Bei Betrachtung der aktuellen fachwissenschaftlichen Diskurse zu Themen der Diagnostik und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen lässt sich eindeutig eine pädagogische Prägung (von Knebel 2013; Kracht 2010) feststellen. Von diesem pädagogischen Standpunkt aus wird die sprachliche Handlungsfähigkeit von Kindern in ihrer alltäglichen Lebenssituation (von Knebel 2013, 231) fokussiert. Dies bedeutet, dass diagnostisch nicht nur die Regelhaftigkeiten der Sprache und des Sprechens betrachtet werden. Vielmehr werden die individuellen Bedingungshintergründe des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs von Kindern erfasst (von Knebel 2015, 373), um sie für eine individuell gestaltete Sprachförderung insbesondere in der Schule nutzbar zu machen.

Mit den Bedingungshintergründen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs von Schulkindern ist der Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit angesprochen: Von einem pädagogischen Blickwinkel aus wird unter Berücksichtigung relevanter theoretischer Bezugssysteme Sprachdiagnostik als schulisches Handlungsfeld fokussiert.

Im Folgenden wird der Gegenstand der vorliegenden Arbeit präzisiert, indem der Ausgangspunkt sowie die Problemstellung und deren Relevanz erläutert (1.1) und die sich daraus ergebende Forschungsfrage dargestellt (zur Übersicht 1.1, detailliert 2.3) werden. Mit den Ausführungen zu den handlungsleitenden Grundannahmen (1.2) werden die Theoriestruktur (1.3), die Zielsetzung und der zu erwartende Ertrag sowie der Aufbau der vorliegenden Arbeit (1.4) begründet.

1.1 Problemaufriss

Zur Beschreibung der Praxis menschlichen Sprachgebrauchs wird im Sinne der Sprachhandlungstheorie (Welling 1990) auf anthropologische, erkenntnistheoretische, handlungstheoretische sowie entwicklungspsychologische Grundlagen zurückgegriffen, da diese als konstituierend (Welling 1990; von Knebel 2000) betrachtet werden. So werden sprachliches Handeln und sprachliche Handlungsfähigkeit zu zentralen Begriffen dieser Arbeit. Nach Welling (1990; 2004; 2007) ist menschliche Sprache als sprachliches Handeln zu verstehen, wobei Handeln definiert ist als „Art und Weise, wie Menschen in einem bestimmten kulturell-gesellschaftlichen Kontext ihr Leben ordnen“ (Welling 2004, 131). Sprachliche Handlungsfähigkeit sei Ziel sprachlicher Bildung von Schulkindern und meint in diesem Zusammenhang kulturelle Teilhabe, personale Selbstbestimmung und soziale Mitbestimmung, sodass Schülerinnen und Schüler zu ihrer sprachlichen Identität finden (Welling 2004, 138).

Sprachliche Beeinträchtigung wird vor dem Hintergrund des Ziels sprachlicher Bildung als Einschränkung sprachlicher Handlungsfähigkeit verstanden, womit konkrete Folgen für das sprachliche Handeln des Subjekts für kulturelle Teilhabe sowie personale Selbst- und soziale Mitbestimmung verbunden sind. Sprachliche Beeinträchtigung wird aufgrund der Tatsache, dass sie immer „sozial miterzeugt ist und sich personal in einem je spezifischen Sprach- und Stimmgebrauch, einer je spezifischen Sprechtätigkeit und Redefähigkeit auswirkt“ (Welling 2000, 466), nicht verstanden als individuelles Merkmal einer Person, so wie es die „historisch tradierte klassisch-eigenschaftsorientierte, individuumszentrierte Betrachtungsweise von Sprachstörungen“ (Welling 2000, 466) vorgibt, sondern als Ausdruck ihrer mitmenschlichen Lebenssituation (Welling 2006, S. 19). So lässt sich festhalten, dass der Begriff ‚sprachliche Beeinträchtigung‘ aus den Grundlagen sprachlichen Handelns abgeleitet wird und somit handlungstheoretisch (Schönberger 1987, 84 ff.) fundiert wird. Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik mit sprachlichen Beeinträchtigungen immer „besondere Problemlagen“ (von Knebel 2015, 372) fokussiert werden, „die im schulverwaltungsrechtlichen Sinne durch den Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs und im fachwissenschaftlichen Sinne durch den Begriff der Sprachbehinderung gefasst werden“ (von Knebel 2015, 372). Zwar findet eine begriffliche Unterscheidung statt, aber es liegt das gleiche Verständnis von Behinderung zugrunde, wonach „Behinderung nicht als individuelles Persönlichkeitsmerkmal, sondern vielmehr als Produkt eines engen Wechselspiels von Individuum und gesellschaftlich-kulturell geprägtem Umfeld“ (von Knebel 2015, 372) betrachtet wird. Das bedeutet, nicht die sprachliche Problemlage als Abweichung einer normierten Zielsprache steht im Mittelpunkt der Diagnostik, sondern die Frage danach, welche Folgen diese besondere Problemlage für die Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation hat. An pädagogische Sprachdiagnostik werden aus diesem Verständnis heraus besondere Anforderungen (von Knebel 2015, 371) gestellt, die sich beispielsweise auf ihren Gegenstand oder ihre Methode beziehen.

Im Hinblick auf das schulische Handlungsfeld der pädagogischen Sprachdiagnostik im Förderschwerpunkt Sprache als Gegenstand dieser Arbeit wird die Annahme Sprachdiagnostik und Sprachförderung als einheitlich und nicht getrennt voneinander zu betrachten (von Knebel 2015; 2007), zugrunde gelegt, da in Übereinstimmung mit von Knebel (2007) ein erziehungswissenschaftlich fundiertes Sprachförderkonzept als Basis der pädagogischen Sprachdiagnostik betrachtet wird.

Dabei ist die Sprachförderung sprachhandlungstheoretisch fundiert. Sie zielt nicht ausschließlich auf eine Minderung oder Beseitigung von Diskrepanzen eines individuellen Sprachgebrauchs ab und fokussiert dabei auch nicht einseitig eine sprachbezogene Norm (von Knebel 2004). Eine solche Sprachförderung wird pädagogisch gestaltet, was bedeutet, dass drei erziehungswissenschaftlich begründete Bestimmungsmerkmale kennzeichnend sind: Theorien der Bildung, Theorien der Erziehung und Theorien pädagogischer Institutionen (von Knebel 2004, 73 ff.). Dabei gilt zu beachten, dass das Ziel der pädagogischen Sprachförderung nach Welling (1990) die Erweiterung der sprachlichen Handlungsfähigkeit darstellt.

Betrachtet man den Bereich der pädagogischen Sprachdiagnostik im Förderschwerpunkt Sprache, wird Diagnostik, wie bereits ausgeführt, von einem pädagogischen Standpunkt aus bestimmt (von Knebel 2015) und nimmt neben der individuell verwendeten Sprache des Kindes auch das Kind selbst in den Blick, fragt damit ebenso nach der Bedeutung der Sprachbehinderung für das betroffene Kind. Dabei werden die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation betrachtet, unter denen sich das Kind bisher entwickelt hat beziehungsweise unter denen es lebt und auf die es selbst einwirkt. Bei einer solchen pädagogischen Sprachdiagnostik, die auch die alltägliche Lebenssituation des Kindes in den Blick nimmt, werden drei zusammenhängende Analysen vorgenommen: eine ‚Mikroanalyse der Sprache‘, eine ‚Sprachhandlungsanalyse‘ und eine ‚biografische Analyse‘ (von Knebel & Schuck 2007, 490 f.).

In der vorliegenden Arbeit wird mit dem Konstrukt der alltäglichen Lebenssituation ein Konzept angeboten, das zur Erklärung beobachtbarer Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation herangezogen werden kann. Das Konzept der Lebenssituation von Menschen ist dabei keine Beschreibung, wie etwas ‚ist‘, sondern ein theoretisches Konstrukt zur Erklärung beobachtbaren ‚Seins‘. Erklärt wird anhand des theoretischen Konstrukts also, wie etwas Beobachtbares zustande kommt. Es handelt sich bei dem Konzept der alltäglichen Lebenssituation um einen sprachhandlungstheoretisch fundierten Gegenstand der pädagogischen Sprachdiagnostik, der in das pädagogische Sprachförderkonzept der Kooperativen Sprachdidaktik nach Welling (2004) eingebettet ist. Damit soll die Möglichkeit gegeben werden, die sprachliche Handlungsfähigkeit von Schulkindern zu erweitern.

