Unterrichtsstörungen beschäftigen Lehrpersonen in ihrem Unterricht seit jeher (Textor, 2015). Die Verwendung von Begrifflichkeiten zur Bezeichnung störender Verhaltensweisen sowie die Verantwortungszuschreibungen für Unterrichtsstörungen unterliegen einer historischen Entwicklung (Martens, 2015). Zunächst wurde die Lehrperson fokussiert, die im Falle von auftretenden Unterrichtsstörungen Disziplinschwierigkeiten zu verarbeiten hat. Die Verantwortung für Störungen lag bei der Lehrperson, die in schwierigen Momenten ‚versagt‘ und ihre Klassenführungskompetenzen nicht ausschöpft (Martens, 2015). Danach erfolgte eine Verschiebung für die Ursachen von Unterrichtsstörungen in Richtung der Schüler:innen, die durch pathologisiertes, normabweichendes Verhalten bzw. durch ihre störenden Verhaltensweisen auffallen (Martens, 2015). Die Lehrperson wird vor dem Hintergrund einer schüler:innenbezogenen Ursachenzuschreibung aus ihrer Verantwortung für die Störungsgenese entlassen. Diese Sichtweise auf die schüler:innen- und damit personenbezogenen Ursachenzuschreibung für Unterrichtsstörungen gilt mittlerweile als überholt, jedoch findet sich in Studien dieses Wahrnehmungsmuster bei Lehrpersonen nach wie vor wieder (Martens, 2015). In Abschnitt 2.1 wird diese personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen näher betrachtet. Aktuell erfolgt ein Perspektivwechsel hin zu einem interaktionistischen Verständnis von Unterrichtsstörungen, welches die Störungen am Ort des Geschehens, nämlich am Unterricht festmacht und weder allein die Lehrpersonen noch die Schüler:innen als allein verantwortliche Akteure bei der Entstehung von Unterrichtsstörungen fokussieren (Lohmann, 2007; Martens, 2015; Wettstein, Ramseier, Scherzinger, & Gasser, 2016). Aufgrund ihrer aktuellen Bedeutung wird die interaktionistische Perspektive auf Unterrichtsstörungen in Abschnitt 2.2 genauer beleuchtet. Das vor einem interaktionistischen Verständnis erarbeitete Theoriemodell der Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen der SUGUS-Studie wird anschliessend vorgestellt. Mit dem Modell erfolgt die Darstellung der Genese von Unterrichtsstörungen aus einer interaktionistischen Perspektive (Abschnitt 2.3). Anschliessend wird der Forschungsstand zu häufig berichteten Unterrichtsstörungen (2.4.1) und zum Umgang mit Unterrichtsstörungen (2.4.2) aufgearbeitet. Weiter werden Erkenntnisse zu Folgen (2.4.3) und Ursachen von Unterrichtsstörungen (2.4.4) diskutiert. Das Kapitel schliesst mit einem Zwischenfazit (2.5)

2.1 Personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen

Die personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen ist dadurch gekennzeichnet, dass Störungen anhand von Eigenschaften der als störend identifizierten Personen erklärt werden (bspw. psychische Störungen einer Person wie ADHS, siehe dazu auch Stein & Stein, 2014). Die Identifikation der störenden Person erfolgt aus der Perspektive der Lehrperson. Disziplinschwierigkeiten oder Verhaltensstörungen zur Bezeichnung von Unterrichtsstörungen sind für die personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen kennzeichnend. Der Begriff Disziplinschwierigkeiten zeigt dabei die Verantwortung der Lehrperson zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Unterricht (Lohmann, 2007). Bei Disziplinschwierigkeiten sind es die Schüler:innen, die eine von der Lehrperson gesetzte Regel oder Norm verletzen. Diese Normen und Regeln können je nach Zeitgeist, Fach, Schule und Lehrperson variieren und sich somit auf gesellschaftliche Konstrukte beziehen (Lohmann, 2007; Walter & Walter, 2014). Nolting (2012) bezeichnet Unterrichtsstörungen als «auffällig und lästig» (S. 12) für die Lehrperson, weswegen diese Formen von Unterrichtsstörungen als «Disziplinprobleme» bezeichnet werden. Diese normativen Definitionen sind gekennzeichnet durch eine Missachtung der Verhaltensregeln im Klassenzimmer. Unterrichtsstörungen – oder in diesem Verständnis Disziplinschwierigkeiten – können dann als «Handlungen von Schüler[n], die gegen Regeln für das Verhalten im Unterricht verstossen» (Nolting, 2012, S. 13) definiert werden. Diese können von Person zu Person sehr unterschiedlich sein. Die Lehrperson definiert in diesem Verständnis, welche Verhaltensweisen von ihr erwartet werden und wer im Unterricht welche Rollen einzunehmen hat. Unterrichtsstörungen können dann entstehen, wenn diese Erwartungen von einem oder mehreren Akteuren nicht eingehalten werden (Textor, 2015).

Gleichzeitig wird in diesen auf die Personeneigenschaften der Schüler:innen fokussierenden Definitionen die ‹Verhaltensstörung als Verursachung für die Störung durch die Schüler:innen deutlich (Wicki & Kappeler, 2007; Winkel, 2011). Problematisch ist dies insbesondere vor dem Hintergrund des Labeling-Prozesses (auch Etikettierungsprozess). Individuen werden in ihrem, von der Norm abweichenden Verhalten als «Störer:innen» pauschalisiert (Walter & Walter, 2014). Im Hinblick auf den Unterricht ist dieser Vorgang problematisch, weil so einzelne Schüler:innen längerfristig als die «Verhaltensgestörten» in den Fokus der Lehrpersonen geraten können und dadurch nicht mehr ausreichend gefördert werden (Schweer et al., 2017; Walter & Walter, 2014).

2.2 Interaktionistische Perspektive auf Unterrichtsstörungen

Die interaktionistische Perspektive auf Unterrichtsstörungen kann der personenbezogenen Perspektive gegenübergestellt werden. Im Gegensatz zur personenbezogenen Perspektive auf Unterrichtsstörungen, entfällt bei der interaktionistischen Perspektive die Ursachenzuschreibung auf Merkmale der beteiligten Personen. Nachfolgend wird eine interaktionistische Definition von Unterrichtsstörungen hergeleitet.

