Die Friedens- und Konfliktforschung (FuK) befasst sich klassischerweise mit bestimmten Ländern (vor, während oder nach einem Konflikt), mit Personengruppen, Projekten, Ereignissen und Problemen und rückt oftmals einzelne Fälle, aber auch Prozesse in den Vordergrund. So auch die vorliegende Arbeit, welche genau auf Interaktionen von Personen und auf Projekte in Post-Konfliktgesellschaften schaut. Diese können mit quantitativen oder qualitativen Methoden untersucht werden und dabei unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Besonders in der qualitativen Forschung der FuK wird sich mit dem Lokalen auf kritische Weise auseinandergesetzt. Dies erfolgt über Themen wie Local Ownership, Agency, Identität, Geschlecht oder soziale Gerechtigkeit. Dabei bedienen sich Wissenschaftler*innen in den Bereichen oft der kritischen Theorie, postkolonialen, poststrukturalistischen und feministischen Herangehensweisen (Richmond, 2018, S. 480) und entwickeln darüber Legitimation und ein institutionalisiertes Wissensfeld (Denskus & Kosmatopoulos, 2015, S. 219). So verortet sich auch diese Forschung methodisch in der qualitativen Forschung mit Bezug zu postkolonialen Herangehensweisen. Gerade bei der Herangehensweise an ethnografische Forschung ist zu beachten, dass die Methode an sich postkolonial angewendet werden sollte. Dabei ist es jedoch wichtig, sich als Forschende*r den folgenden Punkt immer wieder in Erinnerung zu rufen: „From the vantage point of the colonized, a position from which I write, and choose to privilege, the term ‘research’ is inextricably linked to European imperialism and colonialism. The word itself, ‘research’, is probably one of the dirtiest words in the indigenous world’s vocabulary“ (Smith, 2012, S. xi).

Dieses Mitdenken des Postkolonialen und der inhärenten Strukturen kann besonders gut mithilfe von ethnografischen Methoden geschehen. Denn diese stellen die Reflexion der eigenen Situation und die der Forschung an sich stark in den Vordergrund. Dabei bietet vor allem die teilnehmende Beobachtung die Möglichkeit, bestimmte Fälle, Gegebenheiten vor Ort und Prozesse genauer zu betrachten und ein tieferes Verständnis dafür zu gewinnen. Sie kann so dort genutzt werden, wo andere Methoden gerade auch in einer postkolonialen Reflexion an ihre Grenzen stoßen (MacKay & Levin, 2015, S. 164). Besonders eigenen sich ethnografische Methoden zur Untersuchung von lokalen Prozessen in der Friedensarbeit, von Machtstrukturen und von lokalem Wissen (Millar, 2018a, 2018b, 2018c) und von emanzipatorischen Prozessen in der Friedensarbeit (Klein, 2018, S. 67). Eine stärkere Fokussierung auf ethnografische Methoden kann in der FuK dabei helfen, solche Themen und Fragestellungen besser zu bearbeiten, die Disziplin weiterzuentwickeln und der FuK eine methodologischeFootnote 1 Legitimation in der kritischen Forschung zu geben.

In diese methodische Diskussion reiht sich auch diese Forschung ein und bietet ein Praxisbespiel für die Anwendung ethnografischer Methoden und insbesondere der teilnehmenden Beobachtung. Hier sei anzumerken, dass Ethnografie und teilnehmende Beobachtung Methoden sind, welche im Feld, also als Feldforschung durchgeführt werden können. Dabei ist Feldforschung an sich nicht als Methode zu verstehen. Vielmehr bezeichnet der Begriff Feldforschung die qualitative oder quantitative Forschung einer Person, welche in einem bestimmten Feld durchgeführt wird. Dabei steht unabhängig von der Methode bei der Feldforschung im Zentrum, dass Daten über soziale Interaktionen mit den entsprechenden Akteur*innen vor Ort, in ihrem Setting stattfinden (Wood, 2007). Wird in einer Feldforschung eine Ethnografie erstellt oder werden ethnografische Methoden angewendet, sind diese zu verstehen als „a family of methods involving direct and sustained social contact with agents, and of richly writing up the encounter, respecting, recording, and representing at least partly in its own terms, the irreducibility of human experience“ (Willis & Trondman, 2016, S. 5). Somit wird Ethnografie zu mehr als bloß einer Methode: Sie wird zu einer Methodologie, welche eine bestimmte Logik verfolgt (Schwartz-Shea & Yanow, 2013). Diese kann in der teilnehmenden Beobachtung abgebildet werden. So wird es ermöglicht, beispielsweise Interaktionen (reale Situationen) zu beobachten und komplexe Zusammenhänge wahrzunehmen. Die teilnehmende Beobachtung ist eine „geplante Wahrnehmung des Verhaltens von Personen in ihrer natürlichen Umgebung durch einen Beobachter, der an den Interaktionen teilnimmt und von den anderen Personen als Teil ihres Handlungsfeldes angesehen wird“ (Friedrichs, 1982, S. 270). Durch diese Forschungsmethode kann ein Ausschnitt von „Realität“ untersucht und in Aussagen transformiert werden, somit findet eine Re-Konstruktion von Wirklichkeit statt (Pfadenhauer, 2017, S. 6).

Die teilnehmende Beobachtung ist ein qualitatives, interpretativ-verstehendes Verfahren. Es geht um die Betrachtung und Abbildung gesellschaftlicher Vielfalt, von Wahrnehmungen und Meinungen, die von Menschen geäußert werden oder in ihre Handlungen einfließen. Dabei ist die Datenerhebung nicht oder nur gering standardisiert und es ergibt sich eine zunächst kaum strukturierte Datenfülle. Es wird eine Auswertung mit interpretativen Verfahren durchgeführt. Dabei gibt es keine Repräsentativität im statistischen Sinn. Stattdessen eignen sich die Methoden zum Beispiel für eine differenzierte Untersuchung eines Einzelfalles oder einer Besonderheit, über die detaillierte Auskünfte und Meinungen erhoben werden sollen (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 35). Die Methode distanziert sich von Statistiken und Zahlen und wendet sich hin zu Texten und Kontexten. „Die Rahmenbedingungen, in denen Wahrnehmungen, Meinungen und Handlungen von Menschen entstehen und geäußert werden, stehen hier im Vordergrund“ (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 107). Die Methode ist dabei untrennbar mit der Person des oder der Forschenden verbunden und deswegen als eine höchst individuelle Methode zu betrachten (Häberlein, 2014, S. 117).

GlobalFootnote 2 betrachtet wurde und wird die Methode der teilnehmenden Beobachtung von der FuK methodisch und theoretisch in sehr unterschiedlichem Maße angewendet und konzeptualisiert, insgesamt wurde sie jedoch immer beliebter (Forrest, 2017, S. 111). Um dies einzuordnen, ist die generelle qualitative Einordnung der deutschen FuK hilfreich. Qualitative Forschung war in der deutschen FuK schon immer ein wichtiger Bestandteil. Seit den 1970ern aber fand sie verstärkt Anwendung und wurde seit den 1980ern von einigen Wissenschaftler*innen schon als neuer Königsweg beschrieben (Küchler, 1983). In den 1990er Jahren kam es schließlich zu einer qualitativen Wende und es fand „eine tiefgreifende Veränderung der Sozialwissenschaften in diesem Jahrhundert“ (Mayring, 2000, S. 1) statt. Dadurch zogen auch in die deutsche politikwissenschaftliche Forschung immer mehr qualitative Methoden ein. In den letzten Jahren sind jedoch immer wieder Hinwendungen zu quantitativen Methoden (Reichertz, 2009, Abs. 13) und damit eine Anknüpfung an die US-amerikanische Forschung zu finden (Schwank et al., 2013, 32 ff.; Wissenschaftsrat, 2020, 36 f.). Diese Forschung orientiert sich an der (frühen) kritischen und heute postkolonialen deutschen FuK. Im Zuge der Hinwendung zu qualitativen Methoden gibt es auch in der Politikwissenschaft und der FuK einige Autor*innen, die sich ethnografischer Methoden bedienen. Doch gibt es keine klar strukturierte Anleitung, wie eine solche Forschung aussehen kann (Millar, 2014b, S. 5). Jedoch ist es durchaus Praxis und kann sehr hilfreich sein, sich an soziologischen oder ethnologischen Debatten zu orientieren (Lottholz, 2018, S. 698). Als positives Beispiel einer strukturierten Anleitung kann das Buch „An Ethnographic Approach to Peacebuilding“ von Gearoid (Millar, 2014b) herangezogen werden. Er gibt Handlungsempfehlungen und unterfüttert diese mit Beispielen aus seiner eigenen Arbeit über Sierra Leone. Die schwache Verbreitung der Methode merkten schon (Aleman & Tönnesmann, 1995) an, die fünf Jahrgänge der Politischen Vierteljahreszeitschrift auswerteten, wobei keiner der dort publizierten empirischen Artikel die Methode der Beobachtung nutzte. Zwar haben sich seitdem die Vielfalt der Methoden und ihre Anwendung verändert und weiterentwickelt, jedoch sind es noch immer nur wenige Forschungen, welche auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung zurückgreifen. Zwar gibt es einige Forschungen, welche mithilfe von Feldforschung durchgeführt wurden (Menzel, 2014, S. 264), jedoch impliziert Feldforschung nicht die teilnehmende Beobachtung. Dabei kann die Methode dem oder der Forschenden Einblicke in Zusammenhänge eröffnen, die durch andere Methoden verschlossen bleiben. Genau diese Möglichkeiten werden im Folgenden nach einem methodischen Exkurs aufgezeigt.

Trotz ihrer vielen Vorteile steht die teilnehmende Beobachtung auch in der Kritik. Besonders ihre Überprüfbarkeit und Repräsentativität werden hinterfragt. Auch ihr koloniales Erbe und ihr ursprünglicher Anspruch, das „Fremde“ und „Exotische“ zu untersuchen, und somit ihr Beitrag zur Generierung von Herrschaftswissen (Menzel, 2014, S. 271), werden oft kritisiert. Auf diese und weitere Kritikpunkte wird in den jeweiligen thematischen Absätzen eingegangen. Dies geschieht dabei lösungs- und praxisorientiert.

Das folgende Kapitel führt zunächst in die teilnehmende Beobachtung als Methode ein. Dabei wird zunächst auf die methodische Herkunft eingegangen. Dann werden einzelne Forschungsstrategien und das Vorgehen im Feld genauer beschrieben. Der Forschungsprozess wird in verschiedene Phasen unterteilt und immer wieder kritisch hinterfragt. Anschließend findet eine Übertragung der Methode in die Politikwissenschaft und die FuK statt. Unter Berücksichtigung dieser Disziplinen wird die Methode anschließend mit besonderer Berücksichtigung ihrer Machbarkeit und Durchführbarkeit analysiert, bevor auf Expert*inneninterviews als ergänzende Methode eingegangen wird. Abschließend findet eine ethische Betrachtung der Methode der teilnehmenden Beobachtung statt. Zusätzlich wird nach jedem Unterkapitel eine Reflexion meiner eigenen Forschung durchgeführt und es wird beschrieben, wie ich in der Forschung vorgegangen bin. Dabei wird über meine eigene Forschung bereits ethnografisch geschrieben, was bedeutet, dass der Ansatz des Geschichtenerzählens, des verständlichen und nicht zu abstrakten Schreibens berücksichtigt wird (van Maanen, 1995, S. 2). Somit verbindet das Kapitel generelle methodische Überlegungen mit meiner eigenen Umsetzung während der Forschung und meiner eigenen Forschungsreflexion. Über eigene Erfahrungen, Wahrnehmungen und positive und negative Erlebnisse im Feld zu berichten, kommt in der akademischen Literatur oft zu kurz, ist jedoch sehr wichtig, da es die Daten beeinflusst (Thomson et al., 2013, S. 1).

5.1 Charakteristika der teilnehmenden Beobachtung und historische Betrachtung

Da die teilnehmende Beobachtung in der FuK oft nicht in ihrer vollen Ausführlichkeit dargestellt wird, dies aber für die Anwendung der Methode und auch für die vorliegende Forschungsarbeit notwendig ist, findet an dieser Stelle eine methodische Einführung statt.

Allgemein ist die teilnehmende Beobachtung eine lebensnahe Forschung aus dem qualitativen Methodenspektrum.

„Unter teilnehmender Beobachtung […] verstehe ich das in der Ethnologie übliche Forschungsverfahren, bei dem der Forschende für eine längere Zeit in der Gruppe, die er untersucht, lebt, ihre Sprache spricht und an ihren Aktivitäten mehr oder weniger intensiv teilnimmt“ (Spittler, 2001, S. 2).

Das Ziel der Feldforschung ist es, „überschaubare Einheiten menschlichen Zusammenlebens möglichst ganzheitlich zu erfassen bzw. zu dokumentieren und in ihren Strukturen und Prozessen zu analysieren“ (Friedrichs, 1982, S. 270). Der Alltag der zu Beobachtenden soll durch die Forschung so wenig wie möglich beeinflusst werden. Dabei sind die empirischen Methoden der teilnehmenden Beobachtung und des Feldgesprächs besonders wichtig. Die in der Regel gewollt offen gewählte Form der Beobachtung ermöglicht es, flexibel auf das Geschehen einzugehen. Dies ist sehr wichtig, da Beobachtungen nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen, sondern sich bei jeder Gelegenheit eine interessante Situation entwickeln kann (Fujii, 2015a, S. 527). Bei dieser Art der Forschung wird davon ausgegangen, dass die soziale Wirklichkeit kommunikativ bedingt ist und konstruiert wird (Glasfeld, 1992, 33 ff.; Heinze, 1987, S. 13). Der Forschungsprozess ist dadurch als kommunikativer Prozess anzusehen. Die Forschenden stehen mit der zu erforschenden Gruppe aktiv im Austausch und sind miteinander verwoben. Diese persönliche Teilnahme ermöglicht gleichzeitig Selbsterfahrungen für die Forschenden, welche ihm oder ihr dabei helfen, die Forschung und die eigene Rolle darin zu reflektieren.Footnote 3 Somit ist es das Ziel der Forschenden, ein Teil des Alltags vor Ort zu werden und so lange an dem Leben vor Ort teilzunehmen, bis sie dessen Kontexte verstehen und sie interpretieren können (Girtler, 1989, 104 ff.). Dabei geht die Feldforschung von Beginn an nicht von einer genauen Anzahl an Personen aus, die es zu beobachten und zu interviewen gilt. Vielmehr ist es also das Ziel, Teil des Feldes zu werden und ein gutes Verständnis des Feldes zu erlangen. Dabei kann nur die*der Forschende den Zeitpunkt bestimmen, wann dies der Fall ist.

Um die Methode der teilnehmenden Beobachtung in ihrer Entstehung und Anwendung einordnen zu können, ist eine Betrachtung der historischen Entwicklung der Methode hilfreich. Schon Ende des 19. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler*innen, in fremde Länder zu reisen und dort längere Zeit mit den Menschen vor Ort zu leben, die Sprache zu lernen und zu beobachten. Somit sollten die Probleme umgangen werden, welche durch die sogenannte Lehnstuhlethnologie und die damit verbundenen Informanten und Fragebögen, welche in die Kolonialgebiete versendet wurden, entstanden und die nur oberflächliche Antworten (aus zweiter und dritter Hand) lieferten (Beuchling, 2015, 7 f.). Die erste Person, die eine – wie wir sie heute bezeichnen würden – teilnehmende Beobachtung durchführte und diese auch so benannte, war wohl Frank Hamilton Cushing. Er lebte bei den Native Americans in den USA, um dort Nachforschungen anzustellen (Musante, 2014, S. 241). Doch erst Malinowski popularisierte und systematisierte die Methode. Auch Margaret Mead, welche etwa zeitgleich mit Malinowski forschte, brach zu ihrer Forschung nach Samoa auf, wohl ohne von der nun systematisierten Methode gelesen zu haben. Auch sie wendete die teilnehmende Beobachtung in Form von Mitleben an (Mead, 1930). Malinowski hatte sich das komplette „Eintauchen“ in eine andere Kultur zur Aufgabe gemacht, wofür Forschungsaufenthalte von über einem Jahr nötig waren. Er forderte:

„Der Anthropologe muss seine bequeme Position im Liegestuhl auf der Veranda […] aufgeben, wo er […] gewöhnt war, Berichte von Informanten zu sammeln, Geschichten niederzuschreiben und viele Seiten mit Texten der Primitiven zu füllen. Er muss hinaus in die Dörfer gehen […]. Die Information muss ihm, gewürzt mit eignen Beobachtungen über das Leben des Primitiven, zukommen, und darf nicht tropfenweise aus widerwilligen Informanten herausgequetscht werden. Anthropologie im Freien ist im Gegensatz zu Notizen vom Hörensagen harte Arbeit, aber sie macht auch großen Spaß“ (Malinowski, 1973, 128 f.).

Malinowski selbst forschte unter Anwendung der Methoden ab dem Jahr 1914 für dreieinhalb Jahre auf den Trobriand-Inseln und veröffentlichte 1922 sein Buch Argonauts of the Western Pacific. Doch spätestens mit den posthum veröffentlichten Tagebüchern (Malinowski, 1967) wurde das von ihm begründete methodologische Paradigma der Feldforschung infrage gestellt. Es wurde zunehmend deutlich, dass der Feldforschende immer vor großen Problemen wie zum Beispiel dem der Authentizität steht. Ebenfalls zeigte sich ein deutlich anderes Bild von Malinowskis Persönlichkeit, als dies noch in den ersten Veröffentlichungen der Fall war. Er offenbarte sich als verzweifelte Person, nahm Drogen, musste sich zur Arbeit zwingen und handelte im Widerspruch zu seiner eigenen Forderung, sich voll auf die andere Kultur einzulassen. Somit gilt er als einer der Akteur*innen (jedoch nicht als Verursacher) der Krise, die die ethnografische Repräsentation daraufhin erlebte.

Etwa um 1920 kam auch die Bezeichnung der teilnehmenden Beobachtung durch (Lindeman, 1924) auf. Dabei bezog sie sich allerdings noch auf eine Person, den Participant Observer, die als Mitglied der zu untersuchenden Gruppe dem oder der Forschenden berichtet. Ebenfalls spielten auch die Chicagoer Schule der 1920er und 1930er Jahre und besonders die Forschung Street Corner Society von William Foot (Whyte, 1981 [1943] eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Hier wurden die soziale Bedeutung und Funktionsweisen von urbanen Milieus und Subkulturen mithilfe der teilnehmenden Beobachtung (Alltagsbeobachtungen) untersucht. Dabei wurde auf Grundlage des symbolischen Interaktionismus davon ausgegangen, dass das Verhalten von Menschen mehr von subjektiven Bedeutungen, die die Menschen Objekten und Personen in ihrer Umgebung zuweisen, beeinflusst ist und weniger von vermeintlich objektiven Umweltmerkmalen. Verhaltenswirksame Bedeutungen entstehen dabei durch soziale Interaktionen. Sie werden durch einen interpretativen Prozess erst verhaltenswirksam gehandhabt und verändert (Bortz & Döring, 2006, 394 f.). Um dies zu erfassen, wurde immer stärker mit Beobachtungen gearbeitet. In den 1950er Jahren verstetigte sich die Methode und es wurden besonders in den Vereinigten Staaten Fachartikel veröffentlicht (Becker & Geer, 1957; Bruyn, 1963; Gold, 1958; Schwartz & Schwartz, 1955; Vidich, 1955; Whyte, 1951).

Nachdem in den USA durch die Chicagoer Schule schon früh mit diesen methodischen Ansätzen außerhalb der Ethnologie gearbeitet wurde, war es in Deutschland außerhalb der Ethnologie in den 1970er Jahren maßgeblich die Arbeitsgruppe von Bielefelder Soziolog*innen, welche sich der Methode widmete. Mit der „qualitativen Wende“ (Beuchling, 2015, S. 9) gab es zunehmendes Interesse an der Methode. In den 1980ern erschienen die ersten Lehrbücher wie „Methoden der qualitativen Sozialforschung: Anleitung zur Feldarbeit“ (Girtler, 1989). Seitdem spielt die teilnehmende Beobachtung je nach Disziplin eine unterschiedlich wichtige Rolle (Knoblauch, 2001, S. 123). Methodisch ist anzumerken, dass sich die teilnehmende Beobachtung als Methode seitdem kaum verändert hat. Das Vorgehen im Feld ist nahezu identisch geblieben. Und so schrieb John van Maanen noch 1995 von der guten alten Zeit, in der es wenig methodische Vorgaben gab und die Ethnografie „seemed to provide a wonderfull excuse for having an adventourous good time while operating under the pretext of doing serious intellectual work“ (van Maanen, 1995, S. 2). Jedoch findet seitdem eine größere Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit der Methode statt, welche durch verschiedene Denkschulen und Disziplinen beeinflusst wird. Methodenkritik wurde ernstgenommen und umgesetzt.Footnote 4 So kam es zwar nicht zu einer Veränderung in der Durchführung der Methode an sich, jedoch zu Prozessen rund um die Beobachtung. Diese werden in den folgenden Kapiteln dargestellt.

5.2 Übertragung in die Politikwissenschaft und die Friedens- und Konfliktforschung

Da diese Forschung in der FuK verortet ist, wird nun die Anwendung der Methode in der Disziplin beschrieben. Generell ist die teilnehmende Beobachtung besonders geeignet für offen sichtbare Handlungsweisen und Situationen, in denen ein persönlicher Kontakt wichtig ist (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 125) und die als Forschungsfeld durch den „practice turn“ (Adler & Pouliot, 2011) nochmals wichtiger geworden sind. Dieser ethnografische Ansatz hat den großen Vorteil, direkt vor Ort und lokal anwendbar zu sein. „I argue that an ethnographic approach should be seen not as an extension of anthropology but as a tool for any discipline, or, as in my own case, any interdisciplinary scholar of peace, conflict, and post-conflict peace-building“ (Millar, 2014b, S. 6). Als Teildisziplin der Politikwissenschaft hat die FuK (Czempiel, 1986, S. 250)Footnote 5 kein analytisches Werkzeug, welchem dies in gleichem Maße gelingt. Deswegen kann es nur von Vorteil sein, wenn sich Forschende methodischer Werkzeuge aus anderen Disziplinen bedienen. An diese Argumentation schließt sich zum einen (de Sardan, 2005) an, der dies ebenfalls für die Entwicklungsländerforschung fordert. Zum anderen im starken Maße auch (Millar, 2014b), der in seinem Buch An Ethnographic approach to Peacebuilding argumentiert, dass ein ethnografischer Ansatz mehr in den Mittelpunkt gerückt werden muss, insbesondere wenn es um Themen wie die Evaluation von Peacebuilding-Einsätzen und die Einbeziehung des Lokalen geht. Dieser Appell lässt sich auch auf andere Forschungsbereiche übertragen. Um dies möglich zu machen, werden interdisziplinäres Arbeiten, eine Kombination aus Friedens- und Konfliktforschung, Regionalstudien und Ethnologie benötigt (Schierenbeck, 2015, S. 1023). Dabei ist dieses Kapitel für die praktische Arbeit mit der Methode ausgelegt. Es führt keine theoretische Diskussion, in der Fragen nachgegangen wird, wie zum Beispiel nach der Beziehung zu anderen Methoden oder danach, was bessere Forschung ist oder welche Fragen mit der Methode bearbeitet werden können.

5.2.1 Teilnehmende Beobachtung in der Politikwissenschaft

Forschende werden immer mehr mit Lebenswelten, sozialen Kontexten und Fragen konfrontiert, „[…] dass ihre klassischen deduktiven Methodologien […] an der Differenziertheit der Gegenstände vorbeizielen“ (Flick, 1999, S. 10). Dadurch ist auch die politikwissenschaftliche Forschung immer mehr auf induktive Vorgehensweisen angewiesen. Somit kann nicht nur von Theorien und deren Überprüfung ausgegangen werden, sondern es bedarf einer Annäherung an die zu untersuchenden Zusammenhänge mithilfe von sensibilisierten Konzepten. Dadurch können zum Beispiel politische und politisierte Prozesse, welche sonst nicht zugänglich sind, unter Bezugnahme auf die Akteur*innen im Feld erforscht werden (Hagene, 2018, S. 306). Dazu eignen sich je nach Forschungsfrage unterschiedliche qualitative Methoden, welche in der Politikwissenschaft gerade in Deutschland viel genutzt werden. Um jedoch die angesprochenen sensiblen Konzepte und Inhalte zu erforschen, eignet sich besonders die teilnehmende Beobachtung, welche vergleichsweise noch wenig Anwendung findet. Die ethnografische Forschung kann in der Politikwissenschaft Praktiken herausarbeiten, mit denen bestimmte Akteur*innen soziopolitische Entscheidungen treffen. Durch diese Entscheidungen können Prozesse der Veränderung, des Widerstandes oder der Aushandlung aufgezeigt werden. Die Forschungsprozesse können inhärente Annahmen demystifizieren, verdeckte Praktiken aufdecken und hinterfragen und dadurch zur praktischen und theoretischen Weiterentwicklung beitragen (Forrest, 2017, S. 111).

Es können in der politikwissenschaftlichen Forschung drei grundsätzliche Positionen unterschieden werden, bei denen die Methode der teilnehmenden Beobachtung angewendet werden kann: 1. Zurückgehend auf den symbolischen Interaktionismus Fragen nach subjektiver Bedeutung und Sinnzuschreibung (Schöne, 2005, S. 172), 2. Die Ethnomethodologie, also Methoden, „mit denen im Alltag sozialer Prozesse Wirklichkeit konstruiert wird“ (Schöne, 2005, S. 173) und 3. Forschungen, die einen strukturalistischen Ansatz vertreten, „also von kulturellen Sinnsystemen ausgehen, welche die subjektive Wahrnehmung und die Herstellung sozialer Wirklichkeit prägen“ (Schöne, 2005, S. 173). Besonders geeignet ist die Methode, wenn ein neues Thema erforscht werden soll (erst wenig über ein Phänomen bekannt ist) oder der Zugang über Sprache nur beschränkt möglich ist (Dinge, die leichter zu beobachten als zu verbalisieren sind), wenn alltägliche Erfahrungsräume und Lebenswirklichkeiten im Mittelpunkt stehen oder wenn von einem Unterschied zwischen der Binnen- und der Außenperspektive auszugehen ist und wenn das Thema ein gewisses Level von Vertrauen voraussetzt (Beuchling, 2015, S. 10).

Eine erste größere, dokumentierte und methodisch reflektierte teilnehmende Beobachtung in den Politikwissenschaften führte (Fenno, 1978) durch, indem er für eine Studie über Wahlkreismitarbeiter*innen der Mitglieder des US-Repräsentantenhauses ebendiese beobachtete. Seine Tätigkeit beschreibt er mit „soaking and poking – or just hanging around“ (Fenno, 1978, S. 249), also ein sehr offener Forschungsansatz. Abschließend stellt (Fenno, 1978) methodisch fest, dass die teilnehmende Beobachtung eine für die Politikwissenschaft sehr geeignete Methode ist und beschreibt sie als Interactive Observation, um deutlich zu machen, dass es um methodische Vielfalt im Beobachtungsprozess geht, also um eine Kombination aus Beobachten, Reden, Zuhören, Interviewen, Reflektieren und Dokumentieren. Generell ist anzumerken, dass politikwissenschaftliche Feldforschung im Allgemeinen meist in reicheren Regionen der Welt oder in großen Städten stattfindet (Kapiszewski et al., 2015, S. 56).

Auch wenn die Methode mehr und mehr Anwendung in der Politikwissenschaft findet, gibt es verglichen mit der Soziologie oder der Ethnologie wenig Literatur zu dem Thema (Kapiszewski et al., 2015). Die teilnehmende Beobachtung eignet sich besonders, wenn es darum geht, alltägliche Praxis oder alltägliche politische Prozesse zu analysieren. Die Methode ermöglicht auch, Dynamiken und Eigenheiten von Prozessen aufzuzeigen, welche in Interviews oder der Dokumentenauswertung nicht erfasst werden können (Pritzlaff, 2006, S. 125). Die ethnografische Methode der Feldforschung als mehrmonatiger Prozess wird in der Politikwissenschaft etwas angepasst, da die Politikwissenschaft „unter konzeptionellen Gesichtspunkten wesentlich öfter mit Fragestellungen zu tun [hat], die sich auf zeitlich und thematisch eingegrenzte Prozesse beziehen“ (Pritzlaff, 2006, S. 126). Somit hat sich die Methode in eine Richtung entwickelt, die von einigen Wissenschaftler*innen als fokussierte Ethnografie (Knoblauch, 2001) oder als thematische Ethnografie (Nullmeier et al., 2003) beschrieben wird. Der Fokus liegt also nicht unbedingt auf einer Person oder einem Ort innerhalb eines längeren Zeitraums, sondern auf einer inhaltlichen Fragestellung und einer thematisch orientierten Beobachtungsphase. Daraus abgeleitet sind besonders in der Entwicklungsforschung Erhebungsmethoden wie Rapid Rural Appraisal und Participatory Rapid Rural Appraisal (Schönhuth & Kievelitz, 1993) bekannt geworden, die die Feldforschung auf wenige Tage oder Wochen beschränken. Auch in den Cultural Studies wird aufgrund der Kritik an der langen ethnologischen Feldforschung für eine theoretisch orientierte Kurzzeitforschung (Willis, 1997) plädiert.

Einen ähnlichen Ansatz wählen Forschende, die Participatory Action Research durchführen. Diese beinhaltet für die Forschung relevante Elemente wie die Einordnung der Forschenden im Feld. Participatory Action Research geht auf den Sozialpsychologen (Lewin, 1968) zurück, welcher gemeinsame Problemforschung betrieb. Sie versteht sich als Methode, die demokratisch, gerecht, befreiend und verbessernd ist und besonders auf die Rolle der Forschenden eingeht (Gibbon, 2002, S. 547). Der oder die Forschende sieht sich dabei immer in Relation zu anderen im Feld und die Akteur*innen im Feld werden empowered, eine Veränderung hervorzurufen. Das Ziel ist dabei nicht nur die Sammlung und Auswertung von Daten. Es ist auch notwendig, in Aktion zu treten, soziale Veränderungen hervorzurufen und praktisches Wissen zu gewinnen (Gillis & Jackson, 2002, S. 264). Dazu müssen Forschende sehr nah an den zu erforschenden Akteur*innen sein, damit dieser Prozess gemeinsam stattfinden kann. Denn die Forschung ist als „dynamic educative process“ (MacDonald, 2012, S. 36) zu sehen. Akteure im Feld werden so nicht als bloße Objekte, sondern als soziale Wesen in den jeweiligen Kontext eingebettet betrachtet. Sicherlich ist Participatory Action Research nicht für jede Forschungsfrage oder jeden Forschungsprozess geeignet, gerade weil sie eine Einbindung von Akteur*innen im Feld in das Forschungsteam beinhaltet, Abhängigkeiten geschaffen werden und die Reflexion nicht immer wie vorgesehen stattfindet. Jedoch sollten sich Forschende immer mit den in dieser Methode so wichtigen Elementen befassen: die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, die Selbstreflexion und der Dialog mit den Akteur*innen im Feld.

5.2.2 Teilnehmende Beobachtung in der Friedens- und Konfliktforschung

In der deutschen FuK nehmen die teilnehmende Beobachtung und ethnologische Expertise an Bedeutung zu (Mannitz, 2009, S. 12; Menzel, 2014, S. 264) und werden immer beliebter. Erste Überlegungen zum Nutzen von anthropologischen und ethnografischen Methoden in der Disziplin allgemein lassen sich schon in einer frühen Ausgabe des Journal on Conflict Resolution (LeVine, 1961) finden. Sie arbeitet besonders das Wissen um Kultur als wichtigsten Aspekt für die FuK heraus. Diese Bedeutung der Kultur aber wurde von großen Teilen der Forschenden nicht vertieft in den methodisch-theoretischen Kanon der Disziplin aufgenommen (Denskus & Kosmatopoulos, 2015, S. 221). Spätestens nach Ende des Kalten Krieges und mit der Erforschung von ethnischen Konflikten wurde das Thema in der FuK wichtig. Kultur wurde damit zum analytischen Tool und es wurde sich zunehmend ethnografischer Methoden zur Erklärung bedient (Leenders, 2007, S. 966). Diese Zunahme der Bedeutung ethnologischer Methoden ist auch darauf zurückzuführen, dass das Forschungsinteresse an (vermeintlich) ethnischen Konflikten gewachsen ist und es galt, Fachwissen von Ethnolog*innen einzuholen (Mannitz, 2009, S. 12). Eine erneute Steigerung des Nutzens der Methoden und des Verständnisses für die Bedeutung von Wissen über kulturelle Kontexte kam mit dem War on Terror nach 9/11 auf. Nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in der praktischen Arbeit – zum Beispiel vom Militär – kamen sie zur Anwendung (Sterpka, 2007), was durchaus kontrovers diskutiert wird. Generell lässt sich ein Trend feststellen, dass immer mehr Themen auf einer Mikrobene erforscht und zunehmend Fragestellungen bearbeitet werden, welche keinen Top-down-Ansatz erfordern (Ratelle, 2013, S. 162). Zudem nimmt die Erforschung von lokal verankerten Friedensprozessen im Rahmen des Local Turn zu (Bräuchler, 2018; Millar, 2018a, 2018b). Jedoch gibt es auch trotz dieser Zunahme keine klare Übereinstimmung über die Anwendung der Methode (MacKay & Levin, 2015, S. 164).

