In der Einleitung wurde bereits angeführt, dass die vorliegende Studie auf die Analyse der Modi der Handlungskoordination bei Schulinspektion, konkret der Qualitätsanalyse in Nordrhein-Westfalen, abzielt und sich dabei der Educational Governance als Forschungsperspektive bedient. Erklärtes Ziel von governanceanalytischen Studien wie auch dieser Arbeit ist es,

Prinzipien und Muster der Handlungskoordination in einem Bereich oder Handlungssektor herauszuarbeiten und zu zeigen, wie die Handlungskoordination in einem spezifischen gesellschaftlichen System durch spezifische Relationierungen (= Handlungen) von Akteuren und Strukturen aufgebaut, aufrechterhalten und transformiert wird. (Altrichter & Maag Merki, 2016b, S. 9 f.)

Mit dem Fokus auf Handlungskoordination zwischen Akteuren werden in dieser Perspektive Instrumente und Fragen Neuer Schulsystemsteuerung betrachtet (u. a. Altrichter & Maag Merki, 2010a; Arbeitsgruppe Schulinspektion, 2016; Heinrich, 2007). Weil das Zusammenhandeln der Akteure im Allgemeinen wie auch im Speziellen bei der Schulinspektion durch institutionelle und politisch-normative Regelungsstrukturen gerahmt wird, ist ihre Darlegung notwendige Bedingung der empirischen Analyse (Maag Merki & Altrichter, 2015).

So werden in diesem Kapitel zunächst zentrale Aspekte Neuer Schulsystemsteuerung und ihre Folgen für Schule und Schulaufsicht in Deutschland erläutert (Abschn. 2.1). Hieran anknüpfend wird die Educational Governance als Forschungsperspektive expliziert (Abschn. 2.2). In Abschnitt 2.3 rückt dann der in dieser Arbeit fokussierte Handlungssektor Schulinspektion in den Fokus der Betrachtung, indem die Programmatik und Anlage beschrieben wird und eine aktuelle Bestandaufnahme zu den Inspektionsverfahren der deutschen Bundesländer erfolgt. Die Konzeptionen werden dabei unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens der Akteure vergleichend betrachtet. An geeigneten Stellen in den jeweiligen Abschnitten werden zentrale Begriffe dieser Arbeit eingeführt. Neben den governanceanalytischen Begrifflichkeiten etwa Akteurskonstellation oder Handlungskoordination gehört dazu u. a. auch die Definition von Schulentwicklung oder Steuerung ebenso wie Schulinspektion, Schulaufsicht und Schulentwicklungsberatung.

2.1 Die Konzeption Neuer Schulsystemsteuerung

Die im Rahmen dieser Studie untersuchten Koordinationspraktiken zwischen beteiligten Akteuren der Schulinspektion sind in einen größeren Steuerungskontext eingebettet, in welchen es nun einzuführen gilt. Weil Governance-Studien „weiter ein Bewusstsein der Zeit und Historizität der untersuchten Prozesse [brauchen]“ (Altrichter & Maag Merki, 2016b, S. 18, Herv. i. O.) geht es hier nun darum, Grundpfeiler von der planungsdeterministischen zur ergebnisorientierten Steuerung chronologisch nachzuzeichnen und mit Blick auf die Konsequenzen für Schule und Schulaufsicht in Bezug auf Schulentwicklung zu präzisieren. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dann unter Rückgriff auf Weicks (1976) organisationstheoretische Überlegungen ein zentrales Problem Neuer Steuerung konturiert und zuletzt auf ein zunehmend propagiertes Schnittstellenmanagement hingewiesen, das seinen legitimierten Ort innerhalb einer empirischen Governanceforschung haben dürfte.

Neben allbekannten Verweisen auf moderne Unternehmenssteuerung, die dem Schulsystem maßgeblich als Vorbild diente, will sich der nachfolgend skizzierte „Paradigmenwechsel“ (Bellenberg et al., 2001, S. 7) in der Schulsteuerung als ein durch mehrere politische, administrative, sozial- und erziehungswissenschaftliche Strömungen beeinflusster Modernisierungsprozess verstanden wissen.Footnote 1 Insofern ist mit diesem Kapitel die Herausforderung verbunden, die Verwobenheit thematischer Bezüge in eine lineare Darstellung zu bringen, was durch kurze Exkurse oder Verweise auf nachfolgende Kapitel gelöst wird.

Die Neue Schulsystemsteuerung wird in der Regel auf Ansätze zur öffentlichen Verwaltungsreform zurückgeführt, die unter dem New Public Management (NPM) firmiert und die Übertragung ökonomischer Prinzipien auf den öffentlichen Sektor und damit auf das Schulsystem beabsichtigt (u. a. Brückner & Tarazona, 2010; Kegelmann, 2007; Schedler & Proeller, 2011).Footnote 2 Sie wendet sich gegen die bürokratische Schule und ihre Schulverwaltung in der Bundesrepublik, die nach dem Vorwort von Eugen Lemberg in Bessoth (1974)

den modernen, wissenschaftlich unterbauten Methoden des Managements […] nichts Vergleichbares entgegenzusetzen [hatte]. Wo immer es die empirische Bildungsforschung mit ihr zu tun bekam, dort bot sich ihr das Bild eines veralteten, dilettantisch betriebenen, auf Ideologien aus dem frühen 19. Jahrhundert beruhenden, uneffektiven und vor allem für Schulreformen, selbst bei bester Absicht, ungeeigneten Systems. (XIII)

Denn das vorherrschende, traditionelle Konzept der Steuerung basierte bis in die frühen siebziger Jahre auf planungszentrierten und deterministischen Vorstellungen mit einer ausgeprägten Lenkungsabsicht, also darauf, dass Bildungsziele vom Staat angemessen geplant und mit Hilfe administrativer Detailsteuerung in die Realität umzusetzen seien (Baumert, 1980; Koch & Gräsel, 2004; Kurtz, 1982; Zlatkin-Troitschanskaia, 2006). Schulaufsichtliches Handeln war durch Rahmensetzungen u. a. von personellen Ressourcen oder regulativen Programmen z. B. Lehrplänen, klar definierte Verfahrensweisen, Amtshierarchie und Aktenmäßigkeit gekennzeichnet. Diese klassische Steuerung galt als direkter Eingriff der Regierung bzw. Verwaltung, die als (aktive) Steuerungssubjekte auf die (eher passiven) Einzelschulen als Steuerungsobjekte Einfluss nahmen (Becker, 1954; Berkemeyer, 2010; Dedering, 2012; Geiss & Vincenti, 2012; Rumpf, 1966; Tillmann et al., 2008; Weishaupt, 2014).

Ähnlich dem obigen Zitat von Lemberg wurde dem Schulsystem auch von der durch die OECD durchgeführte Vergleichsstudie im Jahr 1961 ein „Leistungs- und Modernitätsrückstand“ (Hepp, 2011, S. 122) attestiert. Bedeutende Werke etwa von Picht (1964), der den Begriff der deutschen Bildungskatastrophe prägte, oder Dahrendorf (1965) mit seiner Thematisierung der ungleichen Verteilung von Lebenschancen befeuerten damals eine öffentlichkeitswirksame Diskussion zum Umbau des Bildungswesens. Teil der Debatte war eine ihren Herausforderungen nicht gerecht werdende Schulverwaltung, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein „Aspekt der Bildungskrise“ (Coombs, 1969, S. 140) ausmachte (Bruggen, 2001; Bessoth & Braune, 1977; Biewer, 1994). Diesbezügliche Reformvorschläge wurden neben anderen weitreichenden Modernisierungsideen vom Deutschen Bildungsrat (1970, 1973) formuliert. Sie kamen jedoch aufgrund des Streits um Zuständigkeiten zwischen Bund und Länder, parteipolitischer Zersplitterungen und Finanzierungsengpässen zum Erliegen und wurden erst Mitte der neunziger Jahre wieder aufgegriffen (Heinrich, 2007; Hepp, 2011).

Denn letztlich setzte sich die Einsicht durch, „dass Qualität schulischer Arbeit und Ergebnisse nicht zentral erwirkt bzw. angeordnet werden kann, sondern sich nur entwickelt, wenn die Akteure innerhalb einer Schule dies wollen und sie dabei unterstützt werden“ (Rolff, 2004, S. 99; vgl. auch Altrichter & Rürup, 2019). In der Hoffnung auf die „Optimierung des Steuerungshandelns“ (Rürup, 2007, S. 371) wurden hieraus folgend eine Reihe operativer Steuerungsentscheidungen von der Ebene der Bildungsverwaltung (dem ‚Prinzipal‘) auf die Ebene der Einzelschule (die ‚Agenten‘) verlagert (Tillmann, 1995; Bastian, 1998; Bellenberg et al., 2001; Böttcher, 2002; Klemm, 2005; Altrichter, Rürup, et al., 2016). Dies bedeutete, dass sich

die Behörden [...] in ihren Kontrollansprüchen ‚zurück‘ [nehmen], sie unterscheiden jetzt systematisch zwischen einer strategischen Führungsebene und einer operativen. Auf der ersteren werden Zielvorgaben und Leistungsaufträge formuliert und mit entsprechenden Globalbudgets versehen. Die operativen Einheiten, als welche die Schulen angesehen werden, können im Rahmen der Leistungsaufträge Organisationsform, Mittelverwendung und teilweise auch Lehrplanbereiche selbst bestimmen. (Fend, 2000, S. 65)

Damit wurde der Schule über die pädagogischen Handlungsmöglichkeiten hinaus erweiterte EigenständigkeitFootnote 3 zugestanden, die sich auch auf mehr Führungsverantwortung hinsichtlich schuleigener Entwicklungsprozesse erstreckt (Heinrich, 2007; Rürup, 2007; Wurster et al., 2020).

Weil das Schulwesen nach Artikel 7 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unter der Aufsicht des Staates steht, zogen diese Entwicklungen unweigerlich Veränderungen in der Schulaufsicht nach sich. Bevor diese skizziert werden, wird zunächst der Begriff Schulaufsicht in der für diese Studie ausreichenden Kürze begrifflich ausdifferenziert. Denn Schulaufsicht versammelt einerseits ein breites Spektrum administrativen Handelns hinter sich und steht andererseits als Synonym für eine Vielzahl staatlicher Schulverwaltungsinstanzen (Füssel, 2001a; Ackeren & Klein, 2020).

Der Kern der Schulaufsicht umfasst in erster Linie die Fachaufsicht über die Unterrichts- und Erziehungsarbeit der öffentlichen Schulen und beinhaltet die rechtmäßige und zweckmäßige Wahrnehmung der den Schulen zugewiesenen Aufgaben (Wissinger, 2022; Füssel, 2010; Heckel & Avenarius, 2000).Footnote 4 Im Konkreten überprüft die Schulaufsicht auf Landesebene, inwiefern das Handeln beispielsweise von Lehrkräften nicht nur mit den geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften übereinstimmt, sondern auch, inwiefern es „fachlich verantwortbar“ (Habermalz, 2001, S. 146) sowie „pädagogisch zweckmäßig und angemessen“ (Habermalz, 2001, S. 146) ist. Eine solche Begriffsauslegung bedient sich dem Verständnis der Schulaufsicht im engeren Sinne, mit der die Überwachung der inneren und äußeren Schulangelegenheiten durch staatliche Schulbehörden gemeint ist und versteht Aufsicht dabei – wie im Diskurs üblich – als Aufsicht über Schulen (Rürup, 2020). Ist die Aufsicht auf eine bestimmte Schulform bezogen, ist häufig die Rede von der zuständigen Schulaufsicht oder Schulformaufsicht (Rürup, 2020). In dieser Arbeit wird sich an das schulfachliche Aufsichtsverständnis angeschlossen und für die Schulformaufsicht der Einfachheit halber der Terminus Schulaufsicht verwendet.

