Die Lebenserwartung in Deutschland ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte gestiegen. Im Jahr 2014 betrug der Anteil der Personen über 60 Jahre 27 % an der Gesamtbevölkerung. Schätzungsweise wird der Anteil im Jahr 2030 auf 35 % und im Jahr 2050 auf 38 % ansteigen (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2018). Damit wird auch der Anteil der Hochaltrigen, also der Personen über 85 Jahre und älter, zunehmen. Die Zahlen in Österreich und in der Schweiz sind ähnlich (Statistisches Bundesamt, 2016). Der Altersaufbau der Bevölkerung verändert sich. Es wird von einem demografischen Wandel gesprochen, der sich zum einen aus der steigenden Lebenserwartung sowie aus den niedrigen Geburtenraten ergibt. Ursachen für die steigende Lebenserwartung liegen in einer Erhöhung des Lebensstandards, der Verbesserung der hygienischen und medizinischen Bedingungen und in den Fortschritten der präventiven und kurativen Medizin. Zudem werden akute und zumeist tödliche Krankheiten besser diagnostiziert und therapiert und Infektionskrankheiten erfolgreicher bekämpft (Adam, 1998). Die Bevölkerung wird tendenziell älter und im Zuge dessen erfährt das höhere Lebensalter im Zusammenhang mit psychischem Wohlbefinden zunehmend Beachtung. Das Interesse am Thema „gesundes Altern“ und somit auch an der Psychotherapie im höheren Lebensalter ist gestiegen. Ein Zeichen dafür ist die wachsende Anzahl von Veröffentlichungen im Verlauf der letzten Jahre (Supprian & Hauke, 2017)

Wie jede Lebensphase geht auch der Prozess des Alterns mit Veränderungen einher. Verschiedene empirische Studien konnten zeigen, dass es Menschen im höheren Lebensalter in der Regel gut gelingt, sich an die veränderten Gegebenheiten anzupassen (Carstensen, Pasupathi, Mayr & Nesselroade, 2000). Einem Großteil gelingt es durch Kompensation und Anpassung, die eigenen Fähigkeiten und Potentiale weiterhin zu nutzen und damit einen stabilen Zustand psychischen Wohlbefindens aufrechtzuerhalten (Kessler & Staudinger, 2009; Kunzmann, Little & Smith, 2000; Mroczek & Kolarz, 1998). Bestimmte Veränderungen, die mit dem Alterungsprozess einhergehen, werden allerdings als Belastung erlebt. Als besonders belastend werden gesundheitliche Probleme, psychosozialer Stress durch Verlusterlebnisse, kognitive und motorische Einschränkungen und psychische Erkrankungen wie Depressionen erlebt (Baltes, 1997).

Depressionen gehören neben der Demenz zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Erwachsenenalter (Blazer, 2003). Sie haben Einfluss auf das Wohlbefinden, die Lebensfreude, sie verringern die Eigenständigkeit der Betroffenen und sind Hauptrisikofaktor für Suizide (Juurlink, Herrmann, Szalai, Kopp & Redelmeier, 2004; Waern et al., 2002). Depressive Störungen stellen ein gutes Beispiel dafür dar, dass belastende Emotionen, wie Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit, Hauptsymptome einer depressiven Episode, von den Betroffenen nicht wirksam reguliert und beeinflusst werden können. Die Art und Weise wie Emotionen während einer depressiven Episode reguliert werden, scheint in Anbetracht der Symptomatik problematisch zu sein. Probleme entstehen beispielsweise dann, wenn Niedergeschlagenheit an mehr als der Hälfte des Tages erlebt wird und über eine gewisse Dauer bestehen bleibt, was ein Diagnosekriterium einer depressiven Episode darstellt. Das aktive Gegensteuern gegen die belastende Emotion misslingt, was mit Antriebslosigkeit und sozialem Rückzug verbunden sein kann. Eine depressive Episode geht somit mit massiven Problemen auf individueller, sozialer oder beruflicher Ebene einher. Bereits zu Beginn der Störung scheint die Fähigkeit zur aktiven Regulation und Veränderung der depressiven Stimmung stark beeinträchtigt zu sein. Offenbar handelt es sich bei der Depression um eine Störung, bei der belastende emotionale Zustände nicht aktiv und wirksam reguliert werden können. Zur Untersuchung dieser Annahme bei älteren Erwachsenen werden im Folgenden zunächst Begriffsdefinitionen zum Alter und Altern (siehe Abschnitt 3.1) gegeben und das Störungsbild der Depression im höheren Lebensalter vorgestellt (siehe Abschnitt 3.2). Die Konstrukte Emotionen und Emotionsregulation werden definiert und aktuelle Befunde zum Zusammenhang von Emotionsregulation und Depression in den verschiedenen Altersgruppen vorgestellt (siehe Abschnitt 3.3).