In der FuK gibt es viele Forschende, welche sich über einen längeren Zeitraum im Feld aufhalten und detailliert mit dem Feld auseinandersetzen. Die jedoch keine explizite teilnehmende Beobachtung durchführen, sondern ihren Schwerpunkt zum Beispiel auf Interviews oder Befragungen legen. So kommt es beispielsweise oft vor, dass die Forschung in Form von Interviews durchgeführt wurde. Die Personen im Feld wurden jedoch nicht explizit beobachtet, obwohl die forschende Person in das Feld selbst einbezogen oder sogar teilweise integriert war. Doch lassen sich darunter auch Forschungen finden, bei denen die Forschenden in engem Kontakt mit Akteur*innen im Feld stehen und zu einem Teil des Feldes geworden sind. Dennoch nutzen sie diesen Feldzugang nicht gezielt für Beobachtungen und eine Reflexion darüber, sondern stellen andere Methoden in den Vordergrund. Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass die Institute für FuK oft politikwissenschaftlich dominiert sind und an der Schnittstelle von Grundlagenforschung und Politikberatung handeln (Mannitz, 2009, S. 12), was sich natürlich auch auf die methodische Ausbildung auswirkt. Als Beispiel sei hier eine inhaltlich sehr gute Arbeit von (Koddenbrock, 2016) angeführt. Sein Fokus im Feld lag klar auf den Interviews, auch wenn Koddenbrock gleichzeitig in Kontakt mit den Personen außerhalb der Interviews stand.

„During my two stays in Goma of about two months each, I went to parties […]. They varied in their intensity but generally added to the addictive mix of beautiful young people from all over the world, great locations often by the lake and the touch of danger when being taken home“ (Koddenbrock, 2016, S. 84).

Auch Teresa Beck Koloma (2012) beschreibt in ihrer Arbeit über Angola die Wichtigkeit der Fragen, die auf Alltagshandlungen in Konflikten abzielen, und dass deren Beantwortung nicht durch Interviews möglich ist. Vielmehr wird dazu Feldforschung benötigt, also ein Einleben der*des Forschenden in das Forschungsumfeld. Allerdings geht Beck trotz des naheliegenden methodischen Zusammenhangs nicht auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung ein. Vielmehr wird der Feldaufenthalt genutzt, um am Alltagsleben teilzunehmen, dadurch Interviews zu führen und das Leben vor Ort besser einordnen zu können. Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit von (Cohen, 2016), welche neben einer quantitativen Erhebung zu Vergewaltigungen in Kriegsgeschehen auch Interviews in drei Ländern durchführte. Mit ihrer Erhebung möchte sie zwar Ereignisse festhalten, welche in der Vergangenheit liegen, wobei eine teilnehmende Beobachtung in dem Fall ausgeschlossen ist. Jedoch kommt sie in ihren Interviews den Personen auf einer emotionaleren Ebene sehr nahe, „whom I interviewed for the research in this book and who have entrusted me with the painful details of their most difficult days“ (Cohen, 2016, S. xi). Gerade bei solchen sehr persönlichen und emotionalen Themen können Elemente der teilnehmenden Beobachtung dabei helfen, Vertrauen aufzubauen und einen gemeinsamen Weg für den Umgang mit solchen sensiblen Themen zu finden. Wie die sehr gute Reflexion der Arbeit im Feld, welche leider auf den Anhang verschoben wurde (Cohen, 2016, S. 201), zeigt, hat Cohen bestimmte Elemente wie zum Beispiel den Vertrauensaufbau auch genutzt. Sie hat diese Handlungen jedoch nicht methodisch benannt. Selbst wenn keine teilnehmende Beobachtung im methodischen Fokus stehen soll, würde doch die Chance bestehen, diese Beobachtungen, das Mitleben, die „accidental ethnogaphy“ (Fujii, 2015a, S. 525) nutzbar zu machen, um komplexe Zusammenhänge vor Ort noch besser zu verstehen. Dies kann geschehen, indem Momente, welche nicht geplant sind und die sich zum Beispiel vor oder nach einem Interview oder einer Befragung ereignen, verstärkt systematisch betrachtet werden. Eine weitere Möglichkeit, während einer Feldforschung nicht nur Interviews zu führen, sondern noch tiefer einzutauchen, ist die Anwendung der Participatory Action Research. Diese wurde beispielsweise von Susanne (Buckley-Zistel, 2008) für ihre Forschung in Uganda angewendet. Durch diesen interaktiven und partizipativen Prozess war es ihr möglich, neben den Interviews den Fokus auf lokales Wissen zu legen, den untersuchten Konflikt in seine sozialen, politischen und kulturellen Kontexte einzuordnen und ihn besser zu verstehen.

Gerade in den letzten Jahren mehrten sich die Forschungen, die nicht nur einen Feldaufenthalt zum Zweck der Interviews und zum Kennenlernen des Feldes umfassten, sondern explizit auch eine teilnehmende Beobachtung und ethnografische Forschung. Dabei gelingt es den Forschenden, die normative Konnotation von Begriffen wie Frieden oder Konflikt zu dekonstruieren und sie für lokale Konzepte zu öffnen (Bräuchler, 2018, S. 37). So wird die Methode immer beliebter und es kann von einem regelrechten „ethnographic turn“ (Richmond, 2018, S. 480) gesprochen werden. Dieser geht mehr auf lokalen und Bottum-up-Frieden ein und legt nicht wie die klassische IB-Forschung einen starken Fokus auf realistische, liberale, methodologische und epistemologische Annahmen (Richmond, 2018, S. 483). Laut Anne Menzel (2014, 266 f.) ist dieser Boom in der Feldforschung auch darauf zurückzuführen, dass Forschende immer mehr bestrebt sind, Wissen zu generieren, das dazu beitragen kann, etwas zu verbessern.

Mittlerweile gibt es unzählige Werke, die explizit teilnehmende Beobachtung als Methode verwenden (auch wenn dies mit unterschiedlicher Intensität geschieht). Die hier genannten Autor*innen sind lediglich exemplarische Beispiele. Als wohl bekanntestes Werk ist das von (Autesserre, 2014) zu nennen. Sie führte eine über ein Jahr andauernde ethnografische Feldforschung in der Demokratischen Republik Kongo durch, mit einem Fokus auf Interviews und teilnehmender Beobachtung. Sie führt zwar in der Einleitung des Buches in die Methodologie ein, liefert jedoch keine genaue methodische Beschreibung. An einzelnen Stellen in ihrem Buch betont sie immer wieder die Forschung und wichtig es ist, auch das Alltägliche zu erfassen. Dies ist ein in der wissenschaftlichen Literatur häufig auftretendes Phänomen. So gibt es in Dissertationen oft ausführliche Methodenbeschreibungen und Reflexionen, die für Publikationen gekürzt werden und in wissenschaftlichen Artikeln oftmals fehlen (Häberlein, 2014, S. 118). Auch Marcel Baumann (2008) führte in verschiedenen Ländern ergänzend zu Interviews eine teilnehmende Beobachtung durch, um Friedensprozesse zu vergleichen. Auf theoretischer Ebene geht Baumann zwar auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Analyse ein. Doch reflektiert er in der weiteren Analyse diese und die eigene Rolle im Feld jedoch nur sehr knapp. Elisabeth Jean Wood (2000) führte eine insgesamt 26-monatige Feldforschung mit Interviews und Beobachtungen während des Bürgerkrieges in El Salvador durch. Sie reflektiert vor allem ihre Rolle als Forscherin in einem solchen Setting und geht auf ethische Fragen ein. In ihrem Sammelband beleuchten Greenhouse et al. (2002), wie ethnografische Forschung in sich verändernden politischen Kontexten funktionieren kann. Im Fokus der Betrachtungen stehen hierbei klar die Akteur*innen im Feld. Die Beiträge gehen auch auf die Rolle von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung in sich verändernden und insbesondere auch in sich verschlechternden politischen Situationen ein. Eine Rolle, die für Forschende oft noch schwerer zu fassen ist. Dabei wird besonders in der Zusammenfassung von Elizabeth Mertz (2002, S. 359) die Rolle der Reflexivität betont. Es geht nicht nur darum, die eigene Rolle, die eigenen Konzepte und kulturellen Annahmen zu hinterfragen. Sondern darum, dies zusammen mit den Akteur*innen im Feld zu machen, also die eigenen Konstitutionen in Bezug auf Gesellschaft, Agency oder Akteur*innen zu untersuchen. Besonders in einer Multi-sited-Ethnography sind die immer wieder herzustellenden Bezüge zur Rolle wichtig, da sich diese durchaus ändern kann. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Werke, welche gezielt mit ethnografischen Methoden oder der teilnehmenden Beobachtung arbeiten, oft nicht in vollem Umfang auf die methodischen Implikationen und die eigene Reflexion eingehen. Dies geschieht eher in Sammelbänden oder Zeitschriften, die sich speziell mit der Thematik beschäftigen. Die Bedeutung ethnografischer Feldforschung allgemein, der Teilnahme am alltäglichen Leben und des Schreibens über die Methode stellt Anne Menzel (2015) in den Vordergrund. Während ihrer Feldforschung in Sierra Leone führte sie verschiedene Interviews und informelle Gespräche. Sie nahm am alltäglichen Leben teil, um die daraus resultierenden Beobachtungen später zu reflektieren und in die Forschungsergebnisse einzubetten. Sie selbst beschreibt diese Methode als konfrontativen Forschungsansatz (Menzel, 2015, S. 33). Dabei reflektiert Menzel ihre Rolle im Feld, auch in Bezug auf die Ergebnisse und beschreibt ihre Erfahrungen, die sie auch außerhalb konkreter Forschungssituationen gemacht hat. Zusätzlich schildert Menzel ausführlich die verschiedenen Schritte ihrer Feldforschung, um Hinweise auf konkrete Vorgehensweisen aufzuzeigen.

Es ist anzumerken, dass es natürlich auch andere Disziplinen gibt, in der Forschende sich mit Fragen der FuK befassen, und zwar mittels ethnografischer Methoden. Wie Hermann Amborn treffend feststellt, tun sie dies mit großer Wirkung. Gerade wenn es um sensible Fragestellungen oder darum geht, zum Beispiel indigene Konzepte der Konfliktbearbeitung zu erforschen (Amborn, 2009, 3 ff.). Dies geschieht nicht erst seit einigen Jahren, sondern hat beispielsweise in der Ethnologie eine lange Tradition. Ein bekanntes Beispiel ist Evan-Pritchards Forschung bei den Nur in den 1930ern (Evans-Pritchard, 1940). Auch in den 1990ern sind Sammelbände dazu erschienen, die bis heute oft rezeptierte Inhalte erfassen. Besonders erwähnenswert ist hier der Sammelband „Fieldwork under Fire“ von (Nordstrom & Robben, 1995). Gerade die anthropologischen und ethnologischen Werke liefern häufig vertiefte Einblicke in lokale und kulturelle Gegebenheiten vor Ort. Daher muss die Kritik der Anthropologin Birgitt Bräuchler an dem „cultural turn“ (Bräuchler, 2018, S. 23) erwähnt werden. Dass nämlich politikwissenschaftliche Friedens- und Konfliktforscher*innen diese Forschung ohne tieferes Wissen über kulturelle Implikationen und lokale Gegebenheiten durchführen und sie in der Anwendung ethnografischer Methoden nicht ausgebildet sind. Umgekehrt gilt die Kritik auch der Tatsache, dass ethnologische Beobachtungen ohne großes Vorwissen über theoretische Implikationen der Thematik und ohne Reflexion von aktuellen gefährlichen Situationen erfolgen (Avruch, 2001, S. 641). Ich kann mich als Forscherin in der glücklichen Lage schätzen, sowohl Ethnologin als auch politikwissenschaftliche Friedens- und Konfliktforscherin zu sein, da ich in beiden Bereichen eine wissenschaftliche Ausbildung genossen habe. Ein Faktum, was mir in meiner Forschung immer wieder zugutekommt.

Auch gibt es Fälle, in denen ein geplanter Aufenthalt für Interviews rein zufällig durch Umstände vor Ort zur teilnehmenden Beobachtung an Protesten wird, wie zum Beispiel während des Aufenthalts von Kang in Südkorea (Kang, 2017). Auch Frank Pieke (1995) geriet ungeplant in Proteste und beschreibt dies schon passend im Titel seiner Arbeit als „accidental anthropology“ (Pieke, 1995, S. 65). Ähnliches findet sich in der Forschung von Neiburg in Haiti: „[…] even though I was no expert in the area and even though I originally had no intention of taking this topic as my locus of inquiry“ (Neiburg, 2017, S. 172). Auch Maureen Hays-Mitchell (2001) kam eher unfreiwillig zur Forschung über einen Konflikt. Sie wurde während ihrer Forschung in Peru in einen Konflikt hineingezogen, den sie letztendlich auch erforschte. In ihrer Selbstreflexion aber gesteht sie Fehler gegenüber dem Feld ein. Auch Christopher Charles Taylor (1999) überraschte der Gewaltausbruch im Ruanda-Konflikt im Land.

Alle Arbeiten haben gemein, dass Frieden und Konflikt Kategorien und soziale Phänomene sind, welche sich nur schwer vom eigenen Schreibtisch aus erschließen lassen. Wie schon zu Zeiten Malinowskis und der Lehnstuhlethnolog*innen gilt es nun, eine Lehnstuhl-Friedens-und-Konfliktforschung zu vermeiden. Um die aktuellen Forschungsfragen zu beantworten, sie aber vor allem zu verstehen, ist es wichtig, dass der Forschende sich selbst ein Bild dazu macht. Feldforschung eignet sich besonders, um „[…] das jeweilige Forschungsthema gründlich zu erschließen und tatsächlich zu verstehen, nicht nur an der Oberfläche zu verharren, sondern in Kontakt zu den Menschen zu treten, um deren Realität es in der Friedens- und Konfliktforschung geht“ (Menzel, 2014, S. 265). Dadurch wird es möglich, in der Forschung das Alltägliche zu erleben, lokale Bedeutungen zu verstehen und die Menschen vor Ort partizipativer in die Forschung einzubinden (Krause, 2021, 4).

Gerade durch die besonderen Bedingungen in einem konfliktiven Umfeld können in der FuK auch weiter gefasste ethnografische Ansätze verwendet werden. Hier sollen zwei Ansätze kurz vorgestellt werden, die für die FuK besonders geeignet sind. Neben der klassischen teilnehmenden Beobachtung hat sich zum Beispiel die komparative Ethnografie herausgebildet. Sie geht auf die Gleichartigkeit unterschiedlicher Welten ein und betont strukturelle Ähnlichkeiten (Erickson, 1988). Einer der Begründer*innen dieses Ansatzes, Radcliffe-Brown, stellt ein stark universalistisches Forschungsansatzprogramm in den Vordergrund. Den Nutzen komparativer Methoden fasst er zusammen als „[…] to explore the varieties of forms of social life as a basis for the theoretical study of human social phenomena“ (Radcliffe-Brown, 1951, S. 15). Dabei können verschiedene Einheiten verglichen werden wie zum Beispiel materielle Objekte, soziale Phänomene oder Institutionen. Daraus ergibt sich eine sehr unterschiedliche Variabilität. Als weiteres Konzept ist die fokussierte Ethnografie (Knoblauch, 2001) zu nennen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie über einen kurzen Zeitraum anwendbar ist und gleichzeitig viele Daten hervorbringen kann, in der Regel Video- und Tonaufnahmen. Diese Daten ermöglichen zum Beispiel eine Auswertung in Forschungsgruppen und begegnen damit dem Problem der Intersubjektivität. In der fokussierten Ethnografie liegt der Fokus auf einem bestimmten Problem. Interaktion und Aktivität stehen im Mittelpunkt (Kommunikation), Handlungszusammenhänge werden untersucht. Dabei steht immer der Einsatz von technischen Aufzeichnungen im Fokus der Methode. „Die fokussierte Ethnografie beruht nur am Rande auf den subjektiven Erfahrungen und deren literarisierten Fassungen. Vielmehr hat sie es meistens mit der Analyse von Strukturen und Mustern von Interaktionen, Kommunikation und Situationen zu tun“ (Knoblauch, 2001, S. 132). So rückt diese Herangehensweise in die Nähe einer textwissenschaftlichen Vorgehensweise. Die fokussierte Ethnografie erfasst Routine-Elemente alltäglicher Interaktionen und betont strukturelle Aspekte in ihrer Auswertung. Im Gegenzug zur klassischen ethnologischen Ethnografie, welche einen kulturell subjektiven Wissensvorrat rekonstruieren möchte, geht es vielmehr um das Hintergrundwissen in Bezug auf den Ausschnitt, den die erhobenen Daten abdecken. Diese Fokussierung ist so gut möglich, da in dem Feld nichts Fremdes vorherrscht. Die Forschenden kennen das Feld bereits. Die fokussierte Ethnografie versteht sich selbst als konstruktivistisch, da sie die Wissens- und Erfahrungsstrukturen der Beteiligten rekonstruiert und zugleich versucht, in der Detailanalyse „die situative Konstruktion der Wirklichkeit in den beobachteten Handlungen nachzuzeichnen“ (Knoblauch, 2001, S. 135). Es handelt sich sozusagen um eine „Mikroethnografie“, es geht um den technischen Aspekt (Mikrophon) und um den Mikro-Ausschnitt einer sozialen Wirklichkeit, die untersucht wird.

5.3 Forschungsstrategien und das Vorgehen im Feld

Die teilnehmende Beobachtung ist als Methode in verschiedene Phasen zu unterteilen, welche im Folgenden beschrieben werden. Dabei führe ich Autor*innen aus verschiedenen Disziplinen wie zum Beispiel der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Ethnologie zusammen. Sie alle befassen sich mit verschiedenen Phasen in der Forschung oder allgemein der teilnehmenden Beobachtung. Dabei ist es mir gelungen, diese einzelnen Beobachtungen, Empfehlungen und Handlungsoptionen zusammenzuführen. So habe ich für Forschende allgemein, aber auch für mich in meiner Forschung eine bessere Vorstellung von der Forschung als Prozess erhalten. Dieser Prozess beschreibt die verschiedenen Phasen der teilnehmenden Beobachtung, welche nicht starr oder als idealtypisch zu sehen sind. Vielmehr kommt es in der Forschung zu einer Vermischung der einzelnen Phasen und es kann vorkommen, dass Forschende zwischen einzelnen Phasen hin und her springen. Somit ist die Feldforschung als dynamischer Prozess zu verstehen, in dem die Forschenden auch mal improvisieren (Dequirez & Hersant, 2013; Malkki, 2007) oder „off script“ (Posner, 2020) handeln müssen, wenn es die jeweilige Situation erfordert. Dabei kann es auch dazu kommen, dass die Forschung komplett scheitert oder in starken Zügen verändert werden muss. Dies sollte jedoch nicht als Versagen, sondern als neue Möglichkeit der Aushandlungen im Feld angesehen werden (Kušić & Záhora, 2020). Somit geht es bei der Forschung immer auch um Wahrnehmung. Sie ist eine Mischung aus Wahrnehmung und Beobachtung, es werden Merkmale „entdeckt“, welche anschließend überprüft werden. Es handelt sich also um ein Wechselspiel zwischen Umherschweifen und einer gezielten Suche. Somit handelt es sich bei der teilnehmenden Beobachtung immer um ein Wechselspiel zwischen theoretischem Vorwissen und empirischem Gegenstand (Merkens, 1989, S. 11). Dabei bestimmt die Interpretation den eigentlichen Vorgang des Beobachtens.

Ebenfalls ist es wichtig, schon vor dem eigentlichen Feldaufenthalt das Feld zu bestimmen. Dabei ist das Feld als ein natürliches Setting (Knoblauch, 2001, S. 130) zu verstehen, welches menschengemacht ist. In diesem menschengemachten Raum haben die Forschenden eine zentrale Rolle, indem sie das Feld definieren und in gewisser Weise auch konstruieren. Somit ist „[…] die selbstreferenzielle Einsicht, dass Forschende der sozialen Welt, die sie untersuchen, nicht entkommen können, und mit ihren Ergebnissen an deren Konstruktion beteiligt sind, […] ein Kernbestandteil der ethnografischen Haltung“ (Pfadenhauer, 2017, S. 5). Das Feld ist dabei als relativ autonom zu bezeichnen, es existiert im Kontext anderer Felder, welche sich gegenseitig beeinflussen und dadurch dynamisch werden (Leander, 2008, S. 16).

5.3.1 Vor der teilnehmenden Beobachtung

Vor der Feldphase steht die Konzeption der Forschung. Eine Phase also, in der theoretische Vorüberlegungen getroffen werden, die die Datenerhebung beeinflussen (Spittler, 2001, S. 12). Sie wird auch als „Vor-Feld“ (Menzel, 2015, S. 62) bezeichnet. So werden theoretisch informierte Leitfragen entwickelt oder Typologien gebildet, die im Feld erprobt werden sollen. Hierbei geht es nicht darum, Leitfragen zu entwickeln, welche im Feld gestellt werden oder Typologien in Form von Hypothesen zu bilden. Vielmehr geht es darum, dass sich die Forschenden auf das Feld vorbereiten und sich mithilfe von Fragen und Typologien dem Feld in einem ersten Schritt nähern. Hierbei ist es hilfreich, den theoretischen Rahmen so weit auszuformulieren, dass die Beobachtungen im Feld mithilfe dieses Rahmens systematisiert werden können. Jedoch muss der Forschungsprozess noch so offen und flexibel gehalten werden, dass er nicht die reine Bestätigung von vorgefertigten Annahmen zum Ziel hat. Auch sind eine ständige Überprüfung und wenn nötig auch Anpassungen ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses (Mayer, 2002, S. 28). Dabei geht es jedoch explizit nicht um die Bildung von Hypothesen, welche mögliche Zusammenhänge von Variablen aufzeigen oder Kausalitäten herstellen sollen. Bei der Bildung von Hypothesen geht es in der Regel um das Erklären (zum Beispiel eines bestimmten Verhaltens). Bei den Vorüberlegungen zur teilnehmenden Beobachtung geht es jedoch um das Verstehen (zum Beispiel warum ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt wird). Das Ziel der theoretischen Vorüberlegungen ist demnach ein anderes (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 117). Diese Unterscheidung hat einen regelrechten Methodenstreit entfacht. Schon 1860 begann Wilhem Dilthey Grundlagen zu liefern, welche die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften abgrenzen (Dilthey, 1924). Später stand auf der einen Seite die Einführung des Verstehens durch Max Webers Definition der sozialwissenschaftlichen Methodik als „[…] eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich sein will“ (Weber, 1921, S. 542). Auf der anderen Seite kam es zu einer eher naturwissenschaftlichen, erklärenden Herangehensweise an sozialwissenschaftliche Fragen. Die Debatte spitzte sich in den 1960ern mit Beiträgen von Theodor W. Adorno und Karl Popper erneut zu (Adorno et al., 1972). Diese Debatte flachte ab und reduziert sich auf die Auseinandersetzung um den Unterschied zwischen quantitativen und qualitativen Methoden (Hammersley, 1992, S. 165). Verstehende qualitative Forschung hat wie der Begriff schon sagt, zunächst den Anspruch zu verstehen, um ein besseres Verständnis für bestimmte Probleme oder Themen zu gewinnen. Das Ziel der qualitativen Forschung und damit der teilnehmenden Beobachtung ist es also, die Bedeutung hinter den Forschungsergebnissen zu verstehen: „[…] the goal is to understand the ‘how’, ‘what’ and ‘why’“ (Steward-Withers et al., 2003, S. 61). Die hier vorliegende Arbeit verfolgt als Ziel mit ihrer methodischen Ausrichtung, das Warum hinter bestimmten Dingen zu verstehen. Es geht also nicht darum, Hypothesen aufzustellen, sondern darum, Fragen zu stellen. Um diese Vorüberlegungen einzubetten, ist eine gründliche Recherche über das zu beforschende Feld wichtig. Zudem sollte man sich mit den Gegebenheiten vor Ort bereits im Vorfeld bestmöglich vertraut machen.

Auch einige forschungsstrategische Überlegungen sind im Vorfeld anzustellen. So sollte der oder die Forschende bereits vor Beginn überlegen, welche Art der Beobachtung durchgeführt werden soll. Nach (Gold, 1958) gibt es folgende Typologien: 1. Eine vollständige Teilnahme (Integration, kaum zu erkennende Beobachter*innenrolle, eventuell verdeckt, Forschende sind nicht mehr sie selbst), 2. Die Situation der oder des Teilnehmenden als Beobachter*in (weitgehende Integration, eine erkennbare Beobachter*innenrolle), 3. Eine*n Beobachter*in als Teilnehmende (geringe Integration, die Beobachtung dominiert, bleibt jedoch oft an der Oberfläche oder findet nur kurzeitig statt) und 4. Die vollständige Beobachtung (Integration und Interaktion sind nicht vorhanden). James Spradley (1980) hingegen formuliert eine andere Rollenunterteilung und geht dabei von der Intensität der Teilnahme aus. Eine Wissensgewinnung durch „Nicht-Teilnahme“ ist für Spradley zum Beispiel durch Lesen oder Fernsehen möglich. Eine „moderate Teilnahme“ erfolgt, wenn der oder die Forschende vor Ort anwesend ist, jedoch nicht aktiv oder nur teilweise teilnimmt. „Aktive Teilnahme“ hingegen bedeutet demnach, dass der oder die Forschende alles erlernen möchte, was es zu dem Ort zu erlernen gibt. Erst bei der „kompletten Teilnahme“ wird der oder die Forschende schließlich zu einem Teil des Feldes oder war schon vorher ein Teil dessen. (Adler & Adler, 1987) hingegen beschreiben diese Kategorien der Teilnahme als periphere, aktive oder komplette Mitgliedschaft. Politikwissenschaftler*innen nehmen typischerweise die von Gold als zweite benannte Rolle ein, welche als ethnografisches Basisverfahren bezeichnet werden kann. Diese bewegt sich nach Spradley zwischen einer aktiven und einer moderaten Teilnahme. Jedoch kommt es innerhalb der Forschung auch immer wieder zu Rollenwechseln (Jones, 2014, 243 f.; Schöne, 2005, S. 187; Weißköppel, 2005, S. 60). Es ist wichtig, diese immer wieder zu reflektieren und zu beachten, welche möglichen Rollenzuweisungen aus dem Feld erwachsen (Bachmann, 2009, S. 254; Robson, 1997, S. 52) und diese gegebenenfalls auch anzunehmen. Dies geschieht insbesondere zwischen teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme. Es kommt also zu einem Zwischenstadium, einem „managing marginality“ (Hammersley & Atkinson, 2007, S. 109), einem Wandel zwischen interner und externer Perspektive (Breidenstein et al., 2013, S. 68). Hierbei unterscheidet sich zum einen die Intention. Bei der teilnehmenden Beobachtung geht es mehr um die Produktion von Erlebensdaten und bei der beobachtenden Teilnahme mehr um Beobachtungsdaten. Sie werden durch eine existenzielle Innensicht, durch ein subjektives Erleben beziehungsweise durch eine distanziertere Außensicht gewonnen. Generell wird in allen Szenarien zwischen unstrukturierter (der*die Forschende hat einen weitgefassten Rahmen, Perspektiven können im Laufe des Prozesses verändert und Beobachtungen neu interpretiert werden) und strukturierter (von Beginn an selektiv auf wenige Aspekte ausgelegt) Beobachtung unterschieden. Jürgen Friedrichs (1982, S. 272) unterscheidet sogar zwischen fünf Dimensionen: 1. Verdeckt oder offen, 2. Nicht teilnehmend oder teilnehmend, 3. Systematisch oder unsystematisch, 4. Natürlich oder künstlich und 5. Selbst oder fremd. In der Politikwissenschaft ist die Beobachtung meist offen, in natürlicher Umgebung und als Fremdbeobachtung einzustufen (Schöne, 2005, S. 171). Die unstrukturierte Beobachtung ist als wissenschaftliche Beobachtung jedoch nie unsystematisch, also nicht der reinen Willkür überlassen (Reuber & Pfaffenbach, 2005, 124 f.).

Ein wichtiger Faktor, den es in der Forschung zu berücksichtigen gilt, ist die zeitliche und räumliche Komponente. In zeitlicher Hinsicht kann Feldforschung unterschiedlich lange dauern. Kürzere Phasen der Feldforschung und der teilnehmenden Beobachtung sind oft bei methodenpluralen Forschungsprojekten üblich. Ebenfalls kann es üblich sein, mehrmals in einem Feld zu forschen und so über einen längeren Zeitraum verschiedene Eindrücke zu gewinnen. Teilnehmende Beobachtung steht auch vor der Frage, wie weit der Raum gefasst werden soll, den es zu beobachten gilt (Beuchling, 2015, S. 12), wie die Forschenden also das Feld definieren. Darüber sollte im Vorfeld der Forschung entschieden werden. Die Zeit, die für die Forschung aufgewendet wird, steht dabei in Relation zu der Fragestellung und dem Ziel der teilnehmenden Beobachtung.

Für mich waren diese Überlegungen vor dem Einstieg in das Feld besonders wichtig. Mein Forschungsthema stand fest, ich hatte mich in Methoden, Theorien und Konzepte eingelesen und ging nun den ersten Schritt zur Planung und Verbreitung der teilnehmenden Beobachtung. Dabei ging es zunächst darum, das Feld festzulegen. Hierbei wähle ich bewusst den Begriff Feld. Dieser wird besonders in der englischsprachigen Ethnologie immer wieder kritisch hinterfragt (Amit, 2000; Fog Olwig & Hastrup, 1997). Der Begriff Field wird oft von der Bezeichnung Site abgelöst, welcher eine breitere Definition zulässt und betont, dass zum Beispiel die Kultur, die erforscht wird, nicht auf einen Ort festgelegt ist. Auch Mobilität und Interaktivität werden betont (Gupta & Ferguson, 1997; Kapiszewski et al., 2015; Weißköppel, 2005). Es findet somit eine Loslösung von dem klassischen Begriff Feld statt, „[that] draws on mental images of a distinct place with an inside and outside, reached by practices of physical movement“ (Clifford, 1997, S. 54). Ich verwende demnach den deutschen Begriff Feld mit der Bedeutung des englischen Begriffs Site unter besonderer Berücksichtigung der ständigen Konstruktion des Feldes. Somit beschreibe ich das Feld nicht als geografischen Ort im klassischen Sinn, sondern vielmehr als etwas durch die Forschenden Konstruiertes (Amit, 2000). Als Feld habe ich für meine Forschung den gesamten ZFD festgelegt, wodurch das Feld eine sozio-politische Einheit darstellt (Scheyvens & McLennan, 2014, 14). Da ein Teil der Forschung in Deutschland und ein anderer Teil der Forschung im Ausland stattgefunden hat, ist das Feld also nicht als geografischer Ort zu sehen. Dies zieht nach sich, dass zum Beispiel Feldzugänge mehrmals erfolgten und auch über unterschiedliche Herausforderungen in der Forschung reflektiert werden muss. So können bei dieser Forschung verschiedene Arbeitsphasen unterschieden werden, welche alle im Feld des ZFD stattgefunden haben. Eine erste Arbeitsphase beinhaltete das Führen von Expert*inneninterviews mit Programmverantwortlichen der Organisationen in Deutschland. Eine zweite Arbeitsphase die Teilnahme an Seminaren zur Vorbereitung von Fachkräften und eine dritte Arbeitsphase umfasste die Forschung in ZFD-Projekten in Kenia, Liberia und Sierra Leone. Somit hat das Feld verschiedene geografische Orte (welche im Rahmen des ZFD noch erweiterbar wären) und auch die Forschung findet an verschiedenen Orten statt.

Dadurch handelt es sich nicht im Malinowskischen Sinne um stationäre Feldforschung, sondern vielmehr um eine Multi-sited-Ethnography. Diese Forschungsweise wird schon seit längerer Zeit praktiziert, wurde jedoch erst in den 1990ern durch George E. Marcus (1995) mit Rückbezug zu Überlegungen aus dem Werk Writing Culture (Clifford & Marcus, 1986) bilanziert und methodisch zusammengefasst. Dies geschah vor dem Hintergrund, die kulturell vernetzte Welt mit komplexen Machtverhältnissen sinnvoll in ethnografische Forschung einzubetten, globale und lokale Ebenen aufzubrechen und Verbindungen in den Vordergrund zu stellen. Auch im deutschsprachigen Raum findet diese Art der Feldforschung eine methodische Beschreibung mit den Begriffen der multi-lokalen oder mobilen Forschung (Schlee, 1985, S. 204; Werthmann et al., 2004, S. 327). Durch die Fokussierung auf Zusammenhänge und Verbindungen wird somit die forschende Person als eine Art Spurensucher*in (Geertz, 1997) gesehen. Auch ich kann mich in meiner Forschung als solche bezeichnen. Ich möchte Spuren in meinem Feld, Verbindungen zwischen Akteur*innen, aber zum Beispiel auch fehlende Verbindungen aufzeigen. Dabei ist dieser Forschungsansatz nicht als „Reiseforschung“ (Clifford, 1997; Spittler, 2001) zu verstehen. Es geht also nicht darum, an möglichst vielen Orten zu forschen, sondern der Gegenstand, über den geforscht wird, gilt als Antreiber*in des Prozesses. Dies können Personen, Dinge, Themen/Metaphern, Geschichten, Lebensgeschichten, bestimmte Konfliktfälle oder Knotenpunkte sein (Marcus, 1995, 106 ff.). Es gilt „follow the plot, story, allegory“ (Marcus, 1995, S. 109). Es sei noch anzumerken, dass bei einer solchen Multi-sited-Ethnography, wie ich sie durchgeführt habe, die verschiedenen Phasen im Feld mehrmals stattfinden. Der Einstieg in das größere Feld ZFD mag zu einem bestimmten Zeitpunkt gelungen sein, jedoch muss dieser zum Beispiel erneut im Feld ZFD-Liberia erfolgen.