In Abgrenzung zur personenbezogenen Perspektive werden Unterrichtsstörungen aus einer interaktionistischen Perspektive folgendermassen definiert: «Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn der Unterricht gestört ist, d. h, wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert unerträglich oder inhuman wird» (Winkel, 2011, S. 29). Es handelt sich in erster Linie um einen gestörten Interaktionszustand. Die personale Verantwortungszuschreibung entfällt demnach, was sich in der Definition von Lohmann (2007, S. 12) zeigt: «Unterrichtsstörungen sind Ereignisse, die den Lehr-Lern-Prozess beeinträchtigen, unterbrechen oder unmöglich machen, indem sie die Voraussetzungen, unter denen Lehren und Lernen erst stattfinden kann, teilweise oder ganz ausser Kraft setzen». Es zeigt sich, dass Störungen sowohl von Schüler:innen als auch von Lehrpersonen ausgehen können und – vor dem Hintergrund eines sozialen (Unterrichts-)Systems – von beiden Seiten betrachtet werden müssen (Walter & Walter, 2014, S. 20). Bspw. wirken seitens der Lehrpersonen unklar kommunizierte Ziele oder dysfunktional umgesetzte Klassenführungsroutinen störungsbegünstigend (Ophardt & Thiel, 2017). Aber auch Schüler:innen können durch bestimmte Verhaltensweisen (wie Schwatzen im Frontalunterricht) die Lehrperson in ihrer Tätigkeit und die Lernprozesse ihrer Mitschüler:innen unterbrechen (Hofstetter, 2022). Unterrichtsstörungen gelten in diesem interaktionistischen Verständnis als koproduzierte Ereignisse, die sowohl von Lehrpersonen als auch von den Schüler:innen verantwortet sein können und bei denen der Fokus auf Störungen des Lehr-Lern-Prozesses liegt (Eckstein, Luger, Grob, & Reusser, 2016; Martens, 2015; Wettstein et al., 2016). Diese Perspektive auf Unterrichtsstörungen versucht, die oben beschriebene personenbezogene Perspektive zu überwinden, indem «störungsrelevante konstitutive Prozesse im sozialen Feld» (Walter & Walter, 2014, S. 9) stärker gewichtet werden.

Eine interaktionistische Definition von Unterrichtsstörungen hat den Vorteil, dass der Fokus nicht etwa auf Verhaltensstörungen und damit auf individuellen Merkmalen einer Person oder der Schüler:innen als Verursachende von Störungen liegt, sondern die Interaktionsprozesse zwischen Lernenden und Lehrenden im Zentrum stehen (Scherzinger et al., 2017). Eine interaktionale Sichtweise auf Unterrichtsstörungen, welche sowohl Lehrpersonen als auch Schüler:innen in den Fokus nimmt, entspricht einem ko-konstruktiven Verständnis von Unterricht (Eckstein et al., 2022). Vor diesem ko-konstruktivistischem Unterrichtsverständnis (Reusser & Pauli, 2010) sind Unterrichtsstörungen als dysfunktionale Interaktionsmuster zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen und als «interaktional ko-konstruierte Phänomene» zu sehen (Eckstein et al., 2022, S. 2). Dabei wird das Hauptziel von Unterricht – das Lernen der Schüler:innen – behindert (Doyle, 1986, 2006). Unterrichtstörungen bringen den didaktischen Kontrakt zwischen Schüler:innen und Lehrpersonen ins Wanken (Thommen & Wettstein, 2007). Der Lehr-Lern-Prozess in Bezug auf ein Lernziel wird durch eine interaktional betrachtete Unterrichtsstörung dysfunktional (Ummel, Wettstein, & Thommen, 2009). Eine Störung des Unterrichts tritt vor der interaktionistischen Perspektive erst dann auf, wenn die am Unterricht beteiligten Akteure tatsächlich in ihrem Lehr- und Lernprozess gestört werden (Eckstein, 2018a).

Trotz der unterschiedlichen Nuancen der Definitionen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es Ereignisse sind, die den Lehr-Lern-Prozess ganz oder ansatzweise verunmöglichen (Grosse Siestrup, 2010; Lohmann, 2007). Die Definition von Unterrichtsstörungen als Momente einer Unterbrechung des Lehr-Lern-Prozesses ist an die Prämissen der empirischen Unterrichtsqualitätsforschung anschlussfähig. So betrachtet führen Unterrichtsstörungen zu einem Verunmöglichen des Hauptziels von Unterricht: Das Lernen der Schüler:innen bestmöglich zu fördern (Helmke, 2021). Für die vorliegende Arbeit wird fortan der Terminus Unterrichtsstörung und damit auch eine interaktionistische Perspektive auf Unterrichtsstörungen präferiert. Im folgenden Kapitel wird ein konkretes Beispiel der Genese von Unterrichtsstörungen aus einer interaktionistischen Perspektive vorgestellt.

2.3 Genese von Unterrichtsstörungen aus einer interaktionistischen Perspektive

Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen stehen sowohl mit personalen als auch mit kontextuellen Merkmalen in Zusammenhang (Eckstein, 2018a; Eckstein et al., 2022). Das interaktionistische Theoriemodell (Abbildung 2.1) der SUGUS-Studie (Eckstein, 2018a) fasst die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen als dynamischen, mehrdimensionalen Prozess auf (Eckstein et al., 2016). In diesem Modell wird dargestellt, dass die Wahrnehmung und die Produktion von Unterrichtsstörungen als eine wechselseitige Beeinflussung verschiedener Merkmale der ‹störenden› und ‹gestörten› Personen betrachtet wird. Die Produktion von Unterrichtsstörungen wird als eine zirkuläre Struktur verstanden. Deutlich wird, dass personale Merkmale von Lehrpersonen als auch von Schüler:innen und Kontextmerkmale des Unterricht die Häufigkeit von Unterrichtsstörungen wie auch die Intensität der Empfindens dieser Störungen bedingen (Eckstein, 2018a). Ob und wie stark eine Störung empfunden wird, kann sich je Person unterscheiden (Eckstein, 2018a, 2018b). Die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen ist aber auch von der gemeinsamen Geschichte einer Klasse und den stattgefundenen Interaktionen beeinflusst (Eckstein, 2018a; Eckstein et al., 2022). Zentral ist, dass einseitige Schuldzuweisungen für Unterrichtsstörungen an die Lehrperson oder an die Schüler:innen vor diesem Hintergrund hinfällig sind, weil Unterrichtsstörungen in einem komplexen, ko-konstruierten Zusammenspiel entstehen.

Die zirkuläre Struktur beschreibt, dass – neben der Rezeption und der Produktion von Unterrichtsstörungen – auch der Umgang oder die Reaktion auf Störungen voraussetzungsreich ist. Wie Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen umgehen, hat wiederum einen zentralen Einfluss auf die weitere Unterrichtsgestaltung. In einem Beispiel gemäss Eckstein et al. (2016, S. 2) konkretisiert bedeutet dies: Eine Klassenlehrerin möchte der Klasse etwas erklären. Ein Schüler verlässt dabei seinen Platz und tuschelt dabei mit seinen Mitschüler:innen. Dieses Verhalten verstösst gegen die im Klassenverbund ausgemachten Normen, wodurch unterrichtliche Devianz entsteht. Sowohl die Lehrperson als auch die Mitschüler:innen werden durch dieses Verhalten abgelenkt und ärgern sich (subjektives Störungsempfinden). Da diesem Schüler das lange Stillsitzen schwerfällt (Merkmale der Störer), kommt das deviante Verhalten häufig vor. Die Lehrperson agiert dadurch zunehmend voreingenommen und ärgert sich schneller darüber als bei anderen Schüler:innen (Merkmale der Gestörten). Das Aufstehen und Tuscheln in diesem Beispiel stört jedoch durchaus unterschiedlich, d. h. hängt vom Kontext des Klassenunterrichts ab (Kontextmerkmale). Während Gruppenarbeiten, in denen Gespräche und Bewegungen teils ausdrücklich erwünscht sind, würde das gleiche Verhalten des Schülers möglicherweise kaum auffallen. Je nach Reaktion der Lehrperson (behaviorale Reaktion) und der Aufnahme dieser Reaktion durch den Schüler (unterrichtliche Erfahrung) kann dieselbe Situation zu einer anderen Entwicklung führen, womit wiederum die Ausgangslage für zukünftige Verhaltens- und Reaktionsweisen des Schülers und der Lehrperson beeinflusst wird.