3.1 Alter und Altern

Der Begriff Alter stellt einen Lebensabschnitt dar und beschreibt das Resultat des Altwerdens. Das Altern wiederum kann als Prozess verstanden werden, bei dem sich Menschen über die Lebensspanne hinweg individuell verändern. Dabei stehen Prozesse und Mechanismen im Vordergrund, die zum Alter führen und die das Altwerden bedingen (Baltes & Baltes, 1994). Das Alter und der Prozess des Alterns sind Bestandteil verschiedener Fachdisziplinen. Neben der Psychologie, der Soziologie und der Medizin beschäftigen sich auch die Pflege-, Gesundheits- und Politikwissenschaften mit den Prozessen des Alterns.

Ein Wegbereiter für die Untersuchung von Alter und Alterungsprozessen stellt die Gerontologie (Altersforschung) dar. Dabei handelt es sich um ein eigenständiges und inhaltlich klar abgegrenztes Fachgebiet. Die Gerontologie beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns. Im Fokus stehen dabei Menschen ab 60 Jahre und älter (Martin & Kliegel, 2014).

In den letzten Jahren wurde dieses Fachgebiet mit deutlich mehr Aufmerksamkeit betrachtet. Zum einen hat dies mit der Erhöhung der Lebenserwartung im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu tun, aber auch mit theoretischen und methodischen Fortschritten in der Soziologie, Sozialmedizin und Entwicklungspsychologie (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2018).

Gerontopsychologie und -psychotherapie sind Teile der Gerontologie, die sich mit der Beschreibung und Erklärung von verändernden Strukturen und Prozessen über die gesamte Lebensspanne befassen. Sie beschäftigen sich mit der Verarbeitung und Bewältigung der mit dem Älterwerden assoziierten Einschränkungen und Defizite. Die Erforschung des Entwicklungsprozesses erfolgt mit praktischem Bezug und fokussiert Prävention und Intervention. Damit bilden diese medizinisch-psychologischen Fachrichtungen die Grundlage für die praktisch-psychologische und psychotherapeutische Arbeit (Wahl, Diehl, Kruse, Lang & Martin, 2008).

Einer der wichtigsten Bereiche der Gerontopsychologie ist die Betrachtung der unterschiedlichen und interindividuellen Verläufe des Alterns. Es wird davon ausgegangen, dass die Gruppe der über 60-jährigen Menschen nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen und somit starr und unflexibel ist. Stattdessen besteht die Annahme, dass über die gesamte Lebensspanne hinweg und somit bis ins hohe Alter Anpassung und Veränderung möglich sind. Personen sind auch im hohen Alter in der Lage, sich in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zielgerichtet und ressourcenorientiert zu verändern und bestimmte Verhaltens- und Sichtweisen zu optimieren oder ggf. zu modifizieren (Martin & Kliegel, 2014).

3.1.1 Alter – Begriffsdefinition und Ansätze zur Abgrenzung von Altersklassen

Die Definition des Begriffs Alter ist weniger eindeutig als häufig angenommen wird. Wann gilt eine Person als alt? Wann beginnt der Lebensabschnitt, in dem Menschen sich als alt bezeichnen und spielen subjektive Vorstellungen vom Alter eine Rolle? Angesichts dieser Fragen wird die Festlegung von starren Altersgrenzen erschwert. Zudem stellt sich die Frage, ob eine exakte Festlegung angesichts der hohen Variabilität und Individualität unserer Gesellschaft heute überhaupt noch zeitgemäß und sinnvoll ist. Im Folgenden werden daher verschiedene Definitionsansätze vorgestellt.

In der Biologie wird Alter als die Abnahme der Anpassungsfähigkeit von Organismen definiert. Dabei werden die verschiedenen Entwicklungsstadien des Organismus zwischen der Geburt und dem Tod unterschieden (Kohli, 2013). Das Alter und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen beginnen mit der Geschlechtsreife und sind durch einen fortschreitenden körperlichen Abbau gekennzeichnet (Austad, 2001). Damit stehen bei der biologischen Definition körperliche, biophysische und biochemische Veränderungen im Vordergrund. Problematisch an dieser Definition ist, dass trotz der Universalität des Alterns Individuen biologisch unterschiedlich schnell altern. Die Unterschiede sind zum einen geschlechterspezifisch; so unterscheidet sich z. B. der Abbau der Muskelkraft bei Frauen und Männern deutlich voneinander. Zum anderen gibt es gravierende Unterschiede auch innerhalb der Geschlechter (Faltermaier, Mayring, Saup & Strehmel, 2014).

Ein weitaus größeres Problem des biologischen Definitionsansatzes liegt allerdings in einer für den psychologischen Kontext eher eindimensionalen Betrachtungsweise und der Defizitorientierung. Es wird in diesem Ansatz die Grundannahme vertreten, dass es im Alter durch den Abbau der physischen Funktionsfähigkeit auch zu einem Abbau von entwicklungsregulatorisch relevanten Ressourcen kommt (Lehr, 2007). Nach diesem Ansatz entsteht mit dem Alter eine immer größer werdende Kluft zwischen den schwindenden Ressourcen einer Person und ihren individuellen Zielen. Der stetige Abbau von kompensatorischen Ressourcen, die Personen zur Zielerreichung einsetzen, führt in der Folge zu einer Verringerung der Lebensqualität (Martin & Kliegel, 2014).

