qualitätssichernde Merkmale diagnostischer Tätigkeit zu Qualitätsmerkmalen pädagogischer Diagnostik im Förderschwerpunkt Sprache (von Knebel 2010, 246).

Bestimmungsmerkmale diagnostischer Situationsgestaltung

Die Bestimmungsmerkmale, die sich auf den diagnostischen Gegenstand beziehen, lassen sich durch drei weitere Qualitätsmerkmale ergänzen, die die Art und Weise der diagnostischen Situationsgestaltung (von Knebel 2010; 2015) und damit die Methoden pädagogischer Sprachdiagnostik betreffen.

Ein erstes Qualitätsmerkmal ist ‚Prozessorientierung‘ und bezieht sich auf die Anforderung an pädagogische Sprachförderung als (Lern-) Prozessdiagnostik. Der Entwicklungsverlauf des Kindes wird begleitend diagnostiziert, wodurch Entwicklungsfortschritte erkannt werden können, die in der Förderung Berücksichtigung finden müssen (von Knebel 2010, 247; von Knebel 2015, 380 f.).

Ein zweites Qualitätsmerkmal, ‚Mitwirkungsorientierung in Bezug auf das Kind‘, bezieht sich auf den subjektwissenschaftlichen Standpunkt förderungsorientierter Diagnostik mit der Forderung, das Kind als Subjekt in den Mittelpunkt der diagnostischen Situation zu stellen. Diagnostische Situationen sind demnach so zu gestalten, dass sie in höchstem Maße die Mitwirkung und Mitverantwortung des Kindes erlauben (von Knebel 2010, 247; von Knebel 2015, 380 f.).

Mit dem dritten Qualitätsmerkmal ‚Mitwirkungsorientierung in Bezug auf das Umfeld‘, ist gemeint, dass nicht nur das Kind, sondern auch seine Bezugspersonen am diagnostischen Prozess teilhaben sollten, um zum Gelingen pädagogischer Sprachförderung beitragen zu können (von Knebel 2010, 247; von Knebel 2015, 380 f.).

Resümee

Zusammenfassend lässt sich pädagogische Sprachdiagnostik als begleitender Prozess der Bildung, Erziehung und Förderung beschreiben. Im Denkrahmen der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) ist jegliches pädagogische Handeln dem Bildungsziel der Erweiterung der Handlungsfähigkeit unterstellt. Pädagogische Sprachdiagnostik verfolgt daher und aufgrund der handlungstheoretischen Fundierung die folgenden zwei Aufgaben:

  • Die erste Aufgabe besteht in Bezug auf den Zweck der Diagnostik in der Verwirklichung des allgemeinen Bildungsziels.

  • Die zweite Aufgabe bezieht sich darauf, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Daher besteht die zweite Aufgabe darin, Informationen zu gewinnen, auf welchem Weg die Schülerinnen und Schüler dieses Ziel erreichen können (von Knebel 2002; 2012).

Aufgrund dieser Zielsetzung und unter Bezugnahme der handlungstheoretischen Fundierung mit den Merkmalen sprachlichen Handelns, ergeben sich zu den Aspekten ‚Plangeleitetheit‘, ‚Wertorientiertheit‘ und ‚Zielgerichtetheit‘ leitende diagnostische Fragestellungen, die hinsichtlich der jeweiligen sprachlichen Problemlage konkretisiert werden müssen (von Knebel 2007, S. 1090). Zur Plangeleitetheit wäre beispielsweise die Frage nach der Wissens- und Könnensgrundlage zu stellen, auf denen die Sprachverwendung der Schülerinnen und Schüler basiert. Hinsichtlich der Wertorientiertheit sollte nach der ideellen Grundlage des Sprachgebrauchs gefragt werden, das heißt danach, welche Normen und Werte für das an der Diagnostik beteiligte Subjekt bezüglich des Sprachgebrauchs bedeutsam sind und inwiefern der Sprachgebrauch Wertschätzung erlangt. Entsprechend der Zielgerichtetheit sollte zudem danach gefragt werden, welcher Zweck hinter dem alltäglichen sprachlichen Handeln der Schülerinnen und Schüler steht (von Knebel 2007, S. 1090).

