Nachfolgend werden Merkmale von Unterrichtsqualität (Abschnitt 3.1) dargelegt, um damit einerseits darzustellen, hinsichtlich welcher Aspekte die Lehrpersonen gefordert werden, um einen guten, qualitätsvollen Unterricht durchzuführen. Andererseits soll der Kontext ausgeleuchtet werden, in welchem Unterrichtsstörungen potenziell auftreten bzw. wie Störungen durch einen qualitätsvoll gestalteten Unterricht verringert werden können. Betrachtet werden zwei systemische Rahmenmodelle und die generischen Basisdimensionen zur Erklärung von Unterrichtsqualität. Da die Basisdimension der effektiven Klassenführung eine wichtige Grundlage eines möglichst störungsfreien Unterrichts darstellt (Helmke, 2021), wird diese Dimension in einem eigenen Kapitel beleuchtet (Abschnitt 3.2). Schliesslich wird in Abschnitt 3.3 auf die Gestaltung von Unterricht in Settings für personalisiertes Lernen eingegangen, um dadurch diesen spezifischen Kontext für die Produktion sowie Wahrnehmung von und Umgang mit Unterrichtsstörungen zu betrachten. Dieses Kapitel schliesst mit einem Zwischenfazit (3.4).

3.1 Merkmale von Unterrichtsqualität

Das Hauptziel von Unterricht liegt darin, individuelle Lernprozesse zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten (Helmke, 2021, S. 19). Unterricht hebt sich von anderen Formen der Erziehung durch seinen institutionellen Kontext, durch die Professionalität der Erziehenden, durch seinen Gegenstandsbezug sowie durch Handlungs- und Interaktionsmuster ab, die für die Institution spezifisch sind (Klieme, 2019). Bei Unterricht handelt es sich um eine

«…Form des systematischen pädagogischen Handelns, das darauf abzielt, Lernenden ein Verständnis von Lerninhalten (‹Gegenständen›) zu vermitteln, damit zugleich in unterschiedliche (fachliche) Modi des Denkens und Handelns einzuführen, den Erwerb fachlicher und fächerübergreifender Kompetenzen zu fördern und Bildung – als Aneignung von Kultur und als Entfaltung einer mündigen Persönlichkeit – zu ermöglichen» (Klieme, 2019, S. 393).

Schüler:innen konstruieren ihr Verständnis von Lerngegenständen unter Anleitung der Lehrperson aktiv und eigenständig, da Lernen vor dem Hintergrund eines konstruktivistischen Lehr- und Lernverständnisses über die Ausführung geistiger Operationen erfolgt und durch reflektiertes Verstehen geprägt ist (Aebli, 2011). Neues Wissen wird von den Schüler:innen aktiv in bereits bestehende Wissensstrukturen integriert (Reusser, 2016). Dazu braucht es Lerngelegenheiten, die deren Motivation, Aufmerksamkeit und tiefes Verstehen gleichermassen fördern (Reusser & Pauli, 2010). Zur Gestaltung dieser Lerngelegenheiten sind die Lehrpersonen in ihrem Handeln gefordert. Die Kerndimensionen von Unterricht und unterrichtlichen Handlungsanforderungen der Lehrpersonen sind im didaktischen Dreieck dargestellt (Abbildung 3.1). Die drei Pole, Lehrperson, Lernende und Lerngegenstand stehen in Wechselwirkung zueinander. Die Ziel- und Stoffkultur, die Wissens- und Lehrkultur und die Beziehungs- und Unterstützungskultur bilden die drei Seiten des Dreiecks (Reusser, 2006). Guter Unterricht zeichnet sich demnach dadurch aus, dass die Lehrperson Bildungsinhalte wählt, die problemorientiertes und selbstreguliertes Lernen ermöglicht, indem kognitiv-anregende Lernaufgaben sowie gute Lehrmittel verwendet und klare Ziele formuliert werden (Reusser, 2006, 2021). Weiter nimmt die Lehrperson ihre Verantwortung wahr, die Schüler:innen zu einer motivierten, kognitiv tief durchdrungenen Stoffverarbeitung anzuregen. Letztlich übernimmt die Lehrperson die Aufgabe der Lernbegleitung, indem sie für eine gute Kommunikations- und Interaktionsqualität sowie für den Aufbau eines günstigen Beziehungsklimas sorgt (Reusser, 2014). In der Figur dargestellt sind demnach die zentralen Handlungsfelder der Lehrperson, die gleichzeitig die komplexen Anforderungen an den Lehrer:innenberuf sichtbar machen.

Abbildung 3.1
figure 1

Drei Qualitätsstrukturen von Unterricht (Reusser, 2006)

Dem konstruktivistischen Lehr-Lern-Verständnis folgend, beinhaltet Unterrichten im Sinne von Angebots-Nutzungsmodellen (Abbildung 3.2 und Abbildung 3.3) die Gestaltung von Lernumgebungen durch die Lehrperson. Ziel ist, optimale Lerngelegenheiten für die Schüler:innen zu schaffen, damit sich diese in einer möglichst effektiven Lernumgebung (weiter)entwickeln können (Rakocy & Klieme, 2016; Reusser & Pauli, 2010). Die Qualität des Unterrichts und die Lernleistung der Schüler:innen sind von zwei Seiten abhängig (Helmke, 2021; Reusser & Pauli, 2010): Lehrpersonen begleiten die Schüler:innen auf ihrem Weg, das von ihnen zur Verfügung gestellte Angebot effektiv nutzen zu können.

Im systemischen Rahmenmodell der Unterrichtsqualität (Abbildung 3.2 und Abbildung 3.3) wird das Bildungsangebot der Bildungsnutzung gegenübergestellt. Die Qualität wird von multisystemischen Dimensionen beeinflusst. Im Zentrum steht das Kernelement – der Unterricht. Auf der linken Angebotsseite steht die Lehrperson mit ihren Voraussetzungen auf der Klassenebene als zentrale Figur für die Angebotsgestaltung.

Abbildung 3.2
figure 2

Angebots-Nutzungs-Modell (Reusser und Pauli, 2010, S. 18)

Auch wenn die Leistungsentwicklung davon abhängt, inwiefern die Schüler:innen das zur Verfügung stehende Angebot nutzen, lassen sich Unterschiede in der Leistungsentwicklung der Schüler:innen zu grossen Anteilen durch Faktoren erklären, welche auf die Lehrperson zurückzuführen sind (Hattie, 2014). Wie qualitätsvoll eine Lehrperson das Unterrichtsangebot gestaltet, ist demnach zentral für die Leistungsentwicklung der Schüler:innen. Die Gestaltung eines qualitätsvollen Unterrichts ist wiederum von Voraussetzungen und Merkmalen der Lehrperson abhängig, wie deren berufliche Expertise, Überzeugungen und Orientierungen (Helmke, 2021; Reusser & Pauli, 2010).

Im Rahmenmodell von Reusser und Pauli (2010) steht der Unterricht im Zentrum. Die Lehrer:innen- und Schüler:innenmerkmale werden auf der Angebots- bzw. Nutzungsseite in ausgeglichenem Verhältnis abgebildet. Im Angebots-Nutzungs-Modell nach Helmke (2021; Abbildung 3.3) werden die Voraussetzungen der Schüler:innen im Vergleich zum Rahmenmodell von Reusser und Pauli (2010) weniger zentral verhandelt. Die Relevanz der Lehrer:innenmerkmale für die Angebotsgestaltung sowie die Bedeutung des Kontextes stehen im Vordergrund. Leicht erkennbar ist, dass die Gestaltung eines lernwirksamen Unterrichts – neben dem Professionswissen und den Klassenführungskompetenzen der Lehrperson – auch von ihren pädagogischen, impliziten Orientierungen beeinflusst wird.