In der Soziologie wird das Alter in einen sozialen, gesellschaftlichen und historischen Kontext eingebettet. Die mit dem Alter verbundenen Prozesse werden z. B. von der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder sozialpolitischen Situation maßgeblich beeinflusst. Die einzelnen Phasen des Alters werden in Form von Lebensabschnitten betrachtet. Die geläufigste Einteilung wird anhand der Phasen des Berufslebens vorgenommen: Es wird unterschieden zwischen der Bildungsphase, der Erwerbstätigkeits- und Familienphase und dem Ruhestand. Die Bildungsphase findet meist in Kindheit und Jugend statt, die Erwerbstätigkeits- und Familienphase im Erwachsenenalter und der Ruhestand wird dem Alter zugeordnet (Wurm, Wiest & Tesch-Römer, 2010). Die einzelnen Phasen werden durch bestimmte Lebensereignisse oder Statuspassagen markiert bzw. eingeleitet. So wird z. B. die Phase des Ruhestands mit dem Übertritt von der Erwerbstätigkeit in die Rente eingeleitet (Scherger, 2007).

Wichtige Übergänge oder Ereignisse im Lebenslauf als Altersgrenzen zu betrachten, kann aufgrund einer hohen gesellschaftlichen Variabilität allerdings problematisch sein. Dies zeigt sich am Beispiel des Übertritts in den Ruhestand. Trotz gesetzlicher Regelungen ist das Alter, in dem Personen in den Ruhestand eintreten, individuell sehr verschieden. Konzepte wie Altersteilzeit oder andere Modelle zur Arbeitszeitverkürzung vor der Rente machen einen individuellen Eintritt in den Ruhestand möglich, erschweren dadurch aber die Definition einer eindeutigen Altersangabe bei Übertritt in den Ruhestand. Es besteht seit einigen Jahren ein Trend frühzeitig, also noch vor dem 67. Lebensjahr, in den Ruhestand einzutreten. Dadurch sind heute weniger als 50 % der 55–64-jährigen Deutschen erwerbstätig (Brussig & Wojtkowski, 2008). Ein weiteres definitorisches Problem liegt darin, dass die subjektive Vorstellung vom Alter nicht mehr mit dem Eintritt in die Rente beginnt. Ein Großteil der Menschen im Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand bezeichnet sich heute nicht mehr als klassischerweise „alt“ (Kohli, 2013). Das Alter bzw. die Vorstellung alt zu sein, beginnt somit nicht mehr zwangsläufig mit dem Eintritt in die Rente.

Aufgrund dieser gesellschaftlichen Veränderungen und der gestiegenen Lebenserwartung ist eine exakte Altersangabe zum Beginn der Phase des Alters, die durch den Beginn des Ruhestandes gekennzeichnet werden soll, nicht mehr möglich. Zudem konnte gezeigt werden, dass der Eintritt in den Ruhestand bereits vor dem eigentlichen Tag der Verrentung beginnt. Personen entwickeln individuelle Vorstellungen und Erwartungen vom Ruhestand, die zu unterschiedlichen emotionalen Reaktionen wie Freude, Angst oder Skepsis führen (Atchley, 1989).

In der gängigsten Definition wird der Lebensabschnitt Alter meist als kalendarisches oder chronologisches Alter erfasst. Das kalendarisches Alter entspricht der Anzahl der Lebensjahre bzw. dem Zeitraum zwischen dem Geburtsdatum und dem heutigen Datum (Martin & Kliegel, 2014). Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden die einzelnen kalendarischen oder chronologischen Lebensspannen des Alters wie folgt definiert:

  • 51 bis 60 Jahre: alternde Menschen

  • 61 bis 75 Jahre: ältere Menschen

  • 76 bis 90 Jahre: alte Menschen

  • 91 bis 100 Jahre: sehr alte Menschen

  • > 100 Jahre: Langlebige

Da zwischen Personen gleichen Alters aber häufig große Unterschiede in den verschiedenen Funktionsbereichen bestehen, wird der Begriff des Alters mittlerweile nicht mehr als eindimensional bzw. als einheitliche Zeitspanne verstanden. Das chronologische Alter wird durch das Konzept des funktionalen Alters erweitert. Dieses Konzept ermöglicht es, die sozialen, psychischen und körperlichen Unterschiede zwischen gleichaltrigen Menschen zu berücksichtigen. Nach dem Konzept des funktionalen Alters werden das biologische, das subjektive, das psychologische und das soziale Alter unterschieden.