„Die Herausforderung der multi-sited-ethnography, sich in viel kurzfristigeren und sporadischen Aufenthalten Fremden und Fremdem zu nähern, also von dem bewahrten ethnografischen Habitus des sukzessiven going native […] loszulassen und Neues auszuprobieren, ist daher wohl mit besonderen Verunsicherungen verbunden“ (Weißköppel, 2005, S. 58).

Diese Herausforderung kann jedoch auch eine große Chance für die Forschung darstellen. Wie diese genutzt werden kann, wird immer wieder Teil dieses Kapitels sein. Generell gelten die folgenden Überlegungen, welche einzelne Phasen beschreiben, nicht als starr, sondern ganz im Sinne einer Multi-sited-Ethnography.

Nachdem also das Feld für mich klar definiert war, habe ich mir überlegt, welche Rolle ich als Forscherin einnehmen möchte. So habe ich im Vorfeld meine Rolle als Teilnehmerin, als Beobachterin definiert. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, dass ich weitgehend in das Feld integriert sein werde, dabei jedoch eine erkennbare Beobachterinnenrolle einnehmen werde. Dabei habe ich mich an den von (Spradley, 1980) festgelegten Kategorien moderat und aktiv orientiert, da diese für mein Empfinden sehr gut zu dieser Rolle passen. Trotz dieser Überlegungen war ich mir von Beginn an bewusst, dass es zu den schon angesprochenen Rollenwechseln kommen kann. So bin ich nicht mit einer starren Rollenhaltung in das Feld gegangen. Nach Jürgen Friedrichs (1982) habe ich meine teilnehmende Beobachtung als offen, teilnehmend, systematisch und unsystematisch, natürlich und als Fremdbeobachtung geplant.

Generell habe ich mich auf die verschiedenen Arbeitsphasen während der Forschung nochmals einzeln vorbereitet. Die Expert*inneninterviews in Deutschland fanden relativ zu Beginn meiner Forschung statt. Sie waren keine teilnehmende Beobachtung, sondern reine Interviews. Da ich sie jedoch als einen wichtigen Teil des gesamten Forschungsprozesses sehe, werden sie hier ebenfalls beleuchtet. Da es sich hierbei um meinen ersten Kontakt mit meinem Forschungsfeld handeln sollte, waren für mich das Aneignen von Expertise und das Erstellen von theoretisch informierten Leitfragen besonders wichtig. Bei der Teilnahme an den verschiedenen Seminaren in Deutschland war es für mich von Bedeutung, erste Ergebnisse aus den Expert*inneninterviews mit in die informierten Leitfragen zu integrieren und somit meinen eigenen Horizont nochmals zu erweitern.

Vor den Forschungen in Kenia, Liberia und Sierra Leone stand für mich in der inhaltlichen Vorbereitung vor allem die Ausformulierung des theoretischen Rahmens und der Kenntnisse über die jeweiligen Länder im Vordergrund, damit die große zu erwartende Anzahl an Beobachtungen im Feld mithilfe dieses Rahmens systematisiert werden kann. Für diese Arbeitsphase der Forschung waren außerdem noch größere logistische Vorbereitungen zu treffen, welche ebenfalls nicht zu vernachlässigen sind. Die Vorbereitungen auf eine Feldforschung, besonders im Globalen Süden, sind immer sehr unterschiedlich und kommen sowohl auf das Feld, auf die bestehenden Kontakte, aber auch auf die Vorerfahrung des oder der Forschenden an (Evans et al., 1997, S. 7). Für mich war der Forschungsaufenthalt nicht der erste Aufenthalt in einem Land des Globalen Südens oder auf dem afrikanischen Kontinent. Ich konnte in der Vorbereitung auf eine Vielzahl an Erfahrungen aus Aufenthalten in verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents, in Kontexten von interkulturellen Jugendbegegnungen, Forschungsreisen oder Reisen für außeruniversitäre Arbeitsstellen zurückgreifen. Ich möchte betonen, dass mich dies nicht zu einer Expertin für ein Land, geschweige denn für einen ganzen Kontinent macht. Dennoch habe ich mich in den praktischen Vorbereitungen der Reise – beispielsweise bezüglich der erforderlichen Impfungen oder des essenziellen Gepäcks – gut vorbereitet gefühlt. Für alle drei Länder galt es in der Vorbereitung Forschungsvisa zu erhalten. Dies geschah in Sierra Leone und Liberia über die Botschaft in Deutschland und für Kenia über ein spezielles Online-Portal. Mit der Ausnahme, dass mein Pass auf dem Weg zur Liberianischen Botschaft verloren ging und ich diesen somit erst vier Tage vor Abflug wiederbekam, verliefen die Prozesse relativ reibungslos.Footnote 6 Ebenso habe ich mich besonders auf mein Forschungsland Kenia auch kulturell sehr gut vorbereitet gefühlt, da ich zuvor bereits neun Mal für Zeiträume zwischen einem und drei Monaten in dem Land war. Hier habe ich beispielsweise in der persönlichen Vorbereitung auf Land und Leute für Liberia und Sierra Leone gemerkt, dass obwohl ich bereits einige Male in Westafrika war, ich doch mit einer etwas größeren Unsicherheit ins Feld gegangen bin, da ich noch nicht so genau wusste, was mich erwarten wird. Doch gerade dieses offene Ins-Feld-Gehen ist auch das, was Feldforschung ausmacht.

5.3.2 Einstiegsphase

Die Einstiegsphase ist durch die ersten Kontakte, Bewegungen und Beobachtungen im Feld gekennzeichnet und birgt eine Konfrontation mit den tatsächlichen Realitäten (Tittensor, 2016, S. 218). Hierbei gilt es zum einen, die forschungsstrategischen Vorüberlegungen auf ihre Durchführbarkeit hin zu überprüfen, zum anderen, einen Zugang zum Feld zu finden. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten eines Zugangs. Dabei gilt, dass das, was für eine Person im Feld funktioniert hat, nicht automatisch auch für eine andere Person funktionieren muss (Gusterson, 2008, S. 96). Olaf Beuchling (2015, 14 ff.) unterscheidet dabei, ob der oder die Forschende bereits Teil des Forschungsfeldes ist, das Forschungsfeld sich erst durch bestimmte Umstände eröffnet, der oder die Forschende sich den Zugang erarbeitet oder ob der Zugang verwehrt bleibt. Hierbei ist bis auf den Fall, dass kein Zugang möglich ist, immer eine gewisse Integration in das Feld wichtig. Der Feldzugang ist dabei als ein anhaltender Prozess zu verstehen, bei dem zwischen akzeptierter Präsenz (getting in) und zugestandener Teilhabe (getting on) unterschieden werden kann. Dabei ist es wichtig, dass es immer um die Zugänglichkeit zu dem gesamten Feld geht, nämlich „people, places, and pursuits“ (Learning Science in Informal Environments, 2009).

Bei dem Feldzugang wird besonders deutlich, dass die teilnehmende Beobachtung immer auch Beziehungsarbeit ist. Denn es ist eine gewisse Vertrauensbasis nötig, um beobachten zu können und es kommt durchaus vor, dass aus Forschenden und Personen im Feld Freunde werden (Howell, 1973, 392 ff.). Dies geschieht zum einen rein aus freundschaftlichen Gründen, zum anderen aber auch als „research friendships“ (Glesne, 1989, S. 50), da Personen im Feld bestimmte Schlüsselpositionen innehaben oder die oder den Forschende*n als „tribe“ (Malejacq & Mukhopadhyay, 2016) im Feld schützen. Beides ist aus meiner Sicht ethisch fragwürdig, da Personen so leicht für etwas bestimmtes ausgenutzt oder instrumentalisiert werden können. Somit beruht Feldforschung immer auch auf sozialen Beziehungen. Dazu kann es sehr hilfreich sein, wenn der oder die Forschende sein oder ihr Vorhaben den Menschen im Feld gegenüber klar kontextualisiert, die Ziele deutlich formuliert und die eigene Anwesenheit plausibel erklärt (Lueger, 2000, S. 59). Dies kann zu regelrechten Selbsterläuterungszwängen führen, also zu wiederholtem, möglichst genauem Erklären des eigenen Vorhabens (Bachmann, 2009, 251 f.; Grenz, 2017, S. 193). Es ist in der Wissenschaft bekannt, dass Personen, die sich beobachtet fühlen, ihre Handlungen verändern, sie für die Forschung anpassen oder schon Interpretationen liefern. Dies ist als der sogenannte Haworth-Effekt bekannt (Roethlisberger & Dickson, 1970 [1939]). Deswegen ist es bei der Feldforschung so wichtig, dass eine Vertrauensbasis geschaffen wird, Beobachtungen in natürlichen Umgebungen stattfinden und die Personen nicht das Gefühl haben, beobachtet zu werden. Dazu zählt auch, über einen möglichen Nutzen der Forschung für die Akteur*innen im Feld zu sprechen, da auch sie von den Ergebnissen profitieren können und die Forschung nicht allein der Wissenschaft dient (Howard, 2018). Dies kann im Zuge der kollaborativen, ethnografischen Forschung sogar als eigentliches Ziel der Forschung verstanden werden. Dabei begibt sich der oder die Forschende in eine Art Dienstleistungsfunktion gegenüber den Akteur*innen im Feld (Barnett & Watson, 2018). Diese Annahme ist als eine Art moralischer Imperativ zu sehen. „Thus, researchers have the moral obligation to reciprocate by taking time and effort to inform the local actors of their research results“ (Michelitch, 2018, S. 544). Generell gilt, dass die ersten Begegnungen mit den Personen im Feld für den weiteren Zugang zum Feld besonders entscheidend sein können. „Leider lässt sich die durch den konkreten Feldeinstieg ausgelöste Dynamik kaum prognostizieren und man findet keine eindeutigen oder besten Lösungen“ (Lueger, 2000, S. 60). Deswegen ist eine ständige Reflexion des Prozesses und der eigenen Position besonders wichtig (Dahlberg et al., 2002; Steier, 1995). Reflexion wird dabei verstanden als „[…] being transparent about possible impacts of researcher’s values, worldview, and ideas on her particular knowledge claims“ (Mukhtarov et al., 2017, S. 619). Außerdem beinhaltet die Reflexion Elemente des Dialoges mit sich selbst, die kritische Selbsthinterfragung (Berger, 2015), und kann auch als „explicit self-aware meta-analysis“ (Finlay, 2016, S. 209) gesehen werden. Dies kann zum Beispiel durch das Führen eines Feldtagebuches geschehen, worauf im späteren Verlauf noch genauer eingegangen wird. Das Festhalten von Gedanken und Erlebnissen kann dabei helfen, Beobachtungen später zu interpretieren und die eigene Rolle im Feld besser zu verstehen. Es kann die Forschenden in ihrer Reflexivität unterstützen, indem es unterschwellige Tatsachen aufdeckt (Motari, 2015, S. 2). Dabei ist es wichtig, dass sich Forschende gegebenenfalls schon in der Vorbereitung bestimmte Reflexionsstrategien überlegen. Reflexion ist nicht unbedingt als ein natürlicher Prozess zu sehen und bedarf der Übung (Motari, 2015, S. 2).

Es kann jedoch auch geschehen, dass der oder die Forschende im Feldeinstieg oder auch während der Forschung (multiple) Verschlossenheit erlebt. Diese kann räumlich, jedoch auch sozial bedingt sein, durch die Akteur*innen im Feld oder durch bestimmte Eigenschaften des oder der Forschenden oder nicht zuletzt auch rein formale Verschlossenheit sein. Als positive Eigenschaften des oder der Forschenden werden zum Beispiel Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, aber auch konfliktsensitives Handeln und Reflexions- und Lernfähigkeit genannt (Koltermann, 2013, S. 135). Dabei wird in der Forschung davon ausgegangen, dass gerade Organisationen, insbesondere Unternehmen, eine besondere Herausforderung für Forschende darstellen, wenn es um Zugänge geht. „Organisationen und insbesondere Unternehmen stellen ethnografisch riskante, mithin systematisch verschlossene Felder dar“ (Wolff, 2007, S. 339).

Gerade in der Einstiegsphase ist der oder die Forschende fremd im Feld. Diese Fremdheit wird auch im weiteren Forschungsprozess nicht komplett abgelegt, da nicht in jeder Forschung der oder die Forschende zu einhundert Prozent Teil des Feldes wird. Doch gerade zu Beginn spielt Fremdheit eine viel größere Rolle. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass diese gefühlte und tatsächliche Fremdheit immer wieder anders bewertet wird. So spricht (Honer, 1993, S. 47) beispielsweise von einer professionellen Schizophrenie, (Schütz, 2011 [1942] klassisch von dem Fremden, (Christmann, 2007, S. 92) von einem kulturellen Zwitter, womit er*sie auf eine Zerrissenheit der Forschenden aufmerksam macht, (Agar, 1980) von einer bzw. einem professionellen Fremden, was auf die berufliche Rolle der Forschenden abzielt, und wieder andere von „(experimental) marginal man/native“ (Freilich, 1970; Park & Hughes, 1950 [1928]). Also von Personen, welche am Rand zweier Kulturen oder Gesellschaften agieren und in keiner ihren Platz finden. All diese Beschreibungen zielen darauf ab, aufzuzeigen, wie schwer der Wandel zwischen zwei Welten für die Forschenden sein kann und dass er oder sie sich immer zwischen einem Angenommensein und einem teilweise auch bewussten Fremdsein befinden. Da Forschung als Prozess zu verstehen ist, kann davon ausgegangen werden, dass dieses Fremdheitsgefühl immer wieder neu auftauchen kann (Schütz, 2011 [1942], 82 f.).

In meiner Forschung erfolgte der Feldzugang gleich mehrere Male. Der erste und für mich schwierigste Zugang erfolgt in der ersten Arbeitsphase, bei den Expert*inneninterviews. Hier habe ich zunächst alle Organisationen, die im ZFD involviert sind, kontaktiert und nach Interviews gefragt. Dies ist gerade bei Expert*inneninterviews ein normales Vorgehen. Viele der beschriebenen Faktoren für einen Feldzugang sind hier nicht so relevant, da man physisch das Feld nach dem Interview direkt wieder verlässt. Trotzdem haben die Interviews für mich eine Art Gatekeeper-Funktion. Nachdem ich alle Organisationen kontaktiert hatte, habe ich von fast allen eine Zusage für das Interview bekommen. Somit konnte ich sieben Interviews führen. Die Interviews stellten somit meinen ersten Zugang zu dem größeren Feld des ZFD dar. Sie dienten für mich dazu, vertiefte Informationen über den ZFD zu erhalten, aber auch dazu, mich in dem Feld zu etablieren, um in dem Feld anzukommen. Da ich die Interviews mit Personen geführt habe, die in den jeweiligen Organisationen in einer für den ZFD relevanten Position tätig sind, war es hier besonders wichtig, mich und meine Forschung zu positionieren und vorzustellen und meine Ziele klar zu verdeutlichen. Dies war wichtig, um Vertrauen zu mir und meiner Forschung aufzubauen. Dadurch hatte ich die Hoffnung, dass mir durch diese Personen in Schlüsselpositionen anschließend Zugänge zu den Seminaren und Akteur*innen in den drei Ländern ermöglicht werden können.

Diese Hoffnung von mir wurde für meine zweite Arbeitsphase bestätigt. In Deutschland konnte ich an insgesamt fünf Seminaren von AGIAMONDO, dem forumZFD/der Akademie für Konflikttransformation und der GIZ teilnehmen. Hierbei fanden einige Seminare auch in Kooperation statt. Für mein Empfinden war ich somit an dieser Stelle Teil des Forschungsfeldes ZFD geworden. Die Zugänge zu den einzelnen Seminaren erfolgten, indem ich am Ende der Expert*inneninterviews oder in einer anschließenden E-Mail gezielt nach der Möglichkeit einer Teilnahme gefragt habe. Gemeinsam mit den entsprechenden Verantwortlichen habe ich geschaut, welche Seminare für mich interessant sein könnten. Generell dauerte die Vorbereitung der Seminare mehrere Wochen oder sogar Monate. Hier war es nicht möglich und auch nicht im Forschungsinteresse, an der gesamten Zeitspanne teilzunehmen. Vielmehr habe ich punktuell bei bestimmten Themenblöcken teilgenommen. Somit erfolgte der Feldzugang bei jedem einzelnen Seminar erneut. Es war jedes Mal eine andere ZFD-Organisation, eine andere Gruppe an Fachkräften oder ein*e andere*r Trainer*in. Hier habe ich im Vorfeld mit den jeweiligen Trainer*innen Rücksprache gehalten und meine Motivation und mein Forschungsinteresse geklärt. Gleiches habe ich zu Beginn der Seminare gegenüber den Teilnehmenden geäußert. Da ich als normale Teilnehmerin in den Seminaren war, mit dem Unterschied, dass ich mich nicht auf eine Ausreise als Fachkraft vorbereitet habe, erfolgte der Zugang sehr einfach. Es wurden von den Teilnehmenden keine Bedenken geäußert. Vielmehr war es zweimal der Fall, dass die Trainer*innen Bedenken geäußert hatten, wie die Fachkräfte auf mich reagieren würden. Diese wurden jedoch abgebaut und die Fachkräfte haben bei den Trainer*innen eine noch tiefere Integration meiner Person in die Seminararbeit eingefordert. Je nach Seminargruppe ist es ohnehin der Fall, dass die einzelnen Inhalte in unterschiedlicher Zusammensetzung der Teilnehmenden stattfinden, was sicherlich auch zu einem reibungslosen Feldeinstieg beigetragen hat.

Die Feldzugänge in Kenia, Sierra Leone und Liberia erfolgten über die Organisationen in Deutschland. Insgesamt sind in den drei Ländern fünf der neun deutschen Organisationen vertreten. Ich habe die entsprechenden Interviewpartner*innen von mir mit der Bitte kontaktiert, mir Kontakte in den jeweiligen Ländern zukommen zu lassen. Wie dies genau aussah, war von Organisation zu Organisation unterschiedlich. Einige Organisationen haben mir die E-Mail-Adressen der Koordinator*innen oder Schlüsselpersonen vor Ort weitergeleitet, damit ich direkt mit diesen in Verbindung treten kann, um das weitere Vorgehen zu klären. Andere Organisationen wiederum haben eine von mir geschriebene Kurzbeschreibung meines Forschungsvorhabens an die Koordinator*innen oder Schlüsselpersonen vor Ort gesendet und diesen freigestellt, sich bei mir zu melden. Auf beiden Wegen bin ich mit gutem Erfolg mit den entsprechenden Personen in Kontakt gekommen und konnte Termine für ein erstes Treffen ausmachen. Dabei war es natürlich auch wichtig, Kontakte zu den Fachkräften vor Ort und den lokalen Partner*innen zu erhalten. Auch hier erfolgte der Umgang damit sehr unterschiedlich. Einige ließen mir komplette Adresslisten von allen Akteur*innen zukommen, einige nur von den deutschen Fachkräften, andere leiteten eine von mir geschriebene E-Mail an die Akteur*innen weiter. Teilweise wurde ich auch direkt zu Veranstaltungen eingeladen, um alle kennenzulernen. Unabhängig davon, welcher Weg gewählt wurde, konnte ich auch hier mit allen ins Gespräch kommen. Dies hat unterschiedlich lange gedauert, aber das ist eben die Dynamik des Feldes. Dies konnte während der Forschung, auch wenn es immer erfolgreich war, manchmal frustrierend sein. „Die ganzen Terminabsprachen sind manchmal schwierig und es ist eben nicht so wie in Deutschland, wo man einen Monat vorher eine Mail schreibt und dann einen Zeitplan bekommt. Dennoch ist dies ein wichtiger Teil der Forschung und Teil der Erfahrung.“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 26.02.2019). Insgesamt fanden somit zu den allgemeinen Beobachtungen in Kenia 50 Interviews und 30 konkrete Teilnahmen an Aktivitäten satt. In Liberia waren dies 22 Interviews und 23 konkrete Teilnahmen an Aktivitäten und in Sierra Leone 23 Interviews und 18 konkrete Teilnahmen an AktivitätenFootnote 7. Die Kommunikation erfolgte hierbei über E-Mail und zu einem gleichen Teil über WhatsApp oder Anrufe.

Die Treffen vor Ort mit den jeweiligen Personen, welche in den lokalen Organisationen entweder als deutsche Fachkraft oder als lokale*r Mitarbeiter*in arbeiten, begannen mit einer Vorstellung von mir, meinem Forschungsinteresse und einer Thematisierung, was mit den Daten geschieht und wie diese auch für die Akteur*innen im Feld nutzbar sein sollen. Doch nicht nur in diesen Gesprächen erfolgte ein Zugang in das Feld, sondern auch bei Aktivitäten, bei denen ich von den jeweiligen Organisationen mitgenommen wurde. Hier trat ich zusammen mit den Personen aus der jeweiligen Organisation auf, habe mich, meine Forschung und meine Rolle jedoch jedes Mal gegenüber den Teilnehmenden thematisiert, um nicht Gefahr zu laufen, dass eine Person gegen seinen oder ihren Willen Teil der Forschung wird. Hier wurden mir in allen Situationen große Offenheit und Interesse entgegengebracht. Dies mag jedoch auch daran liegen, dass ich als weiße Frau vor Ort geforscht habe und gemeinsam mit der Organisation aufgetreten bin. Gleichzeitig hatte dies aber auch immer etwas sehr Wertschätzendes zwischen den Mitarbeitenden der Organisation und den Personen im Projekt. „Wir wurden in dem Ort total lieb willkommen geheißen und man merkt richtig, wie gut die Zusammenarbeit klappt und die Wertschätzung da ist“ (Forschungstagebuch Kenia, 01.10.2019). Auf dieses Faktum wird genauer in Abschnitt 5.6 – Forschungsethische Überlegungen – eingegangen. Generell ist anzumerken, dass ich mich, je öfter ich diese kleinen Feldzugänge bei den jeweiligen Aktivitäten erlebt habe, immer wohler in der Situation gefühlt habe. So mag ich mich bei den ersten Malen noch etwas fremd oder fehl am Platz gefühlt haben. Ich schrieb bei der ersten größeren Veranstaltung, die ich in Kenia besucht habe, ohne schon viele Personen zu kennen, in mein Tagebuch: „Ich war tatsächlich etwas aufgeregt und habe mich zu Beginn etwas fehl am Platz gefühlt, da sich alle kennen“ (Forschungstagebuch Kenia, 20.09.2019). So habe ich mich bei den weiteren Treffen genau richtig am Platz gefühlt und zu einem Zeitpunkt in der Mitte der Forschung in mein Forschungstagebuch geschrieben: „Es war schön, zu merken, dass ich in der CPS-Family doch schon angekommen bin“ (Forschungstagebuch Liberia, 05.04.2019).

Diese Bemerkungen zu Feldzugängen gelten für alle drei Länder. Es ist jedoch wichtig, noch genauer auf mögliche Spezifika der einzelnen Länder zu schauen. In Sierra Leone und Liberia war ich gleichzeitig mit meiner Kollegin Julia Leib vor Ort, welche jedoch zu anderen Themen forschte. Sicherlich vereinfachte dies einiges für den privaten Einstieg ins Feld. So war man beispielsweise die ersten Tage nicht alleine und konnte sich gemeinsam orientieren. Hierbei ist nicht das Forschungsfeld ZFD gemeint, sondern die allgemeine Orientierung in einem Land und Fragen etwa nach dem Transport und nach Einkaufsmöglichkeiten. Auf der Forschungsebene bemühten wir uns, uns gegenseitig Kontakte zuzuspielen, wenn jemand eine für die andere relevante Person oder Organisation kennengelernt hatte. Die Beziehung im Feld kann als gegenseitige Begleitung im Feld fungieren, die zum Beispiel moralisch oder auch fachlich unterstützen kann. Sie kann jedoch nicht bei der Datensammlung im Feld helfen. Ich sehe darin gerade auf einer persönlichen Ebene durchaus Vorteile, hätte mir diese Forschungsbegleitung jedoch nicht von einer Person vorstellen können, die nicht auch zur Forschung vor Ort ist. In beiden Ländern sind wir zunächst in der Hauptstadt untergekommen und haben in einem Airbnb-Apartment gewohnt. Hier hatten wir das große Glück, dass beide Male vor Ort sehr nette und hilfsbereite Gastgeber*innen gelebt haben.

Ein weiterer Teil des Feldzuganges ist eine Forschungserlaubnis. Wenn wir uns in anderen Städten aufgehalten haben, welche durchaus kleiner waren, standen wir in engem Austausch mit Partnerorganisationen des ZFD oder mit Fachkräften, welche uns bei alltäglichen Fragen unterstützen konnten, oder mit Ansprechpersonen der örtlichen Universitäten. Für beide Länder hatten wir vorab eine entsprechende Erlaubnis der Botschaften in Deutschland erhalten. Vor Ort mussten wir jedoch in beiden Ländern feststellen, dass diese nicht akzeptiert werden, beziehungsweise nur der Einreise dienen. In Sierra Leone wurde uns dank unseres Airbnb-Gastgebers ein Kontakt im entsprechenden Ministerium vermittelt und es wurde uns dort eine Arbeitserlaubnis ausgestellt. „Auch hier wären wir ohne Hilfe mal wieder total aufgeschmissen gewesen“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 24.01.2019). Diese kostete zwar Geld, jedoch konnten wir sie dank der guten Kontakte besonders schnell erhalten. In Liberia standen wir vor dem Problem, dass die entsprechenden Dokumente bei der Einreise nur kürzer gestempelt wurden, als der Aufenthalt dauern sollte. Ein Problem, das vielen Personen bei der Einreise widerfährt. Durch schnelle und unbürokratische Hilfe der Deutschen Botschaft konnte dies mit einem Behördengang geregelt werden.

Die Forschung in Kenia habe ich ohne Begleitung durchgeführt. Auch hier habe ich zunächst in der Hauptstadt in einem Airbnb-Apartment gewohnt und hatte das große Glück, einen sehr netten und hilfsbereiten Gastgeber zu haben. Da ich jedoch schon einige Male in Kenia war, habe ich hier nicht so viel Hilfe bei logistischen Fragen benötigt. Vielmehr fühlte es sich ein Stück weit an wie nach Hause zu kommen. So schrieb ich in mein Tagebuch: „Ich habe nicht wie im Urlaub den Drang, ständig etwas zu machen oder zu erleben. Ich denke, das ist ein Zeichen, dass ich angekommen bin“ (Forschungstagebuch Kenia, 27.10.2019). In vielen Städten, in denen ich in Kenia ZFD-Projekte besucht habe, hatte ich bereits Freund*innen und Bekannte von früheren Aufenthalten, was soziale Interaktionen unabhängig vom Feld vereinfachte. In den Orten, wo diese nicht vorhanden waren, war ich in der Regel in Kontakt mit den ZFD-Akteur*innen. Auch für Kenia musste eine Forschungserlaubnis beantragt werden. Hier ist der Prozess sehr viel formalisierter als in den anderen beiden Ländern und es erfolgte bereits online von Deutschland aus. Ich benötigte eine Partneruniversität (Catholic University of East Africa), welche mir bei der Zusammenstellung der Unterlagen behilflich war. Bei meiner Ankunft in Kenia war meine Erlaubnis noch nicht fertig. So wartete ich zunächst eine Woche, ohne schon zu viele Schritte in der Forschung zu wagen. Schließlich habe ich das entsprechende Ministerium aufgesucht, um nachzufragen. Dort stellte sich heraus, dass ich noch einen kleineren Geldbetrag nachzuzahlen hatte. Dies erscheint mit bis heute nicht ganz logisch, da die Angaben im Internet anders waren, doch habe ich mich dazu entschieden, den Betrag zu zahlen, da ich eine Quittung erhalten habe.

5.3.3 Hauptphase

Ist der Zugang zum Feld gelungen, kann die eigentliche teilnehmende Beobachtung stattfinden. Dabei wird die Beobachtung auf für die Fragestellung wichtige Herausforderungen, Prozesse und Akteur*innen gelenkt. Die Beobachtungen sind besonders hilfreich, da sich manche Sachverhalte nicht sprachlich ausdrücken lassen, sie tabuisiert sind oder komplexe Sachverhalte sich einfacher „durch einen Blick“ erfassen lassen als durch ein Gespräch (Spittler, 2001, S. 8).

Während des Beobachtens muss sich die oder der Forschende immer den Problemen des Going-native, der eigenen Subjektivität und der Authentizität bewusst sein. Diese methodischen Kritikpunkte lassen sich nicht einfach ausräumen. Jedoch kann die oder der Forschende durch eine ständige Reflexion die Gefahren möglichst geringhalten. Dabei helfen verschiedene Methoden und Herangehensweisen, dazu haben verschiedene Autor*innen die für sie im Feld hilfreichen Handlungsempfehlungen zusammengetragen. In meiner Arbeit stütze ich mich dabei vor allem auf die von (Girtler, 2009) formulierten ‚Zehn Gebote für Feldforschende‘. Diese sind einerseits derart offen formuliert, dass sie auf die verschiedensten Forschungen angewendet werden können, aber auf der anderen Seite spezifisch genug, um tatsächlich angewendet werden zu können. Girtler hat dabei aus seinen eigenen Forschungserfahrungen Gebote formuliert, welche den Forschenden dabei helfen sollen, sich vor Ort anzupassen (1., 4. und 5. Gebot), die Forschung unvoreingenommen durchzuführen (2., 3. und 6. Gebot), Authentizität zu bewahren (7. Gebot, ebenfalls in allen anderen Geboten enthalten) und vor Ort einzutauchen und gleichzeitig Distanz zu wahren (8., 9. und 10. Gebot). Besonders das 7. Gebot zeigt nochmals deutlich die Abgrenzung zu anderen Methoden. Darin wird ein ero-episches, freies Gespräch gefordert, welches darauf beruht, dass sich im Forschungsgespräch sowohl die Person, die befragt wird als auch die oder der Forschende öffnen und in das Gespräch einbringen. „Die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muss sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen“ (Girtler, 2009, S. 4). Doch auch andere Autor*innen haben Leitsätze und Merkmale formuliert, welche den Forschenden im Feld helfen sollen. Nach Patricia Adler und Peter Adler (1994, S. 378) hat die qualitative Beobachtung (welche in diesem Fall synonym zur teilnehmenden Beobachtung zu sehen ist) folgende Merkmale: Die Beobachtung findet in einem natürlichen Lebensumfeld statt, ohne eine Störung des Alltagslebens; der oder die Forschende führt eine aktive Teilnahme am Geschehen durch, es kommt zu Interaktionen und einer Aufhebung der Trennung zwischen Objekt und Subjekt; es werden keine einzelnen Variablen, sondern größere Verhaltensmuster und Systeme gemessen; es gibt kein festgelegtes Beobachtungsschema, sondern eine Offenheit für neue Einsichten und Beobachtungen. Dies kann nur geschehen durch eine ständige, professionelle Reflexion der Forschenden über sich selbst und die eigene Rolle im Feld. Dies ist „[…] the only road to limit the bias entailed in looking at the world from one’s own perspective“ (Leander, 2008, S. 25) und dem Reflexive Turn (Emerson, 2001, 20 ff.) in der qualitativen Forschung zuzurechnen. Zu dieser Reflexion haben (DeWalt & DeWalt, 2002, 248 ff.) sieben Charakteristika für Forschende formuliert, welche aus den Erfahrungen ihrer eigenen Forschung gewonnen wurden. Sie formulieren, dass es für Forschende hilfreich ist, offen zu sein, Interesse zu bekunden, verwirrende Gefühle zuzulassen, sich eines möglichen Kulturschocks bewusst zu sein (Scheyvens & McLennan, 2014), achtsam in der Forschung und dafür offen zu sein, sich an neue und unerwartete Situationen anzupassen (DeWalt et al., 2000, 266 f.).