Abbildung 2.1
figure 1

Theoriemodell der Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen (Eckstein, Grob & Reusser, 2022, S. 5 nach Eckstein, Grob & Reusser, 2016)

Für die vorliegende Arbeit ist von zentraler Bedeutung, dass die Produktion von Störungen, die Wahrnehmung einer Unterrichtsstörung und der Umgang mit Unterrichtsstörungen mit den unterrichtlichen Kontextmerkmalen variieren kann (siehe Kapitel 3) und von subjektiven Merkmalen der ‹gestörten› Person abhängig ist (siehe Kapitel 4).

2.4 Forschungsstand zu Unterrichtsstörungen

Nach der theoretischen Verortung der personenbezogenen und der interaktionalen Perspektiven auf Unterrichtsstörungen sowie den Ausführungen zur Genese von Unterrichtsstörungen vor einem interaktionistischen Modell, erfolgt in den nächsten Abschnitten eine Aufarbeitung ausgewählter Forschungsergebnisse zu häufig berichteten Unterrichtsstörungen (2.4.1) und zum Umgang mit Unterrichtsstörungen (2.4.2). Weiter werden Erkenntnisse zu Folgen (2.4.3) und Ursachen von Unterrichtsstörungen (2.4.4) zusammengetragen. Der Fokus der berichteten Erkenntnisse liegt auf der Lehrperson, da diese im Untersuchungszentrum der vorliegenden Arbeit stehtFootnote 1. Zur Einordnung der Befunde in die Hauptfragestellung, welche Handlungsorientierungen Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen anleiten, ist Wissen über die zuvor genannten Aspekte nötig. In der Fachliteratur gibt es zahlreiche Forschungsarbeiten, die sich mit Unterrichtsstörungen befassen. Zu unterscheiden sind Studien, die im Rahmen des Klassenführungsdiskurses (siehe auch Abschnitt 3.2) oder zum Unterrichtsstörungsdiskurs selbst entstanden sind. Vergleicht man die Fülle an Studien zur Unterrichtsqualität als übergeordnete Dimension, zeigen sich im Forschungsstand zu Unterrichtsstörungen nach wie vor Lücken (Helmke, 2021). Nicht zum Forschungsstand gezählt werden pädagogische Ratgeber zu Unterrichtsstörungen, die zahlreich zur Verfügung stehen (Picard, 2020).

2.4.1 Häufig berichtete Unterrichtsstörungen

In unterschiedlichen Studien werden häufig bagatellhafte Störungen – wie bspw. Hineinreden – aggressive Verhaltensweisen hingegen selten berichtet (Eckstein, 2018a; Makarova et al., 2014; Scherzinger et al., 2017). Diese Befunde weisen eine internationale Konsistenz auf: Belt und Belt (2017) zeigen in ihrer Studie mit finnischen Lehrpersonen, dass die befragten Lehrpersonen bagatellhafte Unterrichtsstörungen als häufigste Formen von Unterrichtsstörungen bezeichnen. Eine Langzeitstudie von Sullivan, Johnson, Owens und Conway (2014) zeigt, welche Störungen südaustralische Lehrpersonen in ihrem Unterricht wahrnehmen. Auch diese Autoren folgern, dass häufig bagatellhafte Störungen (Hineinreden, Lärm machen, Umhergehen, Hausaufgaben nicht machen), hingegen selten aggressives oder dissoziales Verhalten von den Lehrpersonen berichtet werden (Sullivan et al., 2014).

Ähnliche Befunde zeigen Studien aus der Schweiz. So wird das Nichtbefolgen von Anweisungen der Lehrpersonen oder mangelhafte Anstrengungsbemühungen der Schüler:innen häufig als störend wahrgenommen (Scherzinger et al., 2017; Wicki & Kappeler, 2007). Insbesondere das aktiv störende Verhalten durch Schüler:innen wird als Unterrichtsstörung wahrgenommen, dennoch werden auch passive Störungen – wie Hausaufgaben nicht zu machen oder im Unterricht abzuschalten – als belastend wahrgenommen (Scherzinger et al., 2017). In diese Befunde lassen sich die Ergebnisse einer Studie mit Lehrpersonen der Grund- und Sekundarstufe einordnen (Picard, 2020). Die Ergebnisse zeigen, dass knapp die Hälfte aller identifizierten Störungen als akustische Störungen bezeichnet werden. Als zweit- und dritthäufigste Störungen werden Verweigerungen gegenüber der Lehrperson und motorische Unruhen genannt. Selten berichtet wird aggressives Verhalten (Picard, 2020).

Daran anschliessend, konnte Seitz (1991) in seiner Studie zeigen, dass 42,2 % der Unterrichtsstörungen zur Kategorie der verbalen Störungen (Kommentare zu Lehrer:innenäusserungen, Reaktion auf Mitschüler:innen) zählen, 19,2 % stellen nonverbale Aktivitäten dar (Raufen, Zappeln), in 11,2 % der Fälle passieren die Störungen nicht in der Unterrichtssituation selbst (bspw. Hausaufgaben vergessen) und letztlich stellen 16,7 % passive Störungen (Desinteresse) dar. Verletzungen moralischer Normen (Abspicken) stellen mit 6,4 % die kleinste Kategorie der Nennungen dar. Seitz (1991) konnte überdies aufzeigen, dass die wahrgenommenen Störungen abhängig von der Unterrichtsform variieren: Während eines Frontalunterrichts scheinen häufiger Störungen im verbalen Bereich und Störungen bezüglich Passivität aufzutreten. In Phasen der Gruppenarbeit hingegen werden eher Störungen im Bereich der nonverbalen Aktivitäten ausgemacht (Raufen/Zappeln). Die Abhängigkeit wahrgenommener Störungen von der Unterrichtsform zeigt auch eine weitere Studie: Hofstetter (2022) erfasst in ihrer Untersuchung, welche störungskritischen Verhaltensweisen von Lehrpersonen in verschiedenen unterrichtlichen Sozial- und Aktionsformen genannt werden. Alle befragten Lehrpersonen (n = 13) nennen im Klassenunterricht aktive Off-Task-Verhaltensweisen (u. a. Kichern, Schwatzen, Hineinrufen) als störend. Sowohl im Klassenunterricht als auch bei selbstständiger Arbeit benennen die interviewten Lehrpersonen passive Off-Task-Verhalten (alternative Tätigkeiten wie bspw. Malen) als störend. Im Vergleich zum Klassenunterricht sinken die wahrgenommenen Störungen durch Schwatzen (9 Nennungen) in selbstständigen Arbeitsphasen etwas. Dagegen empfinden Lehrpersonen hier unerwünschtes Umhergehen der Schüler:innen als störungskritische Situationen. Wahrgenommene passive Off-Task-Verhaltensweisen belaufen sich auf wenige Nennungen und beziehen sich auf das Nicht-Arbeiten der Schüler:innen oder auf das Nicht-Einsteigen in einen Arbeitsauftrag. Letztlich stellt Hofstetter (2022) fest, dass in Partner- und Gruppenarbeiten Lehrpersonen aktives Off-Task-Verhalten häufig als störend berichten. Als grösste Störungsquellen während dieser Aktionsformen nennen Lehrpersonen: Schwatzen, eigene Ablenkungen oder den Boykott des Gruppenprozesses.