Das biologische Alter ergibt sich aus dem Vergleich zu Gleichaltrigen im Hinblick auf die körperliche Konstitution. Parameter wie Stoffwechsel, Nährstoffversorgung, Gewicht und Energieverbrauch spielen bei der Beurteilung eine Rolle. Das subjektive Altersempfinden wird von Vergangenheits- („Was habe ich geleistet?“), Gegenwarts- („Bin ich privat, beruflich und finanziell zufrieden?“) und Zukunftsaspekten („Welche Ziele und Wünsche habe ich noch?“) beeinflusst. Großen Einfluss auf das psychologische Alter haben die Lebensführung und die erworbene Bildung in der Jugend und im Erwachsenenalter. Die erworbene Bildung hilft bei Anpassungsprozessen im höheren Alter, z. B. beim Finden neuer Aufgaben und Strukturen nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Motivation und Interesse am lebenslangen Lernen wirken sich deutlich positiv auf das psychologische Alter aus. Das soziale Alter wird durch die bestehende Gesellschaftsstruktur bedingt: Wie wird das eigene Alter im Vergleich zur Gesellschaft, zum sozialen Umfeld oder zu den Mitmenschen gesehen? Zudem wird das soziale Alter von der Funktion und dem Umfang der sozialen Beziehungen bestimmt. Regelmäßiger Kontakt zu Freund:innen und Bekannten hat – je nachdem, ob er im Verlauf des Lebens als bereichernd erlebt wurde – einen positiven Einfluss auf das soziale Alter (Engeln, 2003).

Das Konzept des funktionalen Alterns erlaubt es, die Prozesse des Alterns und die individuellen Auswirkungen auf die jeweiligen Funktionsbereiche personenspezifisch zu betrachten. Zwei Personen mit dem gleichen kalendarischen Alter können sich bezüglich ihrer Funktionalität deutlich unterscheiden. Sogar auf intraindividueller Ebene kann es zu Unterschieden im psychologischen und biologischen Alter kommen, da der Alterungsprozess bei verschiedenen Organen oder Organsystemen ungleichmäßig ablaufen kann (Perrig-Chiello, Stähelin & Perrig, 1999).

Die gerontologischen Wissenschaften beschäftigen sich mit dem Lebensabschnitt ab 60 Jahren. Die Spanne zwischen dem höheren Erwachsenenalter (ab 60 Jahre) und dem extremen Alter (> 100 Jahre) ist allerdings sehr hoch. Da innerhalb dieser Zeitspanne weitreichende Veränderungen stattfinden, ist es sinnvoll, weitere Abgrenzungen vorzunehmen. Aus forschungspragmatischen Gründen hat sich in den letzten Jahren die folgende Einteilung etabliert: Es wird unterschieden zwischen den jungen Alten, die sich im dritten Lebensalter bzw. im höheren Erwachsenenalter (ab 60 Jahre) befinden und den Hochaltrigen, im vierten Lebensalter bzw. im hohen Erwachsenenalter (ab 80 Jahre; Baltes, 2003; Wahl & Rott, 2002). Aufgrund der steigenden Lebenserwartung kann davon ausgegangen werden, dass in der Zukunft weitere Einteilungen vorgenommen werden. Zusätzlich zum dritten und vierten Lebensalter ist vorstellbar, dass diese Kategorisierung um ein fünftes Lebensalter, die sehr Alten oder Hochbetagten, erweitert wird. Die Probleme, das Alter klar zu definieren und Altersphasen exakt zu bestimmen, werden damit nicht gelöst. Zumindest aber wird dadurch der Fokus auf die Vielfalt und Heterogenität des Alters und die Individualität von Altersverläufen gelegt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass allgemeingültige Aussagen zum Begriff des Alters und eine exakte Definition der Altersphasen mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden sind. Der Prozess des Alterns wird von Person zu Person sehr unterschiedlich wahrgenommen und verläuft individuell. Das Alter stellt eine vielseitige und heterogene Phase im Lebensverlauf dar und wird u. a. beeinflusst von intraindividuellen Fähigkeiten und Ressourcen, der allgemeinen körperlichen Konstitution, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Einflüssen sowie von individuellen Lebensbedingungen und -situationen (Martin & Kliegel, 2014). Aufgrund dessen wird in dieser Arbeit davon abgesehen, chronologische oder kalendarische Faktoren bezüglich des Alters als Ein- oder Ausschlusskriterien zu definieren.

In dieser Arbeit liegt der Fokus auf dem höheren Erwachsenenalter. Dies entspricht in etwa einer Altersspanne von 55 bis 85 Jahren. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Darstellung der in dieser Altersphase stattfindenden Entwicklungsaufgaben und –prozesse. Dadurch sollen relevante Faktoren, die Gesundheit, Krankheit und Wohlbefinden im höheren Erwachsenenalter betreffen, genauer beschrieben werden.