Die Ausführungen zeigen auf, dass pädagogische Sprachdiagnostik auf die sprachlichen Problemlagen von Schulkindern bezogen ist. Die Beeinträchtigung der Sprache der Betroffenen bezieht sich aus pädagogischer beziehungsweise handlungstheoretischer Sicht auf die je individuellen Möglichkeiten, Sprache zu erwerben und zu gebrauchen, und auf die je individuellen Bedingungen, unter denen Sprache nicht erworben oder gebraucht werden kann. Mit dem Verweis auf die individuellen Möglichkeiten des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs wird ein Bezug zu Theorien der Allgemeinen Erziehungswissenschaft (Benner 2001) hergestellt (siehe Abschnitt 1.2.3). Insbesondere wird mit dem Ziel der Herstellung beziehungsweise Erweiterung von Handlungsfähigkeit auf das allgemeine Bildungsziel rekurriert. Unter der Prämisse der Orientierung an diesem allgemeinen Bildungsziel müssen die Erziehungsmethoden unter Bezugnahme der alltäglichen Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik und pädagogischer Sprachförderung ausgewählt werden. Das bedeutet, dass die Analyse des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation der Betroffenen eine zentrale Aufgaben darstellt, immer unter der Zielsetzung der Optimierung von Erziehungs- und Bildungsprozessen, um die alltäglichen lebenssituationalen Handlungsmöglichkeiten der Menschen zu erweitern (von Knebel & Schuck 2007, S. 476). Welling (1990) liefert mit der Sprachhandlungstheorie den notwendigen theoretischen Rahmen für ein pädagogisches Sprachdiagnostikkonzept und mit den von ihm vorgeschlagenen Analyseebenen eine ‚Verfahrensweise‘, wie die Informationsgewinnung gestaltet werden kann. Wie also im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik Informationen gewonnen werden können, die dazu beitragen können, die sprachliche Handlungsfähigkeit von Schulkindern zu erweitern, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.

3.3.3 Gegenstandsbereiche pädagogischer Sprachdiagnostik

Aus der Zielsetzung pädagogischer Sprachförderung (siehe Abschnitt 3.2.2) lassen sich Gegenstandsbereiche der pädagogischen Sprachdiagnostik ableiten, die beschreiben, welches Wissen es diagnostisch zu erschließen gilt, um individuell zugeschnittene Sprachfördersituationen planen und durchführen zu können. Ausgehend von den im Abschnitt 3.3.2 aufgeführten Qualitätsmerkmalen als inhaltliche und methodische Grundsätze pädagogischer Sprachdiagnostik, wird nachfolgend das sprachhandlungstheoretisch fundierte Konzept pädagogischer Sprachdiagnostik fokussiert, um aufzuzeigen, welches konkrete Wissen es diagnostisch zu erschließen gilt.

Die von Welling (1990) begründeten und von von Knebel (2007) differenziert ausgearbeiteten Analyseebenen pädagogischer Sprachdiagnostik stellen das Kind als Subjekt mit seinem individuellen Spracherwerb und Sprachgebrauch in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auf den drei Analyseebenen werden solche Erkenntnisse gewonnen, die die Grundlage für die didaktische Planung der individuellen Sprachförderung darstellen. Dabei wird nicht die gestörte Sprache des Kindes fokussiert, sondern Ziel ist die Rekonstruktion der individuellen Bedingungen des subjektiven Spracherwerbs und Sprachgebrauchs. Das heißt, es wird danach gefragt, welche Handlungsmöglichkeiten vorliegen und wie diese sich auf die Gestaltung des Alltags des Kindes auswirken. Dabei wird immer berücksichtigt, inwiefern ein Bezug zur sprachlichen Problemlage des Kindes hergestellt werden kann. Die Analyseebenen (siehe Abbildung 3.1) sind lediglich aus Darstellungsgründen getrennt aufgeführt und als Einheit und in sich verwoben aufzufassen (Ahrbeck, Schuck & Welling 1992, 298 f.; von Knebel 2007, 1091).

