Zusammenfassung
Auf Basis audiovisueller Aufzeichnungen wird die Eventisierung letaler Gewalt anhand von drei Phänomenbereichen untersucht: Erstens werden die Merkmale von Tötungsevents herausgearbeitet. Dies sind planvolle Gewalthandlungen, die monothematisch darauf ausgerichtet sind, in einer für Dritte inszenierten Überbetonung der Tötungsform das Leben sozialer Akteur*innen zu beenden. Zweitens werden Reaction Videos beleuchtet, die wiederum auf Videos Bezug nehmen, in denen als real verhandelte Tötungen zu sehen sind. Tötungsvideos nehmen hierbei den Charakter von ‚Medienevents‘ an. Die Reaktionen auf die aufgezeichneten Gewalthandlungen oszillieren zwischen Abjektion und Faszination und werden mitunter an einen Unterhaltungsaspekt geknüpft. Drittens werden am Beispiel der ‚urbanen Legende‘ der sogenannten Red Rooms das Eventisierungspotenzial des Tötens und die entsprechende Vergemeinschaftung beleuchtet. Abschließend wird das eventisierte Töten als Teilaspekt eines ‚Zeitalters des spektakulären Todes‘ eingeordnet. Diese Eventisierung ist nur unter Berücksichtigung der Mediatisierung des Tötens zu verstehen.
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Notes
- 1.
Für wichtige Hinweise zu diesem Beitrag danke ich Sebastian Lederle.
- 2.
Dass soziale Akteure keinesfalls nur auf Menschen zu beschränken sind, zeigen aus einer anthropologisch-fundierten Perspektive Lindemann (2018, S. 101–136) und von einem sozialphänomenologischen Standpunkt aus Luckmann (1980). Vor diesem Hintergrund ist Töten keineswegs ein Handeln, das sich ausschließlich auf Menschen bezieht, sondern auch auf Tiere, Dinge, Geister, Maschinen etc. gerichtet sein kann.
- 3.
Dies gilt z. B. in der Tat nicht für das massenhafte, serielle Töten in Schlachtbetrieben. Inwiefern die Tiere in diesem Setting als soziale Akteure wahrgenommen werden, bedarf einer genaueren Untersuchung.
- 4.
‚Narcoblogs‘ sind Blogs, welche gewaltsame Ereignisse und die damit verbundenen Akteur*innen dokumentieren, die in die mexikanischen Drogenkriege verwickelt sind und nicht in der massenmedialen Berichterstattung oder den Regierungsberichten erwähnt werden. Diese Blogs sind ambivalent zu bewerten, da sie einerseits Kritik gegenüber den mexikanischen Drogenkartellen äußern, andererseits aber auch förderlich für die ‚Narco-Propaganda‘ im Drogenkrieg sind (vgl. Campbell 2014).
- 5.
Diese Ästhetisierung lässt sich, wie Evelyn Runge (2012) es fasst, auch als eine Möglichkeit der Distanzierung und Entlastung begreifen. Zum einen schafft diese Kommunikationsstrategie Aufmerksamkeit, zum anderen lässt sie Gewalt überhaupt erst erträglich werden. Ästhetisierung der Gewalt kann somit als eine Distanzlosigkeit bei gleichzeitiger Distanznahme verstanden werden.
- 6.
Diese und die folgenden Beispiele stammen aus dem Kommentarbereich des YouTube-Videos „Cartel Chainsaw Beheading Reaction“: https://www.youtube.com/watch?v=ghBHjzTJSRg&t=36s.
- 7.
LOL ist eine Kurzform für ‚laughing out loud‘.
- 8.
- 9.
Eine ‚Onion-Adresse‘ ist ein Link, der nur mit dem TOR-Browser geöffnet werden kann, d. h. ein Link, der ins Dark Net.
- 10.
‚SFW‘ ist eine Kurzform für ‚safe for work‘ und bezieht sich auf Inhalte, die unbedenklich und ‚für den Arbeitsplatz geeignet‘ sind. Sie stehen im Kontrast zu den Formulierungen ‚NSFW‘ (‚not safe for work‘), die vor allem auf pornographische Inhalte hinweist, und ‚NSFL‘ (‚not safe for life‘), die sich auf psychisch belastende Inhalte – insbesondere Gewalt – bezieht.
- 11.
‚OMG‘ ist die Kurzform für ‚Oh my god‘.
- 12.
Siehe z. B. https://www.reddit.com/r/onians/conmenls/3irj8l/isis-red-room-aug-29th-es/sowie den Plattform übergreifenden Hashtag „#ISISgames“.
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Coenen, E. (2023). Eventisiertes Töten. In: Knoblauch, H., Singh, A. (eds) Kommunikative Gattungen und Events. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41941-7_17
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