3.1.2 Altern – Ein Prozess über die Lebensspanne

Altern kann als lebenslanger Entwicklungsprozess verstanden werden, in dem Menschen jeweils aktuelle Aufgaben und Herausforderungen bewältigen. Diese Entwicklungsaufgaben entstehen im gesamten Lebensverlauf und es ist eine fortwährende Anpassung an Veränderungen notwendig. Dieser Ansatz ist die Grundlage für die Theorie der Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1948) und für das Konzept der Lebensspannenpsychologie (Baltes & Baltes, 1990; Thomae, 1979). Beide werden im Folgenden beschrieben.

Ein Ansatz zur Theorie von Entwicklungsaufgaben wurde von Robert J. Havighurst (1948) vorgelegt. Havighurst (1948, 1972) definiert eine Entwicklungsaufgabe als

Eine Aufgabe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer Phase im Leben eines Individuums auftritt, deren erfolgreiche Bewältigung zur Zufriedenheit und zu Erfolg mit späteren Aufgaben führt, während Misserfolg in der Unzufriedenheit des Individuums, der Missbilligung der Gesellschaft und Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben resultiert. (S.2)

Nach der Theorie von Havighurst (1948, 1972) wird der Lebenslauf eines Individuums als eine Folge von Herausforderungen dargestellt, die als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden. Jeder Lebensphase werden spezifische Entwicklungsaufgaben zugeordnet, deren Bewältigung Entwicklung bedeutet. Zu diesen Entwicklungsaufgaben gehören z. B. die Kontrolle von Ausscheidungen, Trennung von wichtigen Bezugspersonen, Einschulung, Ablösung vom Elternhaus, Berufswahl, Familiengründung, berufliche Karriere, Ruhestand, Anpassung an abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit und Auseinandersetzung mit Verlust und Tod. Entwicklungsaufgaben werden im Allgemeinen von biologischen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Faktoren beeinflusst. So haben z. B. sozialpolitische Einflussfaktoren, wie die Höhe des Elterngeldes oder die Festlegung des Einschulungsalters, einen entscheidenden Einfluss auf die gegenwärtige Ausgestaltung einer Entwicklungsaufgabe. Zu den Entwicklungsaufgaben, die eher dem höheren Erwachsenenalter zugeordnet werden, gehört beispielsweise die Anpassung an den beruflichen Ruhestand. Diese Entwicklungsaufgabe kann durch die folgenden Faktoren beeinflusst werden:

  1. 1.

    Biologische Faktoren, wie kognitive und körperliche Gesundheit

  2. 2.

    Soziale Faktoren, wie Berufstätigkeit des Partners oder der Partnerin

  3. 3.

    Psychologische Faktoren, wie Selbstwirksamkeitserwartungen oder Intelligenz

  4. 4.

    Gesellschaftliche Faktoren, wie gesetzliches Rentenalter und Höhe der Renten

  5. 5.

    Gesellschaftliche Faktoren, wie Ansehen von Rentenstatus

Nach Havighurst (1948, 1972) ergeben sich durch Entwicklungsaufgaben spezifische Entwicklungsziele. Bestimmte Entwicklungsaufgaben sind plan- und vorhersehbar, wie z. B. die Einschulung, Pubertät, Heirat oder der Ruhestand. Eine Vorbereitung auf diese Entwicklungsaufgabe ist somit möglich und Entwicklungsziele sind klar definierbar. Allerdings sind nicht alle Entwicklungsaufgaben planbar, wie beispielweise der Umgang mit einer schweren Erkrankung. Des Weiteren werden bestimmte Entwicklungsaufgaben und ihre Relevanz interindividuell unterschiedlich bewertet, woraus sich verschiedene, individuelle Entwicklungsziele ergeben.

Entwicklungsziele, die nach Havighurst (1948, 1972) eher im höheren Erwachsenenalter verfolgt werden, sind sogenannte Anpassungsziele. Dazu gehören beispielsweise die Anpassung an die sich verringernde körperliche und geistige Leistungsfähigkeit und Prozesse der Auseinandersetzung und Akzeptanz mit Verlust und Tod nahestehender Bezugspersonen sowie mit dem eigenen Tod. Eine weitere wichtige Rolle spielen auch individuelle und gesellschaftliche Erwartungen darüber, welche Entwicklungsschritte in welchem Alter angemessen und vorzunehmen sind. Historisch und gesellschaftlich verändern sich diese Vorstellungen (Martin & Kliegel, 2014). Ein Beispiel dafür ist der seit einigen Jahren zu beobachtende Trend, vor dem eigentlichen gesetzlichen Rentenalter in den Ruhestand einzutreten. Während dieses Vorgehen vor etwa 50 Jahren ungewöhnlich war, sind heute lediglich 50 % der Deutschen zwischen 55 und 64 Jahren erwerbstätig. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der frühe Eintritt in den Ruhestand mittlerweile ein gesellschaftlich adäquater und akzeptierter Entwicklungsschritt ist (Brussig & Wojtkowski, 2008).