2.4.2 Umgang mit Unterrichtsstörungen

Ein professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen setzt voraus, dass fundiertes Wissen über diesen Vorgang vorhanden ist. Nolting (2012) stellt fest, dass ansonsten «der Umgang mit ‹Störungen› weitgehend dem persönlichen Temperament und Gutdünken der jeweiligen Lehrkraft überlassen» wird (S. 12). Typische Merkmale von Lehrerhandlungen in einem störungsintensiven Unterricht nach sind häufiges, wirkungsloses Ermahnen und Androhen von Bestrafung, überwiegend strafende, inkonsistente Massnahmen anstelle von einfühlendem bzw. integrativen Massnahmen (Lohmann, 2007, S. 22). Gründe für dieses ineffektive Lehrerhandeln sieht Lohmann (2007) im eindimensionalen Handeln der Lehrpersonen auf der Disziplinebene. Lehrpersonen berücksichtigen nicht die Störungsursachen und lassen Handlungsmöglichkeiten auf Beziehungs- oder Unterrichtsebene ausser Acht (Lohmann, 2007). Zudem haben Lehrpersonen eine einseitige Adressaten-Haltung, die Veränderungen des Schüler:innenverhaltens initiieren, jedoch eigene Einstellungen und/oder ihr Lehrverhalten nicht berücksichtigen. Ausserdem – so Lohmann (2007) – liegt eine (falsche) Betonung auf korrektiven Handlungen. Ungeeignete Interventionen der Lehrpersonen können zu Störungen des Unterrichts werden und wirken sich letztlich negativ auf das Beziehungsklima aus (Lohmann, 2007). Für den Umgang mit Unterrichtsstörungen ist es essenziell zu reflektieren, inwieweit eine Lehrperson selbst Störungen auszulösen, zu verhindern oder gar zu verstärken vermag (Wettstein & Scherzinger, 2019, S. 104).

Inwiefern Lehrpersonen Unterrichtsstörungen verhindern oder verstärken, hängt auch davon ab, ob die Wahrnehmung von Reaktionen auf Störungen zwischen den Lehrpersonen und den Schüler:innen übereinstimmt (Makarova et al., 2014). In ihrer Studie unterschieden Makarova und Kolleg:innen zwischen Klassen mit einem hohen und einem niedrigen Störungsausmass. Es zeigt sich, dass in den Klassen mit niedrigem Störungsausmass die Wahrnehmung der Reaktion auf Störungen zwischen den Schüler:innen und Lehrpersonen weitestgehend übereinstimmen. Genannt wird, dass die Lehrperson ‹einmal ein Auge zudrücke› und Strafen nur in schweren Fällen ausgesprochen würden. In Klassen mit hohem Störungsausmass hingegen wird von den Schüler:innen genannt, dass die Lehrperson sehr emotional reagiere oder resigniert habe. Lehrpersonen sind jedoch nicht der Meinung, dass sie störendes Verhalten im Sinne resignativer Umgangsformen ignorieren. Die Übereinstimmung zwischen Schüler:innen und Lehrpersonen ist im Falle der Klassen mit hohem Störungsausmass weniger ausgeprägt. Die Autor:innen kommen zum Schluss, dass der Umgang mit Störungen zentral ist, und ineffektive Lehrereaktionen in einer Negativspirale resultieren (Makarova et al., 2014). Soziale Ordnung im Klassenzimmer anhand punitiver Massnahmen durchzusetzen, scheint dazu wenig sinnvoll (Makarova et al., 2014). Punitive Massnahmen sind für das Lernen der Schüler:innen wenig effektiv und stärken vor allem das Machtgefälle zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen (Sullivan, Johnson, Owens & Conway, 2014). Punitive Formen – wie die Schüler:innen des Klassenzimmers zu verweisen, ihnen Zusatzaufgaben aufzugeben oder zu schimpfen – werden zwar selten eingesetzt, kommen aber dennoch vor (Sullivan et al., 2014).

Für den Umgang mit Unterrichtsstörungen werden häufig kontrollierende Mechanismen eingesetzt, um die Schüler:innen auf dem von der Lehrperson gewünschten Verhaltenspfad zu halten. Die am häufigsten eingesetzte Strategie der befragten Lehrpersonen besteht darin, unerwünschtes Verhalten mit den betroffenen Schüler:innen auszudiskutieren. Kleinere Störungen im Unterricht werden von den Lehrpersonen bewusst ignoriert. Weiter zeigte sich, dass ein Drittel aller befragten Lehrpersonen angibt, ein Stufensystem zur Deeskalation des unerwünschten Verhaltens einzusetzen: Zuerst werden Warnungen ausgesprochen, es folgt ein Timeout, dann wird zumeist die Schulleitung hinzugezogen. Tritt noch keine Verbesserung der Situation auf, werden die entsprechenden Schüler:innen suspendiert und in einem letzten Schritt permanent von der Schule ausgeschlossen.

