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Der doppeldeutige Säkularismus: Staat und Regulierungen der Religion im postsowjetischen Georgien

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Umstrittene Säkularität

Zusammenfassung

Die Auflösung der Sowjetunion brachte viele Veränderungen für die heute ehemalige Sowjetrepublik Georgien mit sich. Dazu gehört, wie am Ende des vorherigen Kapitels erwähnt, die Entstehung der GOK als wichtige Akteurin in der öffentlichen und politischen Arena. In den 1990er Jahren wurde das orthodoxe Christentum auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene auf explizite Weise an die georgische nationale Identität gekoppelt.

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Notes

  1. 1.

    Solche Fragen sind nicht nur für die wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen bzgl. Georgiens charakteristisch. Wie Agrama in seinem Artikel über Säkularismus und Religion in Ägypten zeigt, sind diese Fragen sowohl in Ägypten als auch in vielen anderen – darunter als paradigmatisch säkular geltenden westlichen – Staaten aktuell (vgl. Agrama 2010).

  2. 2.

    Ich übernehme diese Wendung in leicht modifizierter Form von Hussein Ali Agrama, der Folgendes über Ägypten schreibt: „Egypt is still incompletely secular, and that is why it has religious-secular conflict, and Egypt has secular-religious conflict, so that is evidence of its being incompletely secular!“ (Agrama 2010: 489).

  3. 3.

    Es geht hier auch um die Frage, ob sich Religion und Politik überhaupt voneinander trennen lassen, wie es oft in modernistischen und säkularen Diskursen in Bezug auf moderne, demokratische Staaten und Gesellschaften imaginiert wird. Für eine ausführliche Diskussion bezüglich der Beziehungen zwischen Politik und Religion sowie zwischen Staat und Kirche und zu den Unterschieden zwischen diesen beiden siehe van der Zweerde 2009, 2005.

  4. 4.

    Im Jahr 2018 hat das georgische Parlament eine neue Verfassung verabschiedet. In den Artikeln über Religion wurden einige geringere Veränderungen vorgenommen. Jedoch spreche ich in diesem Kapitel nur über die entsprechenden Artikel in der Verfassung von 1995, was daran liegt, dass mein Interesse hier der Analyse des Prozesses der Nationalstaatsbildung nach dem Zerfall der Sowjetunion und den damit verbundenen verfassungsmäßigen Regelungen der Religion gilt.

  5. 5.

    Anders gesagt geht es hier um zwei Verhältnisse: um das von Religion und Politik und um das von Kirche und Staat, wobei zu betonen ist, dass Religion nicht identisch mit Kirche ist. Wie van der Zweerde anmerkt: „Jede Konstellation von Staat und Kirche oder Politik und Religion ist das Ergebnis eines ‚Konflikts‘ zwischen zwei fundamentalen verschiedenen Dimensionen, die unweigerlich Teil der menschlichen Wirklichkeit sind: der religiösen und der politischen“ (van der Zweerde 2009: 49). Wobei: „Eine Quelle für Konflikte liegt darin, dass sich die Beziehungen einer Kirche zum Staat oder eines Staates zur Kirche nicht mit dem jeweiligen Verhältnis der Kirche zur Politik oder des Staates zur Religion decken müssen“ (ebd.: 51).

  6. 6.