Besonders in dieser Phase der fokussierten Beobachtung können zusätzlich auch Interviews geführt werden, da diese ergänzende Informationen liefern können (Agar, 1980). „Teilnehmende Beobachtung ist eine Feldstrategie, die gleichzeitige Dokumentenanalyse, Interviews mit Interviewpartnern und Informanten, direkte Teilnahme und Beobachtung sowie Introspektion kombiniert“ (Flick, 1995, S. 157). Gerade bei den Gesprächen gibt es eine Vielzahl methodischer Möglichkeiten. Dies können die von (Spradley, 1979) eingeführte Feldbefragung als informelle Befragung von natürlichen Gruppen im Forschungskontext, offene Gruppendiskussionen über ein vorgegebenes Thema (Mangold, 1959) oder auch Fokusgruppen-Diskussionen sein (Banerjee, 2005, S. 194). Besonders zu Beginn der Forschung kann es vorkommen, dass Beobachten und Fragen, die beiläufig gestellt werden, parallel geschehen (Alltagsgespräche). Dazu eignen sich besonders deskriptive Fragen. Generell stellen Interviews immer eine künstliche Situation dar. Auch die Entwicklung von qualitativen Verfahren ändert an dieser Situation nichts. Gerade in anderen Kulturen gehen mit einem Interview auch ein bestimmtes Machtgefälle und Autorität einher (Spittler, 2001, S. 7). Hier kann die teilnehmende Beobachtung helfen, da es stärker um natürliche Gesprächssituationen geht, welche aus einer günstigen Gelegenheit heraus entstehen können. Auch kann mit der Kombination aus Gesprächen und Beobachtung festgestellt werden, inwieweit sich Aussagen und Beobachtungen ähneln oder ob Handlungen und Meinungen auseinandergehen beziehungsweise Aussagen sich nicht immer in Handlungen widerspiegeln (Hagene, 2018, S. 310; Leander, 2008, S. 18). Eine Abweichung könnte darin liegen, dass die Befragten nicht über spezifisches Wissen zu der Thematik verfügen, Wünsche als Realität ausdrücken oder Abweichungen von einer Norm, über die gesprochen wird, nicht berücksichtigt werden. Deswegen ist es wichtig, Aussagen mit Beobachtungen zu ergänzen (Spittler, 2001, S. 16).

Für die Auswertung der Forschung nimmt die Dokumentation der Feldtätigkeit eine besonders wichtige Rolle ein. So ist es hilfreich, Feldnotizen, Interviewtranskripte und Beobachtungsprotokolle anzufertigen, aber zum Beispiel auch Gegenstände oder Artikel zu sammeln. Um die wesentlichen Ereignisse und Informationen in Form von Feldnotizen festzuhalten, eignet sich besonders ein Feldtagebuch. Dies enthält Gefühle und Gedanken zu den einzelnen Tagen im Feld, zu Beobachtungen und zu Beteiligten aus dem Feld. Diese Einträge helfen später bei der Auswertung, Interpretation und vor allem der Reflexion und sind zum Teil auch zur Veröffentlichung gedacht (Banerjee, 2005, S. 185). Es ist wichtig, die äußeren Umstände genau zu beschreiben und diese nicht mit subjektiven Empfindungen zu vermischen. Es gibt verschiedene Arten, das Beobachtbare zu dokumentieren, sie alle sollen den Forschenden dabei helfen, die Fähigkeit des Beobachtens zu schärfen und zu systematisieren (Fujii, 2015a, S. 536). Dabei ist es wichtig, dass Forschende die für sich und das Feld passende Methode wählen (Emerson et al., 1995, S. 20). Dies können zum Beispiel Headnotes (das bloße Memorieren), Jottings oder Scratchnotes (noch etwas unstrukturierte Feldnotizen, welche dann in „properFieldnotes umgewandelt werden), Beobachtungsprotokolle, Feldforschungstagebücher, Memos, Aufnahmen, Briefe oder Transkripte sein (Sanjek, 1990).Footnote 8 Dabei kann es durchaus üblich sein, während der Beobachtungen im Feld erste Notizen zu machen und diese hinterher genauer zu verschriftlichen. Es empfiehlt sich jedoch, dies möglichst zeitnah zu machen, da dann Gedanken und Gefühle noch frisch sind (Emerson et al., 1995, 39 ff.). Auch Helmar Schöne (2005, S. 190) plädiert für die bei der teilnehmenden Beobachtung eigentlich untypische Art, schon während der Beobachtung Notizen zu machen, auch wenn die Anwesenden dies sehen. Er argumentiert damit, dass nur so mögliche Lücken geschlossen werden können und keine Details verloren gehen. Dieser Ansatz wird jedoch sehr kritisch diskutiert (DeWalt et al., 2000, 274 f.). Aus dieser Diskussion ergibt sich der wichtige Punkt, dass jede Person in der Forschung seinen oder ihren eigenen Stil entwickeln muss. Er muss zum Feld und zu der eigenen Persönlichkeit passen. Dennoch ist es wichtig, dass die erstellten Beobachtungsprotokolle eine ähnliche, wenn nicht sogar gleiche Struktur aufweisen, um die spätere Auswertung zu erleichtern. Dabei ist es der oder dem Forschenden selbst überlassen, wann und wie diese angefertigt werden. Wichtig ist jedoch, dass sie regelmäßig angefertigt werden, um sicherzustellen, dass keine Beobachtungen verlorengehen.

Auch die Hautphase der Forschung lässt sich wieder den einzelnen Arbeitsphasen zuordnen. Hier stehen zu Beginn wieder die Expert*inneninterviews. Die einzelnen Interviews an sich, da sie keine teilnehmende Beobachtung darstellen, passen nicht so sehr in dieses Schema, jedoch alle Interviews zusammengenommen. So kann ich durchaus sagen, dass ich, nachdem ich einige Interviews geführt habe, mich noch mehr in dem Feld angekommen gefühlt habe.

Besonders bei der Teilnahme an den Seminaren und der Forschung in den drei Ländern habe ich mich an (P. Adler & Adler, 1994, S. 378) orientiert. So habe ich mich immer in einer natürlichen Lebensumwelt beziehungsweise dem Umfeld, welches in dem Moment für die Akteur*innen als natürlich galt, bewegt und bin aktiv in Interaktion getreten. Generell fand hier eine Fokussierung auf die Fragestellung, Prozesse und Personen statt. Dennoch gab es kein festgelegtes Forschungsschema, da jede Interaktion individuell und persönlich war. So konnte ich mir die Offenheit für Beobachtungen bewahren. Letzteres war nicht immer einfach, gerade wenn ich in einem Seminar den gleichen Inhalt zum wiederholten Male gehört habe oder in den drei Ländern an immer wiederkehrenden Situationen wie zum Beispiel Teammeetings teilgenommen habe. Doch ist mir dies gelungen, indem ich mir immer wieder bewusst gemacht habe, wie wichtig es ist, vorurteilsfrei und ohne Vorannahmen und direkte Interpretationen zu beobachten (2., 3. und 6. Gebot der Zehn Gebote der Feldforschung) (Girtler, 2009). Doch auch die anderen von Girtler aufgestellten Gebote waren für mich besonders in dieser Hauptphase leitend. So war es mir besonders wichtig, Authentizität zu bewahren (7. Gebot). Rückblickend betrachtet ist mir dies sehr gut gelungen. Ich habe mich gegenüber den verschiedenen Akteur*innen nicht verstellt und konnte ich selbst sein. Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass die Personen, welche ich im ZFD getroffen habe, sehr divers sind und viele Personen die Möglichkeit nutzen, sich frei zu entfalten. Somit hatte ich nicht das Gefühl, mich in irgendeiner Situation verstellen zu müssen und die Anpassung vor Ort erfolgte ebenfalls einfach. Sicherlich war diese Anpassung in den Seminaren einfacher, da ich bedingt durch außeruniversitäre berufliche Tätigkeiten schon viel Zeit in Seminaren verbracht habe und von mir sagen kann, dass ich bestimmte wiederkehrende Verhaltensmuster von Gruppen bei Seminaren (Gruppendynamiken) kenne und einordnen kann. Die Anpassung im Feld Sierra Leone, Kenia und Liberia war sicherlich eine andere. Hier war es nicht das Ziel, mich im Sinne eines Going-native anzupassen, sondern mich im Feld ZFD anzupassen. Dies bedeutet zum Beispiel, eine bestimmte Fachsprache zu erlernen und anzuwenden (wobei mir besonders die Expert*inneninterviews in Deutschland zugutegekommen sind), bestimmte Orte aufzusuchen oder an bestimmten Aktivitäten teilzunehmen. Somit war es möglich, in die Seminare und in den ZFD in den drei Ländern einzutauchen. Wie von Roland Girtler (2009) weiterhin beschrieben, ist es ebenfalls wichtig, Distanz zu wahren. Dies ist mir auf den Seminaren besser gelungen als in den drei Ländern, was mit Sicherheit auch an der Kürze der Zeit liegt; hierzu an späterer Stelle in Kapitel 6 mehr.

Mit diesem Wissen über mich als Forscherin im Feld soll nun ein vertiefter Blick auf die Hauptphasen, insbesondere auf Handlungen und Reflexionen im Kontext der Seminare und in den drei Ländern geworfen werden. In Deutschland konnte ich insgesamt an fünf Seminaren teilnehmen von AGIAMONDO, dem forumZFD/der Akademie für Konflikttransformation und der GIZ. Hierbei fanden einige Seminare auch in Kooperation statt. Sie alle sind ein Teil des Curriculums zur Vorbereitung der Fachkräfte, wie in Abschnitt 4.4.2.1. beschrieben. Die Seminare wurden von einer*m bis zwei Trainer*innen durchgeführt und fanden alle im Raum Köln/Bonn statt. Zum Großteil handelte es sich um deutsche Fachkräfte, welche sich in der Vorbereitung befanden. Vereinzelt waren auch mitausreisende Partner*innen vor Ort und in einem Kurs auch anderweitig interessierte und lokale Fachkräfte oder Mitarbeitende aus den Ländern vor Ort. Die Teilnehmendenzahl schwankte dabei zwischen drei und knapp 20. Folgende Themen wurden behandelt: Constructive third-party Intervention (Mediation, Dialog); verschiedene Möglichkeiten, in Konflikten zu intervenieren und Konflikte zu analysieren; der Ablauf von Friedensprozessen; Beziehungsgeflechte vor Ort (Akteurs-Mapping); Einführung in die Arbeitsweisen, Ziele und Struktur des ZFD; die Wichtigkeit der Partnerorientierung im ZFD (ebenfalls mit Betrachtung vertraglicher Verflechtungen); Verortungen der jeweiligen Organisationen im ZFD; katholische Friedensarbeit und trägerübergreifendes Wissensmanagement im ZFD. Generell ist mir bei den Inhalten mein Vorwissen aus den Interviews, aber auch von einer Weiterbildung zum Thema Konfliktbearbeitung zugutegekommen. Ich habe die Lernatmosphäre immer als sehr wertschätzend und praxisorientiert erlebt. Da meine Teilnahme an den Seminaren in Deutschland relativ kurz war, kann sie auch als „quick and dirty ethnography“ (Hughes et al., 1994, S. 432) bezeichnet werden. Sie ist den „brief ethnographic studies“ (Hughes et al., 1994) zugehörig und dient dazu, ein erstes, allgemeines Gespür für ein Feld zu entwickeln.

Anders sah dies bei der Forschung in Kenia, Sierra Leone und Liberia aus. In Kenia dauerte der Forschungsaufenthalt drei Monate, in Sierra Leone und Liberia jeweils sieben Wochen. Dieser kürzere Zeitraum wurde gewählt, da in den beiden Ländern weniger ZFD-Projekte stattfinden als in Kenia. Gerade in der Hauptphase der Forschung fand eine Begleitung von in dem Feld aktiven Akteur*innen bei ihrer Arbeit statt, da in diesen alltäglichen Situationen natürliche Daten gewonnen werden können. Dabei wurden nach Möglichkeit verschiedene Interaktionen beobachtet. Dies geschah unter anderem mit einer angepassten, sensibleren Form der „over the shoulder technique“ (Grenz, 2017, S. 188). Dabei geht es jedoch nicht um ein unauffälliges Zuschauen während der Arbeit in einem abgeschlossenen Büroraum, sondern vielmehr um Beobachtungen bei Routinen im Arbeitsalltag. Es wurden Relevanzen und Strategien beobachtet, welche zum Teil konstant blieben und sich zum Teil wandelten. Dabei ist die Ethnografie an Prozessen orientiert und als begleitende Forschung zu sehen. Diese wurde ergänzt durch explorative Expert*inneninterviews und lockere Feldgespräche. Damit wird die Forschung zu einer Go-along-Forschung (Kusenbach, 2003), also einem Mitgehen, Zusammengehen und sich unterhalten. Es geht um die Teilnahme an natürlichen Interaktionen und Aktivitäten, welche auch von den Forschenden ausgehen können. Es geht um das Fragenstellen auch in Form von Interviews, das Beobachten und Zuhören in gemeinsamen Interaktionen.Footnote 9 Durch diese gezielten Beobachtungen kann von einer fokussierten Ethnografie gesprochen werden. Es erfolgte eine Konzentration auf bestimmte Tätigkeitsfelder und spezifische Handlungen und nicht auf einen allgemeinen, subjektiven Wissensvorrat (Knoblauch, 2001, 132 f.).

Diese Beobachtungen geschahen bei ganz unterschiedlichen Situationen, Möglichkeiten und Orten. In allen drei Ländern haben die meisten Organisationen ihren Sitz in den Hauptstädten, was zur Folge hatte, dass hier am meisten Zeit verbracht wurde. In Sierra Leone sind jedoch auch in Makeni und Bo Organisationen anwesend. Hier verbrachte ich jeweils etwa zehn Tage. In Liberia findet viel Arbeit auch außerhalb von Monrovia statt. Doch geschieht dies oft von Monrovia aus, beziehungsweise mit Fahrten in die entsprechenden Gegenden. Eine Ausnahme stellt Gbarnga dar, wo auch Organisationen angesiedelt sind. Hier habe ich eine knappe Woche verbracht und wollte eigentlich nochmals dahin zurückkehren. Da ich eine Verletzung hatte, wurde mir dies von meinem behandelnden Arzt jedoch untersagt. Auch in Kenia haben die meisten Organisationen in der Hauptstadt Nairobi ihren Sitz und agieren von hier aus auch in anderen Landesteilen. Doch auch in anderen Städten wie Mombasa, Kisumu, Nanyuki oder Nyeri haben Organisationen ihren Sitz. In Kenia bin ich etwas zwischen den einzelnen Orten hin- und hergependelt. So habe ich bei den Organisationen angefragt, ob es möglich ist, das Büro zu besuchen. Hier habe ich teilweise an Teammeetings teilgenommen oder einfach einige Zeit im Büro verbracht. Ich habe den Personen bei ihrer Arbeit zugeschaut, mich locker mit den Mitarbeitenden unterhalten und an gemeinsamen Pausen teilgenommen. Zudem fragte ich – gerade in dieser Hauptphase – verschiedene Akteur*innen, ob sie während meines Aufenthaltes Workshops, Seminare oder Veranstaltungen im Rahmen des ZFD durchführen, welche für mich interessant sein können. In der Regel erhielt ich ein positives Feedback. Einige Organisationen haben während der Zeit meines Aufenthaltes eine Vielzahl von Veranstaltungen durchgeführt, so dass ich keinen Einblick in alle Formate gewinnen konnte. Daher habe ich mich bei der Auswahl der jeweiligen Aktivität auf die Partner*innen vor Ort verlassen. Dies hat für mich auch etwas damit zu tun, die Akteur*innen im Feld ernst zu nehmen und es nicht besser zu wissen als sie. Andere Organisationen hatten keine Veranstaltungen. Hier hatte ich teilweise das Gefühl, dass diese Information mit einem schlechten Gewissen an mich herangetragen wurde, wozu es gar keinen Anlass gab. Denn in einem Projektzyklus des ZFD finden nicht immer Aktivitäten statt.

Es fanden auch Veranstaltungen statt, zu denen ich nicht gehen konnte, da es zeitliche Überschneidungen gab oder zu denen ich gerne gegangen wäre, von ihnen jedoch zu spät erfahren habe. Dabei gehe ich davon aus, dass ich nicht mit Absicht nicht eingeladen wurde (es gab durchaus Aktivitäten, die zu sensibel waren, um teilzunehmen, dies wurde jedoch individuell kommuniziert), sondern vielmehr einfach nicht daran gedacht wurde. Dies ist für mich verständlich, da ich für die Personen im Feld keine Priorität hatte. Die Aktivitäten, an denen ich teilgenommen habe, waren zum Beispiel Diskussionsrunden, Weiterbildungen für bestimmte Personengruppen, Besuche von Projekten, Konferenzen, Meetings mit anderen Organisationen oder Evaluationstreffen. Auf diese wird inhaltlich genauer in der Analyse der Daten in den Kapiteln 6 und 8 eingegangen. Hierbei habe ich wie schon beschrieben den Personen bei ihrer Arbeit über die Schulter geschaut. Ich habe mich dazugesetzt und alles beobachtet. Dabei fanden immer wieder Interaktionen statt, in denen lokale Sprachen verwendet wurden. In allen drei Ländern ist Englisch die Amtssprache. Gerade in Sierra Leone und Liberia wird jedoch Krio, eine auf Englisch basierende Kreolsprache gesprochen. Besonders in ländlichen Gegenden fanden die Interaktionen oftmals in dieser Sprache statt. Ich habe mich bemüht, einige einfache Worte zu erlernen und mich mit der Zeit in die Sprache hineingehört. Da sie an das Englische angelehnt ist und eine Nähe zu nigerianischem Pidgin-Englisch besteht, das ich in Ansätzen verstehe, konnte ich zumindest Sinnzusammenhänge begreifen. In Kenia wird neben Englisch auch Swahili gesprochen und es gibt insgesamt 61 verschiedene Sprachen (Githiora, 2018). Auch wenn ich einfache Sätze in Swahili verstehe und mich zum Beispiel vorstellen kann, war es mir nicht möglich, alle notwendigen Sprachen zu erlernen. Die meisten Veranstaltungen fanden auf Englisch statt. Aktivitäten in ländlichen Gegenden, bei denen verschiedene ethnische Gruppen zusammenkamen, fanden auf Swahili statt. Veranstaltungen in ländlichen Gegenden mit einer vorherrschenden ethnischen Gruppe wiederum in deren lokaler Sprache. Für alle drei Länder gilt, dass die anwesenden Fachkräfte auch in sehr unterschiedlichem Maße die jeweilige Sprache verstanden und sprechen konnten. So wurde größtenteils versucht, für die Fachkräfte und mich zu übersetzen. Dies geschah meist nicht simultan, sondern zusammenfassend nach einzelnen Teilen der Veranstaltung oder auch an deren Ende. Auch wenn ich manchmal nicht alles verstand, konnte ich Interaktionen beobachten und darüber hinterher mit den jeweiligen Personen vor Ort in Dialog treten. Dies geschah zum Teil auch, wenn ich gebeten wurde, etwas zu einem Workshop beizutragen. So wurde ich beispielsweise bei einem Meeting in der Region Lunsar in Sierra Leone von Mining und Landraub betroffenen Personen gebeten, meine Meinung zu dem Thema zu äußern. Dies habe ich gerne gemacht und die Verantwortlichen vor Ort haben übersetzt. Mein Input wurde übersetzt, es wurde immer etwas unterfüttert und dazugesagt, wenn ich das richtig mitbekommen habe. „Finde ich aber okay, so wird es besser verständlich“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 12.02.2019). Ich habe ihm*ihr insofern vertraut, dass nicht der Inhalt verändert, sondern zum Beispiel durch Ergänzungen für die Personen besser verständlich wird. In der wissenschaftlichen Literatur wird immer wieder herausgestellt, wie wichtig ist es ist, die richtige Person zum Übersetzen auszuwählen und viele Absprachen mit ihm oder ihr zu treffen (Leck, 2014, 61 f.). Ich habe mich jedoch in allen drei Ländern bewusst gegen die Begleitung einer Person entschieden, die dauerhaft für mich übersetzt. Dies hätte mich meiner Meinung nach stärker in den Fokus gerückt und meine Sonderstellung noch deutlicher gemacht.

Besonders in der Hauptphase der teilnehmenden Beobachtung kann es – wie in den methodischen Ausführungen bereits geschildert – zu Rollenwechseln der forschenden Person kommen. Es kann auch vorkommen, dass einem Rollen zugeschrieben werden. Diese Rollenzuschreibungen beziehen sich zum einen auf offensichtliche Faktoren wie Geschlecht, Religion, Alter, Herkunft und zum anderen auf verhandelbare Faktoren. Dazu zählen Aspekte wie zum Beispiel wie man sich im Feld bewegt, wo man im Feld lebt und wie man sich vorstellt (Robson, 1997, S. 52). Auch bei mir gab es diese Rollenwechsel auf verschiedene Art und Weise. In Workshops zum Beispiel war es Personen nicht immer klar, dass ich eine unabhängige Forscherin bin und nicht zu einer bestimmten Organisation gehöre. Trotz Erklärungen auch auf lokaler Sprache zu Beginn der Workshops kann ich mir nicht sicher sein, dass dies immer verstanden wurde. Ich wurde jedes Mal herzlich empfangen, doch gerade in sehr armen oder ländlichen Strukturen habe ich durch meine Anwesenheit auch Erwartungen geschürt. Als Beispiel soll hierfür eine Situation aus Kenia geschildert werden: Ich war vor Ort mit einer lokalen Partnerorganisation und einer lokalen Friedensfachkraft, welche als Poolperson im Büro der deutschen Organisation arbeitet. Diese Personen begleiten in ländlichen Gebieten Mechanismen der alternativen Rechtsprechung. In der Regel ist hier keine weiße Person mit dabei. Schon auf der Fahrt wurde uns von vielen Kindern das Wort Mzungu (Bezeichnung für eine weiße Person) hinterhergerufen. Dies führte im Auto zu einigen Lachern und der Aussage einer der Mitfahrenden, dass sie sonst nie so viel Aufmerksamkeit erhalten. Vor Ort wurde mir schnell deutlich, dass wir alle eine Sonderrolle einnehmen. Es wurden für uns bessere Stühle bereitgestellt als für die anderen Personen vor Ort, was durchaus üblich ist und für Gäste (unabhängig davon, ob sie weiß sind oder nicht) nach Möglichkeit immer gemacht wird. Wir hatten (wie bereits in der Einleitung geschildert) Plastikflaschen zum Trinken dabei. Als sie leer waren, wurden sie von den Kindern eingesammelt, um damit zu spielen. Erwachsene nutzen sie zum Abfüllen von Öl. Hier wurde deutlich, dass es auch einen Unterschied zwischen den Mitarbeitenden der Organisation und den Menschen vor Ort gibt. Jedoch war dieser bei mir noch größer. So wurden am Ende der Veranstaltung viele Fotos mit mir gemacht. Dies geschieht, laut Aussage der Personen, die ich begleitet habe, sonst nicht so exzessiv. Persönlich fand ich es durchaus nett und wertschätzend, eine Erinnerung zu kreieren. Jedoch hat mein kurzer Besuch bei einigen Personen auch bestimmte Erwartungen geweckt, und ich wurde beispielsweise nach Geld oder einem Stipendium gefragt. Ich werfe diese Erwartungshaltung den Menschen vor Ort nicht vor. Schließlich ist es ein Fakt, dass ich als weiße Person aus Deutschland bestimmte Privilegien besitze. Dennoch fällt es schwer, diese Erwartungshaltung enttäuschen zu müssen. Ein Thema, das ich auch in meinem Tagebuch mehrfach festgehalten habe: „Die Leute aus den Dörfern, mit denen ich nun drei Tage zusammen war, haben große Erwartungen an mich und ich hoffe, dass sie nicht zu sehr enttäuscht sind, da ich diese nicht erfüllen kann“ (Forschungstagebuch Kenia, 03.10.2019). Diese Erwartungen kamen auf, obwohl ich mich zu Beginn vorgestellt hatte. „Conversations with white women carrying notebooks can generate certain expectations, and being mistakenly associated with aid agencies and service providers works to the researchers’ advantage“ (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 609). Dies liegt an systematisierter Macht, welche in Abschnitt 5.6 genauer betrachtet wird.

Rollenwechsel gab es auch auf einer anderen Ebene, wo ich von einer teilnehmenden Beobachterin zur beobachtenden Teilnehmerin wurde. An einigen Workshops habe ich teilgenommen und aktiv mitgearbeitet: „Ich wurde von den Jugendlichen als Teilnehmerin weitgehend akzeptiert“ (Forschungstagebuch Kenia, 10.10.2019). In anderen Situationen übernahm ich stärker eine leitende Rolle. Diese Wechsel lagen unter anderem daran, dass Akteur*innen im Feld zum Beispiel etwas einforderten und sich gezielt mit Bitten an mich richteten, in einem bestimmten Bereich aktiv zu werden. Um dies zu verdeutlichen, kann ein Beispiel aus Sierra Leone dienen: Ich hatte mit der Fachkraft, welche integriert in einer Organisation arbeitet, meine Teilnahme an einem mehrtägigen Workshop besprochen. Dieser hatte die Programmplanung der Organisation zum Inhalt. In dem Gespräch kamen wir auf Methoden zu sprechen und diskutierten, mit welchen Methoden was möglich ist. Als ich zu meiner eigenen Erfahrung mit Methoden befragt wurde, kam die Idee auf, dass ich einen Teil des Workshops inhaltlich vorbereiten und moderieren könnte. Gerne sagte ich zu, weil ich mich in der Rolle als Workshopgeberin bereits in der Vergangenheit sehr wohl gefühlt habe. Zu einem anderen Zeitpunkt hat in Sierra Leone in Absprache mit dem*der Projektpartner*in ein weiterer halbtägiger Workshop unter gemeinsamer Anleitung für Jugendliche stattgefunden, der sehr gut angekommen ist.

„Alles in allem lief es aber gut. Ich habe mich danach nur selbst etwas nach der Nachhaltigkeit gefragt, aber so ist es eben bei externen Referenten und als solche nehme ich mich hier wahr. Man kommt in eine fremde Gruppe, macht etwas und geht wieder und hofft, dass man einen Effekt hinterlässt“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 09.02.2019).

Mir war es wichtig, mich in solchen Situationen nicht aufzudrängen, aber solche Anfragen wenn möglich gerne anzunehmen und sie umzusetzen. Die Akteur*innen im Feld sind bereit, sich mir zu öffnen, damit ich von ihnen profitieren kann. Daher bin auch ich bereit, mich zu öffnen, damit sie von mir profitieren können. Dies ist in der Forschung nicht als hinderlich anzusehen. Denn im Idealfall ist Forschung ein Geben und Nehmen. Gerade das natürliche Bewegen im Feld in einem international arbeitenden Kontext führt zu weiteren Vernetzungen und zur Nutzung von vorhandenen Ressourcen (Tittensor, 2016, S. 225).

Ergänzt wurden diese Beobachtungen durch viele Gespräche und gezielte Interviews. Eine genaue Auflistung der Gespräche ist im elektronischen Zusatzmaterial zu finden. Dabei habe ich die Gespräche als vertiefte Einblicke in das Feld verstanden und als Möglichkeit, Dinge nachzufragen. Für die Interviews gab es einen Leitfaden.Footnote 10 Dieser wurde auf Grundlage des bereits vor dem Aufenthalt in den drei Ländern generierten Wissens erstellt. Mir war dabei wichtig, die Fragen möglichst offen zu halten und den Personen die Chance zu geben, ins Erzählen zu kommen. Und auch wenn sich bei mir nach vielen geführten Interviews ein gewisser Automatismus eingestellt hat („Ich habe nun schon so viele Interviews geführt, dass das schon total der Automatismus für mich ist“ [Forschungstagebuch Kenia, 13.11.2019]), war es mir wichtig, ihn die anderen Personen nicht zu sehr spüren zu lassen. Deswegen habe ich in die Interviews immer auch Fragen eingebaut, die sich auf gemeinsame Erlebnisse bezogen haben. Gerade wenn ich zum Beispiel in einem Projekt Spannung festgestellt habe, war es mir wichtig, in einem Gespräch darauf nochmal einzugehen, um die verschiedenen Meinungen dazu zu hören. „Es hat sich in den Gesprächen für mich gezeigt, wie wichtig es ist, gute Fragen zu stellen, damit die Leute nicht immer nur positiv antworten. Dazu braucht es auch ein kulturelles und sprachliches Feingefühl“ (Forschungstagebuch Liberia, 17.04.2020). Dies ist vor allem bei sensiblen Themen von besonderer Bedeutung. Es war mir immer wichtig, die Personen nicht als bloße Datenlieferant*innen zu betrachten, sondern sie auf eine wertschätzende Art und Weise zu behandeln. Da ich immer sehr herzlich verabschiedet wurde, wir nach den Gesprächen noch zusammen essen waren und ich auch nach meiner eigenen Meinung gefragt wurde, gehe ich davon aus, dass mir dies gelungen ist.

Auch auf einer persönlichen Ebene fühlte ich mich in dieser Hauptphase im Feld angekommen: Wenn ich zum Beispiel von einem mehrtägigen Aufenthalt in einer ländlicheren Gegend an einen der Standorte zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. „Ich habe richtig gemerkt […], dass ich ein richtiges Nachhausekommen-Gefühl habe“ (Forschungstagebuch Liberia, 04.04.2019). So habe ich mich auch unabhängig von gezielten Terminen in den Organisationen mit einigen Personen getroffen. Etwa, um etwas essen zu gehen, einen Ausflug zu machen oder ich wurde zu ihnen nach Hause eingeladen. Dies war häufiger mit deutschen Fachkräften der Fall als mit lokalen Mitarbeitenden. Gleichzeitig habe ich mich auch mit Personen unabhängig von dem Feld ZFD getroffen. Diese Personen habe ich in Liberia und Sierra Leone vor allem über meine Airbnb-Gastgeber*innen kennengelernt. In Kenia geschah dies überwiegend durch bereits vorhandene Kontakte. Gerade dieser freundschaftliche Austausch über Themen, die auch mal keinen unmittelbaren Bezug zu meiner Forschung hatten, hat mir persönlich sehr gutgetan. Auf diese Weise durfte ich indirekt viel über das Land lernen und mitnehmen. So schrieb ich nach der Teilnahme an einem Gottesdienst und freier Zeit mit Priestern einer Diözese in mein Forschungstagebuch: „[Es] waren total die netten Gespräche und auch so ganz informell habe ich mal wieder viel zum Beispiel über die Politik hier gelernt“ (Forschungstagebuch Liberia, 31.03.2019). Oder ein anderes Mal nach einem Gespräch mit meinem Mitbewohner: „So lernt man, finde ich, am meisten“ (Forschungstagebuch Liberia, 18.03.2019) oder auch „Auf solche Gespräche kommt es an, um ein Gefühl für das Land zu bekommen“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 24.01.2019). Trotzdem gab es in der Forschung auch Momente, in denen ich den Austausch mit engen Freund*innen und über bestimmte persönliche Erlebnisse vermisst habe. Dies war vor allem dann der Fall, wenn etwas schief ging oder nicht wie geplant funktioniert hat „An solchen Tagen vermisse ich auf jeden Fall den regelmäßigen Austausch mit Freund*innen. Hier ist vieles an der Oberfläche und es liegt zum Teil aber auch daran, dass ich in Gedanken immer zu Hause bin“ (Forschungstagebuch Kenia, 07.10.2019). Und obwohl ich bereits mehrmals in Kenia und in anderen afrikanischen Ländern war und mich als reiseerfahren beschreiben würde, hat auch mich der Kulturschock eingeholt.

„Ich bin im Kulturschock angekommen und das, obwohl ich interkulturell doch eigentlich so fit bin. Ich vermisse bestimmtes Essen oder zu mindestens die Möglichkeit, selbst zu kochen, Nonsens-Gespräche zu führen und mich so richtig wohl zu fühlen. In Freetown war das anders. Da muss ich in den kommenden Tagen auf jeden Fall dran arbeiten. Das Ganze gehört eben auch dazu“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 19.02.2019).

Ich betrachte dies als natürlichen Teil der Forschung, der zum Forschungsprozess dazugehört. Besonders in Sierra Leone und Liberia war es immer wieder der Fall, dass ich auch bei Freizeitaktivitäten ungeplant auf Personen aus dem ZFD getroffen bin. Dies geschah zum Beispiel an einem Wochenende am Strand oder an touristischen Zielen. Hierbei war der Umgang immer sehr freundschaftlich und es fand ein lockerer und netter Austausch statt. Generell habe ich mich sehr wohl gefühlt und fand diese Situationen nie merkwürdig.

Gerade in der Hauptphase ist es wichtig, die Gesprächs- und Beobachtungsdaten festzuhalten. Ich habe bei geplanten Interviews mitgeschrieben und mir Notizen gemacht. Bei lockeren, offenen Gesprächen habe ich nicht mitgeschrieben. Ich habe mir, wenn es passend war, nach dem Gespräch kurz Notizen mit meinem Handy gemacht und diese abends in mein Gesprächs-Dokumentations-Buch übertragen. Bei Beobachtungen habe ich je nach Situation entschieden, ob ich mitschreibe oder nicht. Da diese jedoch in der Regel bei Meetings oder Workshops stattfanden und es dort normal für alle Beteiligen ist, sich Notizen zu machen, habe ich mich in der Regel dafür entschieden. Am Abend bin ich diese Notizen immer nochmals durchgegangen und habe sie ergänzt. Dabei habe ich in den Beobachtungsnotizen Datum, Ort, beteiligte Personen, den Verlauf, offene Fragen und weitere Gedanken (Grenz, 2017, S. 199) festgehalten. Ebenfalls führte ich jeden Abend oder bei einer sehr späten Veranstaltung am nächsten Morgen mein Feldtagebuch. Hier habe ich persönliche Notizen gemacht, Situationen reflektiert, meine eigene Rolle hinterfragt und Momente festgehalten, die mich besonders bewegt haben.