Eine als schulisches Handlungsfeld so verstandene Sprachdiagnostik und Sprachförderung fügt sich mit ihren Anforderungen „stimmig in das Gesamtkonzept einer Inklusiven Diagnostik“ (von Knebel 2015, 373) ein. Seit das Thema Inklusion aufgrund der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen UN-Behindertenrechtskonvention (2006) als zentraler Gegenstand in erziehungswissenschaftlichen und insbesondere schulpädagogischen Diskursen Bedeutung erlangt hat (Heimlich & Kiel 2020; Sturm & Wagner-Willi 2018; Hedderich, Biewer, Hollenweger & Markowetz 2016), muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass Sprachdiagnostik und -förderung Handlungsfelder in inklusiven Settings darstellen (Grohnfeldt et al. 2015; von Knebel 2015; Glück, Reber & Spreer 2013; Spreer 2013; Mußmann 2012).

Der Beschluss der Kultusministerkonferenz (2011) ‚Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen‘, die darin enthaltenen Empfehlungen zum inklusiven Unterricht und der Verweis auf die weiterhin geltenden, von der Kultusministerkonferenz (1998) verabschiedeten Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Sprache unterstreichen die Bedeutung von Sprachdiagnostik und Sprachförderung im Handlungsfeld Schule sowohl generell als auch in inklusiven Settings.

Wie bereits erläutert, ist für die pädagogische Sprachförderung die alltägliche Lebenssituation des Kindes bedeutsam. Dafür ist es relevant, die Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation des Kindes zu erfassen. Die vorliegende Arbeit fokussiert daher die pädagogische Sprachdiagnostik, konkret die biografische Analyse und die Sprachhandlungsanalyse (Welling 1990; 2004; 2009; von Knebel & Schuck 2007; 2015) und die damit zusammenhängende Frage danach, wie die alltägliche Lebenssituation eines Kindes strukturiert ist, um anhand solcher Informationen eine individuell zugeschnittene Sprachförderung konzipieren zu können.

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit zwei zentralen Fragestellungen, die in Abschnitt 2.2 bei der Darstellung des Forschungsstands und der Forschungsdesiderate aufgegriffen und hergeleitet werden:

  1. 1.

    Welche Konstruktionsfaktoren konstituieren das Konzept alltäglicher Lebenssituation?

  2. 2.

    Wie können Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen im Rahmen pädagogischer Sprachdiagnostik erfasst und ausgewertet werden?

Die Arbeit zielt also darauf ab, sowohl zu untersuchen, welche Faktoren zur Konstruktion alltäglicher Lebenssituation beitragen, als auch ein Verfahren für die pädagogische Sprachdiagnostik zu entwickeln, womit Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern erfasst und ausgewertet werden können. Das Verfahren lautet: ‚Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen‘ (kurz: Analyseverfahren).

Nachfolgend werden diejenigen theoretischen Annahmen dargestellt, die in der vorliegenden Arbeit zur Beantwortung der Forschungsfragen als handlungsleitend aufgefasst werden.

1.2 Handlungsleitende Grundannahmen

Dieses Kapitel dient der „Offenlegung der Ausgangslage“ (von Knebel 2004, 85), um zugrunde liegende handlungsleitende Annahmen und so die gewählte Vorgehensweise zur Beantwortung der Forschungsfrage transparent werden zu lassen. Damit werden die Vorbedingungen dafür geschaffen, die Vorgehensweise und das Ergebnis der vorliegenden Arbeit intersubjektiv nachvollziehbar (von Knebel 2004, 85) werden zu lassen, denn „Prozess und Produkt müssen von Fachleuten rekonstruiert werden können“ (von Knebel 2004, 85). Nur so können die Ausführungen dieser Arbeit dem „Anspruch von Wissenschaftlichkeit“ (von Knebel 2004, 85) gerecht werden.

So wird zunächst auf den Subjektstandpunkt (1.2.1) eingegangen, es folgen danach Ausführungen zu den anthropologischen (1.2.2) und erziehungswissenschaftlichen (1.2.3) Grundannahmen. Im Anschluss daran werden erkenntnistheoretische Grundannahmen (1.2.4) beschrieben, die sich in wissenschaftstheoretischer Sicht für die Arbeit als handlungsweisend darstellen. Anschließend wird erläuternd auf die Theoriestruktur der vorliegenden Arbeit (1.3) eingegangen. Schließlich werden die Ziele und der Aufbau der Arbeit (1.4) dargestellt.

1.2.1 Subjektwissenschaftliche Grundannahmen

Das Subjekt wird im subjektwissenschaftlichen Verständnis der Kritischen Psychologie (u. a. Holzkamp 1985) als Beziehungsbegriff gefasst. Gemeint ist damit, dass das Subjekt nicht als etwas gesehen wird, das von einem Objekt getrennt erscheint, sondern es wird ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt ausgedrückt. Übertragen auf den Zusammenhang von Mensch und Gesellschaft bedeutet das, den Menschen nicht als der Gesellschaft gegenüberstehend zu betrachten, sondern ihn im wechselseitigen Verhältnis zu dieser zu verstehen (von Knebel und Schuck 2007, 494; Holzkamp 1985).

Die Grundkategorie der Kritischen Psychologie, die diesem Verständnis vorausgesetzt ist, ist die Kategorie der Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1985; 1987). Ausgedrückt wird damit die „Vermittlung zwischen individueller und gesellschaftlicher Lebenstätigkeit“ (Holzkamp 1987, 14), genauer meint dies in gemeinsamem Handeln mit anderen Menschen Verfügung über die „individuell relevanten Lebensbedingungen“ (Holzkamp 1987, 14) zu erreichen. Anders ausgedrückt handelt es sich dabei um eine aktive Umgestaltung der Lebensbedingungen durch das Subjekt, wodurch die subjektive Lebensqualität individuell gewahrt beziehungsweise weiterentwickelt wird (Holzkamp 1995, 23 f.).

Zentral aus Sicht der Kritischen Psychologie ist dabei die Annahme, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Voraussetzung und Ergebnis der individuellen Verfügung über die Lebensbedingungen sind (u. a. Holzkamp 1979, 1985, 1987). Eine Trennung von Individuum und Gesellschaft, wie sie in traditioneller Psychologie und Soziologie postuliert wird (Holzkamp 1979, 8), verhindert die Berücksichtigung der gesellschaftlich-historischen Dimension menschlichen Handelns (Holzkamp 1979, 1985) und stellt das Individuum mit seinen Bedürfnissen der Gesellschaft mit ihren Normen und Rollen gegenüber, als wären es durch unvermittelte Begriffe strukturell getrennte Aspekte. Holzkamp (1979) beschreibt dies als eine „Art von interdisziplinärem Eklektizismus“ (Holzkamp 1979, 21) und konstatiert die doppelte Beziehung des Menschen, indem er sich mit der „gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz“ (Holzkamp 1985, 193) auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bezieht. Grundlegend dabei ist, das Individuum nicht außerhalb seiner Gesellschaftlichkeit zu denken. In diesem Sinne ist die Welt für das Individuum bedeutungsvoll, da die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Individuum als gegenständliche Bedeutungen gegenübertreten, jedoch „nicht im Sinne bloß sprachlicher Bedeutungen“ (Holzkamp 1995, 22). Das Bedeutungskonzept Holzkamps (1985; 1995) ersetzt innerhalb der kritisch-psychologischen Kategorialbestimmungen „die gängige psychologische ‚Reiz‘-Kategorie“ (Holzkamp 1995, 22), sodass von den vom Menschen geschaffenen Weltgegebenheiten nicht bloß „unmittelbare Einwirkungen auf den Organismus übrigbleiben“ (Holzkamp 1995, 22). Zudem geht es über ein Verständnis von rein sprachlich-symbolischen Bedeutungen hinaus, denn die Welt wird vom Menschen insofern als bedeutungsvoll erfahren, als dass die „durch gesellschaftliche Arbeit produzierten allgemeinen Gebrauchszwecke (…) und [die] dadurch konstituierten sozialen Verhältnisse“ (Holzkamp 1995, 22) gemeint sind. Diese „sachlich-sozialen Bedeutungen“ (Holzkamp 1995, 22) sind also nicht als ‚Reize‘ zu verstehen, sondern im Sinne einer „Vermittlungsebene zwischen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und individuellem Handeln“ (Holzkamp 1995, 22). Diese gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge sind für das Individuum nicht allumfassend zu erkennen, sondern in jenem Ausschnitt, welcher dem Individuum aufgrund seiner individuellen Situation zugewandt ist (Holzkamp 1985, 196 f.). Das heißt, gegenständliche Bedeutungen verbinden individuelles Handeln und gesellschaftliche Verhältnisse und sind weder als Handlungsbedingungen noch als Bestimmungen zu fassen, sondern als Handlungsmöglichkeiten, zu denen sich das Individuum begründet verhält (Holzkamp 1979, 1985, 1991).