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1948, 1972) zeigt, dass menschliche Entwicklung zum einen durch unterschiedliche Faktoren, wie individuelle Fähigkeiten und Ressourcen, das soziale Netzwerk sowie Kultur und Gesellschaft beeinflusst wird. Zum anderen zeigt es, ganz im Sinne moderner Konzeptionen, dass Menschen ihre Entwicklung aktiv beeinflussen, indem sie sich Ziele setzen und diese verfolgen. Dazu nutzen sie persönliche Ressourcen oder wählen bestimmte soziale Settings.

Der Grundsatz, dass sich Menschen vom Tage der Empfängnis bis hin zum Tod verändern, wird auch von einem anderen entwicklungspsychologischen Konzept aufgegriffen: dem Konzept der Lebensspannenpsychologie. Dieses Konzept wurde besonders von Paul B. Baltes und seiner Frau Margret M. Baltes (Baltes & Baltes, 1990) sowie von Hans Thomae (Thomae, 1979) geprägt. Der Grundgedanke dieses Konzeptes ist, dass sich Menschen über die gesamte Lebensspanne entwickeln und dass dieser Entwicklungsprozess zu jeder Zeit entweder von Veränderungen oder Stabilität geprägt ist. Das Konzept der Lebensspanne hebt sich von älteren Theorien dadurch ab, dass die Entwicklung nicht mit der Adoleszenz endet, sondern bis ins hohe Alter verläuft (Montada, Lindenberger & Schneider, 2008). Das Konzept der lebenslangen Entwicklung wurde zu Beginn stark kritisiert. Es wurde diskutiert, ob die Qualität der Veränderung im Kindes- und Jugendalter mit denen im Alter überhaupt vergleichbar ist. Zudem wurde kritisiert, dass biologische Wachstumsprozesse maßgeblich an der Entwicklung beteiligt, diese aber im mittleren oder höheren Erwachsenenalter größtenteils abgeschlossen sind (Flavell, 1970). Das Konzept der Lebensspannenpsychologie ist heute Grundlage und fester Bestandteil gerontopsychologischer Entwicklungsforschung. Es konnte gezeigt werden, dass sich Veränderungen im Alter zwar quantitativ reduzieren, dass die vorhandenen Veränderungen aber eine intraindividuell stärkere Bedeutung erlangen (Thomae, 1990). Zudem konnte gezeigt werden, dass Veränderungen oder Herausforderungen im Alter nicht automatisch gleichzusetzen sind mit stetigem Abbau, sondern dass auch Wachstumsprozesse eine Rolle spielen (Rohr & Lang, 2012).

Ohne Zweifel überwiegen mit fortschreitendem Alter Verluste auf neurobiologischer Ebene (Sinnesfunktionen, Mobilität, Motorik, Reproduktionsfähigkeit, Muskelkraft) und häufig auch auf sozialer Ebene (Partnerschaft, nahe Angehörige, gesellschaftliche Aufgaben). Allerdings stehen diesen Verlusten Wachstumsmöglichkeiten gegenüber, beispielsweise bezüglich des Expertenwissens (Ericsson, 1985; Weiner, Schneider & Knopf, 1988), der Lebensweisheit und -erfahrung (Baltes & Smith, 1990) und der emotionalen Kompetenz (Scheibe & Carstensen, 2010).

Beim Umgang mit Verlusten und beim Wachstum spielen kognitive Bewertungsprozesse eine entscheidende Rolle. Bewertungen und die daraus resultierenden motivationalen Veränderungen und Handlungen haben Einfluss auf die Bewältigung der veränderten Lebenssituation. Der Prozess des Alterns wird daher sehr unterschiedlich erlebt und Alterungsprozesse laufen individuell ab (Baltes, 1997). Personen im höheren Erwachsenenalter nehmen demnach nicht automatisch eine passive Rolle ein, sondern können auf die Gestaltung des persönlichen Alterungsprozesses aktiv Einfluss nehmen. Dabei orientieren sie sich an individuellen Zielen und Bedürfnissen (Rohr & Lang, 2012).

Die Theorie der Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1948/1972) sowie das Konzept der Lebensspannenpsychologie (Baltes & Baltes, 1990; Thomae, 1979) zeigen, dass Menschen in jeder Lebensphase spezifischen Veränderungen und Herausforderungen gegenüberstehen. Über den gesamten Lebensverlauf findet Entwicklung statt und kontinuierliche Anpassungsprozesse sind bis ins hohe Alter notwendig und möglich. Weiterhin zeigen diese Konzepte, dass in jeder Altersphase alterstypische Anforderungen vorliegen und dass diese mit altersspezifischen Ressourcen bewältigt werden können. Die vorliegenden Ressourcen sind im Alter sehr individuell. Damit individuelle Bedürfnisse weiterhin befriedigt werden, werden Ressourcen überwiegend zur Kompensation von Verlusten eingesetzt. Der Einsatz und die Nutzung von Ressourcen sind allerdings bis ins hohe Alter trainierbar. Zwar verringert sich das Trainingspotential mit fortschreitendem Alter, aber dennoch sind ressourcenorientierte Entwicklungsveränderungen zur Bewältigung alterstypischer Herausforderungen grundsätzlich erlernbar (Rohr & Lang, 2012).