Abbildung 3.1
figure 1

Sprachhandlungstheoretisch begründete Analyseebenen (von Knebel 2008, 128)

Bei Betrachtung der einzelnen Analyseebenen (ausführlich dargestellt unter anderem in von Knebel 2002; 2007; 2008 sowie Ahrbeck, Schuck & Welling 1992) werden folgende Aspekte deutlich:

Biografische Analyse

Auf der Ebene der ‚biografischen Analyse‘, die die beiden Ebenen ‚Sprachhandlungsanalyse‘ und ‚Mikroanalyse der Sprache‘ beinhaltet, werden die besonderen Entwicklungsvoraussetzungen und -bedingungen des Subjekts erfasst, die zu einer Rekonstruktion der „Geschichte des besonderen Alltags“ (Ahrbeck, Schuck & Welling 1992, 298) führen. Die diagnostizierende Person erlangt mit dieser Analyse von Bedingungen ein Verständnis der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts, da sowohl die individuellen Bedingungen des familiären und schulischen Alltags als auch außersprachliche Interessen und Bedürfnisse des an der Diagnostik beteiligten Kindes aufgehoben sind (von Knebel 2007, 1096 f.; von Knebel 2010, 239; von Knebel 2015, 380).

Sprachhandlungsanalyse

Auf der Ebene der ‚Sprachhandlungsanalyse‘ stehen die Bedingungen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs sowie die Erfahrungen des Subjekts mit Sprache im Fokus der Analyse. Die Struktur der individuellen Sprachverwendung, wie Erfahrungen mit Sprachförderung oder erlebte Sprechfreude, wird erfasst und ermöglicht ein situatives und individualgeschichtliches Verständnis des sprachlichen Handelns des Subjekts (von Knebel 2007, 1095 f.; von Knebel 2010, 239; von Knebel 2015, 380).

Mikroanalyse der Sprache

Auf der Ebene der ‚Mikroanalyse der Sprache‘ werden die vom Subjekt verwendeten sprachlichen Strukturen und Regelhaftigkeiten erfasst, was bedeutet, dass Analysen der entwickelten Sprache und der Sprachverwendung unter Bezugnahme linguistischer Ebenen durchgeführt werden. Dies stellt die Grundlage für die Auswahl des sprachlichen Gegenstands in der pädagogischen Sprachförderung dar, der im Sinne der „Zone der nächsten Entwicklung“ (von Knebel 2010, 238) vom Subjekt erreicht werden kann (von Knebel 2007, 1094 f.; von Knebel 2015, 380).

Die Analyseebenen zielen darauf ab, die erfassten Informationen unter der übergeordneten Frage nach den Bedingungen, unter denen das Subjekt sich in seiner alltäglichen Lebenssituation als sprachlich handlungsfähig erlebt, zusammenzuführen. Die Antwort darauf bildet die Grundlage für die didaktische Planung pädagogischer Sprachförderung (von Knebel 2010, 239). So wird umfassend analysiert, inwiefern ein Veränderungsbedarf hinsichtlich der Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit besteht, die als sprachliches Bildungsziel innerhalb der pädagogischen Sprachförderung im Mittelpunkt steht.

3.4 Resümee zum sprachlichen Handeln und zur sprachlichen Handlungsfähigkeit als konzeptionelle Grundlagen der Arbeit

Die bisherigen Ausführungen des vorliegenden dritten Kapitels zeigen auf, inwiefern Spracherwerb und Sprachgebrauch als allgemein-menschliches Handeln aufgefasst werden können und welcher Sprachbegriff dieser Auffassung zugrunde liegt. Im Folgenden werden die wesentlichen Aussagen thesenartig unter den Punkten ‚Sprachliches Handeln und sprachliche Handlungsfähigkeit‘ sowie ‚Pädagogische Sprachförderung und pädagogische Sprachdiagnostik‘ zusammenfassend dargestellt, um darauf aufbauend Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen, das heißt für die Konzipierung von ‚alltäglicher Lebenssituation‘ sowie für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (siehe Kapitel 6), ziehen zu können.

Sprachliches Handeln und sprachliche Handlungsfähigkeit

  1. 1.