In Bedeutungs-Begründungs-Analysen sind diese individuellen Begründungen des Handelns rekonstruierbar und erfahrbar, das heißt, es kann der Subjektstandpunkt des Anderen eingenommen werden. Begründungen sind nur vom Standpunkt des Subjekts möglich, es sind immer Gründe „erster Person [, also] je meine Gründe“ (Holzkamp 1991, 7). Subjektwissenschaftliche Forschung bedeutet damit nicht einfach nur das Subjekt durch beispielsweise qualitative Forschungsmethoden stärker zu berücksichtigen, sondern Erkenntnis vom Subjektstandpunkt aus zu ermöglichen (Holzkamp 1993).

Diese Ausführungen verdeutlichen die Forderung nach einer gesellschaftsorientierten Wissenschaft, in der wissenschaftliche und gesellschaftliche Praxis aufeinander bezogen sind, wodurch eine „Trennung zwischen Erkenntnis und Veränderung der praktischen Welt überwunden“ (Baldauf-Bergmann 2009, 328) wird, da so eine wissenschaftliche Praxis entsteht, „mit der Erkenntnisse und Veränderungen in gesellschaftlichen Prozessen verknüpft werden können“ (Baldauf-Bergmann 2009, 329). Entsprechend sind als Annahmen für die Wissenschaftskonzeption der Kritischen Psychologie festzuhalten (Baldauf-Bergmann 2009, 328):

  1. 1.

    Wissenschaftlicher Standpunkt ist der Standpunkt des Subjekts.

  2. 2.

    Wissenschaftliche Praxis ist dialektische Praxis.

  3. 3.

    Das sozialwissenschaftliche Aufgaben- und Rollenverständnis wird neu bestimmt.

Als Konsequenzen für einen subjektwissenschaftlichen Forschungsprozess ergeben sich daraus folgende Punkte (Baldauf-Bergmann 2009, 278):

  1. 1.

    Es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Außenstandpunkt, der eingenommen wird, sondern es handelt sich um Forschung vom Standpunkt des Subjekts.

  2. 2.

    Forschende sind dabei selbst Subjekte der Forschung.

  3. 3.

    Forschung findet nicht über, sondern für die an der Forschung beteiligten Personen, sogenannte Betroffene, statt.

Die Grundlagen für den Forschungsprozess zeigen: Subjektwissenschaftliche Forschung ist ein erkenntnistheoretischer Vorgang, also ein Prozess der wissenschaftlich fundierten Praxisveränderung, der eine spezifische Methodologie benötigt (Baldauf-Bergmann 2009, 331).

Eine solche subjektwissenschaftliche Forschungs- und Entwicklungspraxis findet im Modus des Begründungsdiskurses statt, zielt nicht auf Verallgemeinerungen zu Eigenschaften oder Merkmalen von Personen ab, sondern bietet immer in Bezug auf die individuellen Möglichkeiten eine Möglichkeitsverallgemeinerung (Holzkamp 1985, 358 ff.) an. Im Unterschied zur „variablenpsychologischen Definition des Verallgemeinerbarkeits-Kriteriums“ (Holzkamp 1985, 546) bezieht sich die Möglichkeitsverallgemeinerung nicht auf „die anderen als Häufigkeitsverteilung“ (Holzkamp 1985, 550), sondern auf den einzelnen Menschen mit seiner „unreduzierten Individualität und Subjekthaftigkeit“ (Holzkamp 1985, 550). Das bedeutet, dass die individuelle Einmaligkeit des Menschen für jedes einzelne Subjekt verallgemeinert wird, und nicht, dass die Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit „hinsichtlich quantifizierbarer Merkmale zu ‚zufallsvariablen‘ statistischen Verteilungen“ (Holzkamp 1985, 546) zusammengezählt werden. Verallgemeinerbarkeit in subjektwissenschaftlicher Forschung bezieht sich damit nicht auf die verschiedenen Merkmale verschiedener Menschen, sondern auf die individuellen subjektiven Möglichkeitsräume der Menschen (Holzkamp 1985, 548), in denen sie handeln, wodurch eine „Verständigung über Verfügungsmöglichkeiten und deren Behinderung“ (Holzkamp 1985, 548) erreicht wird.

Es wird mit dem hier in gebotener Kürze erläuterten Subjektstandpunkt und dem zugrunde liegenden subjektwissenschaftlichen Verständnis ein Ansatz gewählt, dessen Einführung in fachwissenschaftliche Diskurse zwar jahrzehntelang zurückliegt, aber dennoch an Aktualität nicht verloren hat: So wird zum einen auf die lerntheoretischen Annahmen Holzkamps (1995) als auch auf die Grundkonzepte und Grundlagen der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1985) sowie auf subjektwissenschaftliche forschungsmethodologische Grundlagen in erziehungswissenschaftlichen Diskursen (u. a. Ludwig 1999; Faulstich und Ludwig 2008; Weis 2005; Baldauf-Bergmann 2009; Markard 2017; Markard et al. 2017) zurückgegriffen.

1.2.2 Anthropologische Grundannahmen

In diesem Abschnitt werden die in dieser Arbeit zugrunde liegenden Annahmen über den Menschen dargestellt. Ziel ist es, handlungsleitende Aussagen über „das Wesen […] des Menschen als Menschen“ (Holzkamp 1972, 36) zu treffen. Es wird dabei der zentralen Auffassung der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) gefolgt, dass der Mensch „niemals Mensch als solcher und für sich“ (Jetter 1987, 16) ist, denn der Mensch ist „immer nur Mensch als Mensch unter Menschen und für andere Menschen“ (Jetter 1987, 16). Diese Aussage bezieht sich unmissverständlich auf die Annahme eines Menschen als eigenaktiv handelndes Subjekt, das in Zusammenhang mit seiner Kultur- und Geschichtsgebundenheit auf Mitmenschen angewiesen ist (Jetter 1987).

Auf dieser Grundlage und unter Einbezug der anthropologischen Annahmen über den Menschen durch von Knebel (2000), wird im Folgenden die Beschreibung des Wesens des Menschen vorgenommen, um am Ende ein Bild vom Menschen zu skizzieren, das als Leitbild dieser Arbeit zugrunde liegt.

Allgemein anerkannt ist in der pädagogischen Anthropologie die Vorstellung von der „Unvollkommenheit des Menschen“ (von Knebel 2000, 39) sowie der Fähigkeit zur Vervollkommnung durch Erziehung (von Knebel 2000, 39 f.). Der Aspekt der Erziehung ist dabei entscheidend, wenn beschrieben werden soll, wie die Vervollkommnung erreicht werden kann (von Knebel 2000, 40). Erziehung wird hier verstanden als Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit und muss zur Verwirklichung der Bildsamkeit (Freiheit und Selbstbestimmung) (Benner 2001, 80 ff.) beitragen. Folgt man diesem Gedanken weiter, ist der Mensch zum Handeln gezwungen, um aus seiner Imperfektheit willentlich herauszufinden, jedoch wird es nicht zur Auflösung der Imperfektheit kommen können, weil sich damit die Erziehung im Sinne von Praxis auflösen würde. Wenn Fremdaufforderung in Selbstaufforderung übergeht, kann nach Benner (2001, 91) von einem Ende der Erziehung gesprochen werden.

In engem Zusammenhang mit der Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen steht die Eigenaktivität des Menschen. Nach Benner (2001, 80 ff.) ist dieser Begriff zu bestimmen als Selbsttätigkeit, die die Bildsamkeit ermöglicht. Der Mensch wirkt als Subjekt eigenaktiv an der Verwirklichung seiner Bestimmung mit. Da diese Mitwirkung im Sinne eines Außenstandpunktes nicht vollumfassend erfasst werden kann, ist eine ‚Verobjektivierung‘ des Menschen aus dieser Sicht ausgeschlossen (von Knebel 2000, 39), vielmehr wird der Mensch in seiner Subjekthaftigkeit (von Knebel 2000, 39) betrachtet.

Menschsein bedeutet – unter Einbezug der Annahme, den Menschen als Mensch unter Menschen zu verstehen (Jetter 1987, 16) – zu einer Kultur zu gehören und kulturgebundene Handlungsformen zu entwickeln. Diese Kulturgebundenheit verweist den Menschen auf kulturspezifisch geformte Mittel und führt zu kulturspezifischen Fähigkeiten, wobei der Mensch einerseits von seiner Kultur abhängig ist, weil er sich unter ihren Bedingungen entwickelt, aber andererseits ebenso als kulturschaffend angesehen werden muss, weil er im Sinne eines dialektischen Verhältnisses diese kulturellen Bedingungen, unter denen er lebt, immer wieder neugestaltet. In Bezug auf den Aspekt der Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit kann davon ausgegangen werden, dass Menschen einerseits aufgrund kultureller Normen und Werte aufeinander wirken, andererseits wird Kultur durch das erzieherische Aufeinandereinwirken erhalten und gestaltet (von Knebel 2000, 41 ff.).