5.3.4 Abschlussphase

Die Abschlussphase erfolgt, wenn der oder die Forschende zu dem Ergebnis gekommen ist, die Beobachtung abgeschlossen zu haben. Dabei sei angemerkt, dass keine Beobachtung alles erfassen kann. Aber es geht um die persönliche Einschätzung der oder des Forschenden. Auch beeinflusst die Dauer, die der oder die Forschende im Feld verbracht hat, die Ergebnisse. Je länger ein Feldaufenthalt andauerte, desto detaillierter sind Beobachtungen und desto tiefer kann das Verständnis des Feldes sein. Dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass auch ein kürzerer Feldaufenthalt sehr detaillierte Informationen hervorbringen kann. In der Regel erfolgen die Abschlussphase und der Abschied aus dem Feld also, wenn die Daten gesammelt sind. Oder teilweise auch dann, wenn zum Beispiel eine Forschungsförderung ausläuft oder im schwierigsten Fall, falls der oder die Forschende aus dem Feld ausgeschlossen wird (Kindon & Cupples, 2014, 220 f.). In dieser Phase ist es besonders wichtig, dass eine Loslösung vom Feld stattfindet und wieder Distanz gewonnen werden kann. Dies kann je nach Grad der Integration der oder des Forschenden in das Feld durchaus schwierig sein. Denn es können enge Bindungen bestehen und nach der Forschung wird gerade durch soziale Medien der Austausch erleichtert (Alber, 2013; Treiber, 2014). Somit hat der Rückzug aus dem Feld immer ethische, emotionale, professionelle, persönliche und praktische Komponenten, die beachtet werden müssen (Kindon & Cupples, 2014, S. 223). Es gilt, den Rückzug möglichst in Absprache und Reflexion mit den Personen im Feld vorzunehmen (Girtler, 2001, S. 129). Des Weiteren ist es wichtig, Rückmeldungen an das Feld zu geben und die Ergebnisse der Forschung mit den Beteiligten aus dem Feld zu teilen. So kann es zum Beispiel hilfreich sein, mit den Beteiligten einen Follow-up-Plan zu erstellen.

Die Abschlussphase stellt für mich ebenfalls einen wichtigen Teil des Forschungsprozesses dar. Bei den Interviews war es von vornherein klar, dass die Forschung auf das Interview begrenzt ist. Jedoch bin ich mit den Personen in weiterem Kontakt geblieben. Einerseits, um Absprachen über meine weitere Forschung zu treffen und andererseits, um die Personen über die Ergebnisse der Forschung zu informieren, wenn in den Interviews besprochen wurde, dass Interesse an den Forschungsergebnissen besteht. Da es sich bei den Seminaren zur Fachkräftevorbereitung um zeitlich begrenzte Felder im ZFD handelte, war auch hier die Abschlussphase relativ leicht zu gestalten. In der Regel fand sie mit der Seminarreflexion gemeinsam in der Gruppe statt.

Generell stellt sich die Frage, wann eine solche Abschlussphase beginnt. Bei mir war von Anfang an klar, dass der Aufenthalt, unter anderem auch aus finanziellen Gründen, auf einen bestimmten Zeitraum festgelegt ist. Somit war das Ende der Forschung schon vor ihrem eigentlichen Beginn definiert. Ob diese Zeit ausreichend war, ist schwer zu beantworten. So schrieb ich schon zu Beginn der Forschung: „Ich habe das Gefühl, dass die Zeit eigentlich viel zu kurz ist und ich, um richtig reinzukommen, schon drei Monate in Freetown bleiben könnte“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 28.01.2019). Jedoch kann ich rückblickend sagen, dass die Zeit ausgereicht hat, um das Feld kennenzulernen und meine Forschungsfrage zufriedenstellend zu beantworten. Die Abschlussphase in den drei Ländern gestaltete sich jedoch schwieriger und immer etwas anders. Allen Ländern ist jedoch gemein, dass ich verschiedene Abschiede und Abschlussphasen erlebt habe. Wenn ich beispielsweise in einem bestimmten Dorf an einer Aktivität einer ZFD-Organisation teilgenommen habe, war ich eben nur für diese Aktivität in dem Dorf und habe dort alle Phasen an einem Tag durchlebt. Ebenfalls war ich in einigen Städten nur für eine bestimmte Zeit und musste mich dort von den Akteur*innen verabschieden, als ich in die nächste Stadt gefahren bin, da nicht immer klar war, ob wir uns zum Beispiel bei Veranstaltungen in der Hauptstadt nochmal wiedersehen. Allgemein wurde als Follow-up festgehalten, dass ich die Personen über die Ergebnisse meiner Forschung auf dem Laufenden halte. In allen drei Ländern habe ich auch außerhalb des Feldes gute Freunde gewonnen. Auch hier mussten Abschiede stattfinden, in der Regel mit einem gemeinsamen Abendessen und es gab kein Follow-up im wissenschaftlichen, sondern in einem freundschaftlichen Sinn. Der Abschied in Sierra Leone erfolgte in der Regel persönlich. Hier hatte ich das Glück, die meisten Personen aus dem Feld ZFD, aber gerade die Personen, mit denen ich mehr Zeit verbracht hatte, nochmal persönlich zu sehen und mich verabschieden zu können. Bei anderen Personen verabschiedete ich mich bei unseren letzten Treffen, auch wenn diese vor dem Forschungsende lagen oder auch per Handy. Der Abschied in Liberia verlief etwas turbulenter. Aufgrund einer sich immer weiter verschlimmernden Verletzung schickte mein behandelnder Arzt mich nach Hause. Dies geschah eine Woche vor meiner geplanten Abreise. Somit konnte ich mich nur digital von meinen Kontakten verabschieden. Hier wurden mir jedoch große Sympathie und Verständnis entgegengebracht. Trotzdem stellte dieser plötzliche Abbruch für mich keine gute Situation dar, da es sich nach einem Abschied ohne Abschluss anfühlte.

Da in Kenia an so viel verschiedenen Orten ZFD-Projekte stattfinden, kam es zu verschiedenen Abschieden. Diese gab es in der Regel dann, wenn ich und ein*e Akteur*in das Gefühl hatten, das wir uns zum letzten Mal sehen werden. Dennoch „[habe ich] ein schlechtes Gewissen, dass ich den ganzen lieben Leuten hier in meiner restlichen Zeit gar nicht mehr gerecht werden kann“ (Forschungstagebuch Kenia, 17.11.2019). Zwar hat eine Loslösung vom Feld beziehungsweise von den einzelnen Orten des Feldes stattgefunden. Aber dennoch befinde ich mich in einem weiteren Austausch mit einer Vielzahl der Akteur*innen im Feld. Dies liegt unter anderem auch daran, dass weitere Projekte entstanden sind, dass Akteur*innen in die Reflexion der Daten einbezogen wurden und sich zum Teil Freundschaften entwickelt haben, die unabhängig von Feld oder Forschung weiterbestehen.

Auch wenn für mich die physische Abschlussphase aus den drei Ländern stattgefunden hatte, bedeutete dies für mich noch nicht den finalen Abschluss der Forschung oder das komplette Verlassen des Feldes. Denn ich habe noch auf anderen Wegen weiterhin Daten erhoben. Um die Daten aus den drei Ländern zu ergänzen, wurde im Anschluss an die Aufenthalte noch eine Umfrage mit einem quantitativen Fragebogen durchgeführt. Diese fand zeitlich nach dem Aufenthalt in Kenia statt und der Fragebogen wurde an deutsche und lokale Fachkräfte und Organisationen digital versendet. Doch wurde er nicht nur an diese drei Länder versendet. Meine Intention war es, einen etwas größeren Überblick zu gewinnen. Somit wurde er an die Personen geschickt, mit denen ich in Deutschland Interviews geführt hatte, und zwar mit der Bitte, ihn an alle ZFD-Fachkräfte und Partnerorganisationen weltweit weiterzuleiten. Insgesamt haben 83 Personen den Fragebogen ausgefüllt. Eine genaue Rücklaufquote kann nicht errechnet werden, da unklar ist, wie viele Personen der Fragebogen erreicht hat. Auch gibt es keine genauen Statistiken über die Anzahl der Projektpartner*innen und Mitarbeitenden vor Ort. Es waren zum Zeitpunkt der Versendung des Fragebogens 350 externe Fachkräfte über die deutschen Organisationen im Ausland tätig. Von den Personen, die an der Umfrage teilgenommen haben, gaben 38 Personen an, externe Fachkräfte zu sein. Somit haben 10,85 % der internationalen Fachkräfte den Fragebogen ausgefüllt. Generell weisen Online-Fragebögen eine eher geringe Rücklaufquote auf. Gerade bei Organisationsbefragungen liegt diese oft nur bei etwa 11 % (Manfreda et al., 2008, 90 ff.). In diesem Fragebogen wurden Annahmen abgefragt, die ich aus Interpretationen meiner Felddaten gewonnen hatte. Dadurch wollte ich zum einen meine Interpretationen ein Stück weit überprüfen und zum anderen Daten aus anderen Teilen der Welt gewinnen. Die meisten Rückmeldungen gab es jedoch aus den drei Ländern, in denen ich auch meine Forschung durchgeführt habe.

5.3.5 Datenauswertung und Reflexion

Sobald im Feld die Beobachtungen abgeschlossen sind und der Ausstieg aus dem Feld gelungen ist, folgt die Phase der Auswertung. Bei der Datenauswertung spielt besonders die Interpretation der Daten eine bedeutende Rolle, in die die Erkenntnisse aus den vorherigen Kontakten aus dem Feld und die Kenntnisse der sozialen Zusammenhänge einfließen (Girtler, 1989, S. 106). Während der Interpretationsleistung kann die Reflexion dabei helfen, Konsequenzen der jeweiligen Forschungsentscheidung darzustellen. Besprochen werden darin Chancen, Grenzen, Probleme und Fehler des Forschungsprozesses.

Bevor auf die Auswertung des Materials weiter eingegangen werden kann, werden zunächst noch einige Überlegungen zur Gewinnung von Wissen in der ethnografischen Forschung allgemein angestellt. Dazu kann auf das soziologische, verstehende Konzept von Schütz zurückgegriffen werden. Er beschreibt darin, wie ein*e wissenschaftlich beobachtende*r Forschende*r den subjektiven Sinn hinter Handlungen von Akteur*innen erfassen kann. Dabei geht (Schütz, 1971) nicht davon aus, dass den Akteur*innen selbst der Sinn zugänglicher ist als dem oder der Wissenschaftler*in. Vielmehr setzt Schütz bei den handelnden Akteur*innen selbst an und fragt danach, wie die Akteur*innen selbst Sinn erzeugen und diesen in ihrer Lebenswelt erfahren. Durch diese Reflexion wird deutlich, dass einer Person, die wissenschaftlich beobachtet, selbst nie der subjektive Sinn wie einem oder einer Akteur*in zugänglich ist und diese Person somit ein anderes Verständnis gewinnen wird (Schütz, 1971). Somit wird nochmals die Wichtigkeit der Interpretation hervorgehoben. Dabei wird deutlich, dass aus dem Konzept der Lebenswelt, die Schütz als „Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre“ (Schütz, 1971, S. 284) beschreibt, in einer für Akteur*innen intersubjektiv sinnhaften Welt durch alltägliche Handlungen Wissen erzeugt wird und somit Realität. Aus dieser Annahme heraus begründen (Berger & Luckmann, 1966) ihr Konzept von Wissen, mit dem im Folgenden gearbeitet wird. Wissen wird für sie in sozialen Kontexten hergestellt. Es ist daher immer veränderbar und kein autonomer Prozess, der losgelöst von etwas betrachtet werden kann und immer als sozial konstruiert gelten muss (Berger & Luckmann, 1966, S. 13). Dies spiegelt sich darin wider, welche Art von Wissen mit ethnografischer Forschung erworben werden soll: „The knowledge with which people live rather than the knowledge with which Western intellectuals make sense of life“ (Jackson, 1996, S. 4). Wissen ist somit immer in einen subjektiven Kontext eingebettet. Gemeint ist die lebensweltliche Realität als alltägliches Wissen, welche nicht personenabhängig sein muss, sondern von Generation zu Generation weitergegeben werden kann (Berger & Luckmann, 1966, S. 56). Dies geschieht besonders durch die Reflexion von Wissen. „Whereas objective knowledge claims to be un-situated – true any time and any place – reflexive knowledge is situated and includes a recognition of the multiple translation strategies that bring it into being“ (Hardy et al., 2001, S. 554). (Simons, 1996, S. 43) merkt an, dass Ergebnisse, die in Konfliktkontexten entstehen, oft das Ergebnis der oder des Forschenden sind, welche*r versucht hat, konfuse und bedrohende Erlebnisse sinnvoll zu ordnen. Wie schon angemerkt, ist deswegen eine Reflexion des Feldes und der eigenen Rolle immer wichtig. Deswegen ist es essenziell, in der Datenauswertung immer zu fragen, wie Wissen entstanden ist, wie es beschrieben wird und wie es intersubjektiv nachvollziehbar gemacht werden kann. Wird Wissen also wissenschaftlich generiert, kommt es dabei immer zu einem Wissen über Wissen und zu einer Konstruktion zweiter Ordnung (Schütz, 1971, S. 68). Somit ist Wissen, welches durch ethnografische Forschung erworben wird, immer ein Wissen zweiter Ordnung, welches auf dem konstruierten Wissen und auf den konstruierten Realitäten der Personen im Feld beruht.

Durch diese Konstruktion stellt sich die Frage nach der Objektivität der Daten. Allgemein sind die in der quantitativen Forschung verwendeten Begriffe Objektivität und Reliabilität in der Forschung, die die teilnehmende Beobachtung anwendet, eher ungebräuchlich. Stattdessen wird von verschiedenen Kriterien der Validität gesprochen (Bortz & Döring, 2006, S. 326). Objektivität im quantitativen Sinne kann demnach nie gegeben sein (Öksüzoglu-Güven, 2016, S. 55). Diese Annahmen lassen sich auch auf die grundlegende Frage zurückführen, was Begriffe wie Objektivität oder Validität überhaupt aussagen können. „I recognize that we can never know with certainty whether (or the extent to which) an account is true; for the obvious reason that we have no independent, immediate and utterly reliable access to reality“ (Hammersley, 1992, S. 69). Deswegen sollten Daten danach bewertet werden, was vorliegt und erklärbar ist. Zunächst ist bei der Methode der teilnehmenden Beobachtung davon auszugehen, dass Menschen durch die gesellschaftlichen Strukturen ihr Handeln ständig neu schaffen und in der Interaktion die Art ihrer Beziehung immer wieder neu definiert und bestimmt wird. Dabei interpretieren Menschen immer aufgrund ihres Vorwissens die beobachtete Wirklichkeit. Somit liegt ein dialog-konsenstheoretisches Wahrheitskriterium vor. Dies besagt, dass sich der oder die Forscher*in der Wahrheit durch einen Diskurs annähern kann. Realität ist also nicht als konstante Wirklichkeit zu verstehen, sondern entwickelt sich immer im Diskurs. Dieses Verständnis von Wahrheit ist Grundlage für den offenen und flexiblen Charakter der teilnehmenden Beobachtung, also der Wechselwirkung zwischen den erhobenen Daten und dem theoretischen Vorverständnis (Mayer, 2002, S. 22).

Für die Auswertung der Materialien gelten die üblichen Regeln einer qualitativen Forschung, zu welcher die teilnehmende Beobachtung gehört (Bortz & Döring, 2006, S. 341). Gleichzeitig gilt, dass es keine einheitliche oder eindeutige Methode zur Transformation von Daten zu Aussagen und Ergebnissen gibt (Merkens, 1992, S. 217). Dabei spielt besonders die Glaubwürdigkeit (authentisch und ehrlich) der Befragungspersonen und der Beobachtungsprotokolle (bilden sie das Geschehen realistisch ab und sind sie unvoreingenommen) eine wichtige Rolle. Sie sind Daten und Analyse zugleich (DeWalt et al., 2000, S. 271). Aus diesem Grund müssen sie kritisch hinterfragt werden, da sie lediglich das Erinnerte und selektiv Wahrgenommene enthalten (Lüders, 2000, S. 396; Reuber & Pfaffenbach, 2005, 127 f.). Jede*r Forschende, der oder die eine teilnehmende Beobachtung durchführt, steht vor dem Problem der Authentizität und der Interpretation der Forschungsergebnisse. Forschende müssen sich bewusst sein, „[…] dass nie ganz authentisch die Perspektive der Erforschten eingenommen und dann textlich wiedergegeben werden kann“ (Menzel, 2015, S. 60). Die erhobenen Daten werden oft kritisiert, nicht objektiv und validierbar zu sein und dem Bias der Forschenden zu unterliegen (Bryman & Bell, 2015; Kirk & Miller, 1986). Deswegen ist es hilfreich, dass schon bei der Dokumentation die Eindrücke zu intersubjektiven, nachvollziehbaren Daten umgewandelt werden. Dieser Prozess ist eingebettet in die doppelte Intersubjektivität der oder des Forschenden. Er entsteht durch Beobachten und Schreiben (Dellwing & Prus, 2012) und findet zwischen dem Feld (Fragen stellen, Daten zusammenfassen, neue Fragen entwickeln) und dem Schreibtisch (Darstellung, Datenanalyse und Datensicherung) statt. Hierbei erfolgt eine Trennung von Wertung und Beschreibung (Beuchling, 2015, S. 11). „Der Sozialforscher hat demnach nach den Definitionen bzw. den Interpretationen, wie sie in der jeweiligen Alltagswelt geschaffen werden, sich zu erkundigen, um auf diesen seine Interpretationen zu erzeugen“ (Girtler, 1989, S. 107). Dies sind die sogenannten Konstrukte zweiter Ordnung (Schütz, 1971). Um die Interpretation der Notizen nachvollziehbar zu machen, muss sie ausführlich dargestellt werden. Um wiederum den Interpretationen Gültigkeit zu verleihen, sollte jede Interpretation dahingehend überprüft werden, welche alternativen Deutungen möglich sind. Erfolgt dies, sind der oder die Forschende und sein oder ihr Einfluss auf das Feld jedoch nicht mehr als Störfaktor, sondern als weitere Erkenntnisquelle zu verstehen (Flick et al., 2000, 22 ff.). Bei der Validierung der Daten ist es deswegen wichtig, unterschiedliche Teile desselben Materials immer wieder zu vergleichen, Vergleiche zwischen Personen anzustellen und Hintergrundinformationen von Expert*innen und aus der Literatur heranzuziehen. Wird dies konsequent und gewissenhaft durchgeführt, unterscheiden sich die Auswertung und Bewertung der Daten kaum von anderen qualitativen Verfahren. Besonders Reflexion (Hertz, 1997, VII f.) und Transparenz spielen in der Datenauswertung eine wichtige Rolle. Transparent machen bedeutet dabei die komplette Offenlegung von Daten auch in einem nicht paraphrasierten und interpretierten Zustand. Transparenz bedeutet hier die genaue Darstellung von Erhebungs- und Analyseschritten, die Begründung der damit verbundenen Entscheidungs- und Selektionsprozesse und eine Sichtbarmachung des Verhältnisses von theoretisch-methodologischer (An-)Leitung und empirisch-analytischer Eigenständigkeit. Also die Deskription und Legitimation von Forschungsentscheidungen (Eisewicht & Grenz, 2018, S. 369). Dadurch können in der Reflexion die Konsequenzen der methodischen, theoretischen und forschungspragmatischen Entscheidungen aufgezeigt werden und es werden mögliche blinde Flecken deutlich. „Ziel des Forschungsprozesses ist jedoch nicht eine möglichst erschöpfende Deskription, sondern eine schlüssige Interpretation“ (Pritzlaff, 2006, S. 127). Andere Vorschläge, die jedoch nicht in jedem Forschungszusammenhang umsetzbar sind, sind zum Beispiel die Idee, dass Personen im Feld die erhobenen Daten validieren (Bryman 2012) oder mit mehreren Personen gemeinsam geforscht wird (Emerson, 1981). Doch auch hier stellen sich Fragen, wie zum Beispiel, wie objektiv Personen im Feld ausgesucht werden können, oder wer die oder den zweiten Forschende*n auswählt. Reflektiert werden muss aber auch die Situation, wenn Personen im Feld schon von Beginn an in den Forschungsprozess eingebunden sind und dies möglicherweise zu einer Verfälschung von Handlungen beiträgt.

Für die Auswertung gilt weiterhin, dass zwar für die Daten eine grobe Kodierung vorgenommen werden kann (Schöne, 2005, S. 192) und Programme wie MAXQDA Anwendung finden können. Doch ersetzt dies nicht den so wichtigen Schritt der Interpretation und kann dadurch als Unterstützung, aber nicht als Auswertung im Forschungsprozess gesehen werden. Dabei sind die Kodierungen und Klassifizierungen höchst individuell, da es wichtig ist, dass sie gut zu der jeweiligen Forschung passen (Madden, 2010, S. 142).Footnote 11 Die Auswertung und damit die Interpretation an sich können nur durch den oder die Forschende*n unter Zuhilfenahme des gewonnenen Wissens und der Erfahrungen aus dem Feld durchgeführt werden (Pritzlaff, 2006, S. 128). Hierbei wird auch die vor dem Feldaufenthalt entwickelte theoretische Grundstruktur schrittweise überprüft und modifiziert. Daher ist es wichtig, sich die Offenheit bis zur Datenauswertung zu bewahren. Dabei werden Stück für Stück die Bedeutungen und Interpretationen durch das Kodieren und Klassifizieren deutlich. So ist es durchaus üblich, mit größeren Themen zu starten, welche dann immer konkreter werden. Es geht darum, „to unlocking what meaning the fieldnotes will have for your particular project“ (Madden, 2010, S. 142). „Der Anspruch der ethnografischen Politikforschung zielt vor allem darauf, eine schlüssige Einzelfallstudie zu liefern. Generalisierungen werden nur in begrenztem Umfang angestrebt“ (Pritzlaff, 2006, S. 130). Dennoch sollen die Ergebnisse aus der Forschung eine über die Einzelfallstudie hinausgehende deutliche Relevanz aufzeigen (Hammersley, 1992, S. 85). Unter bestimmten Umständen können sie auch vergleichbar gemacht werden (Scheffer & Niewöhner, 2010, 7 ff.).

In der ethnografischen Forschung ist der Schritt von der Kodierung und Klassifizierung zur Interpretation wichtig. Interpretation ist dabei zu verstehen als „a systematic synthesis between the disciplinary intellectual frames that begat the ethnographer […] and the ethnographic experience that further initiated and remade the ethnographer“ (Madden, 2010, S. 148). Es geht also um einen Prozess, der damit beginnt, Muster in den erhobenen Daten zu beschreiben, dann Verbindungen zwischen diesen Mustern zu erkennen, bis hin dazu, Strukturen aufzuzeigen. Auch für Clifford Geertz (1973) liegt die Bedeutung der Forschung in der Interpretation und im Schreibprozess. Die Frage der Repräsentation beantwortet Geertz mit dem Konzept der dichten Beschreibung. Dabei geht es nicht nur – wie zum Beispiel noch bei Malinowski – um das Beobachten, sondern vielmehr um die Interpretation. Hier ergibt sich die dichte Beschreibung aus dem Beschreiben, dem Schreiben und dem im Feld gewonnen Vorwissen und eben aus der Interpretation. Geertz erhebt den Schritt der Interpretation zu dem zentralen Schritt in der Forschung. Für ihn bildet er die Ergänzung und Korrektur des Paradigmas der teilnehmenden Beobachtung. Diese Art der dichten Ethnografie eignet sich besonders, um Besonderheiten der je zu untersuchenden Welt herauszuarbeiten und Einzelfallspezifika darzustellen. Durch diese Interpretationsprozesse kommt es jedoch zu einer gewissen Autorität der Forschenden (Clifford & Marcus, 1986). Die in dem Buch Writing Culture (Clifford & Marcus, 1986) vorgeworfene „monologische Autorität“ der Forschenden gibt Aufschluss darüber, dass die oder der Forschende nie nur Berichterstattende*r sein kann. Vielmehr definiert er oder sie auch, was es zu berichten gibt und kann somit nicht komplett neutral sein. „Research, like any other form of intervention, occurs within an intensely political environment and is unlikely to be viewed by local actors as neutral or altruistic“ (Goodhand, 2000, S. 12). Somit ist der oder die Forschende immer aufgefordert, die eigene Doppelrolle zu reflektieren, sich seiner oder ihrer Grenzen bewusst zu sein und die Repräsentation der Forschung zu hinterfragen. Für diese kritische Selbstevaluation können einige Fragen hilfreich sein, die schon im Feld immer wieder gestellt werden können. Solche Fragen können lauten: „Wie habe ich das Feld beeinflusst?“, „Was habe ich in eine Situation hineininterpretiert, und was habe ich wirklich beobachtet?“, „Zu welchem Grad beeinflussen meine Emotionen oder Gefühle gegenüber dem Feld, dem Thema oder Personen im Feld die Fragen, die ich stelle?“, „Verändere ich mein Verhalten im Feld?“ (Roller, 2014, S. 1). Diese Fragen müssen sicherlich je nach Kontext, Feld und forschender Person angepasst werden, können jedoch zur allgemeinen Orientierung dienen.

Diesen Fragen, gerade in Zusammenhang mit Kategorien wie Wissen und Macht, werde ich genauer in Abschnitt 5.6 nachgehen. An dieser Stelle seien jedoch noch einige Worte zu meiner Subjektivität als Forscherin gesagt. Für mich ist diese Subjektivität von Forschenden ein wichtiger Bestandteil von Forschung mit teilnehmender Beobachtung. Sie ist für den Erkenntnisprozess besonders relevant (Unger von, 2014, S. 22) und kann als „produktives Erkenntnisfenster“ (Breuer et al., 2002, Absatz 4) gesehen werden. Diese Subjektivität kann jedoch nur produktiv genutzt werden, wenn sich Forschende ihrer bewusst sind. So habe ich beispielsweise in meinen Forschungsaufzeichnungen immer Dinge festgehalten, die ich wirklich beobachten konnte. Dinge, die ich zum Beispiel hineininterpretiert habe, habe ich getrennt festgehalten. Als erläuterndes, allgemeines Beispiel nehme ich folgende Szene bei einem Workshop. Ich kann während des Workshops beobachten, dass eine Person gähnt. Warum dies geschieht, kann ich nur interpretieren. Vielleicht aufgrund von Müdigkeit, Langeweile oder Sauerstoffmangel oder vielleicht ist es auch als ironische Handlung gedacht. Hier wird deutlich, wie wichtig Interpretation, aber auch die Reflexion der Daten ist. Reflexion ist in dem gesamten Forschungsprozess von immenser Bedeutung. Sie findet fortlaufend statt und besonders intensiv zum Ende der Forschung bei der Datenauswertung. Es werden die Subjektivität der Forschenden, die eigene Positionierung im Feld und zu den Akteur*innen, der Einfluss auf das Feld und generell das eigene Handeln und die eigene Wahrnehmung reflektiert (Unger von, 2014, S. 23). Dabei gilt die Reflexion „im untersuchten Feld als ein wesentlicher Teil der Erkenntnis und nicht als eine zu kontrollierende bzw. auszuschaltende Störquelle“ (Flick et al., 2000, S. 23). Ich selbst ordne mich und meine Art zu reflektieren der kritischen Reflexion zu. In Abgrenzung zu pragmatischen, hermeneutischen oder phänomenologischen Ansätzen (Motari, 2015, 4 ff.) schließt die kritische Perspektive Komponenten wie Macht mit ein. Sie nimmt größere Zusammenhänge in den Blick und zielt darauf ab, Zusammenhänge aufzuzeigen. Die kritische Perspektive basiert unter anderem auf den Ansätzen von Michel Foucault (,1980). Ergänzt wird sie von einer technischen und praktischen Reflexion über die Umsetzung der Forschung (van Manen, 1977). Diese kritische Reflexion wird auch in den vier Säulen von Gearoid Millar (2014b) gefordert. Die dritte Säule „appraisal of one’s own implicit assumption“ (Millar, 2014b, S. 23) beinhaltet, dass die oder der Forschende ihre bzw. seine westlichen Definitionen, Konzepte und Sichtweisen hinterfragt und reflektiert. Um dies durchzuführen, kann es helfen, eine postkoloniale Perspektive einzunehmen, die den oder die Forschende*n leitet. Dabei spielt auch die Selbstreflexion eine besonders wichtige Rolle. Denn „[…] die eigene Betroffenheit und eine unkritische Identifikation mit den Akteuren im Feld («going native») können zu einer verkürzten Sichtweise führen“ (Bortz & Döring, 2006, S. 340). Andererseits kann ein Going Native, also ein komplettes Eintauchen in das Feld, auch zu einer größeren Fülle an Daten führen und die Qualität der Daten steigern (Öksüzoglu-Güven, 2016, S. 55). Diese besondere Art zu reflektieren wird sich in Abschnitt 5.6, in dem es um forschungsethische Überlegungen geht, verstärkt wiederfinden.

Auch meine in Tagebüchern, Protokollen und Feldnotizen gesammelten Daten wurden zur weiteren Interpretation kodiert, und zwar für die Daten aus allen Arbeitsphasen. Da ich mich wie bereits beschrieben als Spurensucherin im Sinne einer Multi-sighted-Ethnography verstehe, konnten an allen Orten, die zu meinem Feld gehören, bestimmte „Fährten“ gefunden werden (Weißköppel, 2005, S. 61). Diese Fährten sind gewisse Themen, die immer wiederkehren. Finden konnte ich sie bereits erstmals bei den Expert*inneninterviews und den Vorbereitungsseminaren in Deutschland. Sie tauchten in den drei Ländern wieder auf, jedoch ergänzt durch weitere Fährten.

Für die Datenauswertung und Reflexion ist nach meiner Forschung eine Vielzahl an Material vorhanden. In Deutschland wurden insgesamt sieben Personen interviewt. Es handelte sich um Personen, die in den jeweiligen Organisationen für den ZFD als Programm verantwortlich sind. Es wurde an fünf Seminaren teilgenommen. Genaue Beobachtungen in den drei Ländern lassen sich nicht genau beziffern, da in einem Feld eigentlich immer und überall beobachtet wird. Jedoch fanden wie erwähnt zu den allgemeinen Beobachtungen Interviews statt. Die Interviews mit den Mitarbeitenden in Deutschland wurden aufgenommen. Alle weiteren Gespräche wurden nicht aufgezeichnet, sondern nur verschriftlicht. Dies wurde entschieden, um es in den jeweiligen Ländern für alle Interviewpartner*innen gleich zu gestalten. Generell ist festzuhalten, dass sich in den ersten Gesprächen zunächst noch häufig an das Feld und an Kommunikationsstrukturen herangetastet wurde. Dies erfolgte in Anlehnung an (Fujii, 2010) und (Cohen, 2016), die bereits gute Erfahrungen damit sammeln konnten. Sie beschreiben, dass sie auf diese Art und Weise in den Gesprächen die Person sein konnten, die sie wirklich sind.

Der generelle Umgang mit Daten lässt sich in verschiedene Aufgabenbereiche teilen. Zunächst geht es um das Schreiben von Feldnotizen. Dies kann in Feldtagebüchern und Beobachtungsprotokollen geschehen (Writing-down) und es handelt sich dabei um Beschreibungen. Als nächstes folgt das Writing-out, in dem es darum geht, die Daten zu organisieren, zu kodieren und zu strukturieren, sie also zu analysieren und zu interpretieren. Anschließend folgt das Writing-up. Das gilt als die Interpretation der gesamten Forschung und bezeichnet das Schreiben der ethnografischen Geschichte (Madden, 2010, 117 ff.).

Das Writing-down fand wie erwähnt in verschiedenen Formen statt. Für die Auswertung der Daten und insbesondere den Prozess des Writing-out wird mit einer offenen Kodierung gearbeitet. Es werden an den generierten Daten feldnahe Schlagwörter (welche als erweiterte Feldnotizen verstanden werden können) verwendet. Sie werden zunehmend zu abstrakteren Themen, die dann auf theoretische und praktische Vorüberlegungen zurückgeführt werden können (Strauss & Corbin, 1998, 55 ff.). Dabei ist es wichtig anzumerken, dass durch die Schlagwörter oder die Kodierung keine künstliche Fragmentierung der Daten erfolgen soll. Also keine Quasi-Objektivierung der Konstruktionen zweiter Ordnung. Vielmehr können stattdessen Sinnzusammenhänge zwischen Handlungen hergestellt und fokussierter dargestellt werden (Grenz, 2017, S. 200). Hierbei sei angemerkt, dass es für jede Situation auch verschiedene Lesarten geben kann. Somit geht es in der Auswertung auch darum, das „[…] alltagsübliche kategoriale ‚Schnell-Sortieren‘ von (vermeintlich ‚klaren‘) Sachverhalten [zu] problematisieren [und] sozusagen reflexive ‚Schwellen‘ in Deutungsprozesse ein[zu]bauen“ (Hitzler, 2000, S. 27). Der Prozess des Writing-up erfolgte auf Grundlage der vorhandenen Kodierungen und der allgemeinen ethischen und reflexiven Überlegungen zum Feld. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich vor allem in den Kapiteln 6 und 8 finden.