Mit dem Begriff Schulaufsicht können auch die Behörden der staatlichen Schulverwaltung gemeint sein. Hierbei wird mit einem relativ feststehenden und gleichsam diffusen Begriff für Akteure operiert, „die sich zum einen nahe der Ebene der bildungspolitischen Zentrale […] befinden und sich zum anderen bis in die einzelnen Gebietskörperschaften hinein erstrecken“ (Brüsemeister & Newiadomsky, 2008, S. 73). Die behördliche Organisationsstruktur der Schulaufsicht unterscheidet sich in den deutschen Bundesländern, die entweder einstufig, zweistufig oder dreistufig aufgebaut ist (u. a. Bogumil, 2017). Eine detailliertere Betrachtung der Schulaufsichtsbehörden erfolgt für Nordrhein-Westfalen in Abschnitt 5.1.

Durch die oben geschilderte Entwicklung hin zur eigenständigen Schule, die ein bundeslandübergreifendes Phänomen darstellt, wurde ein neues Verhältnis von Schulaufsicht und Schule angemahnt.Footnote 5 So führte man Überlegungen aus den Siebzigern fort und erklärte „Beratung der Schule als System und die Begleitung von Schulentwicklungsprozessen“ (Burkard, 2001, S. 58) ergänzend zum schulaufsichtlichen Handlungsrepertoire (Brockmeyer, 1998; Burger, 2002; Burkard & Rolff, 1994; Fend, 1981; H. Lange, 2003; Rürup, 2007). Seither konzentrieren sich die Aufgaben des Staates

auf die Wahrnehmung von Führungs- und Leitungsfunktionen, sodass Kooperation, Koordination und Moderation in den Vordergrund treten, während auf Behördenhierarchien beruhende Weisungen von oben nach unten und entsprechende Kontrollmechanismen in den Hintergrund treten. (Avenarius & Hanschmann, 2019, S. 186)

Damit wird häufig der programmatische Anspruch einer durch Dialog und Wertschätzung gekennzeichneten Aufgabenwahrnehmung der Schulaufsicht verbunden, die auf Augenhöhe mit den Schulleitungen agiert und ihr Tun auf die UnterstützungFootnote 6 und Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Schule ausrichtet (u. a. Arnz & Klieme, 2020; Dedering, 2021). Insofern will sich die staatliche Verantwortung nicht mehr in Gestalt der Dienstvorgesetzten von oben, sondern eher in gemeinsamer Verpflichtung mit der eigenständigen Schule verstanden wissen (Baumert & Füssel, 2003; Biehl et al., 2004; Buchen & Burkard, 2002; E. D. Klein, 2021). Gleichzeitig existiert damit das Dilemma zwischen Kontrolle und Beratung bzw. Aufsicht und Unterstützung, welches gesetzlich ungelöst bleibt und worüber bis heute lebendig diskutiert wird (Füssel, 2001b; E. D. Klein & Bremm, 2020; Kluchert & Leschinsky, 2001; Rolff, 1998b).

Mit genannter Dezentralisierungsstrategie nahm Deutschland ältere Überlegungen zur Schule als „pädagogische Handlungseinheit“ (Fend, 1986, S. 275) wieder auf und schloss sich zudem an Entwicklungen westlicher Industrienationen zu marktwirtschaftlich geprägten Strukturveränderungen im Schulsystem an (z. B. für die Schweiz Kussau & Oertel, 1997; Maag Merki & Büeler, 2002; für Österreich Posch & Altrichter, 1997; Schratz, 1995). Schließlich folgten sie damit Empfehlungen internationaler Schulleistungsstudien, die „Schule ins Zentrum des Bildungsprozesses“ (OECD, 1991, S. 167) zu stellen. Denn sowohl die Schuleffektivitäts- als auch die SchulentwicklungsforschungFootnote 7 machten deutlich, dass „schools matter“ (Mortimore et al., 1988, S. 265). Dementsprechend wurde die Einzelschule als bedeutender Einflussfaktor für Veränderungen im Schulsystem, die Verbesserung der Lernleistungen der Schüler:innen und damit für die QualitätFootnote 8 von Schule identifiziert (Cohen, 1990; Creemers, 1994; Hopkins et al., 1994; Reynolds, 2005; Scheerens, 1990).

In den 90er Jahren wurde dann Schule zum „Motor der Entwicklung“ (Dalin et al., 1990, S. 34) deklariert, wodurch eine „politisch-administrative Handlungsaufforderung“ (Rürup & Heinrich, 2007, S. 160) impliziert wurde, Schulentwicklung zu betreiben. Dass Schulentwicklung von nun an „in Verantwortung der Schule“ (Brüsemeister, 2020, S. 41) liegt, ist auch in gängigen Begriffsverständnissen von Schulentwicklung dieser Zeit eingeschrieben. So spricht Dedering (2012) in dem Zusammenhang von einer „systematische[n] Weiterentwicklung von Einzelschulen“ (S. 6) im Sinne „eine[r] bewusste[n] und absichtsvolle[n] Veränderung […], die von den Mitgliedern der Einzelschulen selbst vorgenommen wird“ (S. 6; siehe auch Schulentwicklung 1. Ordnung bei Rolff, 1998a). Diese Veränderung kann in Anlehnung an das Drei-Wege-Modell nach Rolff (2013) in drei Bereichen erfolgen: Organisationsentwicklung, Personalentwicklung und Unterrichtsentwicklung, in deren Zentrum die Verbesserung der Lerngelegenheiten der Schüler:innen steht (vgl. auch Burow et al., 2020).

Anfänglich findet sich eine deutliche Orientierung zur Organisationsebene und zum organisationalen Wandel, der sich in der Fokussierung von Organisationentwicklung bei Rolff (1998a) als Schulentwicklung 2. Ordnung niederschlägt.Footnote 9 Dieser Entwurf von Schule kulminiert in der Vorstellung von lernenden Organisationen, was bedeutet, dass sie „eigene Entwicklungsziele aufstellen und Wege finden, diese Ziele auch zu erreichen“ (Abs & Klein, 2018, S. 680; ursprünglich Argyris & Schön, 1999; vgl. auch Maag Merki, 2020; kritisch z. B. Bormann, 2000; Tacke, 2005; Böttcher, 2017a). Wie Bellmann (2016) zusammenfasst, wird „das Konzept von Schulentwicklung als Organisationsentwicklung […] in Deutschland also als Umstellung von bürokratischem Zentralismus auf dezentrales Organisationslernen eingeführt“ (S. 18). Besondere Aufwertung erfährt in diesem Zuge die Schulleitung, die nunmehr als „Schlüsselfaktor für Qualität und Wirksamkeit von Schule“ (S. G. Huber, 2008, S. 99) und „Führungsperson bzw. Gestalter von Schulentwicklung“ (Abs & Klein, 2018, S. 680) angesehen wird (Bonsen, 2016; W. Fuchs, 2015a; Rosenbusch & Schlemmer, 1997; Wissinger, 2019).

Zusammengenommen kristallisiert sich mit diesen Entwicklungen ein „Wendepunkt in der Betrachtung von Schulleitungen“ (Bonsen, 2019, S. 383) und ein „Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Schulaufsicht“ (Arnz & Klieme, 2020, S. 34) heraus. Dies führt schließlich auch dazu, dass ihre Beziehung zueinander und ihre Kommunikation miteinander an Bedeutung gewinnt (Bogumil et al., 2016; Brüsemeister, 2012b; Ennuschat, 2017; E. D. Klein & Bremm, 2020).

Dass jedoch die Verlagerung von Kompetenzen und Zuständigkeiten „hin zu den Einzelschulen noch kein Garant für die Verbesserung von Schule ist“ (Rosenbusch & Huber, 2018, S. 751), zeigte sich mit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahr 2001, die noch viel eindrücklicher und medienwirksamer den Schock-Moment der Leistungsschwäche deutscher Schüler:innen dokumentierten. Folglich musste sich auch die Schulaufsicht „angesichts der negativen Befunde über die von ihr organisierten, gestalteten und kontrollierten Schulen fragen lassen, wie sie es denn zu solchen Ergebnissen hat kommen lassen“ (Stryck, 2000, S. 112, Herv. i. O.; vgl. Wissinger, 2022). Stellvertretend für eine breite Kritik kann hier die viel zitierte Einschätzung von Maritzen (2008) herangezogen werden, in der er Folgendes summiert:

Erstens [ist] schulaufsichtliches Handeln in entscheidenden Qualitätsfragen von ‚durchschlagender Wirkungslosigkeit‘ gekennzeichnet […] und zweitens [rückt] die Dimension der inhaltlichen Qualitätssicherung von Unterricht und Schulen nicht ausreichend in den Horizont der Schulaufsicht. (S. 88, Herv. i. O.)

Zumindest war bis dahin Qualitätskontrolle etwa durch Evaluation – wie sie damals beispielsweise schon in England oder den Niederlanden praktiziert wurde – in Deutschland „nie wirklich eine zentrale und – wo sie denn stattfand – folgenreiche Signatur des Systems“ (Stryck, 2000, S. 116; vgl. Kotthoff et al., 2016; Altrichter & Kemethofer, 2016).

Die anhaltende Kritik beförderte schließlich das „öffentliche Ansinnen auf Rechenschaftslegung“ (Stryck, 2000, S. 112) und brachte die bildungspolitischen Verantwortlichen in Zugzwang, „Modernisierungsabsicht glaubhaft zu machen und auf diese Weise entstandene Vertrauens- und Legitimationsverluste zu kompensieren“ (Weiß, 2002, S. 21). So wurden in Folge der Post-PISA-Diskussion eine Reihe von bildungspolitischen Empfehlungen und Maßnahmen hervorgebracht, welche bundeslandübergreifend in Form der Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring der Kultusministerkonferenz (KMK) in die Steuerungsagenda der Länder diffundieren (KMK, 2006, 2015). Dazu zählen etwa die Teilnahme an Schulleistungsstudien, Überprüfung und Umsetzung von Bildungsstandards, Lernstandserhebungen oder Vergleichsarbeiten und nationale Bildungsberichterstattung. Die Konstanzer Beschlüsse der KMK von 1997 wiederaufnehmend wird von nun an der Fokus auf „Prozesse und Ergebnisse des Lernens“ (KMK, 2006, S. 6) gelegt und damit die Orientierung am Ergebnis bzw. OutputFootnote 10 propagiert. Mit dem „Management by Objectives“ (Böttcher, 2012, S. 32) tritt nun die zweite Modernisierungswelle in der Schulsystemsteuerung ein und führt so zu einem „grundlegenden Wechsel des Steuerungsparadigmas“ (Rolff, 1995, S. 377).Footnote 11

Begünstigt durch die Konjunktur der Bildungsforschung in Fragen nach guter Schulqualität und dem Trend hin zu wissenschaftlich fundierten Entscheidungen in der Bildungspolitik wird die externe Generierung von Steuerungswissen über die Schulen durch datengestützteFootnote 12 Instrumente vorangetrieben. Obwohl nicht originär in der KMK-Strategie verankert, haben in diesem Aufbau wirkungsorientierter Verfahren auch Schulinspektionen ihren Platz und gelten als eine, wenn nicht die bedeutende, Maßnahme nach PISA (Brüggemann et al., 2011; Döbert et al., 2008).Footnote 13 Ihre Einführung kann nach Burkard (2005) als Pendant zur erweiterten Eigenständigkeit der Schule und als Antwort auf die „Krise der Schulaufsicht“ (Maritzen, 2008, S. 88) interpretiert werden. Denn im Konglomerat von „Maßnahmen der Re-Zentralisierung“ (Böttcher & Keune, 2012, S. 63) stellt ein solches Verfahren für die Schulaufsicht „eine Möglichkeit dar, die Beliebigkeit der Handlungen von Schulen stärker einzuschränken“ (Ackeren & Klein, 2020, S. 872; vgl. Gördel, 2015). Damit wird wieder einmal das schulaufsichtliche Handlungsfeld verändert, und zwar dergestalt, dass in Deutschland Inspektorate als neue „Alternative zum bisherigen schulaufsichtlichen Agieren“ (Füssel, 2008, S. 153) errichtet wurden. Insofern wurde ein „Arbeitsaspekt der Schulaufsicht verselbstständigt, aufgewertet und professionalisiert“ (Rürup, 2008, S. 469), der zuvor eher klassischen Schulaufsichtsbehörden zugeordnet war (Brägger et al., 2005; Döbrich et al., 2008). Während Maritzen (2006) die von der Schulaufsicht getrennte Institutionalisierung als Diskreditierung und „Machtverlust“ (S. 25) der etablierten Akteure interpretiert, betont Stryck (2000) den wesentlichen Anteil der Schulaufsicht an diesem Instrument. Denn seiner Meinung nach entscheidet