Dieses dialektische Verhältnis lässt sich auf den Aspekt übertragen, den Menschen sowohl als geschichtsabhängig als auch als geschichtsschaffend zu betrachten. Während sich der Mensch an bestimmten Ordnungen orientiert, stellen diese Ordnungen Re-Konstruktionen von Ordnungen dar, die vom Menschen selbst geschaffen sind und somit als Bestandteil seiner Geschichte gesehen werden müssen (von Knebel 2000, 43 f.). Diese beiden Aspekte sind ineinander verwoben, da sich der Mensch auf Grundlage seiner Lebensgeschichte und vor dem Hintergrund seiner subjektiven Handlungserfahrungen mit seiner Kultur auseinandersetzt, die wiederum dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist (von Knebel 2000, 43).

Handeln wird aus anthropologischer Sicht als die wesensgemäße Tätigkeit des Menschen angesehen (Schönberger, Jetter & Praschak 1987; von Knebel 2005). Entsprechend der zuvor dargestellten Annahmen handelt der Mensch unter historisch gewachsenen und kulturell geformten Bedingungen. Im Sinne des ‚Aufeinanderbezogenseins‘ bezieht sich das Handeln jedes Menschen auf das Handeln anderer Menschen. Im Gegensatz zum Verhalten stellt Handeln eine Eigenaktivität des Menschen dar, womit ihm die Möglichkeit gegeben wird, sein Wesen als Subjekt zu verwirklichen (von Knebel 2000, 44 f.).

Bedingung des menschlichen Handelns ist Erkenntnis (für eine umfassende Bestimmung des Handlungsbegriffs aus kooperativ-pädagogischer Sicht siehe Abschnitt 1.2.3). Menschliche Erkenntnis gründet im Handeln und ist an die bereits entwickelten Erkenntnismöglichkeiten gebunden, die wiederum aus menschlichem Handeln hervorgehen. Menschliches Erkennen wird hier im Sinne Piagets (1973) als eigenaktive Konstruktion des Subjekts gefasst. Das Subjekt strebt ein Gleichgewicht zwischen den Prozessen der Assimilation und Akkommodation an, die zur Anpassung von Subjekt und Umwelt führen und die Erkenntnisstrukturen sowohl verfestigen als auch spezifizieren, was dazu führt, dass das Subjekt sich auf Grundlage bereits entwickelter Erkenntnisstrukturen verwirklicht (von Knebel 2000, 46).

Zweifelsohne implizit als Grundannahme mitgedacht, aber nicht explizit als solche formuliert, ist bei diesen Annahmen über den Menschen die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Es wird im Folgenden auf diesen Aspekt eingegangen, da dies neben den bisherigen Ausführungen aufgrund der explizit sich davon ableitenden methodologischen Annahmen (siehe Abschnitte 6.1.1, 6.1.4 und 6.1.6) als wesentliche Bestimmung des Menschen auch explizit benannt werden sollte.

Menschen als gesellschaftlich zu beschreiben meint, den Menschen als ein autonomes Individuum zu betrachten, „das der Möglichkeit nach vernünftiges Subjekt seiner Biographie und Geschichte ist und die Verhältnisse, unter denen es leben will, seinen Interessen gemäß selber machen kann […]“ (Holzkamp 1972, 71). Dieses Zitat bezieht sich auf das Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaftlichkeit des Individuums und damit auf die „Besonderheit der menschlich-gesellschaftlichen Weise der Lebensgewinnung“ (Holzkamp 1979a, 7), die bei Vernachlässigung des Aspekts der Gesellschaftlichkeit und reiner Betrachtung des Menschen als Individuum nicht zu erkennen ist. Diese Besonderheit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen sowohl selbst schaffen als auch kontrollieren und verändern. Subjektivität ist in diesem Zusammenhang aufgrund der Möglichkeit der bewussten Schaffung und Veränderung von gesellschaftlichen Lebensumständen also als gesellschaftliche Subjektivität zu verstehen. Als individuelle Subjekte haben die Menschen Einfluss auf „ihre eigenen relevanten Lebensbedingungen, die ja immer gesellschaftliche Lebensbedingungen sind“ (Holzkamp 1979a, 11), was dazu führt, dass individuelle Subjekte einen „Teilaspekt gesellschaftlicher Subjekte“ (Holzkamp 1979a, 12) darstellen.

Der Aspekt der gesellschaftlichen Lebensbedingungen führt zu einem weiteren Punkt, nämlich zum Umstand, dass aus historisch-materialistischer Sicht, die dieser Arbeit zugrunde liegt (genauer zur Theoriestruktur siehe Abschnitt 1.3), die gesellschaftlichen Verhältnisse historisch bestimmt sind. Das heißt, dass die gesellschaftlichen Lebensbedingungen als gewachsen aus „gesellschaftlich-historischen Entwicklungsgesetzen“ (Holzkamp 1979b, 44) zu begreifen sind. Dies führt dazu, dass ebenfalls die konkreten Individuen als historisch bestimmt gefasst werden müssen. Nach Holzkamp sind sie „doppelt historisch bestimmt“ (Holzkamp 1979b, 45), nämlich zum einen durch die „formations-, klassen- und standortspezifischen gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen ihrer Individualentwicklung“ (Holzkamp 1979b, 45) und zum anderen durch ihre „artspezifischen Möglichkeiten zur individuellen Vergesellschaftung“ (Holzkamp 1979b, 45).

Anders ausgedrückt: Die historisch-gesellschaftliche Konkretheit der individuellen Lebensbedingungen wird nicht auf unmittelbare Einwirkungen auf das Individuum reduziert oder komplett ausgeklammert, wie es in der „Anthropologie des abstrakt-isolierten Individuums“ (Holzkamp 1979b, 14) der traditionellen Psychologie der Fall ist. Vielmehr werden die Individuen als integrativer Bestandteil ihres konkreten gesellschaftlich-historischen Lebenszusammenhangs (Holzkamp 1979b; 1985) betrachtet.

Diese subjektwissenschaftliche Auffassung vom Menschen nimmt Bezug auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen und soll die zuvor dargestellten Annahmen nach von Knebel (2000) ergänzen. Ausgehend vom Axiom der Kooperativen Pädagogik, wonach Handeln als wesensgemäße Tätigkeit des Menschen zu fassen ist (Schönberger 1987; von Knebel 2005), und der Annahme den Menschen „als Mensch unter Menschen und für andere Menschen“ (Jetter 1987, 16) zu betrachten, wird im Folgenden als Synthese der Darlegungen dieses Abschnitts folgendes Leitbild vom Menschen formuliert:

  1. 1.

    Der Wissen konstruierende Mensch.

  2. 2.

    Der eigenaktiv handelnde Mensch.

  3. 3.

    Der gesellschaftliche Mensch.

1.2.3 Erziehungswissenschaftliche Grundannahmen

Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass dieser Arbeit ein Menschen- und Weltbild handlungsleitend zugrunde liegt, welches, kurz gesagt, den Menschen als gesellschaftliches sowie eigenaktiv-konstruierendes, aktiv handelndes Wesen betrachtet. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf den pädagogischen Standpunkt, der in dieser Arbeit eingenommen wird, wird im folgenden Abschnitt auf die erziehungswissenschaftlichen Grundannahmen eingegangen, um im Sinne des Wissenschaftskriteriums der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit die zugrunde liegenden erziehungswissenschaftlichen Annahmen darzustellen. Dabei wird im dialektischen Sinne zuerst auf abstrakter Ebene die Frage nach der Bestimmung des Pädagogischen im Allgemeinen (1.2.3.1) beantwortet und anschließend stehen auf konkreter Ebene die Begriffe der Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik im Mittelpunkt (1.2.3.2). Notwendig erscheint dieses Vorgehen aufgrund des pädagogischen Standpunkts dieser Arbeit: Wenn Sprachdiagnostik und Sprachförderung als pädagogisches Aufgabenfeld betrachtet werden, wird ein pädagogischer Standpunkt eingenommen, dem erziehungswissenschaftliche Theorien und Konzepte zugrunde liegen. Es wurde gezeigt, welche Aspekte der Allgemeinen Erziehungswissenschaft herangezogen werden können, um den pädagogischen Standpunkt zu fundieren. Im dialektischen Sinne wird somit zunächst auf abstrakter Ebene die Frage nach der Bestimmung des Pädagogischen im Allgemeinen beantwortet. Der danach folgende Abschnitt erläutert, welche Grundlagen der Kooperativen Pädagogik als Konzept der Allgemeinen Erziehungswissenschaft den pädagogischen Standpunkt dieser Arbeit konsolidieren. Dadurch werden die Begriffe der Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik auf konkreter Ebene deutlich.