    Es gibt vonseiten der Rechts- und Verfassungsexpert*innen unterschiedliche Bewertungen der Verfassungsvereinbarung. Der Grund dafür liegt darin, dass „in der Hierarchie der normativen Akte eine Verfassungsvereinbarung nach der Verfassung und dem Verfassungsrecht ein Akt mit der höchsten Rechtskraft ist. Dies bedeutet einerseits, dass alle anderen Gesetze, auch internationale Verträge, der verfassungsrechtlichen Vereinbarung entsprechen müssen. Andererseits muss dieses Dokument selbst der Verfassung und den Verfassungsgesetzen entsprechen“ (Mikeladze et al. 2016: 19). Dieser juridische Vorrang einer verfassungsrechtlichen Vereinbarung gegenüber internationalen Verträgen führte eben zu Unterschieden in der rechtlichen Bewertung. Während Mikeladze et al. zufolge einige Expert*innen den souveränen Willen des Staates herausstellen, um den hierarchischen Platz eines normativen Aktes innerhalb des Staates festzulegen, betonen andere das Problem der „Unterwerfung internationaler Vereinbarungen unter ein Dokument, das die Beziehung zwischen zwei Rechtssubjekten regelt“ (ebd.: 19 f.). Laut Mikeladze et al. deutet eine solche Hierarchisierung auf die symbolische politische Loyalität gegenüber der GOK hin. Sie betonen aber auch Folgendes: „Bis jedoch der offensichtliche Widerspruch zwischen der Verfassungsvereinbarung und den internationalen Verpflichtungen des Staates beurteilt und festgestellt wird, ist die Behauptung, dass per se die Bestimmung der Hierarchie eine Verletzung der Verpflichtungen aus der Wiener Konvention darstellt, übertrieben“ (Mikeladze et al. 2016: 20).

  7. 7.

    So bemerkt Andronikashvili: „Für die Rückkehr der Orthodoxie in Georgien ist es wichtig zu verstehen, dass die Orthodoxie ihr Comeback durch die Hintertür des Nationalismus einleitete. Ihr Erfolg wäre ohne die Vereinnahmung des Nationalismus kaum möglich gewesen. Das ‚Georgiertum‘ machte die georgische orthodoxe Kirche von der christlich-orthodoxen Religion abhängig, wobei sie das Georgische mit dem Christlich-Orthodoxen gleichsetzte“ (Andronikashvili 2017: 47).

  8. 8.

    Im Dezember 1991 begann in Tbilissi der Bürgerkrieg, und am 6. Januar 1992 wurde Gamsachurdia durch einen Putsch und einen militärischen Angriff auf das Parlamentsgebäude gezwungen, Georgien zu verlassen und nach Aserbaidschan zu fliehen. 1993 kam er nach Georgien zurück, musste sich aber in Westgeorgien verstecken. Am 31. Dezember 1993 beging er entweder Suizid oder wurde ermordet (vgl. Suny 1994: 331).

  9. 9.

    Hier ist zu bemerken, dass auch Andronikashvili die Bestimmungen der Nation, die in der Verfassung 1995 und Verfassungsvereinbarung einfließen, betont und diskutiert (vgl. Andronikashvili 2016; 2017). Jedoch versteht er Staatssäkularismus als Trennungs- und Neutralitätsprinzip (vgl. Andronikashvili 2017a). Wie bereits im Kapitel 2 dieser Arbeit skizziert, konzeptualisiere ich den politischen Säkularismus jenseits des reinen Trennungsprinzips.

  10. 10.

    Wie ich im 2. Kapitel bereits erwähnt habe, bezeichnet Charles Taylor eben dieses modernistische Verständnis von Religion und Säkularität im wissenschaftlichen Diskurs als „Subtraktionstheorie der Säkularisierung“ (Taylor 2012).

  11. 11.

    Koenig zufolge liegt der Grund dafür in der „Institutionalisierung einer ausdifferenzierten transnationalen Rechtssphäre“ (Koenig 2007: 354) auf EU-Ebene, die zu einer „strukturellen Entkopplung von Rechten, staatlicher Mitgliedschaft und nationaler Identität“ geführt habe (ebd.). Für ihn fußen die strukturelle Entkopplung und die Stärkung des Rechts auf Religionsfreiheit, die Anerkennung von religiöser Identität als einer legitimen Form kultureller Differenz u. a. auf der Entstehung eines „postnationalen“ Gesellschaftsmodells (ebd.).

  12. 12.