Die Relevanz des Ausdisktutierens störender Verhaltensweisen von Schüler:innen zeigen auch andere Studien. Grosse Siestrup (2010) untersuchte, wie Lehrpersonen bereits aufgetretene Unterrichtsstörungen bewältigen. Die induktive Kategorienbildung der Antworten auf die Frage, wie mit Unterrichtsstörungen umgegangen werden soll, ergab folgendes Gesamtbild (Grosse Siestrup, 2010, S. 123): Lehrpersonen geben an, dass sie zur Bearbeitung von Unterrichtsstörungen Gespräche mit den Schüler:innen führen (26 %), Konsequenzen einfordern (29 %) und klare Regeln einführen (21 %). Ebenso erfasste Hofstetter (2022) in ihrer bezüglich Projektrahmen und Datengrundlage zur vorliegenden Arbeit parallelen Dissertation (siehe Abschnitt 1.3), dass Lehrpersonen bei allen drei Sozial- und Aktionsformen (Klassenführung, selbstständige Einzelarbeit und Partner- und Gruppenarbeit) verbale Interventionen (mündliche Ermahnungen) und disziplinierende Massnahmen im Umgang mit störenden Verhaltensweisen als zentral erachten. Ein ähnliches Bild zeigte sich in einer Untersuchung subjektiver Theorien von vierunddreissig Klassenlehrpersonen zu schwierigen Unterrichtssituationen. Gezeigt wurde, dass von den Klassenlehrpersonen häufig verhaltensbeeinflussender Massnahmen (Verstärkerpläne, an Regeln erinnern etc.) eingesetzt werden (Lauth-Lebens et al., 2018). Weiter werden Kommunikations- und Klärungsmassnahmen (Anhörung der streitenden Parteien), Sanktionen, Hinzuziehung weiterer Personen (Arbeitskolleg-/innen oder Eltern) oder deeskalierende Massnahmen genannt. Die Befunde illustrieren, dass die Begründungen für störendes Verhalten und die getroffenen Massnahmen nur in losem Zusammenhang zueinander stehen. Die Ergebnisse der getroffenen Massnahmen weisen zudem darauf hin, dass die wenigsten Handlungen zu einer positiven Veränderung der Problemsituation führen. Die Ergebnisse stellen dar, dass Störungsursachen von den untersuchten Lehrpersonen in personengebundenen Eigenschaften und weniger in prozessualen Merkmalen des Unterrichts verortet werden. Damit einher geht der Befund, dass Lehrpersonen Lösungen der Problemsituationen ausserhalb des eigenen unterrichtlichen Handlungsspielraumes sehen. Diese geringe Veränderungswirkmacht kann sich ungünstig auf das Stresserleben und auf die Selbstwirksamkeits- bzw. Kontrollerwartung auswirken (Lauth-Lebens et al., 2018). Betrachtet man die Begründung für störende Verhaltensweisen, wäre eine Veränderung der subjektiven Theorien in Bezug auf den Umgang mit Störungen sowohl für die Schüler:innen als auch für das Wohlbefinden der Lehrpersonen wünschenswert. Auf Basis dieser Befunde legen die Autoren nahe, anhand des Ausbaus der Klassenführungskompetenzen eine Änderung der Handlungsstrategien in Bezug auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen zu verfolgen. Eine bereits ältere Studie, in der subjektive Theorien von Lehrpersonen und deren Umgang mit störenden Unterrichtssituationen erforscht wurden, zeigt, wie sich die Lehrpersonen in ihren subjektiven Theorien deutlich unterscheiden (Dann, Tennstädt, & Krause, 1987). Das Autorenteam hat in der Studie gefragt, durch welche Merkmale des Lehrer:innenhandelns ein mehr oder weniger erfolgreicher Unterricht gekennzeichnet ist. Es zeigte sich, dass häufig Drohungen für Bestrafungen eingesetzt werden. Ein gutes Unterrichtsklima, so die Ergebnisse, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass Massnahmen mit wenig punitivem Charakter und geringer Variabilität eingesetzt werden (Dann et al., 1987). Hingegen scheinen Lehrpersonen mit einem ‹chaotischen› Unterricht häufig wechselnde Massnahmen einzusetzen, die einen strafenden Charakter haben. Zudem zeigte sich, dass sich erfolgreiche Lehrpersonen selbst als mögliche Ursachen für Fehlverhalten der Schüler:innen miteinbeziehen (Dann et al., 1987). Diese Sichtweise kann die Einwirkungsmöglichkeiten auf störende Verhaltensweisen positiv beeinflussen.

Lehrpersonen unterscheiden sich demnach darin, inwiefern sie sich Einflussmöglichkeiten im Umgang mit Unterrichtsstörungen zuschreiben. Funktional erscheinen hierbei Umgangsformen, die den Lehrpersonen Handlungsspielraum ermöglichen. Wettstein und Scherzinger (2019) unterscheiden funktionale und dysfunktionale Strategien im Umgang mit schwierigen Ereignissen im UnterrichtFootnote 2. Dysfunktionale Strategien können – neben der ausbleibenden Situationsbewältigung – einen negativ verstärkenden Effekt für zukünftige Ereignisse haben. Bewältigungsstrategien müssen situationsadäquat eingesetzt werden.

Als funktionale Strategie erweist sich, aktiv nach einer Lösung zu suchen. Das aktive Angehen der Problemsituation ermöglicht der Lehrperson, einen Handlungsplan zu entwickeln und damit die Kontrolle über die Situation zu behalten (Wettstein & Scherzinger, 2019). Ebenso funktional ist, soziale Unterstützung zur Bewältigung einer schwierigen Situation einzufordern. Idealerweise kann diese Hilfe im Schulteam gefunden werden, womit sich eine Abkehr aus dem Einzelkämpfertum von Lehrpersonen nachzeichnen liesse (Wettstein & Scherzinger, 2019). Als Umgang mit Unterrichtsstörungen erweist sich eine emotions-fokussierende Bewältigungsstrategie als sinnvoll, mit welcher das Problem nicht gelöst wird, jedoch eine weiterführende, gedanklich zermürbende Auseinandersetzung unterbunden werden kann. Eine ähnliche kognitive Bewältigungsstrategie, die sich als funktional erweist, liegt im Umdeuten einer belastenden Situation. Lehrpersonen können versuchen, der schwierigen Situation etwas Positives abzugewinnen und das Problem aus einer anderen Perspektive betrachten (Wettstein & Scherzinger, 2019). Funktionale Strategien im Umgang mit schwierigen Ereignissen ermöglichen eine positive Anpassungsleistung an die Belastungssituation der Lehrpersonen (Wettstein & Scherzinger, 2019). Dysfunktionale Strategien hingegen lösen Probleme durch Unterrichtsstörungen nicht, sie können diese sogar noch verschärfen. Rückzug und Aggression der Lehrperson werden von Wettstein und Scherzinger (2019) als dysfunktional eingestuft. Einerseits verhilft Rückzug nicht bei der Lösung des Problems, andererseits können aggressive Strategien zu weiterer Eskalation führen. Selbstwertschützende Strategien – wie eine Normalisierung der Problemwahrnehmung (Verleugnen von wahrgenommenen Störungen) – wirken sich ausserdem längerfristig negativ auf die Unterrichtsqualität aus. Eine rein gedankliche Auseinandersetzung mit Unterrichtsstörungen ist dann dysfunktional, wenn Lehrpersonen ein grübelndes-selbstisolierendes Bewältigungsmuster entwickeln, womit sie weder die Problemsituation lösen noch funktionale Handlungsmuster entwickeln. Kapseln sich Lehrpersonen zusätzlich ab, führt das zu einem sozial-isolierendem Bewältigungsstil, der in Einzelkämpfertum endet. Für die Unterrichtsqualität negativ erweist sich eine innere Distanzierung von den Schüler:innen und dem Unterricht, indem versucht wird, eine Schonhaltung aufzubauen. Zwar kann sich diese Schonhaltung und die emotionale Distanzierung positiv auf die Gesundheit auswirken, dennoch zieht dies die Qualität des Unterrichts und der Beziehung zu den Schüler:innen in Mitleidenschaft (Grimm, 1993; Wettstein & Scherzinger, 2019). Vor dem Hintergrund eines interaktionistischen Verständnisses von Unterrichtsstörungen, in welchem eine einseitige Ursachenzuschreibung seitens der Schüler:innen vermieden wird, ist es besonders riskant für die weitere Entwicklung der betroffenen Schüler:innen, wenn die Lehrperson eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie durch Pathologisierung einzelner Schüler:innen wählt (Eckstein, 2018a; Wettstein & Scherzinger, 2019). Als dysfunktional erweist sich, Autorität durch gewaltvolle Macht zu ersetzen (Wettstein & Scherzinger, 2019). Obschon Repression auf den ersten Anblick eine erfolgreiche Strategie zu sein scheint, hat dies langfristig negative Auswirkungen auf die Lehrer-Schüler-Beziehung und damit auch auf die Leistungen und die Lernmotivation der Schüler:innen (Rüedi, 2014; Wettstein & Scherzinger, 2019). Der dysfunktionale Umgang mit Störungen in Form von repressiven Strategien hängt mitunter auch mit dem Ausmass der emotionalen Betroffenheit der Lehrperson zusammen. Schweer (1998) zeigte auf, dass Lehrpersonen sich – hinsichtlich ihrer pädagogischen Zielvorstellungen – in der Beurteilung unterrichtlicher Situationen entweder auf leistungsbezogene Aspekte oder aber auf sozio-emotionale Aspekte beziehen. Die Einstufung einer Unterrichtssituation als problematisch – und damit als den Unterricht störend – hängt mit der emotionalen Betroffenheit der Lehrperson zusammen: Werden Lehrpersonen in ihrem Unterricht von Schüler:innen direkt angegriffen, setzen sie häufig restriktive Strategien ein und sehen die Ursachen der Störung in Persönlichkeitseigenschaften der Schüler:innen. Die emotionale Betroffenheit in störenden Situationen kann zu aversiven emotionalen Reaktionen führen, die eine rationale, kognitive Umgangsweise mit Unterrichtsstörungen verhindern (Schweer, 1991).