1.2.3.1 Bestimmung des Pädagogischen nach Benner (2001)

Zur Bestimmung des Pädagogischen wird im Folgenden auf die systematische Darstellung erziehungswissenschaftlicher Grundlagen Benners (2001) rekurriert, da diese „tauglich scheint, das Wesensgemäße des Pädagogischen auf eine sehr allgemeine Weise zu fassen“ (von Knebel 2016, 48) und darauf verweist, „was Pädagogik ausmacht“ (von Knebel 2005, 26) sowie „was ein Konzept beinhalten muss, welches pädagogischen Ansprüchen genügen will“ (von Knebel 2005, 26). Die Bestimmung des Pädagogischen trifft Benner (2001) unter Zuhilfenahme zweier Zugänge. Zum einen unterscheidet er „drei Hauptebenen des Pädagogischen“ (Benner 2001, 132 ff) und benennt zum anderen „vier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns“ (Benner 2001, 59 ff). Zunächst werden die drei Hauptebenen des Pädagogischen näher erklärt.

Die erste Ebene zur Bestimmung des Pädagogischen stellt die Theorie der Erziehung dar, welche „Aussagen über die Möglichkeiten, Modalitäten und Grenzen pädagogischen Wirkens“ (Benner 2001, 132) trifft und dabei die „Wirkungen der individuellen und der gesellschaftlichen Seite der pädagogischen Praxis“ (Benner 2001, 132) analysiert. Im Mittelpunkt steht in Anlehnung an von Knebel (2005) die Frage, wie pädagogische Situationen gestaltet werden müssen, damit Bildungsziele erreicht werden können.

Die zweite Ebene zur Bestimmung des Pädagogischen ist durch die Theorie der Bildung gekennzeichnet, in der „Aufgaben und die Zweckbestimmung der pädagogischen Praxis thematisiert“ (Benner 2001, 150) werden. Es lassen sich dabei entsprechend der Theorie der Erziehung ebenfalls „individuelle und gesellschaftliche Aufgaben und Teilaspekte differenzieren“ (Benner 2001, 150). Hier geht es also im Sinne von von Knebel (2005) nicht um die Gestaltung pädagogischer Situationen, sondern um Bildungsziele „im erziehungswissenschaftlichen Sinne“ (von Knebel 2005, 26) als Sinn und Zweck von Erziehung.

Die dritte Ebene zur Bestimmung des Pädagogischen stellt die Theorie pädagogischer Institutionen dar, die danach fragt, „welche Strukturen und Merkmale Institutionen aufweisen müssen, um Orte eines erziehungs- und bildungstheoretisch legitimierten pädagogischen Handelns sein zu können“ (Benner 2001, 182).

Der angekündigte zweite Zugang zur Bestimmung des Pädagogischen durch die Unterscheidung von „vier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns“ (Benner 2001, 59 ff) lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Das erste Prinzip pädagogischen Denkens und Handelns ist das der „Bildsamkeit“ (Benner 2001, 60), wonach die Bestimmung des Menschen in Selbstbestimmung und Freiheit liegt.

Das zweite Prinzip ist das der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (Benner 2001, 60), was bedeutet, dass der Mensch an der eigenen Bildung aktiv mitwirkt.

Als drittes folgt das Prinzip der „Überführung gesellschaftlicher Determination in pädagogische Determination“ (Benner 2001, 62). Dies bedeutet, dass gesellschaftliche Bedingungen veränderbar sind und verändert werden müssen, um nicht zur Behinderung pädagogischer Zugänge zu werden (von Knebel 2005, 27).

Das vierte Prinzip ist die „Ausrichtung der menschlichen Gesamtpraxis an der Idee einer nicht-hierarchischen und nicht-teleologischen Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis“ (Benner 2001, 62). Die Erziehungspraxis wird zum Zwecke der Verbesserung der Lebensgrundlagen des Menschen von ihnen mitgestaltet, wie von Knebel (2005) ausführt.

Nachdem in diesem Abschnitt allgemein-erziehungswissenschaftliche Überlegungen zur Frage der Bestimmung des Pädagogischen angestellt wurden, sollen im nächsten Abschnitt die Grundannahmen der Kooperativen Pädagogik erläutert werden, um die zunächst aus allgemein-erziehungswissenschaftlicher Sicht dargestellten Zugänge mit konkret-pädagogischen Grundannahmen zu spezifizieren.

1.2.3.2 Grundannahmen der Kooperativen Pädagogik

Das Konzept der Kooperativen Pädagogik wird sowohl aufgrund seiner allgemein-erziehungswissenschaftlichen Bezüge als auch in sprachhandlungstheoretischer Spezifizierung nach Welling (1990; 2004) in dieser Arbeit als grundlegend betrachtet. So rekurriert Welling (1990) bei der Konzeptualisierung pädagogischer Sprachförderung auf die Kooperative Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987). Die Kooperative Pädagogik stellt den Menschen mit seinen individuellen Erfahrungen und Möglichkeiten grundsätzlich in den Mittelpunkt: Jedes menschliche Individuum soll zuallererst in seiner Verstrickung in seine konkreten Verhältnisse gesehen werden und ist in seinem Handeln auf seine individuellen Erfahrungen verwiesen (Jetter 1985, 6). Das Konzept der Kooperativen Pädagogik nach Schönberger, Jetter und Praschak (1987), ist zwar nicht explizit behindertenpädagogisch orientiert, bezeichnet sich jedoch als ein allgemein-pädagogisches Konzept, das „besonders sensibel ist für die besonderen Probleme der Erziehung und Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher“ (Jetter 1986, 223).

Praschak (1993) beschreibt Behinderung im Sinne der Kooperativen Pädagogik als dynamischen sozialen Prozess, nicht als diagnostizierbaren Individualzustand (Praschak 1993, 17). Diese Sicht führt zu einem handlungsleitenden Bild des Menschen, das als Axiom der Kooperativen Pädagogik bezeichnet wird (Schönberger, Jetter & Praschak 1987), und bezieht sich auf die „Tatsache, daß jeder Mensch aktiv Einfluß auf sein Leben nimmt und dafür auch die Verantwortung tragen kann“ (Praschak 1993, 50 f.). Dieser Grundsatz beschreibt das Hauptanliegen der Kooperativen Pädagogik: den Menschen als handelndes Wesen zu sehen. Handeln wird damit zu einem Grundbegriff der Kooperativen Pädagogik. Den Menschen als erkennendes Wesen zu beschreiben und gleichzeitig als handelndes Wesen zu erkennen und anzuerkennen, führt zu der anthropologischen Grundannahme: „Die dem Menschen wesensgemäße Tätigkeit ist das menschliche Handeln“ (Jetter 1985, 9).

Die Kooperative Pädagogik bezieht sich in dieser Grundannahme, den Menschen als aktiv handelnd aufzufassen, auf eine konstruktivistische Handlungstheorie, die jedes Erleben eines Menschen als ordnende und gestaltende Tätigkeit ausweist. Mit der Bestimmung der Kooperativen Pädagogik als ein allgemein-pädagogisches Konzept (von Knebel 2005), offenbart sie die erziehungswissenschaftliche Fundierung, die sich in den Begriffen Erziehung, Bildung, Handeln und Kooperation niederschlägt.

Die drei folgenden Kerngedanken sind von grundlegender Bedeutung, da sie inhaltlich beschreiben, inwiefern die Begriffe Erziehung, Bildung und Handeln als zentral betrachtet werden können.

  1. 1.

    Erziehung lässt in diesem Sinne „Bedingungen menschlicher Existenz als von Menschen gestaltete und daher auch von Menschen immer neu zu gestaltende erkennen“ (Schönberger 1987, 83).

  2. 2.

    Das Ziel von Bildung besteht in der Kooperativen Pädagogik „in der Fähigkeit und Bereitschaft zu mitverantwortlichem Handeln“ (von Knebel 2005, 24).

  3. 3.

    Der Mensch ist „seinem Wesen nach ein verantwortlich Handelnder“ (Jetter 1985, 5).

Jetter (1987) führt drei Merkmale an, die sich auf den zuvor formulierten dritten Kerngedanken beziehen und das Handeln eines Menschen (von Knebel 2005, 25) genauer bestimmen: Wertorientiertheit, Plangeleitetheit und Zielgerichtetheit. Zielgerichtet handelt der Mensch, indem er seine Lebensbedingungen mitgestaltet, sodass Handeln als „auf die Gestaltung von Wirklichkeit angelegte“ (von Knebel 2005, 25) Tätigkeit betrachtet werden kann. Dabei orientiert sich der handelnde Mensch an kulturellen Werten, was davon abhängig ist, welche Erfahrungen er bereits machen konnte, das heißt, wodurch Wertsysteme konstruiert wurden. Plangeleitet ist sein Handeln, da Handeln eine „im Sinne kognitiver Strukturiertheit geordnete und zugleich ordnende (plangeleitete)“ (von Knebel 2005, 25) Tätigkeit darstellt. Das heißt, es sind Wissensstrukturen vorhanden, die Handeln ermöglichen. Wertorientiert ist das Handeln aufgrund der Bestimmung als „in rekonstruierte gesellschaftliche und kulturelle Wertesysteme eingebundene (wertorientierte) Tätigkeit“ (von Knebel 2005, 25).