Abbildung 3.3
figure 3

Angebots-Nutzungsmodell (Helmke, 2021, S. 71)

Zur Frage, wie ein qualitätsvolles Unterrichtsangebot idealerweise gestaltet wird, liegen breit gestützte theoretische und empirische Erkenntnisse vor. Guter Unterricht wird durch die Orchestrierung von Inhalten und Methoden unter Beachtung der generischen Qualitätsdimensionen von Unterricht erzielt (Helmke, 2021; Klieme, 2019). Die Qualität von Unterricht zeichnet sich vor allem durch dessen Tiefenstrukturen und nicht durch die Oberflächenstruktur von Unterricht aus (Reusser, 2008). Zur Oberflächenstruktur zählen leicht beobachtbare Merkmale von Unterricht, wie bspw. Unterrichtsmethoden oder im Unterricht eingesetzte Medien. Diese Merkmale der Oberflächenstruktur von Unterricht haben eine geringe Erklärungskraft für die Schulleistung (Hattie, 2014). Hingegen sind Merkmale auf der Tiefenstruktur, die auf die Förderung von Verstehensprozessen wirken – wie gehaltvolle Lernaufgaben, verstehensorientierte Lehrergespräche, Klarheit und Verständlichkeit von Erklärungen und Feedback – erklärungsmächtig für den Lernerfolg der Schüler:innen (Lipowsky & Bleck, 2019).

Die empirische Unterrichtsforschung identifiziert evidenzbasierte Merkmale guten Unterrichts, die auf tiefenstruktureller Ebene liegen. Sie können gemeinsam mit deren angenommene Wirkungen in drei – mittlerweile vier – Basisdimensionen (Abbildung 3.4) zusammengefasst werden (Lipowsky, 2020; Lipowsky & Bleck, 2019). Diese sind: effektive Klassenführung, unterstützendes Unterrichtsklima und konstruktive Lernunterstützung, kognitive Aktivierung sowie die inhaltliche Klarheit und Verständlichkeit (Lipowsky, 2020; Praetorius & Charalambous, 2018). Lipowsky (2020) fügt dem eine vierte Basisdimension hinzu (‹Inhaltlich verständliche und kohärente Behandlung zentraler Konzepte, Ideen und Prinzipien›), die nahe an der Dimension der kognitive Aktivierung zu verorten ist, da beide Dimensionen «sich darüber auf den Aufbau von Wissen und die Entwicklung von Verständnis auswirken sollte» (Lipowsky, 2020, S. 105). Die vierte Dimension unterscheidet sich jedoch hinsichtlich der Bezugnahme auf das Planungsmoment eines an Klarheit und Strukturiertheit orientieren Unterrichts und hinsichtlich der Bereitstellung lernrelevanter, fachlicher zentraler Einheiten (Lipowsky, 2020). Der Identifizierung einer vierten Dimension immanent ist Feststellung, dass die inhaltlich-fachliche Klarheit von Unterricht in den drei Basisdimensionen nicht ausreichend abgedeckt ist. Auch andere Autor:innen proklamieren die Bedeutung einer vierten generischen Dimension und beziehen diese auf den fachdidaktischen Bezug, der in den drei ursprünglichen Basisdimensionen weitestgehend fehlt (Praetorius, Rogh, & Kleickmann, 2020).

Abbildung 3.4
figure 4

Basisdimensionen guten Unterrichts und deren angenommenen Wirkungen (Lipowsky 2020, S. 105)

Nachfolgend werden diese vier Dimensionen erläutert und aufgezeigt, welche Anforderungen an das Handeln der Lehrpersonen gestellt werden.

Dimension 1: Inhaltlich verständliche und kohärente Behandlung zentraler Konzepte, Ideen und Prinzipien. Ein inhaltlich klarer Unterricht zeichnet sich durch eine sprachliche-präzise Klarheit, eine fachliche Korrektheit sowie eine inhaltliche Kohärenz in der Darstellung zentraler Unterrichtsgegenstände aus (Lipowsky, 2020). Die Lehrperson ist dazu gefordert, in ihrer Unterrichtsplanung die Auswahl und die Darbietung der zentralen Konzepte einer Einheit vorzubereiten, sodass die Schüler:innen während des Unterrichts auf die tatsächlich relevanten Inhalte fokussieren können (Lipowsky, 2020).

Dimension 2: Kognitive Aktivierung und metakognitive Förderung der Lernenden. Das Konstrukt der kognitiven Aktivierung umschreibt die Förderung eines vertieften Verständnisses bei den Schüler:innen und die Anregung zu einer elaborierten Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand (Lipowsky, 2020). Der kognitiven Aktivierung dienliche Strategien sind bspw. der Einsatz von kognitiv herausfordernden Aufgaben, deren Lösung ein hohes Mass an Eigenaktivität der Schüler:innen erfordert; eine diskursive Unterrichtskultur, in der auf herausfordernde Fragen elaborierte Antworten verlangt werden; und die Vermittlung überfachlicher und fachlicher Lernstrategien (Lipowsky, 2020). Ein kognitiv aktivierender Unterricht bietet den Lernenden Raum, ihre Ideen im gemeinsamen Austausch zu elaborieren und zu analysieren (Lipowsky, 2020).

Dimension 3: Unterstützendes Unterrichtsklima. Lernerfolgsversprechendes Schüler:innenverhalten zeichnet sich durch deren hohes Engagement aus (Lipowsky, 2020). Ein unterstützendes Unterrichtsklima, das durch eine positive Lehrer:innen-Schüler:innenbeziehung gekennzeichnet ist, ermöglicht das Erleben sozialer Eingebundenheit und damit die Förderung der Motivation bei den Schüler:innen (Lipowsky, 2020; Ryan & Deci, 2020). Lehrpersonen schaffen eine Lernumgebung, in der sich die Schüler:innen wohlfühlen und deren Lernen positiv beeinflusst wird (Helmke, 2021). Erreicht wird ein entsprechendes Klima, indem die Lehrperson für gegenseitigen Respekt, Verantwortungsübernahme und Gerechtigkeit in der Klasse sorgt (Meyer, 2004). Die begriffliche Unschärfe des Klimabegriffes manifestiert sich in der Benennung dieser Dimension, die deswegen häufig auch als konstruktive Lernunterstützung bezeichnet wird (Lipowsky, 2020). Zweierlei Richtungen zur Beleuchtung dieser Dimension guten Unterrichts finden aktuell Eingang in Studien: Einerseits wird auf den wertschätzenden Umgang, Empathie, Fürsorge und Interesse der Lehrperson fokussiert. Andererseits wird ihre fachliche und adaptive Unterstützung hervorgehoben (Lipowsky, 2020). Im Zusammenhang mit der zunehmenden Heterogenität wird der adaptiven, an das Kind angepassten Unterstützung einzelner Schüler:innen als Form der Individualisierung zusehends Gewicht verliehen (Krammer, 2009).

Dimension 4: Klassenführung und Strukturiertheit. Eine effektive Klassenführung führt zu positiven Effekten hinsichtlich der Motivation, des Interesses und der Leistung der Schüler:innen (Rakocy & Klieme, 2016) und wirkt sich positiv auf den Fokus der Aufmerksamkeit der Schüler:innen, die Lernzeitnutzung und das Erleben eigenen Kompetenzen aus (Lipowsky, 2020). Eine effiziente Führung der Klasse stellt eine zentrale Voraussetzung für den Lernerfolg der Schüler:innen dar (Ophardt & Thiel, 2017). Ein guter, störungsfreier Unterricht und eine effektive Klassenführung beeinflussen sich gegenseitig. Ist der Unterricht motivierend gestaltet, werden die Schüler:innen kognitiv aktiviert und in ihrem individuellen Lernprozess unterstützt, was wiederum zu weniger Unterrichtsstörungen führt. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass das Unterrichten in effektiv geführten Klassen wiederum viel leichter ist als in Klassen, in denen viele Störungen auftreten (Helmke, 2021; Helmke & Helmke, 2015). Aufgrund der zentralen Relevanz für den Umgang mit Unterrichtsstörungen wird diese Dimension im nächsten Kapitel (3.2) vertiefend dargestellt.