über die Lernchancen des Systems mittels Evaluationen [...] nicht unwesentlich die organisationale Intelligenz der Schulaufsicht. Von ihr hängt es ab, ob die generierten Daten zu Informationen verarbeitet werden, die von den Schulen als für ihre Programmatik, Selbstkonzeptionierung und Steuerungspraxis relevant identifiziert werden können: Es muss sich für die systemimmanente Operationslogik der Schulen ein ‚Sinn‘ ergeben. (Stryck, 2000, S. 123)

Ähnlich wie Stryck (2000) sehen auch Kuper et al. (2016) die Schulaufsicht in einer erfolgssichernden Rolle bei der Nutzung von Daten und auch Lange (2003) argumentiert, dass ein solches primär entwicklungsorientiertes Inspektionsinstrument „zur Gretchenfrage für Wirkungsweise und Wirkungsmöglichkeiten der Schulaufsicht [wird]“ (S. 143; vgl. Abschn. 2.3.1). Hieran zeigt sich, dass die Schulaufsicht im Rahmen ihrer originären Aufsichtsfunktion von nun an stärker und unter Rückgriff auf Daten u. a. der Schulinspektion mit der systemischen Unterstützung der Qualitätsentwicklung der Schulen betraut wird (Dedering, 2021; Röder & Manitius, 2020). Rolff (1998a) systematisiert dies als „Schulentwicklung 3. Ordnung oder als komplexe Schulentwicklung“ (S. 326) und meint damit, dass

die Entwicklung von Einzelschulen [...] eine Steuerung des Gesamtzusammenhangs voraus[setzt], welche Rahmenbedingungen festlegt, die die einzelnen Schulen bei ihrer Entwicklung nachdrücklich ermuntert und unterstützt, die Selbstkoordination anregt, ein Evaluations-System aufbaut (sowie möglicherweise im Nachhinein) und auf Distanz korrigiert. (Rolff, 1998a, S. 326)

Mit diesem dritten Ordnungstyp im Sinne datengestützter Schulentwicklung rücken Fragen nach der Qualität pädagogischer Arbeit in einen Systemzusammenhang und so öffnet sich nach Berkemeyer (2010) „das Feld der Schulentwicklungsforschung endgültig für die Erforschung von Steuerungsprozessen“ (S. 51). Dies lässt sich auch daran verdeutlichen, dass das obige Zitat von Rolff (1998a) Parallelen zu heutigen Steuerungsversuchen der Schulaufsicht aufweist (Ackeren & Klein, 2020). Fortan taucht der Begriff Steuerung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nicht mehr nur am Rande zu Schulentwicklung und Schultheorie auf, sondern als eigenständiges Phänomen. Aufbauend auf geschilderten Umsteuerungsmaßnahmen wird das Verständnis Neuer Steuerung nun pointiert erörtert, bevor ihr zentrales Steuerungsproblem konturiert und aktuelle Entwicklungen dargestellt werden.

Unter dem Begriffspaar Neue Steuerung avanciert ein erweitertes Verständnis von Steuerung, was von der Beteiligung vieler Steuerungsakteure ausgeht, die von Eigendynamiken geprägt und lediglich indirekt zu beeinflussen sind (Altrichter & Maag Merki, 2016b; Berkemeyer, 2010; Lambrecht, 2018; Schimank, 2009). Insofern versteht sich Steuern – im Bewusstsein um nicht intendierte Ergebnisse – nunmehr als Versuch der „Lenkung des Verhaltens von Akteuren, um Änderungen in Richtung auf festgelegte Ziele zu erreichen“ (Benz, 2004b, S. 20; vgl. Ackeren et al., 2015; empirische Erkenntnisse zu Nebenfolgen Neuer Steuerung siehe u. a. Bellmann et al., 2016).Footnote 14 Im Gegensatz zu den planungsdeterministischen, direkten Steuerungsversuchen der siebziger Jahre begreift sich heutige Steuerung damit als Steuerung auf Distanz und wird auch als dezentrale Kontextsteuerung betitelt. Zlatkin-Toitschanskaia (2007) benennt unter Rückgriff auf Willke (1989), der das Konzept zur dezentralen Kontextsteuerung entwickelt hat, drei zentrale Elemente, die sich auch in obiger Beschreibung wiederfinden: (1) die Definition eines öffentlichen Interesses, (2) die Anleitung zur Selbststeuerung der Funktionssysteme und (3) die Einführung kontextueller Kontrollinstrumente.

Ein zentrales, bereits von Rolff (1998b) identifiziertes Problem Neuer Steuerung besteht in der „Koppelung der Entwicklung des Gesamtsystems mit der Entwicklung von Einzelschulen“ (Ackeren & Klemm, 2018, S. 694; vgl. H. Lange, 2003; Berkemeyer, 2010). Versuche, dieses Problem konzeptuell zu rahmen, bedienen sich häufig Weicks (1976) Figur der Schulen als „loosely coupled systems“ (S. 1). Seine organisationstheoretischen Überlegungen zur Schule kreieren dabei folgendes Bild: „The principal and the counselor are somehow attached, but […] each retains some identity and separateness“ (Weick, 1976, S. 3). Die gängige deutsche Übersetzung der „lose[n] Kopplung“ (Kuper, 2020, S. 99) wird häufig mit „schwache[n] Bindungen“ (H.-W. Fuchs, 2004, S. 208), wenig Verbindlichkeit und kaum Ansatzmöglichkeiten der Veränderung oder Einflussnahme konnotiert (Abs & Klein, 2018; Muslic, 2020; Dietrich, 2016). Allerdings ist dieses Begriffsverständnis zu einseitig, weil systemfunktionale Aspekte, etwa der notwendige Grad an „Flexibilität bei der Einstellung auf neue Umweltbedingungen“ (Terhart, 1986, S. 211), übersehen werden (Berkemeyer, 2010, 2020; Brüsemeister, 2012a).

In der Bearbeitung des Steuerungsproblems geht es folglich nicht um die Wiederbelebung eines direkten administrativen Zugriffs auf die Einzelschule, sondern darum, „[to] explicate what elements are available in Educational Organizations for Coupling. This activity has high priority because it is essential to know the practical domain within which the coupling phenomena occur“ (Weick, 1976, S. 16). Anders ausgedrückt wäre Weick (1976) zufolge damit ferner folgende Frage zu beantworten: „how does it happen that loosely coupled events which remain loosely coupled are institutionally held together in one organization which retains few controls over central activities?“ (S. 14). Während Berkemeyer (2010) noch vor zehn Jahren herausstellte, dass im Schulsystem über solche „Kopplungsstellen und die Möglichkeiten ihrer Einrichtung und Ausgestaltung […] insgesamt jedoch nur wenig nachgedacht [wird]“ (S. 77), lässt sich aktuell eine neue Dynamik in dieser Debatte erkennen.

So mehren sich kürzlich Beiträge im deutschsprachigen Steuerungsdiskurs zum Potential von grenzüberschreitender Koordination „für die Qualitätsentwicklung von Schulen“ (Dobbelstein et al., 2020, S. 390) sowie zur Notwendigkeit der Prüfung von Interdependenzbezügen hinsichtlich ihrer Funktionalität und damit verbunden „Vorschläge, die auf eine Veränderung der Koordinationsverhältnisse zwischen den Schnittstellen im System hinauslaufen“ (Altrichter, 2011, S. 126; u. a. auch Diedrich, 2020; S. G. Huber, 2020).

Vorausgesetzt es besteht Klarheit über ZieleFootnote 15, würde der Schulaufsicht in diesem Interdependenzmanagement eine zentrale Rolle zufallen, und zwar nicht nur in Bezug auf die Verantwortungsgemeinschaft mit der Schule, sondern auch hinsichtlich regionaler Vernetzung und koordinierter Zusammenarbeit mit anderen Systemebenen (Arnz & Klieme, 2020; Buchen & Burkard, 2002; Burger, 2002; Diedrich, 2020; Füssel, 2010; Götze & Zurwehme, 2016; H. Lange, 2003; Luig & Böttcher, 2021; Schratz & Wiesner, 2021).

Allerdings sieht sich die Schulaufsicht in Deutschland selbst heute mit einer Reihe von Missständen und Dauerbaustellen konfrontiert, die wie folgt zusammengefasst werden können:

  • Uneinheitlichkeit, mangelnde Transparenz und Widersprüchlichkeit im Behördenaufbau bzw. der strukturellen Architektur der Schulaufsicht

  • Aufgabenveränderung und Verdichtung, die mit starker Arbeitsbelastung und unzureichender Ressourcenausstattung einhergehen

  • Fehlender Ansatz ihrer systematischen Personalentwicklung und Qualifizierung

  • Endlose Diskussionen um Leitbild, Rollenverständnis und die Verteilung von Verfügungsrechten. (Luig & Böttcher, 2021, S. 60)

Obschon die Transformation der Schulsteuerung zu Veränderungen für Schule und Schulaufsicht geführt hat, resultieren die genannten Missstände schlicht aus dem Umstand, dass, „die Schulaufsicht […] im letzten Jahrzehnt kein Thema vorausschauender, steuernder Bildungspolitik [war]“ (Heinemann et al., 2017, S. 8; vgl. Brüsemeister, 2020). In der Folge wird seit mehr als 20 Jahren konstatiert, dass sich Schulaufsicht im Umbruch bzw. im Wandel befinde und man Rollen und Aufgaben neu denken müsse (Burkard, 2001; Hofmann, 2001; S. G. Huber et al., 2020; Hund & Lücke-Deckert, 2015; Rosenbusch, 1994; Weitzel, 2015). Kurz gesagt geht es heute immer noch darum, „den Akzent auf Beraten, Unterstützen und Evaluieren zu setzen“ (Wissinger, 2022, S. 215; vgl. für die Schweiz Dubs, 2019; für Österreich Juranek, 2019).

Ein besonderes Problem der Schulaufsicht liegt in der Arbeitsverdichtung und -veränderung verbunden mit einer fehlenden „strategische[n] Aufstellung der Ministerialverwaltung“ (Heinemann, 2020, S. 20). Denn Umstrukturierungen geschahen laut der damaligen Vorsitzenden der Konferenz der Schulaufsicht in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (KSD) Ulrike Weitzel (2015) „meist im Nachgang zu Reformen, häufig verwaltungstechnisch oder finanziell und nicht pädagogisch begründet“ (S. 18; vgl. Heinemann, 2017, 2020; Rürup, 2020; Weishaupt, 2014). Weil in der anvisierten Neuausrichtung der Schulaufsicht nicht von vornherein strukturelle Änderungen mitbedacht wurden, steht das heutige „Selbstverständnis der Schulaufsicht […] häufig im Widerspruch zu ihrer Struktur“ (Weitzel, 2015, S. 15). Die seit Jahrzehnten viel diskutierte und als dringend erachtete Reform der Schulverwaltung hat es bis heute nicht gegeben (Arnz & Klieme, 2020; Bott, 2012; Diedrich & Maritzen, 2020; Ennuschat, 2017; W. Fuchs, 2015b). Und das, obwohl es diesbezüglich diverse Empfehlungen gegeben hat und es auch heute nicht an Ideen zur zukünftigen Schulaufsicht mangelt (älteste Empfehlung: Deutscher Bildungsrat, 1974; für NRW siehe Abschn. 5.1; aktuellere Entwürfe: KSD, 2017; aus Schulaufsichtsperspektive Arnz & Klieme, 2020; aus Schulleitungsperspektive Thiel & Wendland, 2020).Footnote 16 Dazu gehören auch obige Überlegungen zum Interdependenzmanagement bzw. zur Schnittstellenarbeit im Schulsystem, die derzeit (wieder) en vogue zu sein scheinen und insgesamt als „Plädoyer für ein koordiniertes Zusammenspiel in der Schulsystemgestaltung“ (Steffens, 2009, S. 277) gewertet werden können. Diese sind letztlich mit der Hoffnung verbunden, „über ein adäquates Netzwerkmanagement für eine Steigerung der Schulqualität zu sorgen“ (Böttcher & Hogrebe, 2008, S. 17). Ähnlich plädiert auch Tulowitzki (2019a) kürzlich für folgenden Perspektivwechsel:

Looking more broadly at the middle tier of an educational system, a move away from a managed bureaucracy in which there is limited accountability at any level and towards a more egalitarian, network-link connection of systems might seem like a step in the right directions. (S. 576)

Mit einem solchen „Netzwerkcharakter des Regierens“ (Blumenthal, 2005, S. 1160) und dem Gedanken der wechselseitigen Beeinflussung mehrerer Akteure verbinden einige Autoren aus der Verwaltungswissenschaft etwa Gördel (2016) oder Jann und Wegrich (2004) auch den Begriff Governance als „Gegenbegriff“ (Mayntz, 2004, S. 66) zum traditionellen Steuerungsbegriff. In dieser Arbeit soll mit dem Begriff Governance jedoch keine „begriffliche oder praktische Alternative zu Steuerung“ (Altrichter & Maag Merki, 2016b, S. 8) entworfen werden. Stattdessen geht es vielmehr darum, hiermit eine wissenschaftliche und in dieser Arbeit eingenommene Perspektive ins Spiel zu bringen, deren Kernelemente nachfolgend erörtert und so für die Studie nutzbar gemacht werden.