In engem Zusammenhang mit Erziehung, Bildung und Handeln stehen als weitere Begriffe ‚Sinn‘ und ‚Verantwortung‘. Schönberger (1987) bezeichnet den Sinn des Handelns als „eine kulturelle Ordnung der Werte und sittlichen Normen, die wir im verantwortlichen Handeln nachvollziehen und zugleich verändern“ (Schönberger 1987, 88). Der verantwortlich Handelnde dabei ist derjenige, „der Rede und Antwort stehen kann auf die Frage nach dem Sinn seines Tuns“ (Schönberger 1987, 96).

Das menschliche Handeln als sinnhafte Tätigkeit zu bezeichnen, ist Teil der theoriegeleiteten Sicht des Menschen „als dem Angehörigen einer Kulturgemeinschaft“ (Schönberger 1985, 21 ff). Die kulturelle Teilhabe muss an die „individuellen Bedeutungsgehalte des Handelnden“ (Schönberger 1985, 21 ff) anknüpfen, um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Praschak (1993) formuliert dazu treffend: „Entwicklung von Handlungsfähigkeit ist von Umweltgegebenheiten abhängig wie von bereits vorhandenen Strukturen, die immer eingebettet sind in soziale und gegenständliche Bezugssysteme“ (Praschak 1993, 49).

Gemäß dieser Sicht auf den Menschen, die der konstruktivistischen Handlungstheorie entspringt, erscheint eine Trennung des Menschen von seinen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen nicht sinnvoll, um ihn nicht von seiner alltäglichen Lebenssituation und seiner eigenen Geschichte zu entbinden. Der Handlungsbezug wird zur konstruktiven Größe, die es dem Menschen ermöglicht, sich seine Lebenswirklichkeit anzueignen, und gründet sich auf ordnenden Strukturen wie eine raum-zeitliche Gliederung der Welt und das Erkennen von ursächlichen Zusammenhängen (Praschak 1993, 46–50).

‚Kooperation‘ und ‚Kooperationsfähigkeit‘ als zwei weitere Grundbegriffe der Kooperativen Pädagogik sind nur im Zusammenhang mit dem Handlungsbegriff zu verstehen. „Kooperationsfähigkeit entwickelt sich nur in kooperativen Handlungen“ (Schönberger 1985, 17). Dadurch dass das menschliche Handeln als wertorientierte, zielgerichtete und planvolle Tätigkeit gefasst wird, ist eine Handlung kooperativ, „wenn die Handlungspartner ihre Tätigkeiten an gemeinsamen Werten orientieren und ihre Handlungspläne auf vereinbarte Ziele hin koordinieren“ (Schönberger 1985, 17). Im gemeinsamen Handeln wird die Lebenswirklichkeit des Menschen gestaltet und gegebenenfalls verändert, womit die Verbindung zur Handlungsfähigkeit hergestellt werden kann, da „handlungsfähig sein bedeutet: Wirklichkeit nicht als gegeben hinnehmen, sondern sie mit den eigenen Möglichkeiten zu erschließen, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern“ (Jetter 1986, 243).

Die Ausführungen verdeutlichen, inwiefern der Mensch aus Sicht der Kooperativen Pädagogik als aktiv handelnd betrachtet werden kann, und bieten damit eine inhaltliche Entfaltung dessen an, was in dieser Arbeit als Menschen- und Weltbild handlungsleitend zugrunde liegt.

1.2.4 Erkenntnistheoretische Grundannahmen

Die im vorigen Abschnitt aufgeführten Annahmen des Menschen, insbesondere die anthropologische Grundannahme „Der Mensch ist ein konstruierend erkennendes Wesen“ (von Knebel 2000, 46), legen nahe, die dieser Arbeit zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Annahmen zu formulieren.

Dem Umstand folgend, den Mensch als konstruierendes Wesen aufzufassen, wird in Bezug auf wissenschaftliches Erkennen in dieser Arbeit der Konstruktivismus im Sinne der genetischen Erkenntnistheorie nach Piaget (u. a. 1972), welcher auch die Grundlage der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (Schönberger, Jetter & Praschak 1987) zugrunde liegt, als theoretischer Ansatz vorausgesetzt.

Nach Piaget (1972) ist keine Erkenntnis endgültig, sondern die Erkenntnis, auch die wissenschaftliche als eine ihrer vielfachen Formen, wird durch aktive Konstruktion in der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt gebildet. Die Erfahrungen des konstruierenden Subjekts führen zu einer Erkenntnis, die sich kontinuierlich entwickelt, wodurch sich weder ein Beginn noch ein Ende des Erkenntnisprozesses bestimmen lassen. Vielmehr muss jede fortgeschrittene Erkenntnis in Relation zur vorherigen geringeren Erkenntnis betrachtet werden (Piaget 1972, 18).

Der dahinterstehende Wirklichkeitsbegriff, ist folgendermaßen zu fassen: Objektive Erkenntnis der Wirklichkeit wird als nicht möglich betrachtet, da objektive Wirklichkeit subjektiv auf Grundlage der Erfahrungen des Subjekts mit der Umwelt erkannt wird, das heißt auf Grundlage der bereits vorhandenen kognitiven Strukturen. Denn jede menschliche Erkenntnis entsteht aus einer kognitiven Struktur des Subjekts und mündet in diese (Piaget 1974a, 268 ff.). Damit ist ein erkanntes Objekt immer „das von der Intelligenz des Subjektes repräsentierte und interpretierte Objekt“ (Bringuier 2004, 104). Bei so verstandener Konstruktion der Wirklichkeit nähert sich das Subjekt der Objektivität ständig an, „ohne das Objekt selbst je zu erreichen“ (Bringuier 2004, 104).

Dieses erkenntnistheoretische Verständnis muss mit der Annahme der Gesellschaftsbezogenheit des Menschen ergänzt werden, um zu gesellschaftlicher Erkenntnis zu werden. Dann kann eine Verkürzung zu „bloßer Methodologie“ (Holzkamp 1972, 276) des konstruktivistischen Ansatzes vermieden werden, in der sich das Subjekt als „vermeintlicher Ursprung der Wissenschaft“ (Holzkamp 1972, 276) und das zu erkennende Objekt „scheinbar völlig isoliert“ (Holzkamp 1972, 276) gegenüberstehen. Die Frage ist in diesem Zusammenhang, „wie das Subjekt als Erkennendes überhaupt an den Gegenstand [des Erkennens] herankommt“ (Holzkamp 1972, 276). An dieser Stelle bekommt die Gesellschaftsbezogenheit des Menschen für wissenschaftliches Erkennen grundlegende Bedeutung: Gesellschaftsbezogenes Erkennen ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als „gedankliche Reproduktion, Explikation gesellschaftlicher Realzusammenhänge“ (Holzkamp 1972, 275).

In gesellschaftsbezogener Erkenntnis ist der gesellschaftliche Mensch gleichermaßen Identität erkennendes Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis, was dazu führt, dass in gesellschaftsbezogener Erkenntnis immer die gegenwärtige gesellschaftliche Verfassung des Menschen miterkannt wird (Holzkamp 1972, 276).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieser Arbeit ein Menschen- und Weltbild zugrunde liegt, das den Menschen als aktiv handelnd und wissen-konstruierend fasst. Die Einnahme des Subjektstandpunkts erfordert darüber hinaus die Betrachtung des Menschen als Subjekt, das nicht von der Gesellschaft und von der Welt, in der es handelt, getrennt erscheint. Sondern es wird ein Mensch-Welt-Zusammenhang angenommen, wonach Mensch und Welt beziehungsweise Gesellschaft in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Spezifiziert wird diese Sicht des Menschen durch allgemein-erziehungswissenschaftliche und kooperativ-pädagogische Grundannahmen, wie mit den anthropologischen und erziehungswissenschaftlichen Darstellungen gezeigt wurde. Die erläuterten erkenntnistheoretischen Annahmen führten, neben den zuvor genannten handlungsleitenden Grundannahmen, zur Auswahl der Bezugswissenschaften, die in einem strukturidentischen Zusammenhang stehen. Auf dieser Basis werden im folgenden Abschnitt die Theoriestruktur, die Ziele und der Aufbau der vorliegenden Arbeit konkretisiert.