Die Orientierung an den vier Basisdimensionen zur Gestaltung eines qualitätsvollen Unterrichtsangebotes obliegt der Verantwortung der Lehrperson und kann damit auf der Angebotsseite verortet werden (Lipowsky, 2020). Ein entsprechendes Unterrichtsangebot, kann auf der Nutzungsseite dazu führen, dass sich die Schüler:innen qualitätsvoll, entsprechend fokussiert, tiefenverstehend und unter optimaler Lernzeitnutzung in sozialer Eingebundenheit (Ryan & Deci, 2020) mit einem Lerngegenstand auseinandersetzen können. Die Basisdimensionen von Unterrichtsqualität bilden unterschiedliche Kompetenzfelder der Lehrperson ab, die für den Lernerfolg der Schüler:innen verantwortlich gemacht werden können: Eine gute Lehrperson ist in der Lage, den Informationsverarbeitungsprozess effektiv zu unterstützen, die Schüler:innen zu motivieren, sich aktiv neues Wissen anzueignen, und dabei die Lerngruppe so zu steuern, dass Lernen möglich ist und Störungen vermieden werden (Ophardt & Thiel, 2017). Die Dimension der Klassenführung ist insofern zentral, als sie die anderen Dimensionen überhaupt erst ermöglicht: Lernprozesse müssen in einem dynamischen System koordiniert werden – und zwar so, dass idealerweise allen Schüler:innen Lernerfolge ermöglicht werden (Ophardt & Thiel, 2017, S. 247). Eine erfolgreiche Lehrperson führt einen störungsarmen Unterricht durch und es gelingt ihr, die Schüler:innen dadurch so zu motivieren, dass sich diese eigenaktiv und aufmerksam am Unterrichtsprozess beteiligen. Strategien der Klassenführung sollen idealerweise an die (situativen) Kompetenzen der Schüler:innen angepasst werden. Die Qualität des Unterrichts ist neben persönlichen Merkmalen der Lehrpersonen – wie Orientierungen und Überzeugungen – davon abhängig, inwiefern Lehrkräfte über Planungs- und Steuerungskompetenzen und ergänzend dazu auch über Diagnosekompetenzen (Wettstein & Scherzinger, 2019) verfügen.

Die Dimension der Klassenführung ist für den Umgang und die Prävention von Unterrichtsstörungen grundlegend (Wettstein & Scherzinger, 2019). Nachfolgend werden daher relevante Aspekte sowie ausgewählte Forschungserkenntnisse der Klassenführung als Basisdimension von Unterrichtsqualität dargestellt.

3.2 Klassenführung als Basisdimension von Unterrichtsqualität

Klassenführung als Basisdimension guten Unterrichts ist aufgrund empirischer Befunde für einen qualitätsvollen, störungsfreien Unterricht unerlässlich und stellt eine zentrale Komponente in der Erklärung des Lernerfolgs der Schüler:innen dar (Ophardt & Thiel, 2013; Praetorius & Charalambous, 2018). Eine effektive Klassenführung ist eine Grundvoraussetzung zur Optimierung der aktiven Lernzeit der Schüler:innen (Ophardt & Thiel, 2013; Helmke & Helmke, 2015). Ein störungsarmer, flüssiger Unterricht, ein lerndienliches Unterrichtsklima sowie ein belastbares Arbeitsbündnis zwischen Lehrkraft und Schüler:innen dienen als Indikatoren für eine gelungene Klassenführung (Ophardt & Thiel, 2013). So ist die Klassenführung – wie kein anderes Merkmal guten Unterrichts – derart eng mit dem Leistungserfolg der Schüler:innen verknüpft (Helmke & Helmke, 2015). Verständlich wird damit, wieso Klassenführung spätestens seit der Einführung international standardisierter Leistungstests eines der zentralen Themen der pädagogischen Psychologie darstellt (Seidel, 2015; Warwas & Dreyer, 2010).

Klassenführung ist nicht als gesonderte Kompetenz der Lehrpersonen zu denken, sondern als «integraler Teil des Prozesses des Unterrichtens» (Seidel, 2015, S. 108). Klassenführung beinhaltet sämtliche Aktivitäten der Lehrperson, die der Herstellung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in der Schulklasse dienen und damit den einzelnen Schüler:innen als auch der Lehrperson ermöglicht, dem geplanten Lernprogramm zu folgen (Ophardt & Thiel, 2013, S. 46). Klassenführung umfasst Massnahmen, die dazu beitragen, einen reibungslosen Ablauf des Unterrichts zu gewährleisten und damit auch mit Unterrichtsstörungen umzugehen sowie eine möglichst zeitintensive Auseinandersetzung mit Lerninhalten zu gewährleisten (Seidel, 2015). Zur Koordination individueller Lehr-Lern-Prozesse in einem dichten, dynamischen sozialen System sind entsprechende KlassenführungstechnikenFootnote 1 notwendig (Doyle, 2006; Kounin, 2006; Ophardt & Thiel, 2013; Ophardt & Thiel, 2017; Seidel, 2015). Allgemeiner formuliert und die Steuerung der Aktivitätsstrukturen fokussierend, kann im funktionalen Ansatz von Walter Doyle (2006) Klassenführung als Orchestrierung der Handlungsimpulse der Schüler:innen auf ein gemeinsames – am Lernziel orientiertes – Handlungsprogramm aufgefasst werden. Die Förderung der Lernmotivation betonend wird nach Weinert (1996, S. 124) ersichtlich, dass Klassenführung bedeutet: «… die Schüler einer Klasse zu motivieren, sich möglichst lange und intensiv auf die aktuelle Lernaktivität zu konzentrieren, und – als Voraussetzung dafür – den Unterricht möglichst störungsarm zu gestalten oder auftretende Störungen schnell und undramatisch beenden zu können».

Die unterschiedlichen Definitionen zeigen, dass bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung der Klassenführung Uneinigkeit herrscht (Warwas & Dreyer, 2010). Anhand einer Zusammenschau zentraler Publikationen zur Klassenführung lässt sich festhalten, dass insgesamt vier zentrale Bereiche der Klassenführung ausgemacht werden können: 1) Etablierung von Normen, Regeln und Routinen sowie Aufbau von Verhalten als individuelle Verhaltensmodifikation, 2) Steuerung von Unterrichtsprozessen 3) Klassenführung als Begleitung von Lernprozessen und 4) Klassenführung als Umgang mit Unterrichtsstörungen (Ophardt & Thiel, 2017; Seidel, 2015). Die Ausführungen zu den vier Anforderungsbereichen stellen dar, woran sich eine Lehrperson im Sinne der Erkenntnisse zu einer effektiven Klassenführung idealerweise orientiert, um zum einen möglichst störungsfreien und damit qualitätsvollen Unterricht zu gestalten und zum anderen produktiv mit Störungen umzugehen. Nachfolgend werden alle vier Bereiche skizziert, um daraus in einem zweiten Teil Bezüge zu drei übergreifenden Grundströmungen von Forschungszugängen zur Klassenführung herzustellen.

  1. 1.