2.2 Der Forschungsansatz der Educational Governance

In diesem Kapitel wird die Educational Governance als erziehungswissenschaftliche Forschungsperspektive eingeführt, die Ausdruck einer spezifischen Sichtweise auf das Phänomen Steuerung darstellt und für die vorliegende Studie den analytischen Bezugsrahmen bildet. Weil mit den zentralen Kategorien dieser Perspektive (Mehrebenensystem, Akteur und Akteurskonstellation und Handlungskoordination) in den nachfolgenden Kapiteln gearbeitet wird, erfolgt nun ihre begriffliche wie inhaltliche Präzisierung.

Als Educational Governance, Governanceperspektive oder Governanceforschung wird ein Forschungsansatz bezeichnet, der einen analytischen Zugriff auf Steuerungsfragen ermöglicht und sie „im breiteren Kontext von Fragen der sozialen Gestaltung in komplexen Systemen thematisiert“ (Altrichter & Maag Merki, 2016b, S. 7, Herv. i. O.) Diese veränderte „Sichtweise auf die Realität“ (Benz et al., 2004, S. 6) wurde aus der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung adaptiert und findet seit geraumer Zeit im Bildungswesen Anwendung.

Vereinbar mit dem geschilderten Neuen Steuerungsverständnis – etwa, dass mehrere Akteure in Steuerungsprozesse involviert sind, – ist der analytische Begriff weitaus offener für alle Formen sozialer Handlungskoordination (Altrichter & Maag Merki, 2016b; Kussau & Brüsemeister, 2007a; Mayntz, 2005; Schimank, 2007). Und so rückt in der Analyse von Steuerungsprozessen „jegliche Art des Managements von Interdependenzen“ (Blumenthal, 2005, S. 1154) in den Fokus der Betrachtung. In der Bildungsforschung untersucht Governance „das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Transformation sozialer Ordnung und Leistung im Bildungswesen unter der Perspektive der Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteuren in komplexen Mehrebenensystemen“ (Altrichter & Maag Merki, 2016b, S. 8, Herv. i. O.). Vor diesem Hintergrund besteht das Erkenntnisinteresse der Educational Governance darin, „die Akteure, Mechanismen, Verfahren, institutionellen Arrangements und Deutungsmuster zu erkunden, die wirksam sind, damit das kollektive Gut Schule entstehen, verändert und sogar verbessert werden kann“ (Kussau & Brüsemeister, 2007b, S. 15, Herv. i. O.).

Die vorliegende Arbeit macht sich diese Forschungsperspektive zu eigen und zielt entsprechend darauf ab, die Handlungskoordination relevanter Akteure bei der Qualitätsanalyse in Nordrhein-Westfalen „[zu] verstehen, [zu] erklären sowie Strategien für deren Gestaltung [zu] entwickeln“ (Altrichter & Maag Merki, 2010b, S. 27, Herv. i. O.). Anders ausgedrückt geht es darum, „bestimmte Koordinationsdefizite oder -leistungen sichtbar zu machen“ (Altrichter & Maag Merki, 2010b, S. 22), um dadurch idealerweise „handlungsleitendes Wissen“ (Heinrich, 2011, S. 38) zur Verfügung zu stellen. Der Begriff Governance wird also hier als eine Betrachtungsweise verstanden, die deshalb für die vorliegende Arbeit geeignet ist, da sie

eine Leitlinie für die Analyse komplexer Strukturen kollektiven Handelns [gibt]. Wenn wir den Begriff verwenden, so stehen wir damit vor der Aufgabe, seine Merkmale kontextbezogen zu präzisieren und die analytische Perspektive mit geeigneten Theorien und Methoden der empirischen Forschung umzusetzen. Erst daraus lassen sich für die Praxis relevante Aussagen gewinnen. Insofern steht man mit dem Governance-Begriff immer am Beginn der wissenschaftlichen Arbeit. (Benz, 2004a, S. 27)

Bevor jedoch die Merkmale kontextbezogen präzisiert, d. h. im Fall der vorliegenden Studie für die Schulinspektion konkretisiert werden können, werden nun zunächst die Hauptkategorien, die sich anderenorts als aufschlussreich für Governanceanalysen ergeben haben, eingeführt. Diese sind Mehrebenensystem, Akteure bzw. Akteurskonstellationen und Modi der Handlungskoordination (Heinrich, 2011; Maag Merki & Altrichter, 2015).

Mehrebenensystem

Für das Schulwesen ist der Verweis auf das Konzept des Mehrebenensystems und damit „auf die Bedeutung der unterschiedlichen Ebenen notorisch“ (Heinrich, 2007, S. 44). Von diesem wird gesprochen, „wenn zwar die Zuständigkeiten nach Ebenen aufgeteilt, jedoch die Aufgaben interdependent sind, wenn also Entscheidungen zwischen Ebenen koordiniert werden müssen“ (Benz, 2004c, S. 127). Folglich fungiert das Mehrebenensystem in der Educational Governance als Analyserahmen, „mit dem sich die Interdependenz, die Interdepenzbewältigung und das Interdependenzmanagement der Akteure studieren lassen“ (Kussau & Brüsemeister, 2007a, S. 32). Einige Autoren unterscheiden zwischen folgenden formalen Ebenen: der Mikroebene des Unterrichts, der Mesoebene der Einzelschule, der intermediären oder auch Exoebene, welche die Schulaufsicht, die Schulinspektion und weitere UnterstützungssystemeFootnote 17umfasst, und schließlich die Makroebene des gesamten Schulsystems oder auch Zentrale, welche die bildungspolitische Führung bzw. die Landesregierungen mit dem für das Bildungswesen zuständigen Ministerium abbildet (Altrichter, 2015, 2019; Altrichter & Heinrich, 2007; Brüsemeister, 2007; Dedering, 2012). Den intermediären Akteuren wird eine besondere Bedeutung für Governanceanalysen zugesprochen, weil „ihre Tätigkeit meist gerade darauf ausgerichtet ist, zur Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteuren beizutragen – z. B. durch Aufsicht, durch Fortbildung oder Beratung“ (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 61). Ferner ist von Veränderungen der Koordination auszugehen, wenn neue Akteure wie etwa die Inspektorate ins Spiel kommen (vgl. Abschn. 2.3.1).

Diese formalen Grenzen werden bei Interaktionen der Akteure unterschiedlichster Ebenen sowohl vertikal als auch horizontal überschritten. Deshalb ist das Ebenen-Konzept auch als „Platzhalter für grenzüberschreitende Koordinationen“ (Kussau & Brüsemeister, 2007a, S. 32 f.) zu verstehen und erklärt „die Koordinationsform zwischen verschiedenen Systemmitspielern zu einer empirischen Frage“ (Altrichter et al., 2007b, S. 11). Darüber hinaus besteht im Mehrebenenkonzept die Annahme, dass die Akteure ebenenspezifischen Handlungslogiken folgen (Altrichter, 2015). Damit ist gemeint, dass Handlungen der Akteure durch explizite oder implizite Absichten, Eigeninteressen und normative Zielvorstellungen geleitet sind. Infolgedessen erfordert ein Steuerungsimpuls immer „aktive Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Übersetzungsleistungen“ (Altrichter & Maag Merki, 2016a, S. 5). Ähnlich geht auch Fend (2006) in seinem Konzept der Rekontextualisierung davon aus, dass Akteure „Übersetzungsleistungen von Bildungsaufträgen“ (S. 174) vollziehen. Diesbezüglich führt er aus:

Das Handeln auf der jeweiligen Ebene impliziert immer, dass die übergeordnete Ebene für die untergeordneten als Kontext präsent ist, aber im Rahmen der ebenenspezifischen Umweltbedingungen und Handlungsressourcen reinterpretiert und handlungspraktisch transformiert wird. Die übergeordnete Ebene bleibt also erhalten, wird aber gleichzeitig verändert. (Fend, 2006, S. 181)

Weil davon auszugehen ist, dass normative Horizonte und akteursspezifische Einstellungen das Steuerungshandeln verschiedener Akteure prägen und Interaktionen untereinander beeinflussen, sind diese stets Teil governanceanalytischer Studien und von daher „als eine Bezugsgröße zu erheben“ (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 69, Herv. i. O.). Darüber hinaus deutet obiges Konzept von Fend (2006) darauf hin, dass es zu Modifikationen der ursprünglich intendierten Wirkungen von Steuerungsimpulsen kommen kann. Handlungen können durch die Verfolgung eigener Interessen unterlaufen, transformiert oder gerechtfertigt werden, sodass Prozesse anders laufen können als geplant und Ergebnisse nicht erwartungskonform sind. In Governanceanalysen ist dieses Phänomen am ehesten unter der Intentionalität und Transintentionalität der Handlungsabfolgen bekannt (Altrichter, 2015; Altrichter & Heinrich, 2007; Altrichter & Maag Merki, 2016b).Footnote 18 Nachfolgende eigene Modellierung in Abbildung 2.1 soll die anfangs erwähnte Ebenen-Unterscheidung und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen abschließend grafisch festhalten. Im Vergleich zu anderen Darstellungen ist diese Modellierung gegenstandsadäquat, weil damit die intermediäre Ebene entsprechend ausdifferenziert wird und grafische Hinweise inkludiert sind, welche die grenzüberschreitende Koordination andeuten (Berkemeyer, 2010; Fend, 2006; Zlatkin-Troitschanskaia, 2006).

Abb. 2.1
figure 1

Handlungsebenen im schulischen Mehrebenensystem in Anlehnung an Magnus (2016, S. 100)

Akteure und Akteurskonstellation

Mit dem Begriff Akteur werden in der Soziologie sozial Handelnde bezeichnet, deren „Handlungswahlen in soziale Situationen [eingebettet sind] und geprägt werden von den sozialen Strukturen, die diese Situation kennzeichnen“ (Schimank, 2010, S. 44). Dabei bezieht sich der Begriff Akteur nicht nur auf individuelle Einzelpersonen, sondern kann auch für überindividuelle bzw. organisierte Akteure verwendet werden. Überindividuelle Akteure stellen eine Konstellation individueller Akteure dar, mit deren Handeln „eine übergreifende Zielsetzung verfolgt wird“ (Schimank, 2010, S. 329, Herv. i. O.). Synonym zum Begriff des überindividuellen Akteurs wird in dieser Arbeit der Begriff der Akteursgruppe etwa für die Schulaufsicht genutzt (vgl. Abschn. 5.1) Eine Herausforderung besteht darin, Akteursverhalten nicht zu schnell einem überindividuellen Akteur zuzuschreiben und damit zu generalisieren und wachsam für individuelle Problemwahrnehmungen oder Interpretationsmuster der einzelnen Akteure zu bleiben (Altrichter & Heinrich, 2007).