5.4 Zwischenfazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der teilnehmenden Beobachtung zunächst ein Ausschnitt der Realität gewählt wird, welcher die zu behandelnde Problem- und Fragestellung darstellt. Diese wird im Anschluss wissenschaftlich formuliert. Dabei lässt sich dir Forschung grob in Phasen unterteilen, welche in der Realität jeoch oft ver-schwimmen (Abbildung 5.1). Von der Problemstellung ausgehend wird das Konzept zur Untersuchung entwickelt. Dies kann durch ein Literaturstudium oder Expert*innengespräche geschehen und gleicht einer zielgerichteten Suche nach der Erkenntnis (Exploration). Dann folgen die Definition von relevanten Begriffen und die dimensionale Analyse (Konzeptualisierung). Im nächsten Schritt findet die Auswahl der Erhebungsmethode statt und theoretische Vorstellungen über den Untersuchungsgegenstand werden mit in die Forschung eingebracht (Mayer, 2002, 29 ff.).

Wie schon beschrieben, wird bei der teilnehmenden Beobachtung, aber auch in qualitativen Methoden generell davon ausgegangen, dass jede Interaktion ein interpretativer Prozess ist. Ein Prozess mit Handlungen, die sich aufeinander beziehen und dadurch Bedeutung erhalten. Soziale Wirklichkeit entsteht somit durch Handlungs- und Kommunikationsprozesse und deren Interpretation (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 110). „Wann immer also interpretatives Verstehen den Weg der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bildet, kann das Ergebnis nur eine kontextabhängige Wirklichkeit sein, eine subjektiv gefärbte ‚Re-Konstruktion‘ des Verfassers“ (Reuber & Pfaffenbach, 2005, S. 116). Deswegen ist es für Forschende wichtig, schon im Vorfeld ein Theoriekonzept erarbeitet zu haben. Theorie ist dabei zu verstehen als vorläufige Versionen und Perspektiven auf die Welt (Mayer, 2002, S. 23). Nicht jedoch als festgelegtes Weltbild oder festgelegte Überlegungen über das Feld oder als normatives Framework. Denn es gilt, dass „[…] an ethnographer who goes to an unfamiliar human group with expectations informed by an extraneous normative system is likely to be disappointed“ (Ezeh, 2003, S. 203).

Dieses Theoriekonzept bildet die „Interpretationsanleitung“ für die Nachvollziehbarkeit der subjektiven Rekonstruktion der Forschenden. Dabei ist der transparente Umgang des oder der Forschenden mit den Daten besonders wichtig. Es geht in dieser „Interpretationsanleitung“ darum, einen „audit trail“ (Rodgers & Cowles, 1993, S. 219) oder eine deskriptive Analyse (Rocco, 2010) für die Lesenden zu hinterlassen. Um bei der Auswertung der Daten als Forschende nicht den Überblick zu verlieren, ist es umso wichtiger, schon vorher eine Konkretisierung der Problemstellung vorzunehmen. Wichtig ist dabei, dass Forschende eine klare Vorstellung über die Fragestellung entwickeln und dabei für neue und auch überraschende Erkenntnisse offen bleiben (Flick, 1999, S. 63). Erst dadurch kann in der Forschungsauswertung eine Bedeutung nicht bloß als reine Alltagsdeutung zugewiesen werden. Sie wird vielmehr so für Dritte nachvollziehbar und in einen theoretischen und konzeptionellen Rahmen eingebettet. Da bei der Feldforschung in der Regel die Menschen und ihre Handlungen im Vordergrund stehen und ein enger Kontakt stattfindet, ist es wichtig, dass die oder der Forschende sich dem Feld möglichst unbeeinflusst, also auch ohne Hypothesen nähert. Somit wird die nötige Flexibilität gewahrt (Girtler, 2009, S. 8).

Zum Schluss bleibt noch die Frage, was die teilnehmende Beobachtung zu einer wissenschaftlichen Methode macht und was sie von alltäglichen Beobachtungen, die jeder Mensch täglich vornimmt, abgrenzt. Zunächst unterscheidet sich bei einer wissenschaftlichen, teilnehmenden Beobachtung die Intention von der alltäglichen Beobachtung. Wissenschaftliches Beobachten geschieht geplant, zielgerichtet, aufmerksamFootnote 12 und systematisch (Merkens, 1992, S. 218), um eine bestimmte Fragestellung zu beantworten oder einen bestimmten Sachverhalt zu erfassen. Hierbei steht die „längerfristige Gewinnung intersubjektiv nachvollziehbarer Erkenntnis“ (Beuchling, 2015, S. 11) im Vordergrund. Dies geschieht im Einklang mit dem, was wir allgemein unter „Verstehen“ definieren. Es geht jedoch noch weiter, da eine intensive Reflexion stattfindet. Somit kann ethnografisches Forschen auch als „the scientific study of gossip“ (Hagene, 2018, S. 322) beschrieben werden. Weiterhin erfolgt das wissenschaftliche Beobachten regelgeleitet, systematisch und wird dokumentiert. Eine Wahrnehmung wird demnach erst dann zur Beobachtung, wenn sie die folgenden Kriterien erfüllt: Absicht, Selektion und Auswertung. Sie wird dann wissenschaftlich, wenn sie zur Überprüfung bestimmter Annahmen (nicht einer Hypothese) herangezogen wird, die Ergebnisse reproduzierbar und intersubjektiv nachvollziehbar sind (Schöne, 2005, S. 171) und eine Reflexion des Forschungsprozesses stattfindet (Steinke, 2012).

Abbildung 5.1
figure 1

Phasen der Feldforschung. Darstellung der Autorin auf Grundlage von: (Beuchling, 2015; Fischer, 1992; Girtler, 2001; Lueger, 2000; Reuber & Pfaffenbach, 2005; Schöne, 2005; Spradley, 1980)

5.5 Expert*inneninterviews als Teil der ethnografischen Friedens- und Konfliktforschung

Wie bereits beschrieben, können Interviews und insbesondere qualitative Expert*inneninterviews eine sehr gute methodische Ergänzung darstellen und ein Teil ethnografischer Forschung und teilnehmender Beobachtung sein. Für ergänzende Interviews in einer ethnografischen Feldforschung eignen sich besonders qualitative Interviewformen, da sie zwei Grundelemente der qualitativen Forschung vereinen: die Offenheit und das Prinzip der Kommunikation (Flick, 1995, 28 ff.). Zudem sind sie geeignet, da sie – wie für qualitative Forschung typisch – den zu untersuchenden „Gegenstand“ als Bezugspunkt sehen (Flick, 1995). Dadurch können sie den Zugang zu einem sozialen Feld eröffnen (Lamnek & Krell, 2016, S. 313). Quantitative Interviews hingegen sind besser für standardisierte Verfahren geeignet. „Die Besonderheit qualitativer Befragungstechniken liegt darin, dass der Gesprächsverlauf weniger vom Interviewer und dafür stärker von Interviewten gesteuert und gestaltet wird“ (Bortz & Döring, 2006, S. 308). Qualitative Interviews sind also eine für die spezielle Erhebungssituation angepasste Kommunikation, die nicht in Form eines standardisierten Fragebogens erfolgt. Sie haben also das Ziel, nicht etwa reine quantitative Daten zu erheben, sondern vielmehr Text zu generieren, welcher hinterher interpretiert werden kann. Gerade wenn Interviews in sensiblen Settings – beispielsweise in Post-Konflikt-Gefügen – stattfinden und ein möglicher Gesichtsverlust droht, muss die Information der Befragten kritisch hinterfragt werden (Fujii, 2010; Wood, 2007). Es kann auch davon ausgegangen werden, wenn Personen zu Erfahrungen in einem möglicherweise traumatisierenden Kontext befragt werden, dass dieses Wissen nicht mehr klar abrufbar ist (Wood, 2003). Bei Interviews in einem konfliktiven Umfeld kann der von Mason (2003) entwickelte Mechanismus helfen. Es gilt, zuerst den eigenen Bias möglichst gering zu halten und dies so zu vermitteln. In einem zweiten Schritt gilt es, Vertrauen und Transparenz aufzubauen und anschließend die Sicherheit der zu interviewenden Person zu gewährleisten. Anschließend ist eine Konfliktanalyse für das gesamte Feld zu erstellen.

Besonders in der explorativen Phase eignet sich das Expert*inneninterview zur Wissensgenerierung. Auch können Expert*inneninterviews aufwendige Beobachtungsprozesse abkürzen. Denn bei einer Vielzahl von befragten Personen kann trotzdem Insiderwissen generiert werden (Bogner & Menz, 2005, S. 7). Die Interviews sind dabei als Tiefeninterviews zu sehen mit dem Ziel, eine (persönliche) Erfahrung oder Meinung von Akteur*innen zu verstehen. Dabei sind sie auf ein bestimmtes Thema ausgerichtet, welches der oder die Forschende anhand von leitenden Fragen vorgibt (Given, 2008). Da in dieser Forschung besonders ergänzende Expert*inneninterviews geführt wurden, werden diese methodisch genauer betrachtet.

„Als Experte gilt jemand, der auf einem begrenzten Gebiet über ein klares und abrufbares Wissen verfügt“ (Mayer, 2002, S. 40). Dabei ist die Person, die befragt wird, weniger als Person an sich, sondern in seiner oder ihrer Funktion als Expert*in für bestimmte Handlungsfelder wichtig. Somit gilt als Expert*in eine Person, welche in irgendeiner Weise Verantwortung trägt, die für die Kontrolle oder Implementierung einer Problembearbeitung zuständig ist oder aber einen besonderen Zugang zu Informationen über bestimmte Gruppen oder Prozesse hat (Meuser & Nagel, 1991, S. 443). Demnach soll folgende Definition gelten:

„Experten lassen sich als Personen verstehen, die sich – ausgehend von einem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen, das sich auf einen klar begrenzbaren Problemkreis bezieht – die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren“ (Bogner et al., 2014, S. 13).

Wenn – wie in dieser Forschung – Organisationsstrukturen analysiert werden, ist es sinnvoll, Personen in verschiedenen Hierarchien zu befragen und unterschiedliche Abteilungen auszuwählen. Denn so können unterschiedliche Standpunkte berücksichtigt werden. Dabei sind in Organisationen die Expert*innen oft nicht auf der obersten Ebene, sondern auf der zweiten oder dritten Ebene zu finden, weil hier die Entscheidungen getroffen werden (Meuser & Nagel, 1991, S. 441). In Expert*inneninterviews kann besonderes Spezialwissen erfasst werden. Es kann darüber hinaus auch ein Problemlösungswissen sein und den Zugang zu diesen Problemlösungen liefern. Ebenso stehen Prozesswissen (Einsichten in Handlungsabläufe, organisationale Konstellationen, Ereignisse) und Deutungswissen (Interpretationen, Sichtweisen, Erklärungsmuster, normative Dispositionen) im Zentrum des Interviews. Es kann aber auch technisches Wissen (Daten, Fakten, Informationen mit privilegiertem Zugang) erfragt werden (Bogner et al., 2014, 17 ff.). Expert*innen kennen also einen für ihr Fachgebiet typischen Wissensbestand und haben einen guten Überblick über Sonderwissen, zu dem sonst kein Zugang vorliegt (Pfadenhauer, 2009, 101 f.). Da ich gezielt Personen für Interviews anfrage, mache ich als Forscherin diese Personen zu Expert*innen, konstituiere sie also in ihrer Rolle (Bogner et al., 2014, S. 11). Dabei bezieht sich das Expert*inneninterview „[…] auf einen klar definierten Wirklichkeitsausschnitt. Auch wird der Befragte nicht als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer Gruppe in die Untersuchung einbezogen“ (Mayer, 2002, S. 37). Bei Expert*inneninterviews ist es nicht möglich, alle Elemente einer Grundgesamtheit zu befragen, also alle Expert*innen zu befragen, welche etwas zu der Thematik zu sagen hätten. Deswegen wird eine sogenannte Stichprobe durchgeführt (Mayer, 2002, S. 37). Bei der Auswahl der Stichprobe ist die Relevanz für das Thema leitend, also die inhaltliche Repräsentation (Flick, 1999, S. 57). Dabei kann es eine Vorab-Festlegung geben (Festlegung der Stichprobe vor Untersuchungsbeginn) oder ein theoretisches Sampling (hierbei wird die Stichprobe im Laufe der Untersuchung, abhängig vom Erkenntnisstand, immer wieder angepasst und erweitert). Bei der Vorab-Festlegung ergeben sich die Kriterien zur Bildung der Stichprobe aus der Fragestellung, den theoretischen Vorüberlegungen und dem Vorwissen (Mayer, 2002, S. 38).

Expert*inneninterviews können mit verschiedenen Interviewtechniken durchgeführt werden. Die gängigsten Methoden sind das narrative Interview (Schütz, 1977), das episodische Interview (Flick, 1995), das problemzentrierte Interview (Witzel, 1982), das fokussierte Interview (Merton & Kendall, 1956), das Tiefen- oder Intensivinterview (Koolwijk von, 1974), das rezeptive Interview (Kleining, 1988), das situationsflexible Interview (Hoffmann-Riem, 1980), Expert*inneninterviews (Meuser & Nagel, 1991), und das ero-epische Gespräch (Girtler, 2001). In meiner Forschung wurden – wie bereits erläutert  – im alltäglichen Umgang mit verschiedenen Akteur*innen oft ero-epische Gespräche geführt, jedoch fanden auch vorher geplante Interviews statt. Dazu wurden Leitfadeninterviews geführt. Ein Leitfaden kann dabei die relevanten Themen als Gesprächsthemen hervorheben und dient dazu, das Interview gleichzeitig auf diese Themen zu fokussieren (Meuser & Nagel, 1991). Einem Leitfadeninterview liegen offen formulierte Fragestellungen zugrunde. Dies nützt zum einen der Struktur des Interviews, zum anderen der Vergleichbarkeit von verschiedenen Interviews (wenn der Fragebogen konsequent genutzt wird). Der Leitfaden ist immer als Orientierung zu sehen, muss jedoch nicht in der festgelegten Reihenfolge abgearbeitet werden. Er orientiert sich an der Offenheit der qualitativen Methode. Ebenfalls hat der Interviewer die Möglichkeit zu entscheiden, wann nochmal nachgefragt wird (Mayer, 2002, S. 36). Der Leitfaden sollte verschiedene Themenkomplexe beinhalten, denen jeweils Nachfrage-Themen zugeordnet sind (Mayer, 2002, S. 44). Dadurch kann in dem Interview dem oder der Befragten Raum für eigene Themen gegeben werden. Gerade bei meinen Interviews war es mir wichtig, mich auf die Gesprächspartner*innen zu konzentrieren und ihnen die Gesprächsführung zu überlassen. Dies ist gelungen, indem ich zwar einen Leitfaden verwendet habe, die Interviews jedoch auch in Form eines narrativen Interviews geführt habe.

„Steht der Verlauf des einzelnen Falls und der Kontext von Erfahrungen im Vordergrund der Fragestellung, so sind meist Erzählverfahren wie z. B. das narrative Interview dem Leitfadeninterview vorzuziehen. Sind konkrete Aussagen über einen Gegenstand Ziel der Datenerhebung, so ist ein Leitfadeninterview der ökonomischere Weg“ (Mayer, 2002, S. 36).

Ich habe die Befragten also gebeten, zu erzählen und habe ihnen dazu entsprechende Leitfragen gestellt. Durch diese freien Erzählungen werden bestimmte Handlungsmuster und eigene Interpretationen retrospektivisch deutlich (Schütz, 1977, S. 1). Dabei habe ich meine eigene Rolle als Impulsgeberin gesehen. Die Interviews ließ ich in einer non-autoritären, kollegial-freundschaftlichen und vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden (Lamnek & Krell, 2016, S. 342).

Die Interviews können entweder mitgeschrieben oder mitgeschnitten werden, dies liegt an den Personen, die befragt werden und auch an der Präferenz der forschenden Person. So kann es für einige Fragestellungen wichtig sein, detaillierte Transkripte zu erstellen. Hingegen für andere Forschungsfragen kann es ausreichen, Mitschriften auszuwerten. Gemein ist den Daten jedoch, dass sie zur Auswertung dienen. Bei Expert*inneninterviews kann davon ausgegangen werden, dass die forschende Person Vorwissen mit in das Gespräch bringt. Dadurch handelt es sich auch um gemeinsam geteiltes Wissen. Dadurch werden „[…] aufwendige Notationssysteme, wie sie bei narrativen Interviews oder konversationsanalytischen Auswertungen unvermeidlich sind […] überflüssig“ (Meuser & Nagel, 1991, S. 445). Claus Mühlfeld (1981) schlägt ein sechsstufiges Verfahren zur Auswertung der Interviews vor. Dabei werden zunächst im Text alle Textstellen markiert, welche zu Interviewfragen passen (nicht immer sind die Antworten notgedungen direkt bei den Fragen zu finden). In einem nächsten Schritt wird der Text in ein vorher angefertigtes Themenschema (zum Vergleich) eingeordnet. Nachdem das Interview nun zergliedert ist, gilt es eine Logik zwischen den Einzelinformationen herzustellen. Diese innere Logik wird in der nächsten Stufe verschriftlicht. In den folgenden zwei Schritten werden erst die einzelnen Interviewausschnitte thematisch verkürzt und anschließend zu einem Bericht zusammengefasst. Eine weitere Möglichkeit der Analyse ist die von (Meuser & Nagel, 1991). Dabei werden die Interviews paraphrasiert, um sie dann thematisch zu ordnen. Nach dieser Ordnung findet ein thematischer Vergleich statt. Danach erfolgt die Konzeptualisierung. Hier werden Gemeinsamkeiten und Differenzen formuliert und bereits vorhandene Annahmen einbezogen (Mayer, 2002, 49 f.). Generell können in der Auswertung Themensysteme entweder induktiv aus dem Material oder deduktiv, also theoriegeleitet aus Material gewonnen werden. In der Praxis ist eine Mischform am häufigsten (Bortz & Döring, 2006, S. 330).

Unabhängig davon, in welcher Art und Weise das Datenmaterial kodiert oder sortiert wurde, ist die Interpretation der wichtige Schritt. Da hier die Interviews als Teil des ethnografischen Kanons gesehen werden, gelten schon hier die beschriebenen Regeln der Interpretation. Es sind jedoch noch einige Zusatzbemerkungen zu machen. Das Ziel einer qualitativen Analyse der Interviews ist es, „[…] die manifesten und latenten Inhalte des Materials in ihrem sozialen Kontext und Bedeutungsfeld zu interpretieren, wobei vor allem die Perspektive der Akteure herausgearbeitet wird“ (Bortz & Döring, 2006, S. 329). Dabei muss die Interpretation immer inhaltlich möglichst erschöpfend und intersubjektiv nachvollziehbar sein. Um Interpretationen Gültigkeit zu verleihen, sollte jede daraufhin überprüft werden, welche alternativen Deutungen sie zulässt. Die Generalisierbarkeit der Interpretationen wird dadurch erreicht, dass Einzelfallbeschreibungen als repräsentativ gelten, sie also als typische Vertreter*innen verwendet werden. Das Prinzip der Offenheit der Forschung schlägt sich auch während der Untersuchung nieder. So ist es durchaus möglich, dass weitere Fälle hinzugezogen oder bestimmte Fälle ausgeschlossen werden (Bortz & Döring, 2006, S. 335). Wichtig ist jedoch, dass jedes Interview einer Anzahl von Interpretationsmöglichkeiten gegenübersteht. Somit muss nicht nur darauf geachtet werden, was gesagt wird, sondern auch darauf, was eventuell nicht gesagt wird oder was zwischen den Zeilen mitklingt. Deswegen ist es wichtig, dass es zusätzlich eine genaue Betrachtung der oder des Befragten und ihrer bzw. seiner Äußerungen gibt. Es müssen der gesellschaftliche Kontext berücksichtigt und jede Äußerung sorgfältig interpretiert werden (Mayer, 2002, S. 24). Bei der Interpretation sind auch die eigenen Vorannahmen und Theorien zu berücksichtigen, denn kein*e Forscher*in kommt „innocent“ (Okely, 2010, S. 29) in das Feld.

An Expert*inneninterviews wird auch Kritik geübt. So kann es vorkommen, dass ein*e Forscher*in das Interview in eine bestimmte Richtung lenkt, um für die Forschungsannahmen passende Ergebnisse zu erhalten (Boyce & Neale, 2006). Ebenfalls wird kritisiert, dass sie in der Auswertung sehr zeitaufwendig sind. Doch gerade dieser Zeitaufwand, welcher schon durch das Interview an sich gegeben ist, hilft den Forschenden, mit den Akteur*innen im Feld vertrauter zu werden und eine persönliche Bindung und Vertrauen aufzubauen. Dies ist für eine ethnografische Forschung sehr wichtig.

Es werden Interviews und Beobachtungen also als Methodenplural (Lamont & Swidler, 2014, S. 165) verstanden. Beide haben ihre Vor- und Nachteile und es muss von Fall zu Fall entschieden werden, welche Methode passender ist. Ich kann mich nicht dem Methodenstreit anschließen, der vor einigen Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten ausgefochten wurde und bei dem die Aussage „action speaks louder than words“ (Jerolmack & Khan, 2014, S. 179) getroffen wurde. Zwar gibt es einen Unterschied zwischen Talk and Action und Talk about Action. Doch ist dieser nicht negativ zu bewerten. Äußerungen von Personen dürfen nicht mit ihren Handlungen gleichgesetzt werden und zwischen Darstellungs- und Handlungsdaten muss unterschieden werden (Honer, 1993, S. 43).

5.6 Forschungsethische Überlegungen

Ethnografische Forschung ist wie jede andere Forschung nicht von methodologischen Schwierigkeiten befreit. Auch wenn sie den Anspruch hat, vergleichsweise informiert und reflektiert zu sein, ist auch sie kein Wundermittel für diese Problemen (Hammersley, 1992, S. 132). Auch als Forschung bleibt sie eine Intervention. Deswegen ist es wichtig, auch ethnografische Forschung unter forschungsethischen Überlegungen zu betrachten. Dabei stellt der sogenannte (Belmont Report, 1979) den Ausgangspunkt der Debatte um ethische Fragen in der Feldforschung dar. Dieser geht von drei ethischen Prinzipien aus: 1) Respekt für Personen; 2) die Schutzverantwortung gegenüber den Personen im Feld und 3) eine gerechte Verteilung der Belastungen, aber auch der Nutzen im Feld. Betrachtet man die Forschung als einen Prozess, geht es bei ethischen Fragen um Antizipation, Reflexion und Beeinflussung der sozialen, rechtlichen und weiteren Konsequenzen von Forschung. Letztendlich geht es also um Schadensvermeidung. Diese Schadensvermeidung nimmt das schon angesprochen Do-no-Harm-Prinzip nochmals genauer in den Blick. Dabei unterscheidet sich Ethik von der Moral. Ethik ist als die Reflexion der Moral zu verstehen (Unger von, 2014, S. 22).

„Unter dem Stichwort ‚Forschungsethik‘ werden in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen all jene ethischen Prinzipien und Regeln zusammengefasst, in denen mehr oder minder verbindlich und mehr oder minder konsensuell bestimmt wird, in welcher Weise die Beziehungen zwischen den Forschenden auf der einen Seite und den in sozialwissenschaftliche Untersuchungen einbezogenen Personen auf der anderen Seite zu gestalten sind“ (Hopf, 2004, 589 f.).

Ethische Überlegungen sind dabei nie rein methodologisch. Denn es geht immer auch um das Leben von Personen, die in die Forschung involviert sind. Dies ist gerade bei der Forschung in Konfliktkontexten nochmals von einer höheren Bedeutung (Avruch, 2001, S. 641). Nimmt der oder die Forschende eine forschungsethische Reflexivität ein, geht es darum zu erläutern, wieso ein bestimmtes Handeln im Forschungsprozess vertretbar oder auch nicht vertretbar ist. Somit sind ethische Ansprüche und die Reflexion des Forschungsprozesses und der Rolle des oder der Forschenden untrennbar miteinander verknüpft. Denn Reflexivität ist zu sehen als „[…] a process whereby researchers place themselves and their practices under scrutiny, acknowledging the ethical dilemmas that permeate the research process“ (McGraw et al., 2000, S. 68). Damit bewegen sich die Fragen immer zwischen (rechtlichen) Fragen des Datenschutzes, theoretischen Fragen zur Position der oder des Forschenden und handlungsleitenden Fragen bezüglich der Selbstreflexivität des oder der Forschenden (Unger von et al., 2014, S. 2).

Ethnografische Forschung in der Friedens- und Konfliktforschung bringt einige ethische Fragestellungen mit sich. Es gibt einige Feinheiten und Besonderheiten, die gerade in (Post-)Konfliktkontexten zu beachten sind. Deswegen ist es umso wichtiger, dass die folgenden Kapitel vertieft auf ethische Herausforderungen eingehen und dabei auch Diskussionen aus anderen Disziplinen berücksichtigen. Da die Forschung in einem Nord-Süd-Kontext stattfindet und dies besondere ethische Herausforderungen mit sich bringt, wird besonders auf diese eingegangen. Dabei werden verschiedene Punkte konzeptionell diskutiert und zunächst allgemein formuliert, wie die Forschung durchgeführt werden kann. Die Ergebnisse werden auf meine eigene Arbeit übertragen.

5.6.1 Wo ist Forschung möglich?

Feldforschung in der Friedens- und Konfliktforschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einem höchst konfliktiven Umfeld stattfindet, was in der Natur der Sache liegt. Dies kann bei der teilnehmenden Beobachtung Auswirkungen auf den Zugang zum Feld, auf die Forschungsmöglichkeiten und den Zugang zu Personen haben. In der Regel wird aus diesem Grund in einem geschützten Raum von latenten Konflikten oder in Nachkriegsgesellschaften geforscht und nicht, wie beispielsweise (Nordstrom & Robben, 1995, S. 12) es fordern, direkt in Kriegsgebieten. „If researchers and analysts are not prepared to engage until the guns fall silent, knowledge and understanding tend to be stuck at the pre-war level“ (Goodhand, 2000, S. 12). Feldforschung ermöglicht einen anderen Blick auf den jeweiligen Fall, eine differenzierte Wahrnehmung und Analyse und ein tieferes Verständnis für die Situation – Forschende werden somit zu Augenzeug*innen (Faier, 2002, S. 196). Auch können Informationen aus dem Land (wie zum Beispiel Zeitungsartikel oder CSO-Berichte) besser dem Kontext zugeordnet werden. Somit verbessert sich das faktische Wissen (Buckley-Zistel, 2012, 318 f.). „By living among different local communities that are experiencing armed conflict or its effects, a researcher can collect information informally and more comprehensively through observation and indirect questions“ (Barakat et al., 2002, S. 997). Dabei bedarf es eines proaktiveren Ansatzes in der Konfliktforschung, wodurch es zu einer Platzierung des oder der Forschenden im Konflikt kommt, die sie oder ihn auch verletzbar machen kann.

Doch auch in direkten Konflikt- oder Kriegssituationen kann Forschung – unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen – möglich sein und dabei helfen, ein vertieftes Verständnis von einem Konflikt zu gewinnen (Ratelle, 2013, S. 160). Dies kann durchaus sinnvoll sein, um die Komplexität eines Konfliktes zu erfassen. Denn wenn Forschung erst nach dem Konflikt erfolgt, können die Ebenen vor und während eines Konflikts nie voll erfasst werden (Goodhand, 2000). In (Post-)Konfliktsituationen herrscht daher hohe Komplexität: „This enhanced complexity has resulted in the conventional academic view that serious quantitative field research has to wait until the fighting stops“ (Haer & Becher, 2012, S. 1). Laut Haer und Becher ist Forschung jedoch auch in hoch konfliktösen Umfeldern möglich. Allerdings bedarf es dafür einer gewissen methodischen Flexibilität und erhöhter Selbstreflexion, wie auch (Malejacq & Mukhopadhyay, 2016, S. 1012) betonen. „There are risks inherent in research conducted in combat zones. But we have reached appoint where those risks are necessary“ (Hoffman, 2003, S. 9). Dass bisher in der Literatur noch wenig auf die Forschungsmöglichkeiten in Konfliktgebieten eingegangen wurde, liegt unter anderem daran, dass die dort vorherrschende Sicherheitslage die Forschenden bei der Datensammlung einschränkt (Haer & Becher, 2012, S. 1). Um die Situation in einem Konflikt besser einschätzen zu können, empfiehlt (Mertus, 2009), eine Bedrohungs- und Vulnerabilitätsanalyse durchzuführen. Dabei sollte hinterfragt werden, warum zum Beispiel ein Terroranschlag oder Angriff stattfinden könnte, von wem Gefahr ausgeht, welche Ziele wahrscheinlich sind oder wie Anschläge ausgeübt werden könnten, welche Orte unsicher sind und wer am vulnerabelsten ist (Mertus, 2009, S. 172; Sluka, 1990). Generell ist ein Aufenthalt in einer Konfliktzone ohne Teilnahme gar nicht möglich. Gerade in Konflikten, in denen Gewalttaten stattfanden oder stattfinden, ist es schwer für die Forschenden, objektiv und unparteiisch ins Feld zu gehen (Mertz, 2002, S. 359). Es darf durch eine mögliche Unparteilichkeit nicht dazu kommen, dass Tatsachen geleugnet werden. Die Definition des Feldes verändert sich in einem Konflikt. Das Feld ist nicht mehr nur ein geografischer Ort. Vielmehr spielt nun die Mobilität der Akteur*innen eine Rolle, und es kommt zu einem Multi-sited Fieldwork. „Anthropologists working in frontline zones are therefore in a crucial position to bear witness to the complex dynamics of that space, and to incorporate into that ‘witnessing’ a knowledge of cause and implication unavailable to a less integrated observer“ (Hoffman, 2003, S. 10).

5.6.2 Machtkritische Überlegungen

In der Regel kann in einer Forschung von zwei Machtbeziehungen im Feld ausgegangen werden (Ackerly & True, 2008a, S. 694): Zum einen zwischen der forschenden Person und den Akteur*innen im Feld und zum anderen zwischen den Akteur*innen im Feld selbst.

Die Machtbeziehung zwischen Forschenden und Akteur*innen im Feld ist dabei nicht ausgeglichen (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 610). Sie ist vielmehr asymmetrisch (Knott, 2019, S. 144) und wurde in der Ethnologie erstmals in der Action Anthropology als implizites Herrschaftsgefälle thematisiert (Tax, 1965, 1975). Dieses Ungleichgewicht liegt daran, dass die forschende Person die Macht über das Feld hat. Diese Macht zeigt sich darin, dass sie oder er eine Forschungsfrage identifiziert, das Feld festlegt, methodische und theoretische Zugänge wählt und nicht zuletzt von ihr oder ihm entschieden wird, wie Daten ausgewertet und präsentiert werden (Engwicht et al., 2019, S. 2; Malejacq & Mukhopadhyay, 2016, S. 1013; A. Menzel, 2015, S. 60). Wie James L. Peacock es treffend zusammenfasst, geht es um die „[…] hegemony of privileged ethnographers over those whose lives they represent“ (Peacock, 2005, S. 99). Dies ist nicht unbedingt hierarchische Macht, sondern Macht, auf der Wissenschaft an sich basiert (Bourdieu, 1993) und die als Herrschaftswissen (Goodhand, 2000, S. 12) bezeichnet werden kann. Andere Wissenschaftler*innen gehen umgekehrt davon aus, dass die Personen im Feld mehr Macht über die Forschenden haben, da sie zum Beispiel Zugänge eröffnen, entscheiden, was die Forschenden sehen und was nicht (Wax, 1982) oder die Kooperation verweigern (Cotterill, 1992; Fisher, 2011). Ich schließe mich jedoch der ersten Denkschule an. Weil gerade in einem globalen Kontext und auch nach der Forschung, die Macht im Umgang mit den Daten bei den Forschenden größer ist. An dieser Stelle stellt sich die Frage des Ownership und der Repräsentation (Hage, 2017, S. 60), welche bereits im Forschungsprozess gestellt werden sollte. Dadurch kann der Forschungsprozess zu einem aktiven werden. Besonders wichtig wird diese Frage, wenn man das Ziel einer wissenschaftlichen Arbeit betrachtet. Findet die Forschung eher für die Wissenschaft statt, was in der Politikwissenschaft meist der Fall ist (Michelitch, 2018, S. 543). Oder findet sie für die Menschen vor Ort statt? Oder soll sie zur Lösung von tatsächlichen Problemen und Fragestellungen aus dem echten Leben beitragen und sich an eine Policy-orientierte Leser*innenschaft wenden (Cunha, 2017)? Auch ist die Machtbeziehung zwischen Forschenden und den Akteur*innen im Feld besonders im Globalen Süden nicht immer ausgeglichen. Denn oft findet ein „studying down“ (Gerholm, 1985, 25 f.; Wolf, 1992) statt, die forschende Person hat eine bessere Ausbildung genossen, bessere Zugangschancen und mehr Geld. So schreibt (Wolf, 1992, S. 134): „The inequalities of power that exist when first-world anthropologists work in third-world countries must be recognized as playing a major role in our research results.“ Hier kann es hilfreich sein, sich in der Forschung immer wieder zu verdeutlichen, dass die Forschung nicht über die Akteur*innen, sondern mit ihnen und für sie stattfindet (Stanley & Wise, 1993, S. 200). Daran schließt sich die Frage nach der Verantwortung der oder des Forschenden für das erworbene Wissen und für den Umgang mit den Akteur*innen im Feld an (Tax, 1965, 1975). Aber auch die Frage, wie über das Feld geschrieben wird. Denn nicht zuletzt durch das Machtgefälle und die asymmetrischen Repräsentationsformen kann auch der Prozess des ethnografischen Schreibens dazu führen, dass ein „the Other“ entsteht (Fabian, 1983, 87 f.). Dies geschieht jedoch auch direkt, wenn Forschende nach Hilfe gefragt werden. Sie sind oft in einer Position, in der sie die Wünsche erfüllen könnten, wenn sie zum Beispiel nach Geld gefragt werden. Doch die Frage, ob dies forschungsethisch korrekt ist, ist schwierig zu beantworten. Personen sollen nicht an der Forschung teilnehmen, weil sie dafür Geld bekommen. Aber andererseits ist es auf einer persönlichen Ebene zum Teil schwer, Nein zu sagen. Gerade der Prozess des Schreibens und des Veröffentlichens der Ergebnisse ist auch von der Frage geprägt, inwieweit den Personen aus dem Feld ein Zugang zu den Ergebnissen (in ihrer Muttersprache) ermöglicht werden kann oder inwieweit sie über den Prozess informiert werden.