    Koenig betont in seinem Aufsatz die Wirkung und den Einfluss christlich religiöser Akteur*innen und Organisationen auf Machtkonstellationen und Rechtsordnung: „Zwar hat die auf universalistischen und rationalistischen Prinzipen basierende transnationale Rechtsordnung unter dem Dach von Europarat und Europäischer Union neue Repertoires der Artikulation religiöser Anerkennungsforderungen geschaffen, auf die sich auch muslimische Minderheiten stützen können. Doch die im Zuge der europäischen Integration entstandenen politischen Akteurs- und Machtkonstellationen und Codierung kollektiver Identität haben teilweise die Asymmetrien im religiösen Feld verstärkt, symbolische Grenzen zwischen Europa und dem Islam akzentuiert und nationale Staat-Kirche-Beziehungen bestärkt“ (Koenig 2007: 361).

  13. 13.

    Die meistbekannten dieser Rechtsfälle sind etwa: Dahlab vs. Schweiz (2001), Dogru vs. Frankreich (2009), Lautsi und andere vs. Italien (2011). Dazu mehr in Bhuta 2012; Mahmood 2016.

  14. 14.

    So z. B. Bhuta zufolge „The equation of Islamic religious practices with intolerance, discrimination and inequality could be understood as evincing a rationalist critique of religious values per se, and a purely secular vision of democratic politics. But […] when we turn to its recent decision in Lautsi, this is not the case at all. When it comes to Christian religious values, their potential inconsistency with democracy, equality and tolerance is never in doubt, revealing sharply the degree to which this line of cases rests not on a thorough-going rationalist secularism, but rather a political theology of Christian democracy in which the identity of democratic values with an imagined Christian civilizational tradition is unquestioned“ (Bhuta 2012: 12).

  15. 15.

    Als ein exemplarisches Beispiel dafür nennt Taylor den französischen Laizismus und das Kopftuchverbot.

  16. 16.

    Im Jahr 2011 wurde auch einigen weiteren, in Georgien traditionell bestehenden religiösen Organisationen (z. B. die Armenische Kirche und die Katholische Kirche) der rechtliche Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts gewährt. Jedoch können sie im Unterschied zur GOK, die als historisch entstandene Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist, diesen Status nur mittels Registrierung erhalten. Zviadadze zufolge, „[a]fter 2005 religious organizations were registered in Georgia as legal entities under private law. Far from being content with such a status, however, such organizations preferred to register as a foundation or a non-profit organization. That is why the national legislation was amended in 2011 to change the status of religious organizations in Georgia. On July 5, 2011, the Parliament of Georgia adopted an amendment to Article 1509 of the Civil Code of Georgia, thus enabling those religious organizations that had historical links to Georgia or were registered in any member state of the Council of Europe to register as legal entities under public law“ (Zviadadze 2015: 49).

  17. 17.

    Dieses Zitat von van der Zweerde betrifft die Beziehungen zwischen dem russischen Staat und der Russischen Orthodoxen Kirche. Jedoch passt es m. E. trotz einiger Unterschiede auch zu den georgischen Beziehungen.

  18. 18.

    Wendy Brown beschreibt die Ära der schwindenden Souveränität des Nationalstaates folgendermaßen: „As it is weakened and rivaled by other forces, what remains of nation-state sovereignity becomes openly and agressively rather than passively theological. So also do popular desires for restored sovereign might and protection carry a strongly religious aura“ (Brown 2010: 62).

  19. 19.

    Im Anschluss an Mauss macht van der Veer keine starke Trennung zwischen Gesellschaft, Nation und Nationalstaat. In der durch van der Veer aus dem Französischen ins Englische übersetzten Passage schreibt Mauss: „A society in its entirety has to some extent become the State, the sovereign political body; it is the totality of citizens“ (Mauss 1969, zitiert nach van der Veer 2001: 32). Van der Veer schlussfolgert daraus: „What we find in Mauss is a rejection of the common distinction between civil ties and primordial bonds, between citizenship and ideas of ethnicity, race, language, and religion. In his view, they all go together in a complex transformation of society into the nation-state. For Mauss, one of the most interesting aspects of this process is that it produces simultaneously the individual and the nation“ (van der Veer 2001: 32).

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Janelidze, B. (2023). Der doppeldeutige Säkularismus: Staat und Regulierungen der Religion im postsowjetischen Georgien. In: Umstrittene Säkularität . Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41891-5_5

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-41890-8

  • Online ISBN: 978-3-658-41891-5

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