    Sprache wird aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive als Mittel der Repräsentation und Kommunikation sowie als Gegenstand des Erkennens gefasst (Welling 1990). Damit wird ein Sprachbegriff zugrunde gelegt, der Sprache nicht nur als Zeichensystem versteht, bei dem sprachliche Zeichen der Unterscheidung von Bezeichnung und Bezeichnetem dienen. Der Sprachbegriff bezieht sich ebenso auf die Funktion von Sprache (Welling 1990, 207 f.), nämlich erstens erkanntes Wissen oder zweitens den Erkenntnisgegenstand Sprache selbst zu repräsentieren und drittens zu kommunizieren (siehe Abschnitt 3.1.1).

  2. 2.

    Es ist weiterhin davon auszugehen, Sprache als eingebunden in Kultur und Gesellschaft zu begreifen (siehe Abschnitt 3.1.1).

  3. 3.

    Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird Spracherwerb nicht losgelöst von der kognitiven Entwicklung des Kindes betrachtet, sondern als Bedeutungserwerb, dessen Produkt zwar einzelnen linguistischen Ebenen wie Grammatik oder Semantik zugeordnet werden kann, was aber nicht gleichzusetzen ist mit einem Spracherwerb, der fortschreitend auf den unterschiedlichen linguistischen Ebenen stattfindet (Welling 1990, 333). Die genetische Erkenntnistheorie Piagets (u. a. 2015) mit ihren wesentlichen Annahmen zur kognitiven Entwicklung des Kindes wird dieser Beschreibung zugrunde gelegt (siehe Abschnitt 3.1.2).

  4. 4.

    Sensumotorisches Handeln wird in diesem Zusammenhang als Wurzel von Sprache und Sprachfähigkeit betrachtet (Welling 1990; Nagel 2012). Es wird aufgrund dieser genetischen Sichtweise nicht von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus ausgegangen. Vielmehr erkennt und verarbeitet das Subjekt auf der Grundlage seiner bereits entwickelten Strukturen die Sprache, die ihm als erkannte Wirklichkeit entgegentritt (siehe Abschnitt 3.1.2).

  5. 5.

    Spracherwerb zielt darauf ab, Sprache zu gebrauchen und zu verstehen, also sprachlich handlungsfähig zu sein (Welling 2004). Sprachliche Handlungsfähigkeit entwickelt sich in der konkreten alltäglichen Lebenssituation eines Menschen (siehe Abschnitt 3.1.2).

  6. 6.

    Sprachliches Handeln als menschliches Handeln zu begreifen, bedeutet, dass die Merkmale menschlichen Handelns, ‚Zielgerichtetheit‘, ‚Plangeleitetheit‘ und ‚Wertorientiertheit‘, zur Beschreibung sprachlichen Handelns herangezogen werden können (siehe Abschnitt 3.1.3).

  7. 7.

    Aus den Bestimmungsmerkmalen sprachlichen Handelns ergeben sich Aspekte, die die Bedeutung der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts für Spracherwerb und Sprachgebrauch herausstellen. Demnach sind die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Subjekts als Prämissen aufzufassen, die die Begründungen für sein individuelles sprachliches Handeln darstellen (siehe Abschnitt 3.1.4).

Pädagogische Sprachförderung und pädagogische Sprachdiagnostik

  1. 8.

    Zentral ist der Ausgangspunkt des allgemeinen Bildungsziels. Beispielsweise sind Mit- und Selbstbestimmung und Freiheit allgemeine Bildungsziele, die mit Erweiterung der Handlungsfähigkeit eines Subjekts angestrebt werden, also ebenso das Ziel der Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit darstellen (von Knebel 2000; 2012; 2015). Sprachförderung und Sprachtherapie sind dann als pädagogisch zu bezeichnen, wenn sie den Fokus auf eben diese Erweiterung sprachlicher Handlungsfähigkeit legen (siehe Abschnitte 3.2.1 und 3.2.2).

  2. 9.

    Das Konzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) stellt aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive eine geeignete theoretische Grundlage dar, um die pädagogische Sprachförderung didaktisch strukturieren zu können (siehe Abschnitt 3.2.2).

  3. 10.