    Etablierung von Normen, Regeln und Routinen sowie Aufbau von Verhalten als individuelle Verhaltensmodifikation. Das Handlungsprogramm einer Lehrperson gewinnt an Klarheit, wenn Verhaltenserwartungen verdeutlicht werden. Regeln und Routinen sind zentral für eine effektive Klassenführung. Routinen – verstanden als wiederkehrende Verhaltensprogramme – schaffen Freiräume für Möglichkeiten adaptiven Handelns der Lehrperson (Bromme, 2014), da sie Verhaltenssicherheiten generieren, in denen die beteiligten Akteure wie Züge auf Schienen laufen. Erwünschtes Verhalten wird besonders wirksam über behavioristische Verhaltensmodifikation aufgebaut (Brophy, 2006; Ophardt & Thiel, 2013). Eine Präventionsmassnahme von Störungen kann darin liegen, eine funktionale Verhaltensanalyse durchzuführen und in der darauf aufbauenden Intervention alternative Verhaltensweisen aufzuzeigen, die mit dem vorgesehenen Handlungsprogramm aufgehen (Ophardt & Thiel, 2017).

  2. 2.

    Steuerung von Unterrichtsprozessen und Management von Lernzeit: Mit der Steuerung von Unterrichtsprozessen wird die Ermöglichung und Initiierung eines primären Handlungsvektors durch gezielte Kanalisierung von Aufmerksamkeit gewährleistet (Doyle, 2006, S. 102). Diese Steuerungsstrategien werden bspw. von Kounin (2006) in seinem ökologischen Ansatz konzeptualisiert und haben bis heute kaum an Gültigkeit verloren. Eine Voraussetzung dafür, diese Strategien umsetzen zu können, ist das Vorhandensein von Wahrnehmungs- und Diagnosekompetenzen der Lehrperson. Dieses Monitoring – auch ‹situation awarness› genannt – ist nötig, um einen globalen Überblick über Klassenaktivitäten zu haben, worin sich Expert:innen und Noviz:innen unterscheiden (Ophardt & Thiel, 2017). Wird Klassenführung als Bereitstellung maximaler Lernzeit betrachtet, hängt das zwar eng mit dem Umgang mit Unterrichtsstörungen zusammen, betont aber stärker die vorausschauende Planung einer Unterrichtssequenz durch die Lehrperson. Das Management von Lernzeit hat einen grossen Effekt auf den Lernerfolg der Schüler:innen. Der Strukturierung des Unterrichts und der Bereitstellung möglichst klarer Zielstellungen wird eine wichtige Bedeutung zugeschrieben (Lipowsky, 2020).

  3. 3.

    Begleitung von Lernprozessen. Den Lernprozess der Schüler:innen fokussierend besitzt die Klassenführung im Sinne der Lernbegleitung eine prozessorientierte Komponente. Die Bereitstellung einer Lernumgebung, in welcher die Lernaktivität der Schüler:innen zentral ist, entspricht den aktuellen Untersuchungszugängen von Lehr-Lern-Prozessen (Seidel, 2014). Die Verantwortung der Lehrperson besteht darin, dass sie Lernumgebungen für die Schüler:innen bereitstellt, in denen extrinsische Motivationslagen der Schüler:innen in eigene Ziele internalisiert werden können (Prenzel, 1995). Bislang hat die Klassenführung nicht mit diesen lernprozessbegleitenden, schülerorientierten Konzepten Schritt gehalten (Nie & Lau, 2009). Der Fokus sollte nicht länger darauf liegen, das Verhalten der Schüler:innen zu kontrollieren, sondern sich vielmehr darauf zu konzentrieren, die Schüler:innen zu begleiten und sie anzuleiten, sich selbst zu kontrollieren (ua. Ophardt & Thiel, 2013).

  4. 4.

    Umgang mit Unterrichtsstörungen:Footnote 2 Regeln und Routinen und eine optimale Begleitung der Lernprozesse können zwar störungspräventiv wirken, sie können aber Unterrichtsstörungen nicht immer vermeiden (Ophardt & Thiel, 2017; Textor, 2015). Ein effektiver Umgang mit Störungen zeigt sich darin, inwiefern Lehrpersonen ihr Handlungsprogramm zu stabilisieren und aufrecht zu erhalten vermögen (Doyle, 2006; Ophardt & Thiel, 2017). Erfahrene Lehrpersonen weichen dabei von diesem Handlungsprogramm ab, da Adaptivität eine zentrale Kompetenz von Experten und Expertinnen darstellt und wichtig für Lernprozesse der Schüler:innen sind (Berliner, 2001). Im Umgang mit Unterrichtsstörungen sind – aus der Perspektive der Klassenführung – verschiedene Kompetenzen einer Lehrperson erforderlich (Ophardt & Thiel, 2017). Störungsbegünstigendes Verhalten der Lehrperson kann bspw. sein, dass eine Lehrperson ihr Handlungsprogramm unklar kommuniziert, unterrichtliche Routinen dysfunktional umsetzt oder offensive Machtmittel einsetzt, um die Schüler:innen zu lenken (Ophardt & Thiel, 2017). Lehrkräfte müssen Störungen frühzeitig wahrnehmen, unter Handlungsdruck adäquat diagnostizieren und darauf eine entsprechende Störungsintervention planen, während die Gruppenaktivierung der übrigen Klassenmitglieder gewährleistet sein muss (Doyle, 2006). Der Umgang mit Unterrichtsstörungen bedingt demnach situationsadäquates und schnelles Handeln in komplexen Situationen (Ophardt & Thiel, 2017). Die Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen setzen voraus, dass Lehrpersonen sich gezielt ihre impliziten Routinen bewusstmachen.

Diese vier ausgeführten Anforderungsbereiche unterliegen unterschiedlichen Handlungslogiken der Lehrperson. Wobei allen voran der vierte und letzte Anforderungsbereich Umgang mit Störungen jenen Bereich darstellt, der keinen Bezug zur Prävention von Unterrichtsstörungen aufweist, sondern das Handlungsprogramm als Reaktion bzw. Intervention auf wahrgenommene Unterrichtsstörungen umfasst. Der erste und zweite Anforderungsbereich entsprechen einem präventiven Verständnis von Unterrichtsstörungen (Warwas & Dreyer, 2010). Dies zeichnet sich dadurch aus, dass Lehrer:innenhandeln das gesamte Unterrichtsgeschehen fokussieren und Unterrichtsstörungen im Voraus zu vermeiden suchen. Hervorzuheben sind vor diesem Ansatz die Forschungsarbeiten Kounins (2006), um einen reibungslosen Unterricht aufrechtzuerhalten (Warwas & Dreyer, 2010). Die Logik des gleichschrittigen Vorgehens für alle Schüler:innen auf Klassenebene wird im dritten Anforderungsbereich durchbrochen. Auch ihm unterliegt eine störungspräventive Logik. Der Paradigmenwechsel, der sich im Anforderungsbereich der Lernprozessbegleitung widerspiegelt, zeigt die Entwicklung und Etablierung offener Unterrichtsformen, in denen die Kompetenzen der Schüler:innen durch variable Lernangebote gezielt(er) gefördert werden (Warwas & Dreyer, 2010). In offenen Unterrichtsformen rücken somit einzelne Schüler:innen in den Fokus der Lehrperson. Die Anforderungen an das Handeln der Lehrpersonen und insbesondere an die Lehrer:innenrolle in Schulen, die häufig offene Unterrichtsformen einsetzen, sind demnach anders als in Schulen mit eher traditioneller Unterrichtsorganisation (Everston & Neal, 2006; Warwas & Dreyer, 2010). Für die Klassenführung bedeutet dies die Notwendigkeit einer stärkeren Prozessorientierung sowie eine kurzfristigere und intensivere Betrachtung des Interaktionsgefüges zwischen Schüler:innen und Lehrperson unter stetiger Berücksichtigung der Aufrechterhaltung der Klassenordnung (Warwas & Dreyer, 2010). Die Erwartungen und Überzeugungen der Lehrperson spielen für die Qualität der unterrichtlichen Interaktionen in offenen Unterrichtsformen eine wichtige Rolle (Warwas & Dreyer, 2010). Auch Helmke und Helmke (2015) zeigen in ihrem systemischen Rahmenmodell der Klassenführung (Abbildung 3.5), dass Überzeugungen und persönliche Merkmale einer Lehrperson für die Umsetzung einer effektiven Klassenführung – mit Bezug auf alle vier Anforderungsbereiche – eine zentrale Rolle spielen.