Neben der Funktionalität der Handlungsstrategien von Lehrpersonen im Umgang mit Unterrichtsstörungen stellt sich die Anschlussfrage, was erfolgreiches Verhalten von Lehrpersonen ausmacht. Vier Muster lernerfolgreichen Klassenführungsverhaltens, worin sich immanent auch der Umgang mit Unterrichtsstörungen verorten lässt, identifiziert Mayr (2006). Das erste, fachorientierte Muster zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrpersonen dieses Typus ihren Fokus hinsichtlich der Klassenführung auf die Unterrichtsgestaltung legen und dabei auch hohe Werte bezüglich der Verhaltenskontrolle der Schüler:innen aufweisen. Die Lehrpersonen des zweiten Musters fokussieren die Beziehungsgestaltung sowie die Unterrichtsgestaltung und weisen im Vergleich zum ersten und vierten Muster niedrige Werte in der Verhaltenskontrolle auf. Mayr (2006) bezeichnet diesen Typ als kommunikativ-beziehungsorientiertes Muster. Für das dritte, neutrale Muster lassen sich auf allen Dimensionen durchschnittliche Werte feststellen. Ähnlich hohe Werte der Verhaltenskontrolle wie der erste Typ weist der vierte Typ auf, der zudem niedrige Ausprägungen bei Unterrichtsgestaltung und Beziehungsförderung hat. Er zeichnet sich durch ein disziplinierendes Handlungsmuster aus (Mayr, 2006).

Hinzke (2018) identifiziert im Umgang mit Krisen des Unterrichts ebenso vier verschiedene Typen von Lehrpersonen, die jeweils unterschiedlich mit Krisen bzw. Unterrichtsstörungen umgehen (vgl. Hinzke, 2018 Abschn. 8.4 und im Überblick S. 395): Der erste Typ orientiert sich an der Norm, dass Schüler:innen «im Unterricht diszipliniert mitarbeiten sollen» (Hinzke, 2018, S. 418) und Lehrpersonen auf Störungen zwingend reagieren müssen. Die Lehrpersonen orientieren sich hier an der «Herstellung und Sicherung eines störungsfrei funktionierenden Unterrichts» (Hinzke, 2018, S. 456) und greifen auf ihr etabliertes Wissen und ihre Routinen mit Fokus auf den Unterricht zurück – Krisen werden als Kontrollverlust über deren unterrichtliche Handlungspläne erlebt. Der zweite Typ von Lehrpersonen orientiert sich ebenso an der disziplinierten Mitarbeit der Schüler:innen im Unterricht. Charakteristisch für diese Lehrpersonen ist, dass Interaktionen ohne emotionale Verletzungen geschehen. Identisch zu Typ 1 orientieren sich Lehrpersonen des Typ 2 daran, auf auffälliges Verhalten reagieren zu müssen. Sie arbeiten sich dabei aber an der Frage ab, wann welche Schüler:innen welche Art von Aufmerksamkeit brauchen und wie die Lehrpersonen dabei ihre eigenen Grenzen wahren können. Im Umgang mit Unterrichtsstörungen greifen sie auf etabliertes Wissen zurück – sofortige, situative Massnahmen und Ausschluss von Schüler:innen aus dem Unterricht. Die Lehrpersonen des dritten Typs reagieren auf auffälliges Verhalten und das Befinden der Schüler:innen. Für sie entstehen Krisen in der Interaktion mit den Schüler:innen und drohen, die Beziehung zu diesen zu verletzen. Die Lehrpersonen orientieren sich unter Wahrung der eigenen Grenzen an einem in «Beziehung-Treten und in Beziehung-Sein» (Hinzke, 2018, S. 423) mit den Schüler:innen. So setzen sie auf Informationssammlung, Umdefinition der problematischen Situation und das Generieren kreativer Lösungen für Problemsituationen. Die Lehrpersonen des vierten Typs orientieren sich daran, dass die Schüler:innen sich auf ganz bestimmte Weise mit Unterrichtsgegenständen auseinandersetzen. Die Lehrpersonen sehen sich in der Verantwortung, allen Schüler:innen gerecht werden zu müssen. Krisen manifestieren sich durch «das Ausbalancieren von Geben und (Auf-)Nehmen» in deren Entscheidungspraxis (Hinzke, 2018, S. 389). Der vierte Typ zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrpersonen bei den täglichen pädagogischen Entscheidungen auf das Mitwirken der Schüler:innen angewiesen sind (Hinzke, 2018, S. 387).