    Pädagogische Sprachdiagnostik wird als bildungszielorientierte Förderdiagnostik verstanden, bei der neben der Biografie des Menschen sein gelebter Alltag, also die Bedingungen seiner alltäglichen Lebenssituation, fokussiert werden. Von klassischer Testdiagnostik wird sich dabei abgewendet, da die Annahme, mittels Testverfahren menschliche Eigenschaften auf vorhersagbare Weise bestimmen zu können, abgelehnt wird. Es steht auch nicht das Kind im Mittelpunkt der Diagnostik, sondern das Kind und sein begründetes Handeln in seiner konkreten Lebenssituation (Jetter, Schmidt & Schönberger). Ziel bildungszielorientierter Förderdiagnostik ist es, die Handlungen des Kindes im Alltag rekonstruieren zu können, um dadurch Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes ziehen zu können. Das Kind wird aufgrund des subjektwissenschaftlichen Standpunktes und der daraus folgenden Annahme, Diagnostik als „Aspekt der Aufklärung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen“ (Markard & Kaindl 2014, 211) zu betrachten, als mitforschende Person (Markard 2017, 234) am diagnostischen Prozess beteiligt (siehe Abschnitte 3.3.1 und 3.3.2).

  4. 11.

    Bildungszielorientierte Förderdiagnostik und damit pädagogische Sprachdiagnostik hat den Anspruch, die förderlich beziehungsweise hinderlich wirkenden Bedingungen der individuellen Handlungsfähigkeit des Subjekts zu erfassen und zu analysieren. Dieser Analyse liegen aus handlungstheoretischer Sicht Gütekriterien zugrunde, die als Qualitätskriterien zur Beurteilung der gewonnenen Daten herangezogen werden können (siehe Abschnitt 3.3.1.3).

  5. 12.

    Verfahrensweisen der pädagogischen Sprachdiagnostik sind durch Aspekte gekennzeichnet, die von Knebel (2010, 2015) und von Knebel und Schuck (2007) als Bestimmungsmerkmale beziehungsweise Qualitätsmerkmale ausweisen. Die Bestimmungsmerkmale betreffen in inhaltlicher Hinsicht die Sprache und Sprachentwicklung des Subjekts, personale und lebenssituationale Aspekte und beziehen sich auf erziehungswissenschaftliche Grundlagen. In methodischer Hinsicht beziehen sich die Bestimmungsmerkmale auf die diagnostische Situationsgestaltung (siehe Abschnitt 3.3.2).

  6. 13.

    Mit der Unterscheidung der drei Analyseebenen ‚Mikroanalyse der Sprache‘, ‚Sprachhandlungsanalyse und ‚biografische Analyse‘ lässt sich den Bestimmungsmerkmalen pädagogischer Sprachdiagnostik gerecht werden, denn die Ebenen zielen auf eine Analyse, bei der die Handlungen des Menschen in seiner alltäglichen Lebenssituation im Mittelpunkt stehen. Es steht daher auf jeder Ebene und insbesondere bei der Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen das Subjekt in seiner konkreten alltäglichen Lebenssituation sich als sprachlich handlungsfähig erlebt und sprachliche Handlungsfähigkeit (von Knebel 2002; 2007; 2008 und Ahrbeck, Schuck & Welling 1992) entwickelt (siehe Abschnitt 3.3.3).

Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen zur Konzipierung von ‚alltäglicher Lebenssituation‘ sowie für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (siehe Kapitel  6 )

Es wurde gezeigt, dass die alltägliche Lebenssituation des sprachlich handelnden Subjekts bedeutsam für seine Entwicklung sprachlicher Handlungsfähigkeit ist. Es wird davon ausgegangen, dass das Subjekt auf der Grundlage seiner bereits entwickelten Strukturen die Sprache entwickelt, die ihm als erkannte Wirklichkeit entgegentritt. Ungeklärt bleibt an dieser Stelle, wie die alltägliche Lebenssituation, deren Bedingungen förderlich beziehungsweise hinderlich auf die Entwicklung sprachlicher Handlungsfähigkeit wirken, konzipiert wird. Daher wird im folgenden Kapitel zum Konstrukt von alltäglicher Lebenssituation theoriegeleitet entfaltet, inwiefern menschliches Handeln im Allgemeinen und sprachliches Handeln im Besonderen konstruierend für ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation wirken.