Abschließend kann festgehalten werden, dass der Prozess des Alterns von Verlusten geprägt ist. Allerdings stehen diesen Verlusten auch Gewinne gegenüber. Überwiegen die Gewinne die Verluste, ist der Erwerb neuer Ressourcen bis ins hohe Alter möglich. Der Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit stehen beispielsweise Zuwächse in intellektuellen, motivationalen oder interpersonellen Fähigkeiten gegenüber, die die körperlichen Einschränkungen ausgleichen oder diesen entgegenwirken. Der Erwerb von Ressourcen führt demnach zu entsprechenden Verhaltensweisen, die zur Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben eingesetzt werden. Altern stellt einen Balanceakt zwischen Verlusten und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Teilhabe am sozialen Leben dar. Die gerontopsychologischen Wissenschaften verfolgen einen kompensatorischen Ansatz, nach dem Menschen auch im hohen Alter fähig sind, Entwicklungsaufgaben ressourcen- und bedürfnisorientiert zu begegnen. Konzepte und Theorien, die erklären, wie Entwicklungsaufgaben speziell im Alter bewältigt werden, werden im nächsten Kapitel vorgestellt. In diesem Zusammenhang wird außerdem die Rolle emotionsregulativer Prozesse erläutert.

3.1.3 Konzepte und Theorien des (emotionalen) Alterns

Die im Alter stattfindende Entwicklung im Allgemeinen und die damit verbundenen emotionsregulativen Prozesse im Speziellen stehen erst seit einigen Jahren im Fokus der Wissenschaft. Wissenschaftler:innen wie Adelman (1994), Cumming und Henry (1961), Atchley (1989), Baltes und Baltes (1989) oder Carstensen (1992) untersuch(t)en, wie sich individuelles Verhalten auf die Bewältigung von alterstypischen Entwicklungsaufgaben auswirkt und welche Rolle psychisches Wohlbefinden dabei spielt. Aus dieser Forschung gingen zum einen Ansätze hervor, die entwicklungsregulatorische Prozesse betrachten und zum anderen Ansätze, die Prozesse der Emotionsregulation in die Entwicklung integrieren und diese als relevanten Faktor identifizieren, der im Zusammenhang mit psychischem Wohlbefinden steht.

Im Folgenden werden zunächst Theorien vorgestellt, die dem Konzept der Lebensspannenpsychologie zugeordnet werden und Entwicklungsprozesse im Alter erklären. Zu diesen Theorien gehören die Aktivitätstheorie (z. B. Adelman, 1994; Tartler, 1961), die Disengagementtheorie (Cumming & Henry, 1961) und die Kontinuitätstheorie (Achtley, 1989). Zudem wird das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell; Baltes & Baltes, 1989) vorgestellt, das an die vorhergehenden Theorien anknüpft und praktische sowie interventive Implikationen bietet. Im nächsten Schritt wird die sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen, Isaacowitz & Charles, 1999) dargestellt, die den emotionalen Alterstheorien zugeordnet werden kann. Diese Theorie stellt emotionsregulative Prozesse in den Mittelpunkt und beschreibt Zusammenhänge zwischen Entwicklungsprozessen, Emotionsregulation und psychischem Wohlbefinden.

Vertreter der Aktivitätstheorie wie Adelman (1994) oder Tartler (1961) gehen davon aus, dass im Alter ein positiver Zusammenhang zwischen psychischem Wohlbefinden und einem hohen sozialen Aktivitätsniveau besteht. Die Grundannahme dieser Theorie ist, dass Menschen, die im Alter aktiv sind und ein hohes Maß an sozialer Interaktion haben, eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, die so lange wie möglich an sozialen Aktivitäten und sozialer Interaktion teilnehmen, altersbedingte Verluste, z. B. durch den Wegfall der beruflichen Tätigkeit, kompensieren und damit alte Gewohnheiten aufrechterhalten (Havighurst, Neugarten & Tobin, 1964). Empirisch konnten Longino und Kart (1982) zeigen, dass bei Menschen im höheren Lebensalter aus verschiedenen Bevölkerungsschichten soziale Aktivitäten (z. B. Freunde treffen oder Unternehmungen in Gruppen) mit Lebenszufriedenheit positiv korrelierten. Unternehmungen, die alleine im heimischen Umfeld durchgeführt wurden, korrelierten vergleichsweise nur schwach mit Lebenszufriedenheit.