Abbildung 3.5
figure 5

Wirkungsgeflecht der Klassenführung (Helmke & Helmke, 2015, S. 7)

Das Wirkungsgeflecht zeigt, wie die Effektivität von Klassenführung nicht nur vom Professionswissen in diesem Bereich abhängt, sondern auch von Merkmalen der Lehrerpersönlichkeit: von «der Autorität und Glaubwürdigkeit, dem Auftreten, der Körpersprache über subjektive Theorien dessen, was eine ‹gut geführte› Klasse ist, über subjektive Toleranzspielräume (ab wann wird ein Schülerverhalten als störend empfunden?) bis hin zur Bereitschaft und Fähigkeit, die emotionalen Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern positiv zu gestalten» (Helmke & Helmke, 2015, S. 10; in Anlehnung an Helmke, 2014). Auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen bezogen deutet sich in diesem Modell an, dass es von zentraler Bedeutung ist, zu erfassen, welche Handlungsorientierungen Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen aufweisen. Ebenso zeichnet sich ab, dass der Kontext einen zentralen Einfluss auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen als Anforderungsbereich der Klassenführung ausübt. Je nach fachlichem und didaktischem Kontext der Kooperations- und Evaluationskultur dürfte sich die Ausgestaltung der Klassenführung und damit der Umgang mit Unterrichtsstörungen unterscheiden. In diesem Modell nicht abgebildet ist eine wechselseitige Annahme zwischen der Voraussetzung der Lehrperson und dem Schul- und Unterrichtskontext. Diese Lücke schliesst das interaktionistische Theoriemodell von Unterrichtsstörungen (Eckstein et al., 2016). Darin werden die angenommenen Abhängigkeiten des Unterrichtskontextes für die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen deutlich (Eckstein et al., 2016). Darüber hinaus wird aber auch einen Einfluss der subjektiven Voraussetzungen der Lehrperson auf die Gestaltung des Unterrichtskontextes geltend gemacht (Abbildung 2.1).

Der Produktion und Rezeption sowie der Umgang mit Unterrichtsstörungen muss sowohl vor dem Hintergrund der Handlungsorientierungen der Lehrperson als auch vor dem Hintergrund des jeweiligen Unterrichtskontextes betrachtet werden. Im folgenden Kapitel wird der veränderte Unterrichtskontext an Schulen betrachtet, die personalisierte Lernkonzepte in ihre Unterrichtsstruktur einbinden.

3.3 Personalisierte Lernkonzepte als didaktischer Kontext für die Produktion, Rezeption, und den Umgang mit Unterrichtsstörungen

Die konsequente Umsetzung guten Unterrichts, der sich an den Basisdimensionen von Unterrichtsqualität orientiert, bedarf einer entsprechenden ‹Grammar of Schooling› (Tyack & Tobin, 1994). Unterricht, in dem alle gleichaltrigen Schüler:innen im gleichen Tempo und zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Raum, mit der gleichen Unterstützung und den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut erreichen sollen (in Anlehnung an die 7G des ‹klassischen› Unterrichts bei Helmke, 2013) hat ausgedient und wird den Ansprüchen an einen qualitätsvollen Unterricht nicht gerecht (OECD, 2006). Vielmehr liegt es in der Verantwortung der Schule, auf Fragen des Umgangs mit der zunehmenden Heterogenität «schulpädagogische Antworten» zu finden (Lipowsky, 2020, S. 96), die darin resultieren, dass Massnahmen der Adaption von Lernangeboten und Lernbedingungen sowie die Voraussetzungen der Schüler:innen berücksichtigt werden (Lipowsky, 2020; Stebler, Pauli, & Reusser, 2018). Sogenannte Treiber der Veränderung hin zu einer adaptiven, auch personalisierten Schulpraxis liegen neben dem allgemeinen Trend zur Personalisierung auch im Umgang mit der pädagogischen Heterogenität, der zunehmenden Möglichkeiten durch digitale Medien und auch in veränderten (bildungs-)politischen Anforderungen (Stebler et al., 2021a).

Ein adaptiver, an die Voraussetzungen der Schüler:innen angepasster Unterricht, der die Schüler:innen weder unter- noch überfordert, sich durch eine Methodenvielfalt auszeichnet und die Unterstützung und Motivierung der Schüler:innen berücksichtigt, wirkt störungspräventiv (Wettstein und Scherzinger, 2019). Theoretisch begründbar ist diese Annahme dadurch, dass Schüler:innen im Sinne der Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2020) in offenen Unterrichtssettings ihr eigenes Kompetenzerleben und ihre Autonomie verstärkt wahrnehmen und durch das damit einhergehende Erleben sozialer Eingebundenheit (lern-)engagiertet sind. Diese Steigerung der Lernmotivation führt wiederum zu einer Verringerung von Unterrichtsstörungen (Helmke, 2021, Helmke & Helmke, 2015). Verschiedene Studien zeigen auch, dass ein adaptiver Unterricht, in dem offene Lernformen eingesetzt werden, störungsverringernd ist. Hofstetter (2022) schreibt, dass Unterrichtsstörungen dann auftreten, wenn die Passung zwischen unterrichtlichem Angebot und der schülerseitigen Nutzung nicht übereinstimmt. Eine Optimierung dieser Passung wird in besonderem Masse in offenen Unterrichtsformen angestrebt (Stebler et al., 2021b). Rabenstein und Reh (2009) kommen anhand eines Reviews von 141 Artikeln aus dem Grundschulmagazin zum Schluss, dass «Schüler mit den beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten (…) im offenen Unterricht besser lernen und arbeiten als im Frontalunterricht, auch wenn ihnen zuweilen zunächst eine besondere Form der Unterstützung zukommen muss» (S. 173). Ebenso schreibt Textor (2007), dass Schüler:innen mit besonderen Förderschwerpunkten in (offenen) kooperativen Lernformen häufiger aufgabenbezogenes Verhalten zeigen. Offene Unterrichtsformen, in denen (verhaltensauffällige) Schüler:innen über ihren Lernprozess (mit-)bestimmen können, führen dazu, dass diese sowohl die Lerninhalte als auch den Lernprozess an sich als persönlich bedeutsam wahrnehmen (Textor, 2009). Zentral scheint auch hier die Lernunterstützung der Lehrperson, die für verhaltensauffällige oder schwache Schüler:innen in offenen Unterrichtsformen besonders wichtig für deren Lernerfolg ist (Textor, 2009). Zu dieser Erkenntnis kommt auch Gmür-Ackermann (2021), die zeigt, dass schwache Schüler:innen von offenen Unterrichtsphasen hinsichtlich der aktiven Lernzeit unterschiedlich profitieren. Für die Lehrpersonen zeigen sich jedoch Herausforderungen bezüglich der Überwachung aktiver Lernzeitnutzung der Schüler:innen (Gmür-Ackermann, 2021).

Es existieren unterschiedliche didaktische Konzepte, die eine Öffnung des Unterrichts und damit Adaptivität an die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schüler:innen ermöglichen.