2.4.3 Folgen von Unterrichtsstörungen

Unterrichtsstörungen haben sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Schüler:innen zumeist emotionale Belastungsfolgen und beeinflussen den Unterricht und das Klassenklima negativ (Lohmann, 2007; Textor, 2015). Sie haben negative Effekte auf den Lernerfolg, das Wohlbefinden sowie die Motivation der Schüler:innen und Lehrpersonen (Klusmann, Richter, & Lüdtke, 2016; Wettstein & Scherzinger, 2019). Der Lernerfolg der Schüler:innen ist durch die beeinträchtigte Lernzeit aufgrund von Unterrichtsstörungen reduziert. Unterrichtsstörungen führen zu verringerter Aufmerksamkeits- und Aufnahmekapazität (Kraft & Monti-Nussbaum, 2021). Sie gelten als Hauptrisikofaktor für Beeinträchtigungen in der Lehrer:innengesundheit (Wettstein & Scherzinger, 2019). Je nach Ausmass können Unterrichtsstörungen mitverantwortlich für Burnouterkrankungen der Lehrpersonen sein (Baeriswyl, Krause, & Kunz-Heim, 2014; Barth, 2017; Lohmann, 2007; Nolting, 2012). Dies gilt insbesondere, wenn das Gefühl entsteht, gegenüber den Unterrichtsstörungen ohnmächtig zu sein (Nolting, 2012). Über eine längere Zeit werden physiologische Stressreaktionen ausgelöst, die sich negativ auf das Befinden der Lehrpersonen auswirken (Lehr, Schmitz, & Hillert, 2008; Wettstein & Scherzinger, 2019). Nicht zuletzt kann auch die Selbstwirksamkeit unter den Folgen von negativ erlebten Unterrichtsstörungen abnehmen (Belt & Belt, 2017). Die Selbstwirksamkeit, definiert als individuelle Überzeugung gilt als Ressource um kompetent mit schwierigen Aufgaben zurecht zu kommen (Schwarzer & Warner, 2014) und als Schutzfaktor für die Stressbewältigung im Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen (Wettstein & Scherzinger, 2019). Eine Abnahme der Selbstwirksamkeit hat demnach facettenreiche negative Folgen.

Forschungsresultate zeigen, dass bagatellhafte Störungen – wie bspw. verbale Störungen – besonders belastend sind, wenn sie in ihrer Summe zu einem belastenden Arbeitsumfeld für die Lehrpersonen führen. Dauerhaft belastete Lehrpersonen gehen in ihrem Unterricht zu schnell voran. Sie werden – verglichen mit weniger belasteten Kolleg:innen – von den Schüler:innen als weniger gerecht und weniger an den Schüler:innen interessiert eingeschätzt (Klusmann, Kunter, Trautwein, & Baumert, 2006). Die Qualität des Unterrichts sinkt auch, weil belastete Lehrpersonen zugunsten eines vermeintlich störungsfreien Unterrichts auf weniger individualisierende, adaptive und damit kognitiv aktivierende Formen des Unterrichtens setzen und deren Klassenführungskompetenzen verringert werden (Wettstein & Scherzinger, 2019). Weitere Folgen liegen in der Abkehr der Lehrperson von der Klasse und dem Auftreten von aggressivem Verhalten der Lehrkräfte gegenüber der Schüler:innen (Nolting, 2012; Picard, 2020), was zu belasteten Beziehungen führt (Schweer, 2017). Bei hoher, dauerhafter Belastung der Lehrperson leidet die Klassenkultur (Wettstein & Scherzinger, 2019).

Unterrichtsstörungen haben einen Einfluss auf das gesamte methodische und didaktische Setting und auf die Arbeitsatmosphäre, die durch Unruhe oder Unterbrüche geprägt ist (Wettstein et al., 2016).

2.4.4 Ursachen von Unterrichtsstörungen

Damit Lehrpersonen adäquat mit Unterrichtsstörungen umgehen können und damit auch die negativen Folgen von Unterrichtsstörungen umgangen werden können, müssen deren Ursachen bekannt sein (Barth, 2017, S. 2). Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Lehrpersonen Unterrichtsstörungen und deren Ursachen eher einseitig wahrnehmen – d. h. sie sehen Unterrichtsstörungen häufig auf Seiten der Schüler:innen (Belt & Belt, 2017; Sullivan et al., 2014). Gründe für Unterrichtsstörungen sind aber facettenreich und können auf der Ebene der Institution Schule, den Schüler:innen sowie deren Zusammensetzung in einer Klasse als auch im Lehrer:innenverhalten lokalisiert werden (Nolting, 2012). Ursachen für störendes Verhalten werden von Lehrperson auch im Elternhaus verortet (Lohmann, 2007). Werden Ursachen im elterlichen Erziehungsversagen lokalisiert, setzen Lehrpersonen im Unterricht eher helfende Strategien ein (Schweer et al., 2017). Dagegen führt die persönliche Involviertheit der Lehrperson bei Unterrichtsstörungen zu personen- bzw. schüler:innenbezogenen Ursachenzuschreibungen, so führt dies in der Folge zum Einsatz restriktiver Unterrichtsstrategien (Schweer et al., 2017). Schreiben Lehrpersonen Ursachen von Störungen den Schüler:innen zu, kann dies zu einer Pathologisierung störender Verhaltensweisen führen (Lohmann, 2007). Das eigene Lehrerverhalten wird ausser Acht gelassen und die störenden Verhaltensweisen der Schüler:innen werden als schwer beeinflussbare Grössen gesehen akzeptiert (Lohmann, 2007). Klassen mit mehreren auffälligen Schüler:innen werden als berufliches Pech interpretiert. Damit markiert Lohmann (2007), dass Ursachenzuschreibungen in den subjektiven Theorien der Lehrpersonen verankert sind, die sich zu bestimmten Interaktionsmustern verfestigen können. Diese Muster bestimmen dann, wie Situationen wahrgenommen werden und welche Handlungsmöglichkeiten von den Lehrpersonen in Betracht gezogen werden (Lohmann, 2007, S. 24).

Ursachen von Unterrichtsstörungen sollten jedoch nicht einfach auf Personeneigenschaften der Schüler:innen bezogen werden. Studien zeigen, dass aber genau diese Form der Ursachenzsuchreibung nach wie vor stattfindet (Martens, 2015). Grosse Siestrup (2010) stellt hinsichtlich der Ursachenzuschreibungen bei Unterrichtsstörungen in ihrer Interviewstudie fest, dass diese häufig an Personen gebunden sind. Wenn Ursachen auf Seiten der Lehrpersonen verortet wurden, dann sind Ursachen – über alle Interviews hinweg gesehen – vor allem in der Unterrichtsgestaltung (Unterrichtsform, Schwierigkeit oder Inhalt) oder dem Führungsstil (Strenge, Nachgiebigkeit oder Durchsetzungsfähigkeit) zu finden. Schüler:innebezogene Ursachenzuschreibungen werden in deren Motivationsdefiziten oder Respektlosigkeit gesehen (Grosse Siestrup, 2010, S. 116). Neben personenbezogenen Ursachenzuschreibungen zeigen die Resultate auch Zuschreibungen bezüglich Beziehungsproblemen zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen sowie Ursachen in der ausserschulischen Erziehung der Eltern. Personenbezogenen Ursachen seitens der Schüler:innen wurden häufiger genannt (Grosse Siestrup, 2010). Scherzinger, Wettstein und Wyler (2017) zeigen, dass Lehrpersonen insbesondere external attribuierte Störungsursachen nennen. Die befragten Lehrpersonen sehen die Ursachen für Unterrichtsstörungen in der heterogenen Zusammensetzung der Klasse, die zur Entstehung negativer Klassennormen führen können (Schüler:innen ermutigen sich gegenseitig, sich z. B. störend zu verhalten). Auf Personeneigenschaften bezogene Störungsursachen sehen Lehrpersonen in stabilen Eigenschaften der Schüler:innen (wie Verhaltensstörungen) aber auch in variablen Eigenschaften (wie Motivation, Energie, Ermüdung etc.).