In der Governanceforschung sind diese individuellen oder überindividuellen Akteure die Erhebungseinheit, weil sie sich hinsichtlich ihrer Handlungsabsichten, -ziele und -strategien sowie ihrer Handlungskapazitäten und -ressourcen befragen lassen (vgl. Abschn. 6.1). Im Mittelpunkt von Governanceanalysen steht allerdings das handelnde Zusammenwirken der Akteure, also die Akteurskonstellation als Analyseeinheit. Die Akteurskonstellation beinhaltet wie im Eingangszitat von Schimank (2010) angedeutet Strukturelemente, die in der Educational Governance als Regelungsstrukturen bezeichnet werden. Diese sind „gleichermaßen vorausgesetzter Kontext des Handelns als auch Gegenstand von formellen und informellen Gestaltungsbemühen der Akteure“ (Altrichter, 2015, S. 28). Das heißt, sie offerieren Handlungsspielräume, grenzen Handlungsoptionen ein, beeinflussen Erwartungen und werden durch die Handlungen selbst (re-)produziert (Kussau & Brüsemeister, 2007a). Zu diesen gehören zum einen Verfügungsrechte zum Treffen von Entscheidungen, die durch Gesetze, Verordnungen oder Handlungsanweisungen formale Umsetzungsvorgaben und normative Regeln setzen und zum anderen Verfügungsfähigkeiten im Sinne materieller und immaterieller Ressourcen wie Geld, Zeit oder Kompetenzen (Altrichter & Heinrich, 2007; Braun, 2001; Giddens, 1992). Hieraus ergeben sich insgesamt unterschiedliche Beteiligungs- und Einflusschancen der Akteure, die neben dem „Einfluss von je individuellen Identitätsansprüchen, Rollenfähigkeiten und Nutzenkalkülen zu höchst unterschiedlichen lokalen Konstellationsgefügen [führen]“ (Brüsemeister, 2012a, S. 32).

Zusammengenommen prägen die Regelungsstrukturen die wechselseitigen Abhängigkeiten der Akteure bzw. ihre Interdependenz, gerade weil in ihnen „wesentliche Angebote zur Handlungskoordination ‚aufbewahrt‘ [werden]“ (Maag Merki & Altrichter, 2015, S. 400). Insofern sind sie für Verhaltensbeiträge der Akteure in einer bestimmten Konstellation erklärungskräftig und daher stets Teil governanceanalytischer Studien (siehe Abschn. 2.1, Kap. 5).

In Beiträgen, die sich der Educational Governance verschreiben, wird ferner mehrfach betont, dass die Perspektiven der einzelnen Akteure rollenspezifisch sind, Rollenerwartungen bestehen und Rollenverständnisse die Interaktion untereinander prägen (z. B. Preuß et al., 2015). Dies wird allerdings – auch in aktuellen Theorieüberlegungen im Band von Langer und Brüsemeister (2019) – zumeist nur kurz thematisiert und kaum tiefergehend theoretisch gerahmt oder ausdifferenziert. Auch werden beispielsweise in der Studie von Brüsemeister et al. (2016), in der das Rollenverständnis verschiedener Akteure bei der Schulinspektion empirisch aufgearbeitet wird, die herausgestellten „Rollenbegrenzungen“ (S. 70) oder „Rollendilemma“ (S. 85) nicht mit theoretischen Überlegungen zum soziologischen Rollenbegriff in Beziehung gesetzt. Aus der Überzeugung heraus, dass diese Theorieperspektive zur Schärfung und Konturierung der empirischen Verhältnisbestimmung in der Akteurskonstellation beitragen kann, erfolgt nun ein kurzer Exkurs. Auf nachfolgende Ausschnitte aus der soziologischen Rollentheorie wird in der Zusammenschau der empirischen Ergebnisse in Kapitel 4 sowie in der Interpretation der empirischen Erkenntnisse insbesondere in Abschnitt 8.2 Bezug genommen.

Exkurs zum Rollenbegriff

Als „noch immer mustergültige Kodifizierung“ (Schimank, 2010, S. 59) der Rollentheorie gelten Dahrendorfs Ausführungen zur sozialen Rolle, die in diesem Exkurs um die Spezifizierung von Rollenerwartungen und Voraussetzungen von Rollenhandeln – wie sie Schimank (2010) modernisiert hat – ergänzt werden. „Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“ (Dahrendorf, 1958, S. 144). Diese sind mit der sozialen Position eines Akteurs, dem „Ort in einem Feld sozialer Beziehungen“ (Dahrendorf, 1958, S. 141) verbunden (s. o. zur Akteurskonstellation). Aus dem Umstand, dass Akteure als Positionsinhaber:innen mit mehreren Anderen zueinander in Beziehung stehen, ergeben sich vielfältige Rollenerwartungen, die die Akteure einander gegenüber hegen. Die Gesamtheit der an eine Person gerichteten Rollenerwartungen ergibt sich aus den entsprechenden „Rollensegmenten“ (Dahrendorf, 1958, S. 144). Zum Beispiel wird von Schulaufsichtsbeamt:innen sowohl Aufsicht als auch Beratung erwartet (vgl. Abschn. 2.1). Macht sich der betreffende Akteur die Rollenerwartungen zu eigen, spricht man auch von „sozialisatorische[r] Internalisierung von Rollenerwartungen“ (Schulz-Schaeffer 2018, S. 389). Diese bleiben „längerfristig nur dann stabil […], wenn sie eine mindestens latente Bestätigung von der Bezugsgruppe erhalten“ (Schimank, 2010, S. 62). Dabei hängt der Prozess der Rollenübernahme von mehreren Voraussetzungen ab, die Schimank (2010) wie folgt beschreibt:

  • Die Rollenerwartungen verschiedener Bezugsgruppen sind ohne weiteres miteinander vereinbar.

  • Die Erwartungen, die die Person in der betreffenden Rolle genügen muss, sind problemlos mit denen anderer Rollen der Person vereinbar.

  • Die Rollenerwartungen sind hinreichend klar definiert.

  • Die Person verfügt über die erforderlichen Ressourcen, um ihre Rollen angemessen spielen zu können.

  • Die Rolle ist mit den persönlichen Bedürfnissen, Interessen, Zielen u.Ä. vereinbar. (S. 67)

Wird der oder die Handelnde den Erwartungen komplikationslos gerecht, ist ursprünglich laut Turner (1956) die Rede vom role taking. Wenn eine oder mehrere Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird vom Akteur eine Eigenleistung abverlangt, die mit role making umschrieben wird. Diese Leistung ist ein aktiver Interpretationsprozess, der stets in Aushandlung mit den Rollenbeziehungen innerhalb der Akteurskonstellation stattfindet (Schulz-Schaeffer, 2018). Ist erstgenannte Voraussetzung nicht erfüllt, existieren also „Widersprüche zwischen den an eine bestimmte Rolle gerichteten Erwartungen“ (Schimank, 2010, S. 68). Es besteht ein Intra-Rollenkonflikt. Abzugrenzen ist dies vom Inter-Rollenkonflikt, bei dem es um „Widersprüche zwischen Erwartungen [geht], die an verschiedene Rollen gerichtet sind, die eine Person innehat“ (Schimank, 2010, S. 70). Bezogen auf die dritte Voraussetzung kann eine Unterbestimmtheit von Rollen vorliegen, die zu Verhaltensunsicherheiten von Rollenträgern führen kann. Ebenso kann „Ressourcenmangel in der einen oder anderen Hinsicht […] das Rollenhandeln beeinträchtigen oder sogar ganz verhindern, dass der Akteur seine Rolle entsprechend auftreten kann“ (Schimank, 2010, S. 73). Stimmen persönliche Einstellungen und Bedürfnisse nicht mit den Rollenerwartungen überein, liegt ein Person-Rolle-Konflikt vor. Genannte Aspekte sollen an dieser Stelle genügen, um die Beschreibung und Analyse von Verhaltensabstimmungen zwischen verschiedenen Akteuren in dieser Arbeit theoretisch auszudifferenzieren.

Modi der Handlungskoordination

Das Zusammenwirken der Akteure wird in der Governanceforschung mit dem nicht wertenden Begriff von Handlungskoordination umschrieben (Altrichter, 2015). Wie sich in bisherigen Ausführungen andeutet, stellt sich die Handlungskoordination als „zentrale[s] Erklärungselement“ (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 71, Herv. i. O.) der Analyse dar. Denn keine der vorab vorgestellten Analysekategorien ist

isoliert für sich interessant; erst in ihrer Relationierung werden sie aussagekräftig für Analysen sozialer Ordnung und ihrer Transformation. Diese Relationierung geschieht mit dem zentralen Konzept der Handlungskoordination, das thematisiert, wie Akteure an verschiedenen Stellen eines komplexen Systems intentional und transintentional an der Regulierung und Leistungserbringung dieses Systems mitwirken. (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 72, Herv. i. O.)

Für die Art des Zusammenwirkens von verschiedenen Akteuren lassen sich in der Educational Governance mehrere theoretische Klassifikationen auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau finden (Altrichter & Heinrich, 2007). Auf einer mikroanalytischen Ebene haben Lange und Schimank (2004) die basalen Formen der Koordination Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung vorgeschlagen, die auch in dieser Studie herangezogen werden. Genannte Formen bauen aufeinander auf, ohne dass dies normativ zu verstehen ist, d. h. Verhandlung ist nicht die beste Form der Koordination. Sie werden nachfolgend nur grob skizziert und in Kapitel 8 bei der Diskussion und Interpretation der gefundenen Handlungsmodi wieder aufgegriffen sowie dort bezugnehmend auf Schimank (2010) mit den für die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit relevanten weiteren Dimensionen der Modi vertieft. Damit wird angestrebt, einen neuen Beitrag im Forschungsfeld zu leisten, weil diese Formen in empirischen Studien zwar als theoretische Grundlage häufig benannt, aber „nur bedingt für empirische Mikroanalysen fruchtbar gemacht worden [sind]“ (Peetz & Sowada, 2019, S. 250, Herv. i. O.).

Im Modus der Beobachtung findet „die Handlungsabstimmung alleine durch einseitige oder wechselseitige Anpassung an das wahrgenommene Handeln der anderen statt“ (S. Lange & Schimank, 2004, S. 20). In Beeinflussungs-Konstellationen wird das eigene mit dem Handeln anderer „durch den gezielten Einsatz von Einflusspotentialen“ (S. Lange & Schimank, 2004, S. 20) z. B. Macht, Ressourcen, Emotionen, Wissen, Autorität akkordiert. Nach Kussau und Brüsemeister (2007a) „stellt die […] evaluationsbasierte Steuerung einen massiven Beeinflussungsversuch durch Berichtsformen und Berichtspflichten dar, der sich des Mediums ‚Wissen‘ bedient“ (S. 38). Innerhalb von Verhandlungs-Konstellationen basiert die Handlungskoordination nach Lange und Schimank (2004) auf der gegenseitigen Ausarbeitung von Vereinbarungen, die ihre bindende Wirkung auch ohne die Aktualisierung von Macht entfalten können.

Über die Identifikation der basalen Formen von Handlungskoordination hinaus, ist es Anspruch von Governanceanalysen die bestimmten Mischformen der Handlungskoordination empirisch zu erfassen (Altrichter, 2015; Brüsemeister, 2012a). Insofern können die basalen Formen hilfreich sein, um „eine erste Strukturierung empirischer Komplexität zu schaffen, nicht jedoch jene abschließend unter den vorformulierten Kategorien zu subsumieren“ (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 74). Es bedarf jedoch in der Analyse einer weiterführenden Kategorienbildung, die es erst ermöglicht, alternative Mischformen und „neue empirische Phänomene zu entdecken“ (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 74). Wenn jegliche Formen der Handlungskoordination, die sich auf einen bestimmten Handlungssektor beziehen, im Gesamtzusammenhang analysiert werden, hat sich der Begriff Governance-Regime etabliert. Hierbei geht es um die Erforschung bereichsspezifischer Muster der Handlungskoordination, die sich auf einem mittleren Abstraktionsniveau herausarbeiten lassen (Altrichter & Heinrich, 2007).