Doch auch die Machtbeziehungen zwischen den Akteur*innen im Feld sind nicht weniger bedeutend. Sie sind ein elementarer Bestandteil der kritischen Friedens- und Konfliktforschung (Paffenholz, 2014, S. 43). Diese Beziehung ist immer abhängig davon, welche Akteur*innen in die Forschung involviert sind und wie sie unabhängig von der Forschung zueinanderstehen. Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese Macht nicht immer auf den ersten Blick zeigt. Sie kann vielmehr in symbolischen Handlungen verborgen sein (Bourdieu, 1992) und muss nicht immer mit Hierarchien einhergehen (Bourdieu, 1993). Diese Machtbeziehungen ergeben sich aus dem Feld an sich, dem inhärenten Verhalten der Akteur*innen und aus den Handlungen im Feld (Leander, 2008, S. 19). Sie können jedoch auch durch die Anwesenheit von Forschenden beeinflusst werden (Auyero, 2012, S. 122), indem zum Beispiel eine gefühlte oder tatsächliche Bevorzugung von bestimmten Akteur*innen stattfindet (Bourgois, 1990). Diese drei Aspekte müssen daher immer mitgedacht werden. Für die Reflexion dieser Machtbeziehung durch den oder die Forschende*n ist es deshalb wichtig, die Akteur*innen und ihre Beziehungen zueinander zu kennen. Dies kann beispielsweise durch eine Netzwerk- und Akteur*innenanalyse geschehen. Diese ethnografische Methode ermöglicht es, „[…] die soziale Organisation einer Gruppe als Ganzes und die soziale Einbettung von Akteuren im Einzelnen präzise zu erfassen“ (Schnegg & Lang, 2001, S. 3). Hier wird zunächst festgehalten, welche Arten von Akteur*innen und welche Arten von Beziehungen untersucht werden sollen. Ist dies geschehen, wird festgestellt, mit welchen Methoden die Untersuchung erfolgt. Dies kann mithilfe von Karten, Matrizen, Tabellen oder Graphen, aber auch mithilfe von Zeichnungen geschehen, in denen auf unterschiedliche Weise die Beziehungen zueinander aufgezeigt werden können. Auch wenn der oder die Forschende kein Teil dieser Akteur*innenwelt ist, ist es trotzdem wichtig, ihn oder sie in diesem Mapping zu verorten. Obwohl Forschende als Outsider in das Feld gehen, werden sie doch Teil des Feldes. In der Regel können sie mit allen Akteur*innen sprechen und nehmen eine Rolle außerhalb der Machtbeziehungen zwischen den Akteur*innen ein. Dies kann sich im Forschungsprozess jedoch auch ändern. Akteur*innen können versuchen, einen Nutzen aus dem oder der Forschenden zu ziehen und ihn oder sie zu instrumentalisieren, was nicht als verwerflich betrachtet werden darf. Hier ist es wichtig, dass der oder die Forschende im gesamten Forschungsprozess transparent bleibt, auf mögliche Bitten und Fragen der Akteur*innen ehrlich eingeht und eine Indikation des Forschungsprozesses stattfindet (Fagerholm, 2014, S. 161; Steinke, 2012).

Es ist nicht möglich, das Feld und alle darin vorhandenen Machtbeziehungen schon vor der Forschung komplett zu operationalisieren (Leander, 2008, S. 20). „Wir sind keine losgelösten Beobachter*innen, sondern bringen unsere eigene Positionalität und Identität in einer von Macht strukturierten Gesellschaft mit“ (Engwicht et al., 2019, S. 23). Jedoch kann es hilfreich sein, vorher bereits festzulegen, wie das Feld einzugrenzen ist, mit welchen Akteur*innen auf welcher Ebene interagiert wird, um ihr Handeln zu verstehen, und wie die Forschung eingegrenzt werden kann. Dies kann zum Beispiel geschehen, indem der empirische Fokus eng gesetzt oder es formuliert wird, an welchen Machtbeziehungen die Forschung genau interessiert ist. Gleichzeitig dürfen diese nicht so eng formuliert sein, dass der Blick für mögliche andere wichtige Aspekte verschlossen bleibt. Gerade im Zuge der Reflexion der eigenen Rolle im Feld wird die Machtbeziehung zu den Akteur*innen im Feld deutlich. Es wird klar, dass es keine komplett neutralen Forschenden geben kann. Deswegen ist die Reflexion des eigenen Bias und des eigenen Einflusses auf das Feld ein Teil dieses Prozesses und muss transparent erfolgen (Bansal & Corley, 2011; Cohen, 2016; Meyrick, 2006; Omar, 2012). Zu dieser Transparenz gehört es auch, mögliche kulturelle oder soziale Unterschiede zwischen der oder dem Forschenden und den Akteur*innen im Feld zu reflektieren und diese vor Ort mit den Akteur*innen zu besprechen und zu reflektieren.

Gerade die Machtbeziehung zwischen mir und den Akteur*innen im Feld ist je nach Arbeitsphase sehr unterschiedlich. Bei den Expert*inneninterviews in Deutschland würde ich die Personen, welche ich interviewt habe, als mächtige Personen beschreiben, da sie Inhalte und Zugänge ermöglichen. Jedoch bleibt eine Asymmetrie bestehen, da ich als Forscherin die Deutungshoheit habe und wissenschaftliche Entscheidungen treffe. Auch bei den Seminaren und den Forschungen in den drei Ländern bin ich mir der asymmetrischen Machtverteilung, die bei den Seminaren noch etwas geringer war, sehr bewusst. Ich habe das Feld identifiziert und definiert, habe die methodischen Zugänge festgelegt und die Daten ausgewertet. Da ich mir dieser Tatsachen bewusst bin, sehe ich meine Verantwortung als Wissenschaftlerin darin, die Machtstrukturen im Feld immer wieder aufzuzeigen. Zudem ist es meine Verantwortung, die Forschungsergebnisse mit den Personen im Feld zu teilen, und zwar in einer für sie gut zugänglichen und verständlichen Form. Dies geschah bereits und geschieht weiterhin durch die Veröffentlichung von englischsprachigen Fachartikeln und durch Rückmeldungen an die verschiedenen Organisationen. Auch bin ich dafür verantwortlich, dass das Do-no-Harm-Prinzip in allen Forschungsbereichen eingehalten wird. Dies gilt insbesondere für Aussagen von internationalen und lokalen Mitarbeitenden, da für sie mit bestimmten Aussagen zum Beispiel eine Gefährdung der eigenen Stelle einhergehen könnte. Berichtet mir ein*e Akteur*in beispielsweise, dass sie oder er nicht hinter dem Konzept des ZFD steht und dort nur arbeitet, weil es Geld bringt, könnte ich seine oder ihre Arbeitsstelle gefährden, wenn ich diese Information offen kommuniziere. Ich sehe mich jedoch nicht in der Rolle, Machtstrukturen zu durchbrechen oder für bestimmte Akteur*innen einen Kampf auszutragen. Vielmehr will ich durch meine Forschung Dinge aufzeigen, Dialoge zwischen den Akteur*innen anstoßen und Probleme möglichst wertneutral beschreiben. Gleiches gilt für die Machtbeziehung zwischen den Akteur*innen im Feld, die in meinem Fall auch asymmetrisch ist. So gibt es gerade in den drei Ländern Organisationen aus Deutschland, die Geld und Expertise mitbringen, wovon die lokalen Akteur*innen ein Stück weit abhängig sind. Diese Strukturen kann ich nicht aufbrechen, jedoch durch Analysen darstellen und im Prozess der Datenauswertung einem breiteren Publikum aufzeigen. Somit ist meine Rolle eher die einer externen Beraterin. Denn es geht nicht immer um eine Verbesserung der Kooperationen, sondern darum, Denkanstöße zu geben.

5.6.3 Machtkritische Überlegungen im Kontext der Nord-Süd-Forschung

Viele Konflikte, die ethnografisch erforscht werden, treten in Ländern des Globalen Südens auf. Daher sind hier weitere forschungsethische Überlegungen zu treffen, weil einige Herausforderungen und Merkmale der Forschung dadurch verkompliziert werden können. Jedes Land und jeder Kontext weist eigene Spezifitäten auf und der Globale Süden und Konfliktregionen sind nicht als homogene Konstruktionen zu betrachten. Daher ist es wichtig, auf besondere Herausforderungen hinzuweisen: So zum Beispiel auf interkulturelle Kommunikation oder soziokulturelle Selbstreflexion „[…] von Nord-Süd-Forschungen, insbesondere mit Hinblick auf bestimmte sozial-konstruierte Machtgefälle sowie ethische und praktische Herausforderungen“ (Ruppel & Sander, 2019, S. 19).

Die wissenschaftliche Literatur beschäftigt sich bereits mit Feldforschung im Globalen Süden. Ein kleiner Teil der Veröffentlichungen handelt dabei eher von praktischen Fragen. Wie zum Beispiel von allgemeinen administrativen oder logistischen Herausforderungen (Binns, 2006, 16 ff.). Oder die Veröffentlichungen klären Fragen zu Versicherungen oder Visaangelegenheiten (Evans et al., 1997) oder zu gesundheitlichen Aspekten (Borovnik et al., 2003, 109 ff.). Die meisten Hinweise sind dabei mehr als allgemeingültige Ratschläge für Forschungen im Ausland zu verstehen. Sie gehen zum Beispiel drauf ein, wie man sich im Feld die Zeit einteilen oder ein Heim schaffen kann (Devereux & Hoddinott, 1992). Ein größerer Teil der Literatur behandelt die ethisch verantwortungsvolle Forschung im Globalen Süden. Es sollen mögliche Folgen für die Menschen vor Ort berücksichtigt werden. Es muss zum Beispiel beachtet werden, dass die Forschung deren politische oder gesellschaftliche Stellung bedrohen kann (Buckley-Zistel, 2012, 320 f.; Mertz, 2002, S. 373). Im Vorfeld ist es wichtig, für jedes der ausgewählten Felder eine genaue Analyse durchzuführen. Nur so können das Post-Konflikt-Gefüge verstanden und die Kooperationsebenen analysiert werden. Dabei sind die folgenden Fragen leitend (Baker, 2010, 4 f.): Was waren die zentralen Elemente des Konfliktes? Wer war involviert und wer betroffen? Wer sind die Konfliktparteien? Welche Konsequenzen werden aus dem Konflikt gezogen?

Hier empfiehlt Jonathan Goodhand (2000), eine sogenannte Do-no-Harm-Analyse durchzuführen. Dies ist ein Ansatz, der darauf abzielt, strukturelle oder kulturelle Gewalt zu vermeiden. Er wurde von Mary Anderson (1999) für die Friedens- und Nothilfearbeit entwickelt. Seitdem wird er von vielen Organisationen in ihrer Arbeit verwendet. Die Analyse umfasst die folgenden Schritte: 1. den Kontext des Konflikts verstehen; 2. Analyse der trennenden Faktoren und der Spannungsquellen; 3. Analyse der verbindenden Faktoren und lokaler Kapazitäten; 4. Analyse des Projektes; 5. Analyse der Auswirkungen des Projekts auf den Konflikt; 6. Projektoptionen generieren, um herauszufinden, wie negative Wirkungen vermieden und positive Wirkungen verstärkt werden können und 7. Testen der Optionen und Projektanpassung (Anderson, 1999, 70 ff.). Etwas angepasst können diese Fragen helfen, auch in der Feldforschung und bei teilnehmender Beobachtung mit einem Do-no-Harm-Ansatz zu arbeiten. Es ist wichtig, dass sich die oder der Forschende vor Beginn der Forschung ethische Standpunkte überlegt, um sicherzustellen, dass Do-no-Harm, Do-some-Good oder annähernde Neutralität gewährleistet werden kann. Wie bereits beschrieben, beginnt dies mit einer Analyse vor der eigentlichen Forschung.

Auch Gearoid Millar (2014b), der einen ethnografischen Ansatz in den Mittelpunkt von Peacebuilding-Evaluationen rückt, stellt diese Analyse in den Vordergrund. Millar baut seinen ethnografischen Ansatz auf vier Säulen auf. Dabei geht die zweite Säule auf die ethnografische Vorbereitung ein. Diese beinhaltet, dass die oder der Forschende vor dem Forschungsaufenthalt ethnologische Literatur studiert, um über die lokalen Gegebenheiten und die Kultur vor Ort informiert zu sein (Millar, 2014b, 20 f.). Denn es kann keinen generalisierenden Ansatz geben, sondern nur Fall-zu-Fall-Betrachtungen. „Interpretive social science does not have to foreswear generalizations or causal explanations and that ethnographic methods can be used in the service of establishing them“ (Wedeen, 2010, S. 257). Diese Analysemuss in den ethno-historischen Kontext eingebettet werden. Daraus lassen sich höchstens Empfehlungen ableiten, aber kein Toolkit (Obarrio, 2011, S. 25). Des Weiteren ist sehr wichtig, dass zu Beginn das Forschungsziel deutlich erklärt wird, um zu verhindern, dass Hoffnungen bei der Bevölkerung vor Ort geweckt werden, die der oder die Forschende nicht erfüllen kann (Goodhand, 2000, S. 14). Um negativen Einfluss zu vermeiden (Do-no-Harm), sind folgende Punkte wichtig: dass im Vorfeld sensibel mit dem Feld umgegangen wird (Kubik, 2009; Schatz, 2009), die oder der Forschende gut auf das Feld vorbereitet ist (zum Beispiel Sprache und Gepflogenheiten kennt) und Mechanismen entwickelt, sich auch selbst vor Gefahren im Feld zu schützen (Lee, 1995), ethische Grundsätze eingehalten werden, implizite Signale, welche von der Forschung oder den Forschenden ausgehen, reflektiert werden und eine Analyse stattfindet, wie die oder der Forschende und die Forschung auf den Konflikt wirken. Wichtig ist, dass die oder der Forschende sich den Gegebenheiten vor Ort anpasst, keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, die Sicherheitslage ständig im Blick behält und evaluiert, das Machtgefälle zwischen Forschenden und Beforschten reflektiert, die Ziele der Forschung deutlich erklärt, methodisch flexibel bleibt, improvisieren kann (Bachmann, 2009, S. 261) und gegebenenfalls auch einen klaren Schlussstrich ziehen kann. Vor allem im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung sollten Forschende immer bedenken, dass der Forschungsprozess für alle beteiligten sehr zufriedenstellend verlaufen kann, wenn der Do-no-Harm-Ansatz wirklich verfolgt wird. Dass jedoch tatsächlich ein Do-some-Good geschieht, ist in den meisten Fällen unwahrscheinlich. Es ist auch schwierig, da es mit der Neutralität der Forschenden nicht immer vereinbar ist (Goodhand, 2000, S. 14).

Um den Do-no-Harm-Ansatz bestmöglich zu verfolgen, ist es hilfreich, die Akteur*innen, mit denen Interaktionen im Feld stattfanden, zu anonymisieren. Gerade wenn davon ausgegangen werden kann, dass es sich um ein relativ kleines Feld handelt und zwischen Akteur*innen im Feld ein Machtungleichgewicht herrscht, wird dies umso wichtiger, um bestimmte Akteur*innen zu schützen. Diese Anonymität muss mit den Personen im Feld ebenfalls besprochen werden, denn es kann auch den expliziten Wunsch geben, namentlich genannt zu werden. Dies stellt Forschende vor ein Dilemma: Soll man sich ethisch korrekt verhalten in dem Sinne, dass Personen im Feld geschützt werden oder ethisch korrekt in dem Sinne, dass die Wünsche der Personen im Feld ernst genommen werden (Wood, 2007, S. 218)? Generell ist in der Forschung zwischen voller und teilweiser Anonymität zu unterscheiden (Given, 2008, S. 16). Von voller Anonymität kann ausgegangen werden, wenn der oder die Forschende die Identitäten der Forschungsteilnehmenden nicht kennt und diese ihre eigenen Antworten in den Forschungsergebnissen nicht identifizieren können. Dies ist bei ethnografischen Arbeiten aufgrund der Herangehensweise nicht möglich. Deswegen wird in der Regel mit einer teilweisen Anonymisierung gearbeitet. Diese kann zum Beispiel durch Pseudonyme oder Kodierungen von Personen erreicht werden (Gusterson, 2008, S. 110). Wobei sich jedoch die ethische Frage stellt, welche Pseudonyme angemessen sind. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass zum Beispiel Organisationen, bei denen Personen arbeiten, nicht mit Aussagen direkt in Verbindung gebracht werden. Des Weiteren kann es hilfreich sein, zu abstrahieren oder Einheiten zu vergröbern und zum Beispiel von einer Person in leitender Funktion, anstatt von der Geschäftsführung zu sprechen. Letztendlich bleibt dieser Prozess immer Abwägungssache des oder der Forschenden. Er oder sie bewegt sich auf dem Grat zwischen so viel wie nötig (wie hoch sind die antizipierbaren Risiken) und so wenig wie möglich (Einbußen von Genauigkeit). Hier müssen der Situation und dem Gegenstand angemessene Anonymisierungsstrategien gefunden werden.

Besonders die Forschung, welche von einer Person aus dem Globalen Norden im Globalen Süden durchgeführt wird, muss die mitschwingenden Machtdynamiken berücksichtigen, welche auch als „social science as imperialism“ (Ake, 1979, 124 ff.) beschrieben werden. Dies liegt zum Beispiel an der Tatsache, dass Forschende vergleichsweise leicht Zugang zu Personen in hohen politischen Ämtern bekommen und ihre Herkunft als Türöffner dienen kann (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 610). Oftmals wird dabei von vielen Forschenden der folgende wichtige Hinweis vergessen: „To enter another’s world as a researcher is a privilege, not a right“ (Fujii, 2012, S. 722). In der Forschung können sich für Forschende auch Möglichkeiten eröffnen, welche im Globalen Norden nicht immer möglich sind. Dies ist sehr kritisch zu betrachten. Forschende, die diese für mich moralische Grenze übertreten, sollten ihr Verhalten zumindest sehr gut erklären. Sie sollten nicht nur die Konsequenzen für die eigene Arbeit, sondern auch für die betroffenen Personen reflektieren. Diese Grenzen beziehen sich zum Beispiel darauf, mit Gewaltopfern zu sprechen, ohne ihnen psychologische Hilfe anzubieten (beispielsweise sind solche Gespräche in den USA ohne Vor- und Nacharbeit mit den betroffenen Personen nicht möglich, damit keine Retraumatisierung stattfindet), an sensible Daten von Personen ohne Probleme heranzukommen, die in Europa unter den Datenschutz fallen würden oder Personen für Forschungszwecke einzustellen, welche deutlich unterbezahlt werden (Cronin-Furman & Lake, 2018, 607 ff.). Somit liegt nur ein schmaler Grat zwischen der Ausnutzung von Akteur*innen im Feld und dem Profit der Forschenden. Deswegen ist es wichtig, die eigene Rolle in Bezug auf (Post-)Kolonialismus und strukturelle Macht zu hinterfragen (Kahlenberg, 2014, 288 ff.). Auch im Umfeld von zum Beispiel CSOs, die oft mit westlichen Akteur*innen zusammenarbeiten, spielt dies eine große Rolle. Denn Forschende können mit Zugängen zu internationalen Netzwerken verbunden werden und es ist nicht immer klar, in welchem Zusammenhang sie zu den Organisationen stehen (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 610).

Sobald sich der oder die Forschende eingesteht, dass aufgrund einer bestimmten Region, eines bestimmten Themas oder bestimmter involvierter Personen oder auch wegen der eigenen Persönlichkeit Macht zu einer ethischen Frage in der Forschung wird, ist es immer wichtig, die Machtbeziehungen in der Forschung zu analysieren. Dabei kann erneut eine Betrachtung aus einer postkolonialen Perspektive helfen. Hier ist insbesondere die schon dargestellte Perspektive des „wir“ und „die“ gemeint, die sich in „westliche“ und „restliche“ Welt aufteilt und auf die Konstruktion von Beziehungen eingeht. Dabei geht es um Machtbeziehungen, welche auf Unterdrückung und Ausbeutung beruhen und eine patriarchale Struktur aufweisen. Nehmen Forschende diese Machtgefüge aus einem postkolonialen Blickwinkel wahr und reflektieren sie im gesamten Forschungsprozess, müssen die Beziehungen im Feld berücksichtigt werden und auch die Frage, aus welchen moralischen Vorstellungen heraus welche Entscheidungen getroffen werden (Preissle & Han, 2012, S. 586). Dabei sollte es das Ziel sein, Machtbeziehungen aufzuzeigen und sie zu dekonstruieren. Dies spiegelt sich auch in der anschließenden Darstellung der Arbeit wider. Wie wird über das Feld und die Akteur*innen im Feld geschrieben? Wie wird mit Bildern und Sprache umgegangen? Wichtig ist hierbei, dass der Umgang sensibel und unter Berücksichtigung einer Reflexion machtkritischer, postkolonialer, rassistischer und stereotyper Aspekte stattfindet (Kahlenberg, 2014, S. 292).

Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, kommt es in meiner Forschung insbesondere durch die Tatsache, dass die Kooperationen zwischen lokalen Organisationen und Organisationen aus Deutschland untersucht werden, zu einer besonderen Bedeutung von Macht im Nord-Süd-Gefälle. Auch wenn der ZFD an sich den Anspruch hat, dieses Machtgefälle ein Stück weit aufzubrechen und dies in einigen Fällen gerade in der integrierten Arbeit auch gelingt, ist er dennoch in ein größeres Machtkonstrukt eingewoben. Im Fall des ZFD liegt die finanzielle Macht bei den deutschen Organisationen und hier besteht auch gleichzeitig eine diskursive Machtposition. Diese besteht nicht nur daraus, die Schwerpunkte und Ausrichtungen der Arbeit zu bestimmen, sondern bedeutet auch, Organisationen in gewisse Richtungen zu beeinflussen. Bei potenziellen Debatten um Unstimmigkeiten hat die Stimme der Geber*in ein schwereres Gewicht. Die Mehrheit der lokalen Organisationen ist finanziell zumindest zum Teil von den deutschen Organisationen abhängig. Sowohl die lokalen als auch die internationalen Mitarbeitenden und gut ausgebildete Personen und/oder Personen, welche aufgrund ihrer langjährigen Arbeitserfahrung großen Respekt in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld erfahren, arbeiten in den jeweiligen CSOs und stehen damit oftmals im Gegensatz zu den Personen, mit denen sie in den Projekten arbeiten. Um mich als Forscherin in diesem bestehenden Machtdiskurs zurechtfinden zu können, ist es hilfreich, die Organisationsethnografie heranzuziehen. Denn die Machtstrukturen können sich in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von internationalen und lokalen Organisationen und von lokalen und internationalen, zumeist deutschen Fachkräften manifestieren. Im Rahmen dieser Forschung werden unter Organisationen zivilgesellschaftliche Organisationen verstanden. Zwar findet vom Forschungsablauf her keine klassische Organisationsethnografie statt, dennoch werden einige Ziele aus diesem Forschungszweig übernommen. So soll es darum gehen, Mitglieder der Organisationen, ihre formalen und informellen Rollen, ihre Entscheidungsbefugnisse und die Arbeitsverteilung zu verstehen (Grenz, 2017, S. 187). Dabei geht es auch um das Zusammenwirken von verschiedenen Akteur*innen und um marginale Ebenen in Organisationen (Hong & Lao, 2006). So wird es ermöglicht, Einblicke sowohl aus einer Grassroot- als auch aus einer Top-down-Perspektive zu gewinnen (Klein, 2018, S. 68). Durch eine genaue Betrachtung von Organisationen und den in ihr wirkenden Akteur*innen können bestimmte Punkte herausgefunden werden, die für die Akteur*innen relevant sind (M. Klein, 2018, S. 67). Zudem kann die Organisationsethnografie es leisten, Machtbeziehungen darzustellen (Smith, 2005, S. 10). Gerade mit dem Bezug zu Machtstrukturen wurde diese Art der ethnografischen Forschung durch Dorothy Smith und ihre feministische Perspektive (Smith, 1990; Smith, 2005) bekannt. Marjorie DeVault (2006, 2013) hat sie systematisiert. In der Friedens- und Konfliktforschung fand sie immer wieder Anwendung, wie zum Beispiel bei: Campbell und Gregor (2004), Klein (2016), Nichols (2014) oder Pence (2001). Generell hat diese Art zu forschen auch immer einen großen Praxisbezug (M. Klein, 2018, S. 70). Für meine Art zu forschen ist die Möglichkeit entscheidend, Machtdynamiken aufzuzeigen. Dies soll angelehnt an die Beschreibung von Dorothy Smith erfolgen: „[It] builds knowledges of how the relations of ruling operate from the standpoint of the people participating in them“ (Smith, 2005, xif.).

Durch diese Herangehensweise wird es möglich, mich als Forscherin in dem bestehenden Machtgefälle zu platzieren und meine Rolle in Relation zu postkolonialen Bezügen und Machtstrukturen zu reflektieren. Hier sollen einige Punkte genannt werden, welche besonders für meine Forschung entscheidend waren. Der Globale Süden ist in meiner Forschung nicht als eine homogene Einheit zu verstehen. Kenia, Liberia und Sierra Leone stellen sehr unterschiedliche Länder dar. Besonders mit Bezug zum ZFD gibt es unterschiedliche Herangehensweisen und Projekte, die umgesetzt werden. Dennoch haben sich einige Situationen identifizieren lassen, in welchen für mich ein Machtgefälle besonders spürbar wurde. So habe ich beispielsweise sehr einfach Zugang zu Organisationen erhalten. Zwar wurde den lokalen Organisationen vor Ort freigestellt, ob sie mit mir zusammenarbeiten möchten oder nicht. Doch es ist davon auszugehen, dass ein implizierter Druck herrscht, wenn diese Bitte aus dem regionalen Koordinierungsbüro kommt. Gleiches gilt für die deutschen Fachkräfte, die meine Bitte in ähnlicher Weise erreicht hat. Auch gab es Fälle, in denen ich zuerst mit deutschen Fachkräften in Kontakt war, die meine Bitte dann an die lokalen Partner*innen herangetragen haben. Und auch wenn diese vor Ort integriert sind und eine partnerschaftliche Arbeit stattfindet, kann ich rückblickend sagen, dass nicht alle Organisationen gegenüber den Fachkräften ein Nein geäußert hätten, wenn es ihnen nicht recht gewesen wäre. Somit hatte ich aufgrund meiner Herkunft und meines Kontakts zu den deutschen Organisationen einen leichten Feldzugang, der zum Beispiel lokalen Forscher*innen nicht so ermöglicht worden wäre. Auch war es für mich relativ einfach, Treffen mit Personen außerhalb des ZFD zu vereinbaren. So habe ich ohne lange Wartezeiten Termine mit Professor*innen an Universitäten oder Mitarbeitenden der Vereinten Nationen erhalten. Wie mir Doktoranden an der Universität in Kenia und in Liberia berichteten, haben sie dabei größere Schwierigkeiten und müssen länger auf diese Termine warten. Somit wurde ich als weiße Person aus dem Globalen Norden bevorzugt. Und auch in täglichen Interaktionen in den Ländern, welche außerhalb des ZFD stattfanden, wurde dieses Machtungleichgewicht, in dem ich und die Fachkräfte sich bewegen, immer wieder deutlich. So habe ich beispielsweise in Bo in Sierra Leone in einem Hotel mit Pool gewohnt. Sicherlich hätte ich mir auch eine einfachere Unterkunft suchen können, jedoch war ich für die Arbeit auf Internet angewiesen und mir war es auch wichtig, eine sichere Unterkunft zu haben. Dennoch ist mir jedes Mal, wenn ich aus einer ländlichen Region in das Hotel zurückgekehrt bin, die Absurdität dieser krassen Unterschiede aufgefallen. „Total perverse Unterschiede, aber man bewegt sich irgendwie zwischen den beiden Welten, muss das eine verarbeiten und reflektieren, darf sich aber auch nicht zu sehr runterziehen lassen“ (Forschungstagebuch Sierra Leone, 13.02.2019). Auch war ich beispielsweise an einem Tag mit den in Liberia lebenden Deutschen und deutschsprachigen Personen bei dem monatlichen Stammtisch. Dieser fand in einem der teuersten Hotels der Stadt in einem Restaurant an einem Pool statt. Auf dem Weg dorthin sah ich einen verletzten Menschen auf der Straße. Ich konnte ihm, auch um mich selbst nicht zu gefährden, da es schon dunkel war und es keine Möglichkeit für Rettungswagen gibt, nicht helfen. Dieser krasse Clash zwischen den Welten hat mich auch noch einige Tage später immer wieder berührt und ich habe diesen immer wieder hinterfragt. In solchen Momenten ist es besonders wichtig, dass die Forschenden auch Achtsamkeit gegenüber sich selbst üben und Folgen für die eigene Person in Betracht ziehen. Gerade bei einer Forschung in Krisen- oder Konfliktregionen werden Forschende mit unter Umständen emotional schwierigen Situationen konfrontiert. Es kann zu Einsamkeit kommen und Gefühle wie Angst, Wut, Entsetzen, Trauer und Mitleid können hervorgerufen werden und es können sogar Traumata entstehen (Chatzifotiou, 2000; Wood, 2007, S. 220). Dabei ist es zunächst wichtig, diese Gefühle zuzulassen und sie in den Forschungsprozess einzubeziehen und Handlungsstrategien für solche Momente zu haben. Für diesen Prozess gibt es keine allgemeingültige Anleitung (Ratelle, 2013, S. 171), vielmehr erfolgt er auf persönlicher Ebene. Es darf jedoch nicht als Schwäche der Forschenden interpretiert werden, wenn solche Gefühle auftreten und offen darüber gesprochen wird (Kleinman, 1991, S. 194).

5.6.4 Ethische Fragen zur Wissensproduktion

Im Anschluss an jede Forschung, also im Reflexionsprozess ist es notwendig, die festgestellten Machtdynamiken erneut vertieft zu betrachten, zu evaluieren und zu reflektieren (Knott, 2019, S. 140). Dies gilt auch für die Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen und das dabei produzierte Wissen. Dass auch hier und nach der Veröffentlichung eine weitere Reflexion stattfindet, ist ebenso wichtig, denn „[…] ethnography can be said to have two lives. A first life consists of fieldwork. […] A second life entails writing“ (Fassin, 2015, S. 594). Also gilt es auch für den Prozess der Veröffentlichung und die sich daran anschließenden öffentlichen Diskussionen. Gerade in diesem Teil der ethnografischen Arbeit müssen Forschende oft noch reflektierter werden und auch diesen Prozess mit den Akteur*innen im Feld rückkoppeln (Howard, 2018). Denn ist eine Arbeit erstmal veröffentlicht, haben die Forschenden keine Kontrolle mehr darüber, was mit ihr passiert, wie sie (aus-)genutzt und verbreitet wird (Fujii, 2009; Malejacq & Mukhopadhyay, 2016). Aus diesem Grund hat (Wood, 2000) mit der Publikation ihrer Ergebnisse der Forschung über den Bürgerkrieg in El Salvador fast ein Jahrzehnt gewartet, um sicherzustellen, dass sie sich, aber auch Personen im Feld nicht gefährdet. Gerade bei einer Veröffentlichung mit Policy-Relevanz haben Forschende keinen Einfluss darauf, wie ihre Empfehlungen interpretiert und umgesetzt werden (Paris, 2011, S. 60; Waldman et al., 2014, S. 8).

