Zusammenfassung
In diesem Kapitel diskutiere ich, wie kommunikatives Handeln (Knoblauch 2017) das konstituiert, was die betroffenen Akteure ‚Schnorren‘ nennen. Schnorren analysiere ich dabei als eine kommunikative Gattung, die zwei unterschiedlichen Akteurstypen, Schnorrer*innen und Spender*innen, für ihr Vorkommen erfordert. Schnorren ist eine hochgradig asymmetrische soziale Interaktionsform: ein*e Akteur*in bittet um Almosen, der*die andere gibt. Die Akteurstypen verfügen im Sinne der Reziprozität der Motive (Schütz 2004) jeweils über verschiedene Um-Zu- (Spendenaufforderungen) und Weil-Motive (Almosengabe) in der Face-to-face-Kommunikation. Empirisch wurde das offene und passive Betteln (Voß 1993) am Wegesrand von Berliner Fußgängerbereichen als fokale Situation beobachtet. Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde im Rahmen eines fokussiert ethnographischen Forschungsdesigns eine wissenssoziologische Gattungsanalyse (Luckmann 1986; Günthner und Knoblauch 1994) als Forschungsheuristik genutzt, die es ermöglichte, das Phänomen auf unterschiedlich soziologisch relevanten Ebenen zu analysieren und zu beschreiben. Im Zentrum stehen vor allem Fotografien und audio-visuelle Daten.
Das Schnorren, ursprünglich Schnurren, ist gemäß Roland Girtler (1998) ein rotwelscher Begriff für eine Form des Bettelns bei der Bettler*innen zugleich künstlerisch tätig sind, z. B. „als Bettelmusikant mit Schnurrpfeife und Maultrommel einherziehen“ (Girtler 1998, S. 165). Der Sprachcode wird von Bettler*innen auch heute noch verwendet. Er weist auf eine selbstbewusste Selbstbezeichnung hin, auch wenn die ursprünglich namensgebende künstlerische Tätigkeit keine Rolle mehr spielt. Diese Selbstbezeichnung von Bettler*innen ist mir im Feld begegnet und soll daher in diesem Kapitel verwendet werden.
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Notes
- 1.
Während Objektivierungen noch stärker an den Leib gebunden sind, versteht man im kommunikativen Konstruktivismus (Knoblauch 2017) unter Objektivationen solche zeichenhaften Elemente des kommunikativen Handelns, deren Wirkungen weitgehend vom körperlichen Vollzug losgelöst sind (ebd., S. 161 ff.). Wichtig erscheint mir darauf hinzuweisen, dass es wenigstens bezüglich der Bettelgesten Übergangsformen gibt, die ich in Abschn. 4 erläutern werde.
- 2.
In Ermangelung einschlägiger Arbeiten, nehme ich hier eine breitere Perspektive ein. Die besprochene Literatur befasst sich tatsächlich mit Ausdrucksformen extremer Armut, die maßgeblich im Kontext der Wanderarbeiter*innen, der Wohnungs- und Obdachlosigkeit und nur zum Teil des Bettelns thematisiert werden.
- 3.
Jahre später schließt Erving Goffman (1975) an die Logik der Trennung von Selbst- und Fremdzuschreibung an (Stigma und Stigmamanagement). Die Wirklichkeiten sozialer Gruppen stellen sich bei ihm als Konstruktionen dar, die interaktiv hergestellt werden. Stigma beschreibt er als in sozialen Interaktionen hergestelltes, desavouierendes Normverhältnis, Stigmamanagement bezeichnet hingegen den proaktiven Umgang der Stigmatisierten mit ihrer Stigmatisierung.
- 4.
Dies trifft in Teilen auf z. B. islamisch geprägte Regionen zu. In der islamischen Glaubenslehre existiert eine andere Geschichte im Umgang mit Bettelnden (Zakāt) als im Christentum (Voß 1993, S. 7).
Literatur
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Pröbrock, W. (2023). Schnorren und Almosengabe – Bausteine einer wissenssoziologischen Gattungsanalyse des Bettelns. In: Knoblauch, H., Singh, A. (eds) Kommunikative Gattungen und Events. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41941-7_5
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