Zusammenfassend erlaubt das Governancekonzept eine umfassende Beschreibung und Analyse von Steuerungsfragen im Bildungswesen, die „akteurzentriert, mikrofundiert und institutionenzentriert ist“ (Kussau & Brüsemeister, 2007a, S. 44). Bevor Interdependenzbezüge und Koordinationsformen im Rahmen von Akteurskonstellationen empirisch betrachtet werden, erfolgt nun ein detaillierter Blick in den Handlungssektor dieser Studie, die Schulinspektion.

2.3 Zum Stand der Verfahrensausgestaltung deutscher Schulinspektion

Gerahmt durch die in Abschnitt 2.1 skizzierten Leitideen Neuer Steuerung werden in diesem Kapitel Grundsätze der Inspektionsverfahren in Deutschland dargelegt. Zunächst wird die generelle Ausgestaltung und Wirkhoffnung deutscher Schulinspektion näher beleuchtet (Abschn. 2.3.1). Es folgt eine aktuelle und vergleichende Darstellung der Inspektionsverfahren in den Bundesländern, woraufhin anschließend die für diese Arbeit bedeutenden Unterschiede u. a. variierender Beteiligungsumfang der Schulaufsicht am Inspektionsverfahren oder die verschiedenartige Institutionalisierung staatlicher Schulentwicklungsberatung vertiefend gegenübergestellt werden (Abschn. 2.3.2).

2.3.1 Verfahren und Funktionen deutscher Schulinspektion

Die Schulinspektion in Deutschland wurde flächendeckend als bildungspolitische Reformmaßnahme nach PISA bis 2006 in allen Bundesländern eingeführt und unterstreicht damit das Interesse der Bildungspolitik und -administration am Systemwissen über ihre Schulen (vgl. Abschn. 2.1). In diesem Kapitel geht es zunächst um das grundsätzlich einheitliche Prinzip der deutschen Schulinspektionsverfahren. Sodann werden ihre vielfältigen Funktionen und damit einhergehende Problematiken sowie vorherrschende Wirkmodelle skizziert. Schließlich wird anknüpfend an die Institutionalisierung der Schulinspektion erläutert, warum das Thema Handlungskoordination in diesem Kontext besonders bedeutend ist.

Bei Schulinspektionen geht es um einen „Blick in oder auf Einzelschulen auf der Grundlage einer Zusammenschau vorhandener, interner und/oder extern gewonnener Daten“ (Maritzen, 2008, S. 87) und damit um eine auf Qualitätssicherung und -entwicklung abzielende „Überprüfung und Beurteilung der Qualität schulischer Arbeit durch schulexterne Personen“ (Altrichter & Kemethofer, 2016, S. 487). Trotz diverser bundeslandspezifischer Unterschiede, auf die in Abschnitt 2.3.2 eingegangen wird, folgen sie in ihren Grundzügen einem vergleichbaren Schema: Die Qualität einer Schule wird auf Grundlage öffentlich bekannter Qualitätskriterien (Orientierungsrahmen) von einem Inspektionsteam mittels eines standardisierten Verfahrens eingeschätzt. Als Datengrundlage dienen Informationen, die die Schule bereitstellt, sowie ein überwiegend mehrtägiger Schulbesuch inklusive Unterrichtsbeobachtungen und Interviews mit schulischen Gruppen u. a. Schulleitung, Lehrkräfte sowie Schüler:innen. Diese gesammelten Daten werden ausgewertet und münden in einem an die Schule adressierten Qualitätsbericht. Hieran schließen sich üblicherweise schulische Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -entwicklung an, die zumeist durch die für die Schule zuständige Schulaufsichtsbehörde begleitet werden (Rürup, 2008; Dedering et al., 2008; Ackeren et al., 2015).

Mit ihrem Bewertungsverfahren begreifen sich die Schulinspektionen als externe EvaluationenFootnote 19, obwohl sie aus der Perspektive der Evaluationsforschung gängige Standards und Gütekriterien, die an professionelle Evaluationen angelegt werden, unterschreiten (Böttcher & Keune, 2012; vgl. auch Standards für Evaluation DeGEval, 2016; Hense et al., 2019). Beispielsweise muss Evaluation den Nützlichkeitsstandards genügen, das heißt, sie „[muss] sich immer daran messen lassen […], inwieweit sie ihre intendierten Zwecke erfüllt und einen tatsächlichen Nutzen darstellt“ (Böttcher & Hense, 2016, S. 129). Herausfordernd ist dies in der Evaluationsforschung deshalb, weil verschiedene Funktionen (z. B. Entwicklung und Kontrolle) seit jeher in einem Spannungsverhältnis stehen und immer wieder „aufs Neue in Balance gebracht werden [müssen]“ (Kuper, 2005, S. 63; vgl. Stockmann & Meyer, 2010). So fordern beispielsweise Balzer und Beywl (2018) in ihrer viel zitierten Schrittfolge von Evaluation, diese Zwecke am Anfang des Evaluationsprozesses festzulegen, um damit den Evaluationsprozess zu steuern. Auch Klieme (2005) sieht dieses Problem und führt aus:

Evaluation [dient] entweder einem Zweck oder einem anderen, aber nicht mehreren gleichzeitig. Sobald mehrere Zwecke durch Evaluation gleichzeitig erreicht werden sollen (z. B. Kontrolle und Entwicklung), wird es schwierig, die Komplexität der im Feld vorhandenen Wirkkräfte und Ansprüche in einem Design angemessen zu berücksichtigen. (S. 44)

Mit ähnlichen „Zwecküberlagerungen“ (Tarkian et al., 2019, S. 115) sieht sich auch die Schulinspektion konfrontiert. Denn mit ihr sind ebenso multiple Funktionszuschreibungen verbunden, die sich unter Rückgriff auf das bekannte Funktionsmodell von Landwehr (2011) in vier Aspekte unterscheiden lassen. Diese sind a) Kontroll- und Rechenschaftsfunktion, b) Erkenntnisfunktion, c) Entwicklungsfunktion und d) Normdurchsetzungsfunktion (Quesel et al., 2011; Altrichter & Kemethofer, 2016; Berthold, 2017).Footnote 20 Während Erstgenannte als eine auf ergebnis- und prozessbezogenen DatenFootnote 21 basierende Qualitätsüberprüfung eigenständiger Schulen zu sehen ist, steht die Zweite für die Generierung von Steuerungswissen. Die dritte Funktion zielt darauf ab, Schulentwicklung zu initiieren und will sich als Quelle und Korrektiv der Selbststeuerung von Einzelschulen verstanden wissen. Letzte, in der Forschung erst später verstärkt beachtete Normdurchsetzungsfunktion, impliziert, dass die Evaluationsdimensionen in den Orientierungsrahmen selbst „normative Wirkung auf die Einzelschulen entfalten“ (Kotthoff et al., 2016, S. 326) und Schulen dazu anregen, sich mit den Qualitätsvorstellungen auseinanderzusetzen (Berthold, 2017; Burkard, 2005; Tarkian et al., 2019; für NRW kritisch in Abschn. 5.2.2). Zusammengenommen scheint es mit einem solchen „Funktionenmix“ (Maritzen, 2006, S. 9) offenbar „schwer zu fallen, Ziele, Funktionen und Leistungen der Schulinspektion differenziert zu beschreiben, begrifflich gegeneinander abzusetzen und im Konzert weitere Maßnahmen zu spezifizieren“ (Maritzen, 2006, S. 9; vgl. Diedrich, 2020).

Entscheidend für die Schulinspektion mit ihrem übergeordneten Entwicklungsziel ist die Frage, welche Funktionen zu diesem übergeordneten Ziel addiert werden und welcher Entwicklungsmodus zur Zielerreichung Anwendung findet. Böttger-Beer und Koch (2008) unterscheiden drei Entwicklungsmodi, die einer weiteren Klassifikation der Inspektionsverfahren dienen (S. 254): Bei der Entwicklung über Einsicht werden die beiden Ziele Erkenntnis als Dienstleistung und Legitimation im Sinne der Transparenzherstellung angestrebt. Werden Kontrolle und Transparenz priorisiert, ist die erhoffte Wirkungserwartung Entwicklung über Wettbewerb. Dies setzt allerdings die Veröffentlichung der Ergebnisse ebenso voraus wie die freie Schulwahl und ein hohes Maß an Eigenverantwortung der Schulen. Stehen Erkenntnis als Dienstleistung und Kontrolle im Vordergrund ist es die Entwicklung über Konsequenzen (in den beiden Varianten Entwicklung über Unterstützung bei dem Fokus auf Dienstleistung und Entwicklung über Sanktionen bei dem Fokus auf Kontrolle). Weil in Deutschland, ebenso wie in Irland oder Österreich, die Entwicklung durch Einsicht und Unterstützung betont und auf unmittelbare Konsequenzen für die schulischen Akteure z. B. Schulschließungen oder Personalwechsel verzichten wird, spricht man auch von Low-Stakes-Verfahren. Demgegenüber setzen die High-Stakes-Verfahren, etwa in England oder in den Niederlanden, auf Rechenschaftslegung (accountability), Sanktionen und Wettbewerbsmechanismen z. B. durch die Veröffentlichung der Ergebnisse (u. a. Janssens & van Amelsvoort, 2008; Heinrich & Lambrecht, 2016; Altrichter & Kemethofer, 2016; zum Vergleich ausgewählter Inspektionssysteme Kotthoff & Böttcher, 2010; Döbrich et al., 2008; Husfeldt, 2011b).

Für die Schulinspektion in Deutschland ist eine Vorrangigkeit auszumachen, die zugunsten einer „Förderung einzelschulischer Schulentwicklung“ (Rürup, 2008, S. 470) und dem Modus der Entwicklung durch Einsicht ausfällt (Dietrich & Lambrecht, 2012; Kotthoff et al., 2016). In der Betonung der Erkenntnis- und Entwicklungsfunktion gegenüber Kontrolle und Rechenschaftslegung wird davon ausgegangen, dass die Schulinspektion durch systematische Rückmeldungen über Stärken und Schwächen der Schule Entwicklungsimpulse offeriert, die anschließend von der Einzelschule in Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung umgesetzt werden (Bos et al., 2006, 2007; Döbert et al., 2008; Rürup, 2008). Damit wird angenommen, dass allein die Einsicht in die Inspektionsergebnisse einer Schule zu „positive[n] Effekte[n] auf Schule und Unterricht“ (Keune, 2014, S. 100) führt.

Das prominente Ehren-Visscher-Modell (2006) modelliert die theoretische Wirkfolge von Schulinspektion und identifiziert im Verständnis der Schuleffektivitätsforschung zentrale Merkmale schulischer Reaktionen auf die Schulinspektion, die auf die Leistungsverbesserung der Schüler:innen ausgerichtet ist (vgl. Abb. 2.2). Diese Reaktion wird von anderen Faktoren etwa externen Impulsen und Unterstützungsleistungen, Merkmalen der Schulinspektion sowie innerschulischen Merkmalen beeinflusst. Neben intendierten Effekten finden sich auch (nicht intendierte) Nebeneffekte, die sich aus der schulischen Reaktion ergeben (für weitere Erläuterung siehe u. a. Berthold, 2017; Keune, 2014; Böhm-Kasper et al., 2016b).