Im Zuge dessen sollte auch hinterfragt werden, ob das durch die Forschung erlangte Wissen die bestehenden Machtverhältnisse bestärkt oder sie zu durchbrechen versucht (Madge, 1997, S. 121). Anknüpfend an diese Frage steht die Einbeziehung der Akteur*innen im Feld in die Forschung. Zunächst sollte dies immer freiwillig und möglichst informiert geschehen (Wood, 2003). So gibt es Möglichkeiten, die Akteur*innen direkt an dem Forschungsdesign teilhaben zu lassen, Ergebnisse vor der Veröffentlichung mit ihnen zu besprechen oder sie schon vor der Forschung in Ideen einzubeziehen. All diese Möglichkeiten bringen gewisse Vor- und Nachteile mit sich, die sich auf die Ergebnisse der jeweiligen Studie auswirken. Somit ist es keine Frage, ob die lokalen Akteur*innen involviert werden, sondern vielmehr wann und in welchem Umfang (Bracic, 2018, S. 552). Wie wichtig dies ist, zeigt sich beispielsweise in der Forschung von (Daniel, 1997): Er beschreibt sehr ausführlich, dass eine Person im Feld gesehen hat, wie der eigene Vater auf brutale Weise umgebracht wurde. In einem Gespräch mit Valentine Daniel bestärkt die Person ihn darin, das zu veröffentlichen und in einer anderen Situation lehnt sie eine Veröffentlichung ab. Hier wird eine geteilte Verantwortung deutlich, die gegenüber den Daten und die gegenüber den Personen im Feld.

Um die ethischen Fragen zur Wissensproduktion im und nach dem Forschungsprozess beantworten zu können, können folgende Leitfragen hilfreich sein: „Wer profitiert von unserer Arbeit: Wir oder die betroffenen Menschen?“ (Buckley-Zistel, 2012, S. 322); “Who controls the process and whose voice counts?” (Fagerholm, 2014, S. 161); „‘Who should be involved?’ not ‘What are we going to do?’“ (Kraybill, 2001, S. 174) oder „Whose research is it? Who owns it? Whose interests does it serve? Who will benefit from it? Who has designed its questions and framedits scope? Who will carry it out? Who will write it up? How will its results be disseminated?“ (Smith, 2012, S. 10). Es ist wichtig, diese Fragen über den gesamten Verlauf der Forschung im Blick zu behalten, die eigene Rolle und Position im Feld zu reflektieren (Simons, 1996, S. 43), auch über die eigene Person zu schreiben (Krause, 2021, 10) und sich die schon angesprochene methodische Flexibilität zu bewahren (Goodhand, 2000, S. 14).

Für mich ist besonders die Reflexion über das gewonnene Wissen sehr wichtig. So habe ich alle Akteur*innen, mit denen ich im Feld ZFD Kontakt hatte, darüber informiert, was mit den Daten geschehen soll, habe ihr Einverständnis eingeholt und sichergestellt, dass ihre Anonymität gewahrt bleibt. Auch wenn hier die Ergebnisse in deutscher Sprache dargestellt sind, wurden und werden die entscheidenden Ergebnisse noch in Artikeln in englischer Sprache veröffentlicht, damit sie allen Personen im Feld zugänglich gemacht werden können. Im Schreibprozess stand ich zudem mit einigen Akteur*innen im Feld in Kontakt, stellte an einigen Stellen Nachfragen zu Interpretationen und hielt die Personen über den Fortschritt meiner Forschung auf dem Laufenden.

Gerade die Frage, was mit den Daten geschieht und wer eigentlich von dem Wissen profitiert, ist für eine an einem so praktischen Thema ausgerichtete Forschung besonders wichtig. Dabei möchte sich die vorliegende Arbeit nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern auch (soweit sprachlich möglich) an Akteur*innen im Feld wenden und zu einem Policy-orientierten Publikum sprechen, was typisch für ethnografische Forschungen ist (Spitulnik & Peterson, 2012, S. 267). Für diese forschungsorientierte Schreibweise ist es typisch, dass auch in einer erzählenden Form geschrieben wird (Fujii, 2015a). Dies macht den Schreibprozess an sich komplexer (Hamdy, 2017). Insofern ist die Schreibweise nicht immer klassisch-wissenschaftlich und es wird zum Beispiel auch die „Ich-Form“ verwendet (siehe beispielsweise den Sammelband von Didier Fassin, (2017). Dies kann wiederum die Forschung legitimieren (Hammersley, 1992, S. 123). Wie Millar argumentiert, eignen sich ethnografische Ansätze besonders gut, um Policy-relevante Studien gerade in der Friedens- und Konfliktforschung zu verfassen. Denn sie können eine dichte Beschreibung liefern, Erfahrungen und Reflexivität einbeziehen, Einblicke in kulturelle Gefüge geben, Dinge besser in den lokalen Kontext einbetten und weil es in der Methode selbst schon verankert ist, auch für ein nicht wissenschaftliches Publikum geschrieben werden (Millar, 2018a, S. 262). Dabei ist die Forschung an sich nicht politikgesteuert oder taktisch. Denn dies hätte den konträren Effekt (Bessiere, 2017, S. 152). Sie soll aber dennoch politische beziehungsweise praktische Auswirkungen haben. Besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika hat die praxisorientierte ethnografische Forschung eine lange Tradition (Eddy & Partridge, 1978; van Willigen, 1986). Allerdings nimmt sie auch in anderen Ländern stetig zu. Obwohl sie teilweise konträr zu den Erwartungen der relevanten Policy-Akteur*innen steht, können die Ergebnisse durch die ethnografische Sensibilisierung für die Thematik besondere Wirkungen erzielen, da Kontexte, Komplexität und Prozesse dargestellt werden (Cunha, 2017, S. 111). Dabei ist Policy-orientierte Forschung nicht weniger wissenschaftlich oder kritisch als andere Forschung. Sie entspricht nicht einer Policy-Definition, welche davon ausgeht, dass die Forschung „[…] in the service of a goal defined by a client“ (Burawoy, 2005, S. 9) stehen muss. Vielmehr geht es darum, dass Forschende ihre eigenen Fragen und Interessen formulieren und Policy als einen Teil der „Forschungsobjekte“ verstehen (Dubois, 2017, S. 185). „Peace research must meet the needs of the decision-makers“ (Schmid, 1968, S. 229) war schon zu Beginn der Friedens- und Konfliktforschung ein wichtiger Ansatzpunkt in der Forschung und ist es heute noch (Millar, 2018a, S. 260). Dabei steht die Forschung vor der Herausforderung, wie sie Policy-relevant und trotzdem kritisch sein kann. Gerade die Vergangenheit hat gezeigt, dass die praktische Umsetzung kritischer Forschung oft schwierig ist und dass heute noch die gleichen Fragen gestellt werden wie in den 1960er Jahren (Paffenholz, 2014, S. 44). Ein Umsetzungsproblem liegt sicherlich auch darin begründet, dass die Subalternen nur durch die Forschenden sprechen und es somit wieder nur zu einer Teilemanzipation kommt. Dadurch kommt erneut das Thema Macht ins Spiel. Denn die Forschenden entscheiden darüber, welches Wissen verwendet wird, um Policy-Entscheidende zu informieren oder zu beeinflussen (Mack, 2002). Doch nicht nur an diesem Aspekt lassen sich Schwierigkeiten der Übertragbarkeit festmachen. Vielmehr weist Gearoid (Millar, 2018a, S. 260) die Friedens- und Konfliktforschung darauf hin, Forschungsergebnisse an ein nicht wissenschaftliches Publikum zu adressieren. Er attestiert den Policy-Macher*innen einen ideologischen Bias und das Problem der Simplifizierung. Generell muss man sich als Forschende, die auch einen beratenden Anspruch hat, immer der damit einhergehenden sozialen Verantwortung bewusst sein. „Das heißt: Schlüsse, die wir ziehen, was wir äußern oder empfehlen […] kann das Leben unserer Mitmenschen beeinflussen, und zwar auch nachteilig“ (Mannitz, 2009, S. 13). Somit ist es wichtig, sich schon im Vorfeld Gedanken über mögliche positive als auch negative Wirkungen zu machen. Was in einer bestimmten Situation dann jedoch gut oder falsch ist, fällt schwer zu beurteilen. Policy-orientiert, akademisch und auch für die Menschen im Feld zu sprechen, ist eine große Herausforderung (Jones, 2014, S. 241). Durch diese Ausrichtung der Forschung hoffe ich, dass auch die Akteur*innen im Feld von der Forschung profitieren können und sich das durch die Forschung entstandene Wissen zu eigen machen können.

5.6.5 Ethische Fragen zur Wissensproduktion im Kontext der Nord-Süd-Forschung

Bei den forschungsethischen Überlegungen ist erneut die Rolle von Wissen als Konstrukt bedeutungsvoll, da es als ungleich verteilt angesehen werden muss (Bessiere, 2017). Diese ungleiche Verteilung besteht auch heute. Dass sich Personen aus dem Globalen Norden für Expert*innen für ein Feld im Globalen Süden halten und vermeintlich über das größte Wissen über dieses Feld verfügen, zeigt immer wieder die in der wissenschaftlichen Struktur inhärenten Hierarchien (Sabaratnam, 2013, S. 262). Wissen, welches von Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Norden über Personen oder Situationen des Globalen Südens erworben wurde, wird seit den 1980ern in postkolonialen Diskursen immer stärker hinterfragt. Auch ethnografische methodische Überlegungen begannen, diesen Aspekt zu beleuchten. Hier ist besonders die Arbeit von John und Jean Comaroff zu nennen, die schon in den 1990ern untersuchten, wie Forschungspraxis und Hegemonie die Strukturen von Macht und Handlungsfähigkeit beeinflussen (Comaroff & Comaroff, 1992). Allgemein geschieht dies besonders unter Berücksichtigung der Konstruktion der sogenannten „Dritten Welt“ und der Debatte um Entwicklung (Escobar, 2012 [1995]; Hall, 1992; Said, 1978), bei der Bezüge zu Foucaults Diskurstheorie hergestellt werden. Dadurch, dass Wissen nicht als etwas Feststehendes betrachtet werden kann, stellt sich die Frage, wie es zu einem gemeinsamen Wissen kommen kann. Dies geschieht nach Michel Foucault über den Diskurs. Dieser ist als sprachlich produzierter Sinnzusammenhang zu verstehen und entsteht aus einer Reihe von Konzepten, die sich auf den gleichen Gegenstand beziehen und dadurch eine bestimmte Art von Wissen vermitteln (Foucault, 1980). Ein Diskurs kann dabei ein Thema auf eine bestimmte Art und Weise präsentieren. So kann eine Wahrheit darüber konstruiert werden, die, wenn sie innerhalb eines dominanten Diskurses konstruiert wird, schließlich zur Wahrheit, zur Norm oder eben zu Wissen wird (Foucault, 1980).

Dadurch spielt Macht in der Wissensproduktion eine wichtige Rolle. Wer oder was den Diskurs bestimmt, verfügt über die Macht, Wissen festzulegen. Dies wird in der Debatte um sogenannte Unterentwicklung und die eurozentristisch, sozial konstruierte „Dritte Welt“ besonders deutlich. Durch diesen Diskurs wurde eine ohnmächtige, passive und arme Welt geschaffen, die im Gegensatz zu der westlichen Welt steht (Escobar, 2012 [1995]. Bis heute werden durch ein (Weiter-)Führen dieser Debatte bestimmte Machtbeziehungen immer wieder thematisiert. Irgendwann werden sie zu einer Norm, zu gültigem Wissen. Auch wenn diese Forschung sich nicht mit der Entwicklungszusammenarbeit an sich befasst, geht es doch auch in der Friedensarbeit um bestimmte Konstruktionen. So zum Beispiel um die Romantisierung lokaler Akteur*innen (Wiegnik, 2018, S. 138) oder wie erwähnt, um die Schaffung einer friedlichen, liberalen Welt. Diskursive und machtkritische Überlegungen sind somit, gerade dann, wenn die Arbeit von einer westlichen Person verfasst wird, immer zusammen mit forschungsethischen Fragen zu denken. Daran schließt sich die Frage an, warum Forschende sich dafür interessieren, in einem Konfliktland zu forschen. Ist es wissenschaftliches Interesse, ein voyeuristisches Interesse (Das, 1990), eine gewisse „sexiness“ (Mahmood, 2001, S. 524) und Perversion (Taussig, 1987), die womöglich mit der Forschung in solchen Gebieten verbunden sind, oder ist es eine vermeintliche Solidarität mit den Menschen vor Ort?

Für mich ist hierbei vor allem entscheidend, dass ich als weiße Person aus dem Globalen Norden über Personen im Globalen Süden schreibe. Dabei geht es mir jedoch nicht darum, ihr Wissen darzustellen und es als meines auszugeben, sondern vielmehr darum, bestimmte Verhaltensmuster zwischen verschiedenen Akteur*innen aufzuzeigen. Es geht also um Normen und um ein Wissen, das sich erst im Diskurs zwischen verschiedenen Akteur*innen entwickelt. Somit ist die Forschung an sich schon machtkritisch ausgelegt.

5.6.6 Rahmenbedingungen ethischer Forschung

Jede Forschung ist anders und jede Forschung steht deswegen vor anderen ethischen Herausforderungen. In einigen Ländern, wie zum Beispiel Australien, Kanada, Großbritannien oder den Vereinigen Staaten, ist es Voraussetzung vor einer Forschung, dass Ethic-Boards sie genehmigen. Auch im deutschsprachigen Raum werden Diskussionen um ethische Themen immer wichtiger (Unger von et al., 2016, 1 f.). Hier soll besonders auf die eingegangen werden, welche bei ethnografischer Forschung in Ländern des Globalen Südens wichtig werden. Dabei bewegt sich die Anwendung der Regeln der Ethic-Boards zwischen Ablehnung, da Institutionalisierung für qualitative Methoden und damit auch für die teilnehmende Beobachtung als schwierig angesehen wird (Dingwall, 2008) und der Perspektive, dass Richtlinien gut sind, aber immer wieder angepasst werden müssen (Roth, 2005). Aus diesem Grund werden formalisierte Standards wie zum Beispiel die von Ethic-Boards als Startpunkt für die eigene Auseinandersetzung mit ethischen Fragen gesehen, nicht jedoch als Lösung oder Endprodukt. Vielmehr bewegen sich Forschende zwischen diesen Vorgaben und der eigenen Umsetzung (Mukhtarov et al., 2017, S. 626). Oft müssen im Feld ethische Entscheidungen ad-hoc getroffen werden und es besteht nicht die Möglichkeit, vorher zum Beispiel Handbücher dazu heranzuziehen (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 607), die teilweise auf Kontexte gerade in Krisenregionen gar nicht anzuwenden sind. So ist es beispielsweise schwer vorzustellen, von einem*r Menschenrechtsaktivist*in in einem Land, in dem er oder sie verfolgt wird, eine schriftliche Genehmigung zu erhalten, dass er oder sie Teil einer Forschung ist. Denn diese Person könnte wiederum von der Regierung verfolgt werden, in erhebliche Schwierigkeiten geraten (Parkinson, 2015; Wood, 2007) und sich selbst dadurch in Gefahr begeben (Skinner, 2014). Gerade in einem Feld, in dem auch freundschaftliche und informelle Kontakte entstehen, kann sich das Einholen einer schriftlichen Genehmigung für die Methode durchaus störend auswirken (Tittensor, 2016). Ebenso kann gerade in der teilnehmenden Beobachtung dieses schriftliche Einverständnis konträr zu dem eigentlichen Forschungsprozess laufen, da soziale Handlungen und Interaktionen unterbrochen werden müssen (unabhängig davon, ob die Forschung verdeckt stattfindet oder nicht). Findet eine Forschung zum Beispiel auf einem Marktplatz statt und es werden die Handlungen dort beobachtet, kann es schwierig sein, alle Personen, die sich auf dem Platz befinden, schriftlich zu befragen und ein informiertes Einverständnis einzuholen. Es könnte auch sein, dass die entsprechenden Personen nicht lesen oder schreiben können und sie somit bloßgestellt würden (Thomson, 2013; Wood, 2003). Somit müssen neue Wege des informierten Einverständnisses gesucht und begangen werden. Schlüsselpersonen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Es ist nicht unüblich, dass diese ein Einverständnis für mehrere Personen aussprechen (Unger von, 2014, S. 27). Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob diese Ungleichbehandlung forschungsethisch korrekt ist. Dies muss jede*r Forschende in dem eigenen Kontext für sich beantworten. Wichtig ist dabei die Freiwilligkeit der Teilnahme. Meiner Meinung nach kann sie in vielen Fällen viel besser durch ein aufklärendes Gespräch erreicht werden als durch die Unterzeichnung eines formalisierten Dokuments. Ich habe mich beispielsweise dazu entschieden, in Deutschland, gerade bei den Seminaren, entsprechende Dokumente unterschreiben zu lassen, da dies teilweise auch von den Organisationen so gewollt war. In den drei Ländern vor Ort hatte ich entsprechende Dokumente zwar dabei, jedoch sind sie nicht zum Einsatz gekommen. Vielmehr habe ich auf mündliche Absprachen und Erklärungen gesetzt und mich viel mit Schlüsselpersonen ausgetauscht.

Solche forschungsethischen Überlegungen werden in Ethik-Kodexen dargestellt und es werden Handlungsempfehlungen gegeben. Ein Versuch, auf diese Kritikpunkte zu reagieren, wird von einigen, aber nicht von allen Wissenschaftler*innen unternommen. Und zwar, indem mit Gütekriterien für ethnografische und qualitative Forschung gearbeitet wird. Diese Kriterien sind jedoch kein Allheilmittel. Vielmehr geht es darum, dass Forschende sie in ihrer eigenen Arbeit reflektieren und den für sich und das Feld passenden Weg finden. Denn Ethik-Kodexe und Gütekriterien „[do] not guarantee more ethical research or more ethical behaviour on the part of researchers“ (Fujii 2008, S. 3). Sie werden mit guten Absichten auf einer theoretischen Ebene erarbeitet, müssen jedoch in der Praxis von ihrer Idealisierung abrücken und an die jeweilige Situation angepasst werden (Lunn, 2014, S. 1). Damit unterstützt diese Forschung nicht den Ansatz einer Forderung von ansatzübergreifenden Standards und Gütekriterien, wie er zum Beispiel von (Strübing et al., 2018) verfolgt wird. Diese unterscheiden zwischen allgemeinen Leistungsmerkmalen, qualitätssichernden Maßnahmen und Gütekriterien. Vielmehr muss jede*r Forschende sich selbst in seinen oder ihren eigenen Kriterien wiederfinden. Jedoch wird das Ziel, welches dadurch erreicht werden soll, nämlich die Explikation, ebenso als wichtig angesehen (Strübing et al., 2018, 85 ff.). Allgemein wird unterschieden zwischen erstens paradigmatisch-operationalisierenden Gütekriterien, also der Frage, was im Zuge der Forschung getan oder auch nicht getan wird und wie das Ergebnis zu beurteilen ist. Und zweitens den rhetorisch-performierenden Gütekriterien, die der Frage nachgehen, warum, wie und mit welchen (voraussichtlichen oder bekannten) Folgen geforscht wird (Eisewicht & Grenz, 2018, 371 f.). An dieser Stelle soll kurz auf zwei Kodexe eingegangen werden, die von den zwei Vereinigungen herausgegeben wurden, die mir fachlich nahe sind. Einer ist der Ethik-Kodex der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft [DGVN], 2017). Dieser sieht zum Beispiel folgende Punkte vor, welche für den Forschungsprozess wichtig sind: Integrität und Objektivität, Rechte der Untersuchten, Publikationen und Begutachtungen. Besonders in Bezug auf die Akteur*innen in der Forschung wird darauf eingegangen, dass die Teilnahme freiwillig erfolgt, dass ausführlich über Ziele und Methoden informiert wird, potenzielle Vertrauensverletzungen vorhergesehen werden und Informationen immer vertraulich behandelt werden (DGVN, 2017, S. 3). Da diese Forschung sich mit ethnografischen Methoden befasst, lohnt sich auch ein Blick in die Ethikerklärung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie/Völkerkunde (Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde [DGV], 2008). Diese geht gezielt darauf ein, dass sich ethnografische Forschende immer zwischen „[…] einem unauflösbaren Widerspruch zwischen dem universellen Geltungsanspruch ihrer eigenen kulturspezifischen Normen und der Anerkennung anderer Wertvorstellungen“ (DGV, 2008, S. 2) befinden. Diese Erklärung rät dazu, dass die Forschenden offen, aktiv und selbstkritisch mit diesem Zwiespalt umgehen und Konsequenzen der Forschung mit Blick auf lokale und globale Machtbeziehungen hin erklären. Hier wird deutlich gemacht, dass es in einer solchen Erklärung nicht darum gehen kann, universelle, ethische Normen festzulegen, sondern vielmehr darum, dass die Forschenden zu einer ethischen Urteilskraft befähigt werden, was wiederum nur mithilfe einer selbstverpflichtenden Erklärung geschehen könne. Dabei wurden ethische Fragen des ethnografischen Arbeitens herausgearbeitet (DGV, 2008, S. 3), die als Orientierung dienen.

Die Ethik-Kodexe werden für diese Forschung also nicht als Rahmenbedingungen, sondern vielmehr als Richtlinien verstanden, die in Kombination mit den anderen kritischen Ausführungen und reflexiven Gedanken weiterentwickelt werden können. Denn jede Forschung ist anders und jede*r Forschende muss ethische Standards entwickeln, die zu dem Feld und dem jeweiligen Kontext passen (Fujii, 2008, S. 3). Dies liegt zum einen daran, dass bei einer Forschung in konfliktiven Umgebungen schnelle Handlungen oder Anpassungen möglich sind und eine besondere Sensibilität für ethische Fragen erforderlich ist. Es liegt aber auch daran, dass bei ethnografischer Forschung der*die Forscher*in in der jeweiligen Umgebung anwesend ist und immer Einfluss auf das Feld hat. Dieses Bewusstsein und diese Flexibilität lassen sich gerade in der ethnografischen Friedens- und Konfliktforschung auch in der Forschungpraxis finden: „[…] ethical challenges may lead researchers to adopt limited and/or uneven immersion in their field site, not as failed or flawed ethnography but as an ethical research strategy that incorporates ethnografic sensibility to a varying extent“ (Krause, 2021, 1). Das Ziel ethischer Überlegungen ist somit eine lokalisierte Ethik (Kovats-Bernat, 2002, S. 214). Diese kann zum Beispiel durch flexible, interdisziplinäre Ethik-Gremien befördert werden, die vor allem einen Fokus auf den offenen Austausch legen (Krause & Williams, 2020). Aber auch dadurch, dass sich über forschungsethische Vorschriften in den jeweiligen Ländern informiert wird. So musste ich für meine Forschung beispielsweise bei der National Commission for Science, Technology and Innovation zur Beantragung der Forschungserlaubnis auch eine ethische Unbedenklichkeitserklärung erwerben.

Aus diesen Überlegungen und aus den Fragen an Forschende, welche in den einzelnen Kapiteln gestellt wurden, wurden Fragen entwickelt, die als forschungsleitend gesehen werden können.

Vor der Forschung ist es wichtig, dass eine genaue Auseinandersetzung mit dem Feld und in der FuK auch mit dem Konflikt selbst stattfindet. Dabei sollten folgende Fragen leitend sein: Wie definiere ich mein Feld? Wer sind wichtige Akteur*innen in dem Feld? Was waren die zentralen Elemente des Konfliktes? Wer war involviert und wer betroffen? Wer sind die Konfliktparteien? Welche Konsequenzen werden aus dem Konflikt gezogen? Dabei können auch die schon angesprochenen Schritte der Do-no-Harm-Analyse helfen. Sie werden hier nochmals wiederholt und an die Feldforschung angepasst: 1. Kontext des Konflikts und des Feldes verstehen; 2. Analyse der trennenden Faktoren und der Spannungsquellen, bezogen auf den Konflikt, aber auch auf eventuell konfliktive Akteur*innen im Feld; 3. Analyse der verbindenden Faktoren und lokaler Kapazitäten im Konflikt und für Akteur*innen im Feld; 4. Analyse des Feldes in Bezug auf verschiedene Elemente; 5. Analyse der Auswirkungen der Forschung auf das Feld; 6. Projektoptionen generieren, um herauszufinden wie negative Wirkungen vermieden und positive Wirkungen verstärkt werden können und 7. Testen der Optionen und Projektanpassung.

Nachdem diese Schritte erfolgt sind und die eigentliche empirische Forschung beginnt, ist es wichtig, sich immer wieder Fragen zu stellen. Dies kann beispielsweise bei der täglichen Reflexion im Forschungstagebuch geschehen. Diese Fragen können auch wieder in die verschiedenen Phasen der Forschung eingebettet werden (Cronin-Furman & Lake, 2018, S. 612). Denn ethische Fragen sind in allen Forschungsphasen von Bedeutung (Lunn, 2014, S. 1). Allerdings können zu bestimmten Zeitpunkten der Forschung jeweils verschiedene Fragen wichtig werden. Die folgenden Fragen wurden von mir mithilfe der bisher angestellten Überlegungen entwickelt und auf meine eigene Forschung angewendet. Diese Fragen bilden den Rahmen für die in der Arbeit bereits oft angesprochene Reflexion des oder der Forschenden.

Vor der teilnehmenden Beobachtung:

  • Welche Analysen müssen vor der Forschung durchgeführt werden?

  • Wie kann man die Forschung partizipativ gestalten und mit und nicht über Akteur*innen im Feld forschen?

  • Wer formuliert die Forschungsfrage, die Theorie der Arbeit und legt die Forschungsmethode fest?

In der Einstiegsphase:

  • Wie gut ist man als forschende Person mit dem Kontext vor Ort bereits vertraut?

  • Was sind Lösungsstrategien für mögliche Probleme?

  • Wie verortet man sich selbst im Feld?

  • Welche Rolle möchte man als forschende Person einnehmen?

In der Hauptphase:

  • Agiert man im Feld anders als außerhalb des Feldes?

  • Wer hatte den Forschungsprozess inne, die forschende Person oder die Menschen im Feld?

  • Würden alle Personen, mit denen im Feld agiert wurde, auch unter ethischen Gesichtspunkten so in meinem Heimatland in der Forschung behandelt werden?

  • Gab es Probleme dabei, das Forschungsvorhaben oder die eigene Rolle zu vermitteln und haben es alle Beteiligten verstanden?

  • Zu welchen Bedingungen wurden Personen vor Ort für die Forschung angestellt?

In der Abschlussphase:

  • Wie haben meine Anwesenheit und meine Forschung das Feld beeinflusst?

  • Inwieweit haben meine eigenen Gefühle oder Vorannahmen das Thema oder Personen im Feld beeinflusst?

  • Fand eine ausreichende Reflexion der eigenen Rolle im Feld und der eigenen wissenschaftlichen Herangehensweise statt?

In der Datenauswertung und Reflexion (nach der Forschung):

  • Was wurde wirklich beobachtet und was in Situationen hineininterpretiert?

  • Wem nutzt das erworbene Wissen, den Forschenden oder den Menschen im Feld?

  • Wer erhält Zugang zu den Forschungsergebnissen und wer erlangt durch die Ergebnisse Vorteile?

  • Sind die Beteiligten mit der Art und Weise einverstanden, wie über sie berichtet wird?

  • Wie wird die Sicherheit der Personen im Feld weiterhin garantiert?

  • Gibt es mögliche Versprechungen, die gemacht wurden, welche eingehalten werden müssen?

  • Soll Kontakt zu Personen im Feld gehalten werden oder nicht?

5.7 Reflexion des Forschungsansatzes

Die teilnehmende Beobachtung erfreut sich immer größerer Beliebtheit und steht vor einer regelrechten „Wiederbelebung“, insbesondere außerhalb der Ethnologie. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Methode weiterentwickelt hat und vermehrt unterschiedliche, in der Regel qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Quantitative Methoden stehen vor dem Problem, dass sie keine symbolischen Bedeutungen, also den tieferen Sinn von etwas erfassen können. Dies jedoch kann die teilnehmende Beobachtung leisten, da sie immer eine Interpretation des Sinnes miteinschließen muss (Spittler 2001, S. 10). Wie bereits beschrieben, ist teilnehmende Beobachtung nicht theorielos. Sie ist vielmehr problemzentriert und bleibt der Theorie gegenüber skeptisch. Und zwar in dem Sinne, dass sie bereit ist, diese zu revidieren und sich so ihren eigenen reduktionistischen Charakter stetig bewusst macht.

Die teilnehmende Beobachtung während der Feldforschung kann in der Friedens- und Konfliktforschung helfen, ein besseres Verständnis für bestimmte Fragestellungen zu entwickeln. Ethnografische Forschung erlaubt eine tiefere, reflektierte und sensiblere Diskussion von Themen (Richmond, 2018, S. 483). Wie erwähnt, ist die teilnehmende Beobachtung keine einfache, schnelle und kritikfreie Methode. Neben der oftmals langen Zeit im Feld bringt sie auch viel Vor- und Nachbereitungszeit mit sich. „[Participant Observation] involves great costs – physical, psychological and financial“ (Banerjee, 2005, S. 184). Dennoch ist der Mehrgewinn an Informationen den vermeintlichen Mehraufwand wert. Richtig angewendet kann teilnehmende Beobachtung den Alltag, die Handlungen und die Prozesse der Menschen, die im Fokus ihrer Untersuchungen stehen, verstehen und nachvollziehen. Es ist möglich, durch Teilhabe die Lebenswirklichkeit des sozialen Handelns und die (kulturellen) Bedeutungen zu analysieren und zu reflektieren. Denn der soziale Sinn von Handlungen konstruiert sich erst im Alltagshandeln und in jeder Gesellschaft gibt es Typisierungen, die erst im Alltag zum Vorschein kommen. Nur durch die teilnehmende Beobachtung ist es letztendlich möglich, beobachtete oder im Gespräch erfahrene Handlungen, Symbole und Geschehen von innen heraus zu verstehen, sie einem größeren Kontext zuzuordnen, die Prozesshaftigkeit zu erfassen und sie zu interpretieren.

„Die Zumutung an den Politikwissenschaftler als Beobachter, sich ständig in neuen, unbekannten Kontexten bewegen zu müssen und seinen Untersuchungsgegenstand nur episodisch, in unregelmäßigen Intervallen beobachten zu können, schärft das Verständnis für die Verlaufsformen politischer Prozesse“ (Schöne, 2005, S. 178).

Und nur, wenn die Friedens- und Konfliktforschenden sich dieser „Zumutung“ annehmen, wird es auf Dauer möglich sein, Prozesse von Krieg und Frieden in ihrer Komplexität von innen heraus zu verstehen und nicht Gefahr zu laufen, zu einer Lehnstuhlwissenschaft zu werden.

Genau das ist auch das Ziel dieser Forschung. Diese Forschung versteht sich als selbstreflektiert und geht auf die soziale Verantwortung ein, die für mich als Forschende mit den Machtbeziehungen im Feld einhergeht. Das Ziel dieser Arbeit ist es nicht, verallgemeinernde Aussagen darüber zu treffen, wie lokale und internationale Mitarbeitende des ZFD arbeiten. Sie will vielmehr auf bestimmte Strukturen hinweisen und diese auf theoretische Annahmen zurückführen. Somit liegt die Validität dieser Forschung nicht in der Generalisierung von Phänomenen. Sondern darin, zu bestehenden Debatten beizutragen, theoretische Diskussionen mit Beispielen zu unterfüttern und dadurch die Debatte voranzutreiben und aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dabei verstehe ich meine Forschung als Prozess, der mit theoretischer, methodischer und interkultureller Vorbereitung beginnt, einen Feldaufenthalt beinhaltet und schließlich in die Reflexion und Datenauswertung mündet. Da die Forschung im Feld verortet ist, wurde die Arbeit von Literatur und Theorie inspiriert, welche sich im Feld entfalten konnten. Besonders die Verortung in den Methoden half mir, mich während der Forschung in bestimmte Themen einzuordnen und die Leitfragen halfen mir, mich selbst auf bestimmte Themen zurückzubesinnen.

Abschließend wird zusammenfassend dargestellt, wie ich mit den zuvor aufgeworfenen ethischen Fragen umgegangen bin (Abbildung 5.2). Diese Fragen sind wie beschrieben durch die Reflexion meiner Forschung entstanden. Da Reflexion nicht nur als das bloße Bewusstsein von einem Thema verstanden wird, sondern davon ausgegangen wird, dass einer Reflexion auch immer eine Handlung im Forschungsprozess folgen muss, kann hier von einer Reflaction gesprochen werden. Der von mir aus – Reflection und Action – zusammengesetzte Begriff Reflaction fasst zusammen, dass in einer Forschung immer eine Reflexion der eigenen Handlungen, der eigenen Positionalität und des eigenen Einflusses auf das Feld (auch in Relation zu Machtdynamiken) stattfinden muss. Dass diese Reflexion jedoch nicht damit endet, diese Punkte zu benennen, sondern ihr Handlungen (Actions) folgen. Diese Reflaction wird nun am Beispiel der ethischen Forschungsfragen dargestellt.

Abbildung 5.2
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Übersicht zum Umgang mit ethischen Herausforderungen in der Forschung (Abbildung der Autorin)