Außerdem wurde im vorliegenden Kapitel nachgewiesen, dass aus handlungstheoretischer Sicht die sprachliche Handlungsfähigkeit des Menschen in seiner alltäglichen Lebenssituation im Fokus pädagogischer Sprachdiagnostik und pädagogischer Sprachförderung steht. Die Betrachtung linguistischer Strukturmerkmale wird dadurch um Erkenntnisse zu Bedingungen des Erwerbs und Gebrauchs von Sprache erweitert (von Knebel 2015, 238 f.). Anhaltspunkte, welche Gegenstandsbereiche in einer handlungstheoretisch fundierten Sprachdiagnostik betrachtet werden, liefern die drei Analyseebenen der pädagogischen Sprachdiagnostik. Diese Gegenstandsbereiche sind grundlegend für die didaktische Planung individualisierter Sprachförderung (von Knebel 2007, 1091; von Knebel 2010, 239). Zwei der Gegenstandsbereiche des Analyseverfahrens stellen nach von Knebel (2015, 378 ff.) der Bildungsgehalt des sprachlichen Lerngegenstands sowie „institutionsbezogene Erfahrungen des Kindes“ (von Knebel 2015, 378) dar. Dabei sind das Subjekt selbst und die alltägliche Lebenssituation des Subjekts nicht nur auf die Ebene der Sprachhandlungsanalyse zu beziehen (von Knebel 2015, 380). Es ist vielmehr von einer übergeordneten Subjektorientierung auszugehen, da die Diagnostik vom Standpunkt des Subjekts aus erfolgt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation eines Kindes mit sprachlichen Beeinträchtigungen sind in inhaltlicher Hinsicht insbesondere Entwicklungsorientierung, Subjektorientierung, Lebenssituationsorientierung und Bildungszielorientierung zu nennen. Auf organisatorischer Ebene werden Aspekte wie Mitwirkungsorientierung und Prozessorientierung bedeutsam. Insbesondere das Planungskonzept der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) erweist sich aufgrund des Planungsaspekts ‚Lebenssituation‘ als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen. Der Planungsaspekt ‚Lebenssituation‘ ist insofern als zentral aufzufassen, als sich ausgehend von der alltäglichen lebenssituationalen Lage der Schulkinder mit sprachlichen Auffälligkeiten bestimmen lässt, inwiefern Unterricht beziehungsweise Therapie Möglichkeiten neuer Spracherfahrungen bietet (Welling 2004, 136).

Für das weitere Vorgehen in der vorliegenden Arbeit bedeutet das, dass die drei Gegenstandsbereiche der Sprachhandlungsanalyse ‚Subjekt‘, ‚Lebenssituation‘ und ‚sprachliche Handlungserfahrungen‘ des Subjekts (von Knebel 2015, 378 ff.) in die Entwicklung des Analyseverfahrens einbezogen werden, da davon ausgegangen wird, dass die zwei tangierten Analyseebenen ‚biografische Analyse‘ und ‚Sprachhandlungsanalyse‘ inhaltlich nicht getrennt (Welling 1990; von Knebel 2007; von Knebel 2015) betrachtet werden können. Daher wird im 6. Kapitel die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen umfassend dargestellt.

Schließlich weisen die Ausführungen des vorliegenden Kapitels auf die Dringlichkeit der Beantwortung der Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit hin, denn es ist

  1. 1.

    in inhaltlicher Hinsicht zu bestimmen, wie ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation aus handlungstheoretischer Sicht gekennzeichnet ist, wenn die alltägliche Lebenssituation einen Gegenstandsbereich pädagogischer Sprachdiagnostik darstellt,

  2. 2.

    in methodischer Hinsicht zu bestimmen, wie die alltägliche Lebenssituation als Gegenstandsbereich pädagogischer Sprachdiagnostik erfasst und ausgewertet werden kann.

Aus diesen zwei Gründen wird im Folgenden zunächst auf das Konzept der alltäglichen Lebenssituation (Kapitel 4) eingegangen, bevor nach einer resümierenden handlungstheoretisch fundierten Bestimmung des Begriffs von alltäglicher Lebenssituation (Kapitel 5) die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (Kapitel 6) betrachtet wird.