Unterschiedliche Lernkonzepte, die eine Öffnung des Unterrichts anstreben, zeigen inhaltliche Verwandtschaften. Die im deutschsprachigen Raum verbreiteten Konzepte des differenzierenden, individualisierenden Lernens und des adaptiven Unterrichts fokussieren eine optimale Passung zwischen Angebot und Nutzung, wohingegen das selbstregulierte Lernen oder das Konzept des offenen Unterrichts die Steuerung und Verantwortungsübernahme im Lernprozess fokussieren (Mötteli, Grob, Pauli, Reusser, & Stebler, 2021; Stebler et al., 2021a). Die vorliegende Arbeit fokussiert den Unterricht nach personalisierten Lernkonzepten, da – wie noch auszuführen gilt – die Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess sowie die Selbst- und Mitbestimmung in Form von ‹choice and voice›Footnote 3 zentrale Kernelemente für diese Arbeit darstellen. Dieser Ansatz begründet die Störungsprävention durch die Förderung der (Lern-)Motivation im Lernprozess (Mötteli et al., 2021; Rabenstein & Reh, 2009; Textor, 2009).

Nachfolgend werden die Grundlagen der personalisierten Lernkonzepte dargestellt (Abschnitt 3.3.1) und erläutert, wie die didaktischen Arrangements in Schulen gestaltet sind, die nach personalisierten Lernkonzepten unterrichten (Abschnitt 3.3.2).Footnote 4

3.3.1 Grundlagen zu personalisierten Lernkonzepten

Im Umgang mit Heterogenität und den Anforderungen kompetenzorientierter Bildungspläne verändern Schulen zunehmend ihre Ober- und Tiefenmerkmale des Unterrichts in Richtung personalisierten Lernens (Stebler et al., 2021, 2017; Galle, 2021) und weichen mit dieser veränderten Unterrichtsarchitektur von traditionellen Mustern der Lehr-Lern-Organisation ab (Stebler et al., 2017). Personalisierte Lernkonzepte fokussieren unterschiedliche, auf die Schüler:innen zugeschnittene Lernziele und Instruktionsweisen, welche die Lernenden ins Zentrum stellen, also deren Kompetenzaufbau ‹lernseits› denken und damit die Lerngegenstände in die Verantwortung der Schüler:innen legen (Bray & McClaskey, 2015). Erstmals vor gut fünfzig Jahren eingeführt, hat sich die Bedeutung des Begriffes in seinen innersten Kernmerkmalen kaum verändert. So fordert bereist Victor Garcia Hoz in der 1970er Jahren (Pérez Guerrero & Ahedo Ruiz, 2020), dass Schüler:innen ihr Lernen selbst kontrollieren und verschiedene Lernwege nutzen können. Entsprechend benötigt werden Lernumgebungen, in denen die Voraussetzungen der Schüler:innen berücksichtigt und die Nutzung verschiedener Lernwege ermöglich sind. In den auf diese Forderung folgenden Jahren etablieren sich zunehmend personalisierte Lernkonzepte – bis hin zu einer pädagogischen Unumgänglichkeit im Umgang mit den Anforderungen eines modernen Bildungssystems (Müller, 2015). Das personalisierte Lernen findet Eingang in den Bildungsbericht der OECD (2006), indem fünf Kernmerkmale wie folgt definiert werden:

Beim personalisierten Lernen,

  • steht das Lernen und des Lernengagement der Schüler:innen im Zentrum,

  • wird auf kooperatives Lernen in sozialer Eingebundenheit fokussiert,

  • werden individuelle Unterschiede und der Emotionen sowie Motivation der Schüler:innen berücksichtigt,

  • werden die Schüler:innen in der Zone der proximalen Entwicklungsgrenze gefördert,

  • erhalten die Schüler:innen formatives Assessment und Feedback und

  • wird der Transfer zwischen Fächern und ausserschulischen Lerngelegenheiten gefördert.

Diese – in Anlehnung an die bildungspolitischen Forderungen des ehemaligen britischen Erziehungsministers David Miliband formulierten – Kernmerkmale, begegnen drei gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen sich Bildung und Schule konfrontiert sieht: Gleichermassen Exzellenz und Chancengleichheit zu gewährleisten, flexible und lerneffektive Formen der Wissensvermittlung zu fördern, sowie schulische Generalleistungen auf die persönlichen Bedürfnisse anzupassen (Miliband, 2006). Lernkonzepte, die unter dem Schlagwort personalisiertes Lernen international diskutiert werden, orientieren sich an den individuellen Bedürfnissen und Voraussetzungen einer heterogenen Schülerschaft. Sie fokussieren – unter der Prämisse ‹Choice and Voice› (Bray & McClaskey, 2015; Mötteli et al., 2021; Schratz & Westfall-Greiter, 2010) – die aktive, mit- und selbstbestimmende Beteiligung der Schüler:innen. Miliband (2006) fordert, dass Schulsysteme den Bedürfnissen der Kund:innen, also den Schüler:innen entgegenkommt und diesen damit sowohl Wahl- als auch Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Unterrichtsplanung geboten werden (Mötteli et al., 2021). Schüler:innen werden als Individuen wahrgenommen, die Verantwortung für ihr Lernen tragen, dabei eine aktive Rolle einnehmen und dann auch Verantwortung für ihre Bildungskarriere übernehmen – wobei sie Kompetenzen entwickeln, die jene Teilhabe am eigenen Bildungsverlauf ermöglichen (Green, Facer, Rudd, Dillon, & Humphreys, 2005; Stebler et al., 2021a).

Neben bildungspolitischen Forderungen sprechen auch einige empirische Studien der Lehr-Lernforschung und der Motivationsforschung dafür, dass die Motivation der Schüler:innen durch mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gefördert wird (Hartinger, 2005). Gleichzeitig ist es gerade für die Lerneffektivität wichtig, inwiefern sich Schüler:innen in diesen Autonomiespielräumen kompetent oder aber überfordert fühlen (Mötteli et al., 2021). Der Lehrperson kommt eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Schüler:innen zu, damit sie diese Autonomiespielräume produktiv nutzen können. Im Vergleich zu den traditionellen Aufgaben als lernüberwachende Person übernimmt die Lehrperson in personalisierten Lernkonzepten die Rolle einer Lernberaterin und setzt entsprechend auch andere Strategien der Klassenführung um (Evertson & Neal, 2006). Der adaptiven Lehrkompetenz (Baer, 2016; Brühwiler, 2014) kommt dabei eine tragende Rolle zu. Lehrpersonen müssen in der Lage sein, anhand hochgradiger diagnostischer Kompetenzen ihre Schüler:innen in der Zone ihrer nächsten Entwicklungsschritte durch angemessene Unterstützung zu begleiten (Baer, 2016; Müller, 2015). Diese Kompetenzen kommen insbesondere bei schwachen Schüler:innen zum Tragen (Lipowsky & Lotz, 2015; Mötteli et al., 2021).

Das Verständnis personalisierter Lernkonzepte der vorliegenden Arbeit orientiert sich an den fünf Tiefendimensionen personalisierten Lernens nach Stebler, Pauli und Reusser (2021, S. 410–411) nach denen,

  • Unterrichtsangebote an die personalen Bildungs- und Lernvoraussetzungen von Lernenden und Lerngruppen angepasst werden,

  • Schüler:innen anhand des Aufbaus fachlicher, personaler und sozialer Kompetenzen sowie des Aufbaus und der Pflege ihrer Selbstwirksamkeit sowie ihrer Fähigkeiten zum Dialog und kritischem Denken ganzheitlich in ihrer Persönlichkeit gefördert werden,

  • durch Autonomiespielräume und Wahlmöglichkeiten bezüglich Themen, Lernwegen, Lernort und Lernzeit selbstgesteuertes Lernen auf eigenen Wegen ermöglicht wird,

  • die Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess anhand der Bereitschaft zur Anstrengung und zur Messung an verbindlichen Kompetenzerwartungen zur persönlichen Sache gemacht wird und

  • die Lehrperson und die Lerngemeinschaft durch produktive Zusammenarbeit, gegenseitige Begeisterung, kooperative Lernformen und durch die Arbeit am gemeinsamen Gegenstand bildend und unterstützend wirkt.