Abb. 2.2
figure 2

The elaborate framework of school inspection effects (Ehren & Visscher, 2006, S. 66)

Das Modell findet häufig bei Forschung Anwendung, die Wirkungsfragen von Schulinspektion bearbeitet (vgl. Abschn. 3.1). Zugleich ist auch Kritik an der Modellierung geübt worden, die sich insbesondere auf die Vernachlässigung innerschulischer Verarbeitungsprozesse bezieht und später im modifizierten und empirisch gefundenen Prozessmodell von Ehren et al. (2013) aufgenommen wurde (vgl. u. a. Husfeldt, 2011a; Böhm-Kasper et al., 2016b; Dedering, 2016; Rürup & Lambrecht, 2012). Weil das ältere Modell im Vergleich zum Jüngeren jedoch eher Verweise auf die in dieser Arbeit wichtigen Akteure oberhalb der Mesoebene liefert, wird es hier bevorzugt (vgl. Abschn. 2.2). Denn während im Prozessmodell von Ehren et al. (2013) lediglich betont wird, dass „stakeholder involvement“ (S. 31) als „essential for improvement“ (S. 31) angesehen und dabei insbesondere der Einfluss der Eltern thematisiert wird, erfolgt im Modell von Ehren und Visscher (2006) eine nähere Differenzierung von features of school inspection und external impulses and support (vgl. Altrichter et al., 2016). Als prozessbeeinflussende Faktoren bezieht sich Erstgenanntes dezidiert auf die idealerweise vertrauensvolle Beziehung zwischen schulischen Akteuren und Inspekteuren, ihren Arbeitsmethoden und den Kommunikationsstil (Husfeldt, 2011b; Kotthoff et al., 2016). Unter Letztgenanntem subsummieren sich in erster Linie die Schulaufsichtsbehörde und – obwohl originär nicht benannt aber nach Böhm-Kasper und Selders (2013) expliziert – auch die externen Schulentwicklungsberater:innen, die wichtige Anstöße für Veränderungen geben können (vgl. Abschn. 2.3.2). Beide Akteure können hier potenziell in zwei Richtungen wirken: „They can ‚force‘ a school to change […] or assist the school in innovating, by supporting the school in some way“ (Ehren & Visscher, 2006, S. 61). Insgesamt lässt das Modell Zusammenhangshypothesen zu, ist jedoch weniger geeignet, um die Entwicklungsprozesse im Nachgang einer Inspektion auf der Ebene der Einzelschule zu beschreiben (Berthold, 2017; Böhm-Kasper & Selders, 2013).

Jene Modelllücke wird durch Ansätze aus der Tradition der Schulentwicklungsforschung aufgegriffen und auszugleichen versucht. Dazu zählt u. a. das Comprehensive framework für effective school improvement CF-ESI von Reezigt und Creemers (2005), welches allerdings eher abstrakt allgemeine Phasen idealer Schulentwicklungsprozesse darstellt (vgl. Husfeldt, 2011b). Konkret auf die Schulinspektion zugeschnitten ist das Wandlungsmodell von Böttcher et al. (2010), welches idealtypische Entwicklungsprozesse im Nachgang einer Schulinspektion abbildet und sich dabei an den aus der Organisationsforschung identifizierten idealtypischen Phasen des WandelsFootnote 22 von Krüger und Petry (2005) orientiert (vgl. Abb. 2.3).

Abb. 2.3
figure 3

Wandlungsmodell Schulinspektion (Keune, 2014, S. 193)

Wie in der Abbildung 2.3 ersichtlich unterteilen Böttcher et al. (2010) den Wandel in fünf Phasen:

(1) die Kenntnis und Akzeptanz der Schulinspektion, (2) der anschließende Zielvereinbarungsprozess zwischen Schule und Schulaufsicht, (3) die Mobilisierung der schulischen Akteure, sich auf den Wandlungsprozess einzulassen, (4) die konkrete Umsetzung von Maßnahmen und Prozessen und (5) schließlich die Bewertung des Schulentwicklungsprozesses in der Rückschau. (Keune, 2014, S. 95)

Dadurch, dass der Zielvereinbarungsprozess explizit genannt wird, lassen sich Bezüge zur Schulaufsicht herstellen, die so den „Wandel durch Schulinspektion“ begleiten (vgl. für NRW Abschn. 5.2.3). Obige Kritik zur Unterbestimmung einzelschulischer Prozesse im Ehren-Visscher-Modell aufgreifend kann dieses Strukturierungsmodell als Ergänzung angesehen werden (vgl. auch Gegenüberstellung genannter Modelle bei Keune, 2014; Husfeldt, 2011b). Da allerdings eine tatsächliche „Verknüpfung von Modellen der Schuleffektivitätsforschung mit Modellen der Schulentwicklungsforschung“ (Berthold, 2017, S. 28) immer noch fehlt, ist „eine direkte Verzahnung von Ergebnissen der Schulinspektion mit Schulentwicklungsprozessen zurzeit theoretisch nur ansatzweise möglich“ (Berthold, 2017, S. 28; vgl. Heinrich & Lambrecht, 2016).

Während der Begriff Schulinspektion bis hierher im Sinne des Verfahrens also als „Inaugenscheinnahme einzelner Schulen“ (Maritzen, 2006, S. 7) verwandt wurde, kann mit dem Begriff jedoch auch die „Institution, die das Verfahren verantwortet“ (Maritzen, 2006, S. 7), gemeint sein. Im Bewusstsein um diese Doppelbedeutung und ausgehend von Überlegungen zur Akteurskonstellation wird es nachfolgend das Ziel sein, Schulinspektion als eine interdependente Steuerungsaufgabe im Mehrebenensystem zu fassen und die obigen theoretischen Modelle dahingehend kritisch zu betrachten.

Zuvorderst sei daran erinnert, dass die an Schulinspektion Beteiligten in Deutschland grundsätzlich separat von der klassischen Schulaufsicht institutionalisiert wurden (vgl. Abschn. 2.1, im Bundeslandvergleich Abschn. 2.3.2, für NRW siehe Abschn. 5.2.1). Dabei haben die zum Zweck der Schulinspektion errichteten Inspektorate zu einem neuen Akteur im Mehrebenengefüge beigetragen und dazu geführt, dass sich „die Verhältnisbestimmung einzelner Akteure zueinander […] sowie deren formaler Bezugnahme aufeinander neu regelt“ (Heinrich et al., 2014, S. 26). Beispielsweise erläutern Lohmann und Reißmann (2007), was Schulinspektion nicht ist, nämlich keine Schulentwicklungsberatung und auch keine Schulaufsicht. Gleichzeitig betonen die Autoren aber doch wieder die Zugehörigkeit der Schulinspektion zur Schulaufsicht, indem sie herausstellen, dass „Qualitätsbewertung und -kontrolle […] schulaufsichtliche Funktionen [sind]. Im weitesten Sinn ist Schulinspektion Teil der staatlichen Schulaufsicht“ (Lohmann & Reißmann, 2007, S. 21; vgl. Bruggen, 2008).

Insofern steigert die Errichtung der Inspektorate „die Komplexität der Akteursbeziehungen, statt sie transparenter zu machen, da Wissen potenziell jedem zusteht, die Systemverantwortung aber ungleich verteilt bleibt“ (Maritzen, 2008, S. 94). Infolgedessen befinden „wir uns an einer heiklen Schnittstelle von Inspektion mit Schulaufsicht und dem Unterstützungssystem“ (Brüser-Sommer, 2016, S. 60), die mit „unterschiedliche[n] Handlungsformen einher[geht]“ (Diedrich, 2020, S. 54). Anknüpfend an die governanceanalytische Perspektive (vgl. Abschn. 2.2) wird Schulinspektion so

nicht allein aus einem hierarchisch organisierten Steuerungsverständnis heraus verstanden, sondern aus der Mehrdimensionalität von Strukturen und Ebenen in Steuerungssystemen, die sich empirisch in unterschiedlichen Handlungskonstellationen abbilden lassen. (Preuß et al., 2015, S. 122)

Diese Handlungskonstellationen illustriert Brüsemeister (2012a) unter Rückgriff auf das skizzierte Mehrebenenphänomen im folgenden Regelkreislauf:

  • Die Überprüfung, wie Standards in Schulen umgesetzt werden, obliegt im Rahmen eines Systemmonitorings der Zentrale sowie intermediären Instanzen, insbesondere der Schulinspektion (Verbindung der Ebenen Zentrale, mit einer Mittlerfunktion der intermediären Ebene (Schulinspektion) zur Ebene der Einzelschule).

  • Die Umsetzung der Standards sowie Gegenmaßnahmen, wenn negative Abweichungen von Standards beobachtet werden, obliegen auf der Ebene der Einzelschule gestärkten Schulleitungen, die im Zuge einer größeren Autonomie der Einzelschulen mehr Entscheidungsrechte erhalten sollen. Dies erfordert gleichursprünglich ein kollektives Reagieren der Lehrerschaft und damit eine Umformung der individualistischen zu einer kollektiven Profession (Verbindung der Ebene Einzelschule zur Zentrale).

  • Wie die einzelne Schule reagiert, wenn es negative Abweichungen von Standards gibt, erfolgt innerhalb eines Regelkreislaufes, an dem Schulinspektion, -aufsicht und Zentrale mitwirken; Letztere gibt Standards vor; daran orientieren sich Inspektionsberichte, die den Schulen übergeben sind und die dann zu Zielvereinbarungen zwischen der Schule und ihrem Schulamt führen sollen, über deren Erfolge letztlich auch wieder die Zentrale erfährt. Das Reagieren der einzelnen Schule erfolgt in Abstimmung mit Zielvereinbarungen, die die Schule mit dem zuständigen Schulaufsichtsamt abschließt (Verbindung Ebene Schule, Intermediäre, Zentrale, da letztlich auch dort die Umsetzung der Zielvereinbarung registriert wird). (S. 35)

In diesem Kreislauf erscheint Schulinspektion als Exempel einer interdependenten Steuerungsaufgabe, die den Einbezug der Akteure „alle[r] intraorganisatorischen Ebenen“ (Brüsemeister, 2012a, S. 35) intendiert (detailliert für NRW siehe Abschn. 5.2.3). Dabei bleiben „Probleme der Koordination, der Rollenklärung und der Steuerungsarchitektur […] virulent“ (Diedrich & Maritzen, 2020, S. 142). Denn es geht nicht bloß um ein Weiterreichen des Steuerungsimpulses, sondern darum, diesen zu rekontextualisieren, also auf der eigenen Handlungsebene nutzbar zu machen und in das individuelle Handeln zu adaptieren (Altrichter, 2011; vgl. Abschn. 2.2).

Allerdings vermögen die bisher existierenden Modelle weder die vorherigen Aspekte des Mehrebenenphänomens genügend abzubilden noch werden „prozessuale Handlungs- und Entwicklungsgeschehen“ (Preuß et al., 2015, S. 120) angemessen berücksichtigt (vgl. auch Dedering, 2016; Pietsch et al., 2014; Altrichter, 2010). Obschon externe (Einfluss-)faktoren in Ansätzen thematisiert werden, mangelt es an ihrer weiteren Ausdifferenzierung insbesondere in Bezug auf das Unterstützungssystem (Wurster et al., 2018). Folglich sind bisherige Modellierungen nur eingeschränkt für die Erforschung schulinspektionsbezogener Handlungskoordination nutzbar. Perspektivisch müsste hierfür „eine ganz andersartige theoretische Rahmung“ (Heinrich & Lambrecht, 2016, S. 194) entwickelt werden, um „der komplexen Anlage der Evaluationsverfahren und deren Einbettung in das mehrdimensionale Steuerungssystem der Bildungsinstitutionen einigermaßen gerecht zu werden“ (Quesel et al., 2011, S. 10; vgl. Altrichter & Kemethofer, 2016). Aus governanceanalytischer Perspektive müssten beispielsweise die „Vermittlungsschritte von der Information über die Steuerungshandlungen bis zur Systemwirkung […] in einem ‚Wirkmodell‘ plausibilisiert werden“ (Altrichter & Heinrich, 2006, S. 57). Wird Schulinspektion – wie oben skizziert – als eine interdependente Steuerungsaufgabe verstanden, werden auch systematische Überlegungen zu ebenenübergreifenden Handlungsabstimmungen der Akteure und zu „Übergabepunkte[n]“ (S. Müller & Klein, 2019, S. 213) notwendig. Dass diese Überlegungen zunehmend, jedoch höchst unterschiedlich Eingang in die Verfahrensabläufe der Schulinspektionen in den Bundesländern finden, wird nachfolgend in einer aktuellen Bestandsaufnahme thematisiert.