Differenzierend kann zur Studie von Scherzinger et al. (2017) gesagt werden, dass Lehrpersonen Ursachen für Störungen aber auch bei sich selbst sehen – so zeigte sich in Interviews, dass Unterrichtsstörungen auch von der Unterrichtsgestaltung und der Unterrichtsvorbereitung abhängig sind (Scherzinger et al., 2017). Auch Hofstetter (2022) identifiziert ein differenziertes Bild von unterschiedlichen Ursachenzuschreibungen in verschiedenen unterrichtlichen Sozial- und Aktionsformen (Klassenunterricht, selbständige Einzelarbeit und Partner- und Gruppenarbeit). In allen drei Sozial- und Aktionsformen werden Ursachen für Störungen von den Lehrpersonen sowohl bei sich selbst als auch bei den Schüler:innen gesehen. In Bezug auf den Klassenunterricht sehen Lehrpersonen Gründe für Unterrichtsstörungen insbesondere in ihrer Unterrichtsgestaltung (z. B. unklare Aufträge, ungenügende Planung). Auf die Schüler:innen bezogene Ursachen resultieren vor allem aus Unter- oder Überforderung und aus Merkmalen und Eigenschaften der Schüler:innen. Ein ähnliches Bild zeigt sich für Phasen der selbstständigen Einzelarbeit. Ursachen für Störungen während Partner- und Gruppenarbeiten sehen Lehrpersonen gleichermassen in der eigenen Unterrichtsgestaltung als auch auf Seiten der Schüler:innen. Ungünstige Gruppendynamiken scheinen häufig als Ursachen für Störungen betrachtet zu werden (Hofstetter, 2022).

2.5 Zwischenfazit

Der Fokus auf normwidrige Verhaltensweisen von Schüler:innen kennzeichnet eine personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen. In diesem Verständnis obliegt der Lehrperson die Definitionsmacht, inwiefern Verhaltensweisen einer akzeptieren Norm entsprechen. Eine personenbezogene Perspektive auf Unterrichtsstörungen ist insofern problematisch, als dass einzelne Schüler:innen längerfristig als ‹Problem-Schüler:innen› abgestempelt werden.

Aus einer interaktionistischen Perspektive werden Unterrichtsstörungen vom Unterrichtsgeschehen her betrachtet und als Unterbrechungen im Lehr-Lern-Prozess definiert. Fokussiert werden Interaktionsprozesse zwischen den am Unterricht beteiligten Akteuren.

Dem interaktionistischen Paradigma folgend ist die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen sowohl von personalen als auch von kontextuellen Merkmalen abhängig. Das Theoriemodell der SUGUS-Studie erfasst die Produktion und Rezeption von Unterrichtsstörungen als dynamischen, zirkulären Prozess zwischen den beteiligten Akteuren.

Die Zusammenschau verschiedener nationaler und internationaler Studien zeigt, dass insgesamt am häufigsten bagatellhafte Störungen (Dazwischensprechen, Hausaufgaben nicht machen) von Lehrpersonen berichtet werden. Im Umgang mit Störungen werden punitive Massnahmen eingesetzt, obschon diese in der Forschung als ineffektiv betrachtet werden. Das Führen von Gesprächen oder die Einführung klarer Regeln wurde als häufige Form der Bewältigung identifiziert. Im Umgang mit Störungen konnten funktionale und dysfunktionale Strategien aufgezeigt werden: Im Überblick zeigt sich, dass ungeeignete Strategien Unterrichtsstörungen sogar verstärken können und sich negativ auf die Gesundheit der Lehrpersonen auswirken können. Die Befunde weisen darauf hin, dass Lehrpersonen verschiedene Möglichkeiten der Einflussnahme im Umgang mit Unterrichtsstörungen sehen. Aktiv nach Lösungen für die Problemsituation zu suchen und sich dafür als Lehrperson Hilfe zu holen, gilt als funktionale Strategie. Besonders ungünstig sind selbstisolierende Bewältigungsmuster, die weder die Problemsituation lösen noch die Erarbeitung eines konkreten Handlungsplanes ermöglichen. Einigkeit besteht darüber, dass für einen adäquaten Umgang mit Unterrichtsstörungen bei den Lehrpersonen Einsicht über die Störungsursachen vorhanden sein muss. Forschungsergebnisse jedoch zeigen, dass Ursachen häufig an Personen und noch häufiger an Verhaltensweisen der Schüler:innen gebunden sind. Deutlich wurde, dass Unterrichtsstörungen mannigfaltige emotionale, gesundheitliche und lehr-lernbezogene Auswirkungen auf Lehrpersonen und Schüler:innen haben. Insbesondere stellen Unterrichtsstörungen einen Hauptfaktor für Burnouterkrankungen der Lehrpersonen dar. Zudem beeinträchtigen Unterrichtsstörungen den Lernprozess und die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit der Schüler:innen.

Neben der Ausleuchtung aktueller Erkenntnisse zu wahrgenommenen Störungen, Ursachenzuschreibungen sowie dem Umgang und den Folgen von Unterrichtsstörungen in Anbetracht der Gütekriterien guten Unterrichts bedarf die Erforschung des Umgangs von Lehrpersonen mit Unterrichtsstörungen weiterer, theoretischer und empirischer Anhaltspunkte, die sich in der Gestaltung qualitätsvollen Unterrichts zeigen. Unterrichtliches Lehrer:innenhandeln zur Umsetzung eines möglichst störungsfreien Unterrichts ist idealerweise durch die Basisdimensionen guten Unterrichts strukturiert (Klieme, 2019; Lipowsky, 2020). In einem adaptiven Unterricht (Scherzinger et al., 2017), der gekennzeichnet ist durch eine gute Interaktions- und Beziehungsqualität zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen eine effektive Klassenführung (Ophardt & Thiel, 2013; Wettstein & Scherzinger, 2019), kommen Unterrichtsstörungen seltener vor (Wettstein & Scherzinger, 2019). Damit steigert ein guter, störungsarmer Unterricht den Lernerfolg der Schüler:innen (Helmke, 2021). Im Folgenden werden daher zentrale Dimensionen der qualitätsvollen Gestaltung von Unterrichtsangeboten näher betrachtet.