Wie bereits zuvor beschrieben, sind – neben intensiver Lernunterstützung der Lehrperson – zur optimalen Nutzung der Autonomiespielräume noch weitere Anforderungsbereiche an das didaktische Handeln der Lehrpersonen in personalisierten Arrangements auszumachen, die sich durch die erhöhte Komplexität in personalisierten Lernumgebungen stellen (Galle, 2021; Everston & Neal, 2006). So erfordert die Auf- und Vorbereitung der Lerninhalte – im Vergleich zum eng geführten Klassenunterricht – erweiterte Kompetenzen der Lehrperson, die einen Unterricht vorbereiten muss, der für verschiedene Leistungsniveaus passend ist (Galle, 2021, S. 66). Darüber hinaus setzen Lehrpersonen individuelle Coachings ein, die im Schul- und Unterrichtsalltag fest etabliert sind (Müller, 2015). Zur Bearbeitung dieser Herausforderungen und den veränderten Organisationsstrukturen zeigt sich in perLen-Schulen, dass deren Lehrpersonen mehr in Team arbeiten, wodurch sich wiederum mehr Möglichkeiten für die Unterstützung der Schüler:innen ergeben (Stebler et al., 2018). Wie die didaktischen Arrangements an perLen-Schulen gestaltet sind, wird im folgenden Kapitel anhand empirischer Erkenntnisse erläutert.

3.3.2 Didaktische Arrangements an perLen-Schulen

Der Zusammenhang zwischen der Ausrichtung einer Schule an personalisierten Lernkonzepten und dem Umgang mit Unterrichtsstörungen ergibt sich aus den Lern- und Lehrsettings: Die Entstehung, die Wahrnehmung und die Art von Unterrichtsstörungen ist abhängig vom didaktischen Arrangement und beeinflusst somit auch den Umgang mit den Störungen. Die Steigerung der Lernmotivation der Schüler:innen in didaktischen Settings, die Autonomie und Kompetenzerleben fördern, resultieren in einem verstärkten Lernengagement der Schüler:innen, was wiederum zu einer Verringerung von störungskritischen Verhaltensweisen führt (Hofstetter, 2022; Mötteli et al., 2021; Textor, 2009). In sehr stark personalisierten SchulenFootnote 5 werden auf den Oberflächenstrukturen (gemeint sind direkt beobachtbare Sichtstrukturen, wie bspw. Lernlandschaften) offene Unterrichtsphasen, in denen selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen stattfindet, oft umgesetzt. Zudem unterstützen die Lehrpersonen ihre Schüler:innen in ihrem individuellen Lernen – so führen die Lehrpersonen bspw. individuelle Coachings durch (Stebler et al., 2017, 2018; Stebler, Pauli, & Reusser, 2021b). Von den Lehrpersonen werden in sehr stark personalisierten Schulen Lernjournale eingesetzt, in denen die Schüler:innen ihre individuellen Lernziele und Lernprozesse verfolgen und dokumentieren, dazu kommt der Verwendung unterschiedlicher Formen digitaler Medien (Stebler et al., 2017, 2018, 2021b).

Stebler et al. (2021b) beschreiben bezüglich den zuvor genannten fünf Tiefendimensionen personalisierten Lernens, dass sich perLen-Lehrpersonen wie folgt beim Unterrichten von diesen pädagogisch-didaktischen Prinzipien leiten lassen (Stebler et al., 2021b, ab S. 442):

  1. 1.

    Anpassung der Unterrichtsangebote an die personalen Bildungs- und Lernvoraussetzungen von lernenden Individuen und Lerngruppen: Auf der Oberflächenstruktur haben die Schulen Lernzeiten flexibilisiert, Lernräume umgestaltet und gezielt heterogene Lerngruppen gebildet. Bei den Tiefenstrukturen zeigt sich, dass die Lehrpersonen der perLen-Schulen angeben, eine gemeinsame Grundhaltung zu etablieren, inwiefern und auf welche Art welche Formen des kooperativen Lernens im Unterricht eingesetzt werden. Daneben werden aber auch geführte Sequenzen umgesetzt, sodass von einer Vielfältigkeit eingesetzter Lehr-Lernformen gesprochen werden kann. perLen-Lehrpersonen orientierten sich dabei an der Gestaltung anschlussfähiger Lernangebote für die Schüler:innen und kennen deren Voraussetzungen.

  2. 2.

    Schüler:innen in ihrer personalen, fachlichen und sozialen Kompetenzentwicklung holistisch fördern: Unterricht in perLen-Schulen zeichnet sich durch eine «zielbezogene, strukturierte und durch die Lehrperson überwachte Form des Aufbaus fachlicher, personaler und sozialer Kompetenzen» aus (Stebler et al., 2021, S. 439). In perLen-Schulen werden vier Formen individueller Förderung identifiziert:

    • punktuelle, situationsbezogener Hilfestellungen (in selbstständigen Arbeitsphasen, in denen die Schüler:innen an unterschiedlichen Gegenständen arbeiten)

    • die Förderung von Lernkompetenzen (anhand der Selbstüberwachung durch das Führen von Lernjournals)

    • die Durchführung von Lerncoachings (zur Reflexion des Arbeits- und Lernverhaltens sowie der Fachleistungen und zur Besprechung persönlicher Schwierigkeiten mit der Lehrperson)

    • der Aufbau einer Hilfe- und Kooperationskultur (anhand von Patensystemen, Skripts mit Hilfestellungen oder individueller Lernberatung).

  3. 3.

    Selbstgesteuertes Lernen durch Autonomieräume und Wahlmöglichkeiten ermöglichen: Autonomie und Wahlmöglichkeiten sind im Unterricht der perLen-Schulen fest etabliert. perLen-Lehrpersonen erwarten, dass sich Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten positiv auf die Lernmotivation auswirken. Gefördert wird selbstgesteuertes Lernen, indem Schüler:innen an perLen-Schulen Lern- und Selbstregulierungsstrategien gezielt vermittelt werden. Die Schüler:innen arbeiten mit individualisierten, auf ihre Bedürfnisse angepassten Wochenplänen, während sie Möglichkeiten zum Austausch mit ihren Mitschüler:innen erhalten. Die Lehrpersonen geben den Schüler:innen schrittweise Verantwortung für den eigenen Lernprozess ab.

  4. 4.

    Selbstverpflichtung und Selbstverantwortung für eigene Lernprozesse initiieren: Schüler:innen der perLen-Schulen übernehmen Verantwortung und schätzen die Freiheiten, die sich durch diese Eigenverantwortung ergeben. Schüler:innen geben an, dass sie lernen, ihre Stärken und Schwächen zu analysieren und in der Schule nützliche Themen zu behandeln. Sie haben an gelernt, an einer Sache dranzubleiben und selbstständig zu arbeiten, wodurch sie sich gut für den weiteren persönlichen Weg vorbereitet fühlen.

  5. 5.

    Als Lehrperson und Lerngemeinschaft unterstützend wirken: Lehrpersonen von perLen-Schulen berichten über ein positives, von Kooperation geprägtes Schulklima. Sie sind der Überzeugung, gemeinsam den Unterricht weiterentwickeln zu können und pflegen ihre Schule als Gemeinschaft. Sie nehmen sich mehr Zeit für einzelne Schüler:innen und arbeiten auch häufig zusammen in Teams. Die individuelle Lernunterstützung, die kollegiale Zusammenarbeit, Veränderungen in ihrer Rolle sowie die Zusammenarbeit mit den Eltern erleben sie positiv, wobei ihr Wohlbefinden hoch eingeschätzt wird.