2.3.2 Bestandsaufnahme: Die Schulinspektionen der Bundesländer im Vergleich

Ausgehend von den in der Implementierungsphase grundsätzlich ähnlichen Grundprinzipien (vgl. Abschn. 2.3.1) sind die Inspektionsverfahren in den Bundesländern nach heutigem Erkenntnisstand „weit stärker in Eigenregie eingerichtet und weiterentwickelt worden“ (Tarkian et al., 2019, S. 105; vgl. auch Bos et al., 2006). Inzwischen haben alle Bundesländer die Verfahren entweder ausgesetzt, durch alternative Instrumente ersetzt, auf Abruf, d. h. auf Wunsch der Schule organisiert, wieder eingeführt oder konzeptionell verändert. Das Kapitel ist neben der Zuhilfenahme älterer Bestandsaufnahmen das Ergebnis eigener Recherchen und Anfragen an zuständige Inspektorate in verschiedenen Bundesländern (u. a. Döbert et al., 2008; Rürup, 2008; Tarkian et al., 2019; Kuhn, 2019; DeGEval, 2020).

Die Tabelle 2.1 zeigt den Stand der Inspektionsverfahren zum Stichtag 01.01.2021.Footnote 23 Anschließend werden diejenigen Unterschiede näher beleuchtet, die für die hier zu beantwortende Forschungsfrage und damit für schulinspektionsbezogene Handlungskoordination von Bedeutung sind.

Tab. 2.1 Schulinspektionsverfahren der deutschen Bundesländer zum Stichtag 01.01.2021 (eigene Darstellung)

Sechs Bundesländer (BB, BE, HH, MV, NRW und SL) halten seit Beginn „mit modifizierten Verfahren am Grundprinzip fest“ (Kuhn, 2019, S. 15). Ferner sind folgende Trends festzustellen: Verschlankung der Verfahren u. a. mit Fokus auf Unterrichtsentwicklung etwa in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein, Aussetzung der Verfahren mit der Stärkung interner EvaluationFootnote 24 so in Sachsen und Thüringen oder kürzlich Neuauflagen der externen Evaluation in Sachsen-Anhalt, Bayern oder Baden-Württemberg, hier sogar mit einer Neustrukturierung der Behörden.

Unterschiede zum Umfang, Adressatenkreis und Veröffentlichung der Schulberichte sowie dem Einbezug von Leistungsdaten der Schüler:innen und/oder Schulkontextdaten in das Inspektionsverfahren werden in dieser Arbeit nachrangig behandelt. Von Interesse sind vielmehr die Divergenzen in Bezug auf die institutionelle Einbindung und Zusammensetzung der Inspektorenteams, der Beteiligungsumfang der Schulaufsicht und der staatlichen Schulentwicklungsberatung. Diese werden nun beispielhaft anhand ausgewählter Bundesländer illustriert.

Herauszustellen ist zunächst, dass sich bis heute drei Varianten unterscheiden lassen, auf welche Weise die externe Schulevaluation „institutionell und personell in die bisherigen Organisationsstrukturen der Bildungsadministration in den Ländern eingebaut ist“ (Döbert et al., 2008, S. 140): So wurde in einigen Bundesländern die Aufgabe zur externen Schulevaluation den bestehenden Landesinstituten übertragen z. B. in Brandenburg oder Niedersachsen, und in anderen, etwa in NRW oder Berlin, einer selbständigen Organisationseinheit innerhalb des zuständigen Ministeriums oder der zuständigen Schulaufsichtsbehörde zugewiesen (vgl. Tab. 2.1, genauer für NRW Abschn. 5.1). Eine dritte Variante stellen Bundesländer dar, die für ebenjenen Zweck rechtlich selbstständige Einrichtungen neu gegründet haben, so auch jüngst das Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) (Stm. BW, 2018; kritisch vgl. Böttcher, 2019c; Böttcher & Luig, 2020a).

Neben der institutionellen Einbindung ist auch die Zusammensetzung der Inspektionsteams, welche jeweils im Team von überwiegend mindestens zwei Personen die Schulbesuche durchführen, höchst unterschiedlich. In den meisten Bundesländern etwa in NRW oder Berlin sind die Evaluator:innen entweder unbefristet tätig oder temporär abgeordnet. Uneinheitlichkeit herrscht in Bezug auf die Frage, ob Schulaufsichtsbeamt:innen Teil eines Evaluationsteams sein können. Während in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern eine Beteiligung dieser Personen (allerdings nicht derjenigen, die für die zu inspizierende Schule zuständig sind) verankert ist, ist es in NRW grundsätzlich möglich und in Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und im Saarland nicht vorgesehen. Eine zusätzliche Erweiterung des Kernteams um nichtschulische Evaluator:innen z. B. Eltern, Vertreter:innen aus Wirtschaft oder Wissenschaft ist in Berlin und Bayern möglich. Im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern kann die Schulleitung einen kritischen Freund, in der Regel einen Schulleiter oder eine Schulleiterin einer bekannten oder benachbarten Schule, als ergänzende Person im Evaluationsteam nominieren. Die Hinzunahme von weiteren Evaluator:innen mit besonderen (über-)fachlichen Qualifikationen kann im Einzelfall, z. B. in Hamburg oder dem Saarland, erfolgen (Tarkian et al., 2019).

Darüber hinaus ist die Beteiligung der Schulaufsicht am Inspektionsverfahren ihrer zu beaufsichtigen Schulen „in ganz unterschiedlichem Umfang eingerichtet“ (Tarkian et al., 2019, S. 117; vgl. auch Döbert et al., 2008). Beispielsweise können Schulaufsichtsbeamt:innen entweder ausdrücklich, teilweise eingeschränkt oder kaum Einfluss auf den Teilnahmezeitpunkt der Schulen am Inspektionsverfahren nehmen. Weitere Prozesse, an denen sie entweder fest, selten oder randständig beteiligt sind, sind etwa die Begleitung der Schulen im Prozess der Datenerhebung, Einsicht in Evaluationsergebnisse sowie ihr Auftrag zur Beratung und Unterstützung der Schulen bei der Ausarbeitung datenbasierter Zielvereinbarungen und der Planung von Entwicklungsmaßnahmen (Böhm-Kasper & Selders, 2013). Die Tabelle 2.2 stellt im Detail dar, wie der Einbezug der Schulaufsicht in den Ländern mit flächendeckend laufenden Verfahren regelhaft vorgesehen ist.

Tab. 2.2 Einbindung der Schulaufsicht in den flächendeckend laufenden Schulinspektionsverfahren zum 01.01.2021 aktualisierte Darstellung in Anlehnung an Tarkian et al. (2019, S. 162)

Mit Blick auf die Tabelle 2.2 zeigt sich, dass die Einbindung der Schulaufsicht in Schulinspektionsverfahren höchst divergent ist. So lassen sich einerseits Bundesländer, etwa Brandenburg, identifizieren, welche „die skizzierte Verzahnung schulischer Entwicklungsarbeit mit schulaufsichtlicher Prozesssteuerung durch Ergebniscontrolling besonders deutlich illustrieren“ (Tarkian et al., 2019, S. 117; vgl. auch MBJS, 2019). Andererseits existieren aber auch Länder u. a. Saarland oder Niedersachsen, in denen die schulaufsichtliche Mitbestimmung und Beteiligung an Schulinspektion deutlich abgeschwächter stattfindet oder wie in Berlin auf Schulwunsch oder bei Entwicklungsbedarf erfolgt.

Im Vergleich dieser aktuellen Bestandsaufnahme mit der Zusammenschau von Tarkian et al. (2019) zeigen sich Tendenzen in der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Schulinspektion und zuständiger Schulaufsicht (vgl. u. a. für Brandenburg MBJS, 2019; für Hamburg Tränkmann, 2020; für NRW Jäger & Hahn, 2017). Folglich nimmt neben anderen Aspekten das Verhältnis von Schulinspektion und Schulaufsicht, wie auch Kuhn (2019) beobachtet, „eine Schlüsselrolle bei der Weiterentwicklung des Gesamtsystems ein“ (S. 11).

Schnittstellenfragen beziehen sich jedoch nicht nur auf die Akteure aus Schulinspektion und Schulaufsicht, sondern auch auf die Zusammenarbeit mit der staatlichen Schulentwicklungsberatung. Mit Schulentwicklungsberatung ist nach Dedering et al. (2013a) die Unterstützung von Schulen durch externe, d. h. schulfremde Personen gemeint. Ihre Unterstützungsleistungen „treffen […] stets auf eine bestimmte Entwicklungsabsicht der Schule bzw. Schulleitung, die auf eine Verbesserung der pädagogischen Qualität zielt“ (Dedering et al., 2013a, S. 16, Herv. i. O.). Wesentliche Merkmale einer solchen Beratung sind Freiwilligkeit und Vertraulichkeit sowie die Unabhängigkeit der Beratung von Zielen und Vorstellungen der Berater:innen. Zudem ist die Beratung in der Regel zeitlich und inhaltlich begrenzt (Kamarianakis & Dedering, 2021). In der vorliegenden Arbeit sind mit dem Begriff Schulentwicklungsberatung ausschließlich die staatlichen Unterstützungsangebote gemeint. Damit stehen auch diejenigen Akteure im Fokus der Betrachtung, die sich von ihrer Position innerhalb des Schulsystems befinden, also schulnahe Beratende sind. Sie sind in den Bundesländern unterschiedlich institutionalisiert und entweder im Landesinstitut, im Ministerium oder dezentral in der Nähe der (oberen oder unteren) Schulaufsicht angesiedelt (Adenstedt, 2016; Kamarianakis & Dedering, 2021; vgl. für NRW Abschn. 5.2.1).

Mit Blick auf die staatliche Schulentwicklungsberatung zeigt sich, dass im Zuge der Schulinspektion in nahezu allen Bundesländern auf diese Angebote verwiesen und dabei zunehmend eine intensivere Ausgestaltung der Schnittstellen proklamiert wird. So wird etwa in NRW die „Kooperation in der Zusammenarbeit zwischen Schulen, Qualitätsanalyse, Schulaufsicht und Fortbildung“ (Jäger & Hahn, 2017, S. 14) betont und auch in Brandenburg wird angestrebt, „die Schnittstellen zwischen den beteiligten Institutionen bzw. Akteuren im Hinblick auf die Entwicklung der Einzelschule besser [...] zu verzahnen“ (MBJS, 2019, S. 32).

Nach Auskunft der zuständigen Behörden auf eigene Anfragen ist zum Beispiel in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern die gegenseitige Teilnahme an Visitation/ Beratung angedacht. In NRW und Bayern ist das Beisein der Schulentwicklungsberatung in der vorbereitenden Besprechung auf die externe Evaluation prinzipiell möglich. In Mecklenburg-Vorpommern können im Bedarfsfall gemeinsame Absprachen von Unterstützungsmöglichkeiten erfolgen. In Sachsen-Anhalt wird der Schulentwicklungsberatung im Inspektionsverfahren eine größere Rolle zugeschrieben, indem sie mit der Schule die Ergebnisse der Evaluation aufbereitet, diesen Prozess der Auseinandersetzung moderiert und das Ergebnis Eingang in die Zielvereinbarung findet. In Bayern erfolgt die Verzahnung zwischen Schulleitung, Schulaufsicht und Schulentwicklungsberatung in Form einer verpflichtenden Auftaktveranstaltung zur Weiterentwicklung und ist damit das „zentrale Bindeglied zwischen Evaluation und Schulentwicklung“ (Qualitätsagentur LAS, 2019, S. 6). Insgesamt darf davon ausgegangen werden, dass die „fiskalischen Rahmenbedingungen […] Einfluss auf die organisatorische Ausgestaltung sowie die Professionalität und die Formate von staatlichen Beratungs- und Unterstützungsangeboten [haben]“ (Adenstedt, 2016, S. 132).

In der hier dargelegten Bestandsaufnahme sind zusammengenommen – trotz der Ausschnitthaftigkeit der dargestellten Länderkonzeptionen zu Schulinspektionsverfahren – Unterschiede deutlich erkennbar, die das Zusammenwirken der Akteure prägen. Zum Beispiel zeigt sich eine durch die Institutionalisierung der Evaluationsteams bedingte variierende Nähe der Inspektionsteams zur staatlichen Schulaufsicht oder ein unterschiedlicher Grad der Einbindung der Schulaufsicht und der Schulentwicklungsberatung in das Inspektionsverfahren. Hierauf wird in Kapitel 4 bei der kritischen Betrachtung empirischer Studien als auch bei der Begründung für die Anlage dieser Arbeit Bezug genommen.