1.3 Theoriestruktur der Arbeit

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, theoretisch fundiert ein Konzept von alltäglicher Lebenssituation zu erarbeiten, was unter dem Anspruch der sogenannten „Strukturidentität“ (Jetter 1984, 78 f.) vollzogen wird, um nicht, wie Jetter (1984) ausdrückt, „nur ein summatives Nebeneinander“ (1984, 78 f.) darzustellen und dabei einem unkritischen Eklektizismus zu verfallen. Daher wird in diesem Abschnitt auf die der Arbeit zugrunde liegende Theoriestruktur eingegangen. Begründet wird das Offenlegen der Theoriestruktur unter dem „Anspruch von Wissenschaftlichkeit“ (von Knebel 2004, 85) mit der Notwendigkeit, eine Positionierung innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft (von Knebel 2004, 84 ff.) vorzunehmen und dahinterstehende Theorien und Konzepte nachvollziehbar darzustellen. Dahingehend werden in der vorliegenden Arbeit die „Merkmale von Wissenschaftlichkeit“ (von Knebel 2004, 85 f.) berücksichtigt. Ein zentrales Merkmal ist die „Offenlegung der Ausgangslage“ (von Knebel 2004, 85), sodass im folgenden Abschnitt erläuternd auf die herangezogenen Bezugswissenschaften für die vorliegende Untersuchung eingegangen wird. Erläuterungen zur Theoriestruktur sind außerdem aus dem Grund notwendig, da ein theoretisch fundiertes Konzept von alltäglicher Lebenssituation erarbeitet werden soll. Die theoretischen Bezugssysteme, die dafür herangezogen werden, sollten dem Anspruch der Strukturidentität gerecht werden, da sie sich nur dann eignen, wenn sie „ihren eigenen Merkmalen“ (Jetter 1984, 78 f.) entsprechen, also strukturidentisch sind. Allgemeine Voraussetzung dafür ist, den Menschen als aktiv handelndes Wesen zu betrachten, weshalb Theorien und Bezugssysteme infrage kommen, die diese Sichtweise vertreten.

Die Bezugswissenschaften, die zur Beantwortung der Frage nach der Konzeptualisierung von alltäglicher Lebenssituation von Menschen herangezogen werden und die der Entwicklung des Verfahrens zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation zugrunde liegen, weisen grundlegende theoretische Annahmen auf, die als „gleiches Weltbild“ (Welling 1990, 25 f.) bezeichnet werden können. Dieses Weltbild stellt den aktiv handelnden Menschen in den Mittelpunkt und lässt sich im Wesentlichen durch einen untrennbaren Mensch-Welt-Zusammenhang kennzeichnen, der einer ständigen Entwicklung unterliegt. Die Annahme des Zusammenhangs zwischen Mensch und Welt zeichnet eine Abkehr von objektivistischen und deterministischen Denkweisen nach. Eben jenes Weltbild eines aktiv handelnden Menschen, der mit der Welt in einer untrennbaren, sich fortlaufenden Entwicklung verwoben ist, liegt auch dieser Arbeit zugrunde, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt werden soll.

Aufgrund dieses zugrunde liegenden Weltbildes werden solche bezugswissenschaftlichen Theorien nicht gewählt, die den Menschen als passiv betrachten, ihn als „von externen oder physiologisch bedingten Reizen in Bewegung gebracht[er]“ (Welling 1990, 29) sehen und den Menschen dabei „in einen Gegensatz zur natürlichen, kultürlichen und sozialen Welt bringen“ (Welling 1990, 29). Im Umkehrschluss werden theoretische Ansätze beziehungsweise Bezugswissenschaften gewählt, die den Menschen als aktiv handelndes Subjekt auffassen. Solche theoretischen Konzepte beziehungsweise Bezugswissenschaften, die in ihren theoretischen Annahmen mit dem beschriebenen Weltbild nach Welling (1990) übereinstimmen, können als strukturidentisch bezeichnet werden. „Strukturidentisch sind sie dann, wenn sie um die fehlenden Merkmale angereichert werden können, ohne daß sie dabei ihren Bedeutungskern als Handlungstheorien verlieren. Oder anders: auch die Theorien müssen in ihrer Zusammenschau ihren eigenen Merkmalen entsprechen, wenn die gewonnene Gesamttheorie nicht nur ein summatives Nebeneinander darstellen soll.“ (Jetter 1984, 78 f.)

Die für die Konzeption der vorliegenden Arbeit gewählte Theoriestruktur beansprucht eine Auswahl von bezugswissenschaftlichen Theorien oder theoretischen Ansätzen, die nach Jetter (1984, 79) folgende Merkmale aufweisen müssen, um dem gestellten Anspruch der Strukturidentität gerecht zu werden:

Sie sind erstens strukturalistisch, weil sie auf einzelne Aspekte menschlichen Handelns eingehen, die als Teilsystem „einer vom Subjekt strukturierten Ganzheit“ (Welling 1990, 30) betrachtet werden können, wie beispielsweise das sprachliche Handeln als Teilsystem menschlichen Handelns betrachtet wird. Zweitens sind sie konstruktivistisch aufgrund der eingenommenen genetischen Perspektive (Jetter 1984; Welling 1990), die von einem aktiv konstruierend erkennenden Menschen ausgeht. Drittens sind sie historisch-materialistisch, womit ein Bezug zur Betrachtung menschlichen Handelns im Zusammenhang mit den konkreten Lebensverhältnissen hergestellt wird. Viertens sind sie dialektisch im Sinne der strukturierten Vereinigung ihrer Merkmale.

Ein theoretisches Konstrukt wie das in dieser Arbeit entwickelte Konzept von alltäglicher Lebenssituation muss diesen Ansprüchen genügen, um als strukturidentisch gelten zu können. Welling (1990, 387 f.) postuliert zu den bereits genannten Merkmalen strukturidentischer Theorien zwei weitere Kriterien, die eine Strukturidentität generieren und die von Jetter (1984) formulierten Merkmale ergänzen: das ‚Subjektivitätskriterium‘ und das ‚Entwicklungskriterium‘ (Welling 1990, 387 f.). Das Subjektivitätskriterium bezieht sich auf das bewusste Handeln des Menschen (Welling 1990, 388) und erfordert eine Theorie vom Standpunkt des Subjekts; das Entwicklungskriterium eine Theorie, die den Menschen, sein Erleben und Handeln, in seiner historischen Gewordenheit betrachtet (Welling 1990, 387 f.).

Zusammenfassend lässt sich zum Anspruch der Strukturidentität theoretischer Konzepte und Bezugswissenschaften Folgendes festhalten: Theorien und Konzepte werden in der vorliegenden Arbeit dann als strukturidentisch betrachtet, wenn sie dem vertretenen Weltbild nach Welling (1990) entsprechen sowie die zuvor genannten Merkmale nach Jetter (1984, 79) und Welling (1990, 387 f.) aufweisen. Auf Basis dieser Auffassung von Strukturidentität erfolgt die Auswahl der bezugswissenschaftlichen Theorien und Konzepte dieser Arbeit, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird, um die Erläuterung zur Theoriestruktur dieser Arbeit zu vervollständigen.

Zur Auswahl der theoretischen Bezugssysteme

Auf Grundlage der zuvor dargestellten Theoriestruktur dieser Arbeit wird im Folgenden die Auswahl der theoretischen Bezugssysteme dargestellt, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Es handelt sich um folgende theoretische Bezugssysteme:

  • Erziehungswissenschaft: Konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (u. a. Schönberger, Jetter & Praschak 1987)

  • Sprachbehindertenpädagogik: Sprachhandlungstheorie (u. a. Welling 1990)

  • Psychologie: Kritische Psychologie: Subjektwissenschaft und Psychologie vom Standpunkt des Subjekts (u. a. Holzkamp (1985)

  • Soziologie: ‚Zivilisationstheorie‘ beziehungsweise ‚Theorie der Menschenwissenschaften‘ (Elias 2001; 2006)

  • Sprachwissenschaft: Kooperative Kommunikation (Tomasello 2006; 2011)

Ausgangspunkt stellt die konstruktivistische Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik dar. Mit den Annahmen der Kooperativen Pädagogik wird auf ein Konzept rekurriert, dem die konstruktivistische Handlungstheorie zugrunde liegt, in der der Mensch als aktiv handelndes Wesen als in seine konkreten Verhältnisse verflochten betrachtet wird. Des Weiteren verweist die Kooperative Pädagogik auf das allgemeine Bildungsziel: Mit- und Selbstbestimmung und Freiheit des Subjekts, was durch Erweiterung der Handlungsfähigkeit eines Menschen angestrebt wird. Handeln wird in diesem Zusammenhang als ordnende und geordnete Tätigkeit gefasst.

Die Sprachhandlungstheorie (Welling 1990), die in Bezug auf das sprachliche Handeln des Menschen eine Spezifizierung der konstruktivistischen Handlungstheorie der Kooperativen Pädagogik (zum Beispiel Schönberger, Jetter & Praschak 1987) darstellt, wird als strukturidentisch betrachtet, denn Sprachgebrauch und Spracherwerb werden aus sprachhandlungstheoretischer Sicht als menschliches Handeln gefasst. Die geforderte Strukturidentität dieses Ansatzes zu den weiteren gewählten theoretischen Bezugssystemen ist hier offensichtlich: Die Kooperative Pädagogik, die sich „als historisch, dialektisch und materialistisch begreift“ (Jetter 1985a,4), vertritt ein Welt- und Menschenbild, das den Menschen als eingebunden in Kultur und Gesellschaft und als aktiv handelndes Subjekt betrachtet (Schönberger, Jetter und Praschak 1987).