Die Beschreibung des didaktischen Arrangements von perLen-Schulen anhand der fünf Tiefendimensionen personalisierten Lernens zeigt, inwiefern sich diese Schulen an den Basisdimensionen guten Unterrichts orientieren: Durch adaptive, qualitätsvolle Aufgaben, die auf unterschiedliche Weise auch im dialogischen Austausch bearbeitet werden können, wird die kognitive Aktivierung gewährleistet. Als Indikator der kognitiven Aktivierung gilt dabei der Grad der Intensität, mit der sich die Schüler:innen mit dem intendierten Lehrstoff auseinandersetzen (Stebler et al., 2021b, S. 421). Adaptive, verstehensorientierte Lernunterstützung und ein motivierendes Unterrichtsklima – bspw. Lerncoachings, Mitbestimmung und Selbstverantwortung im Lernprozess – ermöglichen perLen-Lehrpersonen eine konstruktive Unterstützung der Schüler:innen. Grundlegendes Ziel einer effektiven Klassenführung ist eine Optimierung der Lernzeit für die Schüler:innen (Stebler et al., 2021b, S. 421). Bei perLen-Schulen besteht jedoch die Problematik, dass die Lernzeit in offenen Lernphasen im Vergleich zu geführten Inputphasen vor allem bei leistungsschwächeren Schüler:innen sinkt (Gmür-Ackermann, 2021). Dieser Befund führt zu der Annahme, dass Lehrpersonen gerade in offenen Unterrichtsphasen durch die in diesen Phasen verringerte Lernzeit der Schüler:innen vermehrt mit Unterrichtsstörungen konfrontiert sind. perLen-Lehrpersonen scheinen in der Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen unterschiedliche Fokusse zu setzen (Hofstetter, 2022). Hofstetter (2022) zeigt in ihrer bezüglich Projektrahmen und Datengrundlage zur vorliegenden Arbeit parallelen Dissertation, dass die Lehrpersonen unterschiedliche, kontextspezifische Massnahmen zur Lernunterstützung und zur Anpassung ihres Unterrichtsprogramms einsetzen sowie sich an unterschiedlichen Regeln und Prozeduren orientieren. Kooperationen im Lehrerteam dienen dabei zur gemeinsamen Entwicklung von Strategien und Massnahmen, das eigene Verhalten bei der Intervention und Präventionen von Unterrichtsstörungen weiterzuentwickeln. Je nach Arbeitsform der Schüler:innen (selbstständiges Arbeiten oder Gruppenarbeiten) nehmen die perLen-Lehrpersonen unterschiedliche Verhaltensweisen als störend oder zumindest störungskritisch wahr (Hofstetter, 2022). So beschreiben Lehrpersonen mit Bezug auf die Prävention und Intervention bei Unterrichtsstörungen etwa Strategien, die auf das Selbstmanagement der Schüler:innen abzielen. Dabei zeigt sich, dass eine Verantwortungsverschiebung bei der Prävention von Unterrichtsstörungen hin zu den Schüler:innen gelingen kann und auch stattfindet: Schüler:innen übernehmen Aufgaben bei der Intervention von störungskritischem Verhalten der Mitschüler:innen, oder aber Arbeitsabläufe werden so eingeübt, dass die Schüler:innen diese selbstständig ausführen können (Hofstetter, 2022). Diese Befunde sind insbesondere im Lichte der bereits erwähnten Selbstbestimmung nach Ryan und Deci (2020) beachtenswert: Die Steigerung der Lernmotivation durch die von Hofstetter (2022) identifizierten Autonomiespielräume sowie das Kompetenzerleben in offenen, auf die Bedürfnisse der Schüler:innen ausgerichteten Lernumgebungen führt zu mehr Lernengagement bei den Schüler:innen, was Mötteli und Kolleg:innen (2021) anhand von Analysen aus der perLen-Studie zeigen konnten. Dieses erhöhte Lernengagement wiederum führt zu einer erwartbaren Verringerung von Unterrichtsstörungen (Textor, 2009).

Wie bereits in den Abschnitten 2.3 und 3.2 ausgeführt, ist grundsätzlich von Interdependenzen zwischen Kontextmerkmalen und Handlungsorientierungen für die Wahrnehmung und den Umgang mit Unterrichtsstörungen auszugehen. In Anbetracht der zuvor ausgeführten didaktischen Charakteristika von perLen-Schulen – also der Schüler:innenorientierung sowie der Praxis der vermehrten Lehrer:innenkooperation in Kombination mit der teilweise stark umstrukturierten Raum- und Zeitnutzung sowie dem Versuch, den Unterricht möglichst adaptiv zu gestalten – ist zu vermuten, dass in solchen Schulen andersartige Handlungsorientierungen in Bezug auf den Umgang mit, aber auch die Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen zu vorhanden sind (Stebler et al., 2021a und 2021b). Empirisch geprüft wurde diese Vermutung bislang jedoch nicht (Lauth-Lebens et al., 2018; Evertson & Neal, 2006). Es ist also noch unerforscht, inwiefern sich bei Lehrpersonen aus perLen-Schulen spezifische Unterschiede in Bezug auf die Handlungsorientierungen zeigen, die sich dann allenfalls auch durch schulische Kontextfaktoren erklären lassen.

3.4 Zwischenfazit

Das Hauptziel guten, qualitätsvollen Unterrichts liegt in der Ermöglichung idealer, durch Eigenaktivität aufgebaute Lernprozesse für die Schüler:innen. Die Anforderungen an das Handeln der Lehrperson bezüglich der unterrichtlichen Angebotsgestaltung wurden in der vorliegenden Arbeit anhand der Denkfigur des didaktischen Dreiecks und der Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts verdeutlicht. Die unterrichtliche Angebotsgestaltung ist dabei von den persönlichen Voraussetzungen der beteiligten Lehrpersonen abhängig.

Aufgrund der zentralen Bedeutung der Klassenführung als Basisdimension guten Unterrichts zur Prävention von und zur Intervention bei Unterrichtsstörungen wurden vier Anforderungsbereiche der Klassenführung dargestellt, um zu zeigen, woran sich eine Lehrperson idealerweise orientiert, um einen möglichst störungsfreien Unterricht zu erzielen. Dabei wurde ausgeführt, dass die Effektivität der Klassenführung sowohl von der impliziten Orientierung der verantwortlichen Lehrperson als auch vom unterrichtlichen Kontext geprägt ist, in dem diese Lehrperson agiert.

Personalisierte Lernkonzepte führen somit zu einer veränderten ‹Grammar of Schooling› (Tyack & Tobin, 1994). Sie begünstigen durch veränderte didaktische Strukturen alternative Möglichkeiten zur Umsetzung der Basisdimensionen qualitätsvollen Unterrichts sowie der Ermöglichung von erweiterten Spielräumen der Mit- und Selbstbestimmung für die Schüler:innen, was für Formen der Prävention von Unterrichtsstörungen, aber auch Möglichkeiten für einen produktiven Umgang mit solchen Störungen von besonderem Wert ist. Personalisierte Arrangements ziehen zudem veränderte Lehrer:innenrollen und damit veränderte Formen der Lernunterstützungen der Schüler:innen nach sich. Dadurch ergeben sich wiederum (neue) Herausforderungen und Möglichkeiten – etwa vermehrte Kooperationsmöglichkeiten – für das Handeln der Lehrpersonen. Offen ist, inwiefern sich die veränderte Lehrer:innenrolle auch in den Handlungsorientierungen von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen niederschlagen bzw. welche Handlungsorientierungen im Umgang mit Unterrichtsstörungen sich in Abhängigkeit von didaktischen Kontextmerkmale rekonstruieren lassen und welche Unterschiede sich dabei zeigen.