Die Kritische Psychologie wird als strukturidentisch mit den hier zugrunde gelegten theoretischen Ansätzen betrachtet, weil sie entsprechend der anthropologischen Grundannahmen die Subjektivität des Menschen erfasst, dabei aber die gesellschaftliche Seite des Menschen nicht außer Acht lässt. Damit ist der zentrale Kritikpunkt der Kritischen Psychologie an den Konzepten der traditionellen Psychologie angesprochen, die als nicht strukturidentisch betrachtet werden können: Die „Mainstream-Psychologie“ (Holzkamp 1988, 22) reduziert den Menschen auf seine innerpsychischen Eigenschaften und klammert mit dieser verkürzten Sichtweise die gesellschaftliche Bedingtheit des Subjekts vollkommen aus (Holzkamp (1985, 1993). Zentral aus kritisch-psychologischer Perspektive ist die Annahme, Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Subjekt und Objekt und entsprechend Mensch und Welt nicht getrennt zu betrachten sowie die Annahme eines Menschen, der aufgrund vorfindbarer Bedeutungsstrukturen begründet handelt.

Das von Elias (2001; 2006) vertretene Menschenbild ist geprägt durch die Annahme einer niemals abgeschlossenen gesellschaftlichen Entwicklung und gekennzeichnet mit den primären Begriffen der Figurationen und sozialen Prozesse (Elias 2001; 2006). Damit wird auf einen in Kultur und Gesellschaft eingebundenen, aktiv handelnden Menschen verwiesen, was in Übereinstimmung mit den in dieser Arbeit vertretenen anthropologischen Annahmen steht. Mit Elias (2001; 2006) werden aus soziologischer Perspektive Annahmen hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen zur Grundlage herangezogen. Daher können auch die soziologischen Ansätze Elias’ (2001; 2006) als strukturidentisch mit den weiteren theoretischen Bezugssystemen bezeichnet werden.

Mit Tomasello (2006; 2011) wird auf eine theoretische Grundlage menschlicher Kommunikation im Bereich der Sprachwissenschaft rekurriert. Mit seinen kognitionstheoretischen Wurzeln sind die Ausführungen Tomasellos (2006; 2011) zur menschlichen Kommunikation als strukturidentisch zu betrachten. Das vertretene anthropologische Menschenbild mit seinen drei zentralen Begriffen der geteilten Intentionalität, Kooperation und Interdependenz steht dabei in Übereinstimmung mit den in dieser Arbeit vertretenen anthropologischen Grundannahmen (dargestellt in Abschnitt 1.2.2) und richtet sich gegen theoretische Annahmen über den Menschen, die eine genetische Bedingtheit menschlicher Eigenschaften behaupten beziehungsweise Entwicklung rein auf Konditionierung zurückführen (Thies 2018, 137/142).

1.4 Ziele und Aufbau der Arbeit

Das Untersuchungsvorhaben ist sowohl literaturbasiert als auch empirisch ausgerichtet. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Ziele die vorliegende Arbeit verfolgt (1.4.1) und wie vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen die vorliegende Arbeit aufgebaut ist (1.4.2).

1.4.1 Ziele der Arbeit

Das erste – theoretische – Ziel ist, aufgrund einer in der Forschungsliteratur noch fehlenden theoretischen Konstruktion des Konzepts von alltäglicher Lebenssituation theoriegeleitet darzustellen, welche Grundannahmen, Bezugssysteme und Theorien insgesamt herangezogen werden können, um das Konzept genauer konstituieren zu können, um dann folgend zu prüfen und begründet zu entscheiden, welche Faktoren im Einzelnen zur Konstruktion von alltäglicher Lebenssituation herangezogen werden können. Das zweite, empirische Ziel lautet, ein strukturiertes, methodisches Verfahren für die pädagogische Sprachdiagnostik und Sprachförderung zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Mit dem Analyseverfahren sollen die individuellen Bedingungen der alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern hinsichtlich Spracherwerbs und Sprachgebrauchs vom Subjektstandpunkt aus analysiert werden. Auf Basis dieser Analyse soll dann die Möglichkeit entstehen, Schlüsse für eine pädagogische Sprachförderung zu ziehen. Das Analyseverfahren nennt sich im Konkreten: Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen (kurz: Analyseverfahren). Ziel ist, dass es mehrere Stufen der Entwicklung durchläuft, von der Erstellung eines Prototyps bis hin zu einem modifizierten Verfahren, das auf Basis seiner Evaluation zum Einsatz für die Sprachdiagnostik zur Verfügung steht.

1.4.2 Aufbau der Arbeit

Die Auswahl der Bezugswissenschaften basiert zusätzlich zu den bisher genannten Aspekten auf erkenntnistheoretischen Grundlagen, nach denen die objektive Wirklichkeit subjektiv erkannt und das Erkannte auf Basis der bereits entwickelten inneren Strukturen geordnet wird. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse des Menschen immer miterkannt werden, ist bei der subjektiven Erkenntnis objektiver Wirklichkeit von gesellschaftlicher Erkenntnis auszugehen.

Welcher inneren Logik die Bedeutung der dargestellten Voraussetzungen und Grundlagen folgt, spiegelt sich im Aufbau der Arbeit wider, und zwar auch dahingehend, welche Bedeutung die Voraussetzungen und Grundlagen für die Verfolgung der Ziele und Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit haben. Notwendig bei der Bearbeitung der Fragestellung dieser Arbeit sind theoretische Ausführungen zur Fundierung eines Konzepts von alltäglicher Lebenssituation, das in pädagogischer Sprachdiagnostik und pädagogischer Sprachförderung als Gegenstand betrachtet wird.

Praxisrelevant wird das in der vorliegenden Arbeit entfaltete Konzept von alltäglicher Lebenssituation bei der Frage, wie ein theoretisches Konzept für die Praxis der pädagogischen Sprachdiagnostik und pädagogischen Sprachförderung dienlich gemacht werden kann, also welchen Nutzen und welche Bedeutung es für die entsprechenden Aufgabenfelder erlangt.

In der Einleitung (1) dieser Arbeit findet eine Einführung in das Thema statt, sodass der Ausgangspunkt und die Problemstellung (1.1) der vorliegenden Arbeit geklärt werden können. Es wird daraufhin auf die dieser Arbeit zugrunde liegenden handlungsleitenden Grundannahmen (1.2) eingegangen, da sich diese Annahmen auf die Auswahl der Bezugssysteme auswirken. Auf dieser Grundlage werden die Theoriestruktur (1.3), die Ziele und der Aufbau der vorliegenden Arbeit erläutert (1.4). Anschließend werden theoretische Diskurse und Annahmen zum Forschungsgegenstand dargestellt (2.1), der Forschungsstand und Forschungsdesiderate (2.2) sowie daraus ableitend die Forschungsfragen (2.3) der vorliegenden Arbeit aufgezeigt.

Die Arbeit widmet sich weiterhin den theoretischen Überlegungen, die im Gesamtzusammenhang mit den angestrebten Zielen dieser Arbeit stehen: Mit den Begriffen des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Handlungsfähigkeit (3), basierend auf der Sprachhandlungstheorie, werden die Bedeutungen des Sprachbegriffs, Spracherwerbs und Sprachgebrauchs (3.1) herausgearbeitet, sowie wesentliche Annahmen der pädagogischen Sprachförderung (3.2) und pädagogischen Sprachdiagnostik (3.3) offengelegt, die resümierend zusammengefasst werden (3.4).

Des Weiteren werden die auf Basis der zugrunde liegenden Bezugssysteme erkannten theoretischen Annahmen zur alltäglichen Lebenssituation (4) erörtert und in eine geordnete Struktur überführt, woraus ein handlungstheoretisch fundierter Begriff der alltäglichen Lebenssituation kondensiert wird (5).

In Kapitel 6 steht mit dem empirischen Ansatz das in der vorliegenden Arbeit zu entwickelnde Verfahren zur Erfassung und Auswertung von Informationen zur alltäglichen Lebenssituation von Schulkindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen im Mittelpunkt der Ausführungen. Es werden die Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Analyseverfahrens dargelegt.

Schließlich werden die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst: Es werden nach einem Resümee zu den theoretischen Bezugssystemen der vorliegenden Arbeit (7.1) zunächst die Forschungsfragen dieser Arbeit beantwortet (7.2), anschließend erfolgt eine Diskussion und Reflexion der Ergebnisse und der methodischen Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit (7.3, 7.4, 7.5). Schließlich wird ein Ausblick auf weiteres mögliches Vorgehen gegeben (8). Die Arbeit schließt mit einem Schlusswort (9).