Diese Form der aktiven Teilhabe, wie sie im Alter angestrebt werden soll, entspricht allerdings dem Ideal des mittleren Erwachsenenalters und dem Gedanken einer Leistungsgesellschaft. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass soziale Interaktionen für jeden Menschen gleichsam eine hohe Relevanz und Notwendigkeit haben. Das Bedürfnis nach sozialer Interaktion wird generalisiert und für die Gesamtheit der älteren Menschen angenommen. Weiterhin sind soziale Interaktion und soziale Aktivitäten nicht durchgängig möglich und auch nicht in jeder Situation gewünscht, wie beispielsweise beim bewussten sozialen Rückzug unmittelbar nach dem Tod des Partners oder der Partnerin oder einer nahestehenden Bezugsperson (Backes & Clemens, 2008).

Ein komplementärer Ansatz zur Aktivitätstheorie ist die Disengagementtheorie von Cumming und Henry (1961). Nach diesem Ansatz kommt es mit Fortschreiten des Alters zu einem selbstbestimmten Rückzug (disengagement) aus sozialen Kontakten und Verpflichtungen. Dieser Rückzug wird von der Person in eigener Initiative angestrebt und von der Gesellschaft erwünscht, sogar gefordert. Der Rückzug ist damit nicht Ausdruck von Desinteresse, sondern das Ergebnis der abnehmenden Lebenskräfte. Dadurch entsteht der Wunsch, auch ohne aktive Teilhabe ein Teil der Gesellschaft zu sein (Hirsch, 1996). Vom Rückzug aus der sozialen Rolle hängen auch die Zufriedenheit und das Wohlbefinden ab, da sich durch den Rückzug ein neues Gleichgewicht zwischen der Person und ihrer Umwelt einstellt. Zum einen dient er der Auseinandersetzung mit Themen wie Verlust und Endlichkeit, zum anderen kann er als ein Prozess der Akzeptanz, bezogen auf den Prozess des Alterns, interpretiert werden. Aufgrund der sich entwickelnden Akzeptanz gegenüber den altersbedingten Veränderungen entstehen Zufriedenheit und Wohlbefinden. Der Disengagementansatz konnte bisher empirisch nicht bestätigt werden (Faltermaier et al., 2014). Kritik erfährt dieser Ansatz durch den Einwand, dass aus einem Rückzug nicht unbedingt auf den dahinterstehenden Wunsch geschlossen werden kann und dass der Rückzug möglicherweise auch andere Gründe haben kann (z. B. geringe finanzielle Mittel, negatives öffentliches Selbstbild aufgrund des Alters). Zudem wird die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft nicht ausreichend berücksichtigt. Der interaktionelle Prozess zwischen dem alternden Menschen und seinem sozialen Umfeld wird als nicht mehr relevant betrachtet, da er entgegen der Aktivitätstheorie keine Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben soll (Lehr, 2007).

Aktivitäts- sowie Disengagementtheorie beschreiben den Entwicklungsprozess, von dem psychisches Wohlbefinden und Zufriedenheit im Alter abhängen, sehr unterschiedlich. Dabei berücksichtigen beide Ansätze die Heterogenität zwischen einzelnen Personen und die sich daraus ergebenden individuellen Bedürfnisse und Ziele nicht ausreichend. Aufgrund prototypischer Annahmen werden Überlegungen generalisiert und für den Entwicklungsprozess älterer Menschen verallgemeinert. Beide Ansätze gehören jedoch zu den ersten gerontologischen Ansätzen, die nicht von einem reinen Defizitmodell des Alterns ausgehen. Sie erklären altersspezifische Entwicklungsprozesse unter Einbezug von Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Weiterführende Überlegungen zu diesen Ansätzen zeigen, dass der Prozess des erfolgreichen Alterns offensichtlich ein sehr individueller Prozess ist. Sozialer Rückzug wie auch die Erhöhung des sozialen Aktivitätsniveaus werden von älteren Menschen eigenständig angestrebt und haben Auswirkungen auf psychisches Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit (Backes & Clemens, 2008). Auf der Basis unterschiedlicher Grundannahmen liefern beide Ansätze Erkenntnisse darüber, wie Anpassungsprozesse im Verlauf des Alterns gelingen.

Als vermittelnder Ansatz zwischen diesen beiden Modellen gilt die Kontinuitätstheorie von Achtley (1989). Diese Theorie berücksichtigt die Individualität von Menschen und die Heterogenität von Lebensverläufen. Der Grundgedanke ist, dass der Prozess einer gelungenen Anpassung nicht standardisiert oder normiert ist und nicht bei jedem Menschen identisch abläuft. Stabilität und Kontinuität im Entwicklungsprozess stehen im Vordergrund. Das bedeutet, dass beim Prozess des Alterns ein Vergleich mit Entwicklungsprozessen im gesamten Lebensverlauf vorgenommen wird. Profitierten Personen im Verlauf ihres Lebens von einem hohen Aktivitätsniveau, sind sie bestrebt, dieses Niveau auch im Alter aufrechtzuerhalten. Wird diese Kontinuität trotz alterstypischer Veränderungen aufrechterhalten, steigern bzw. stabilisieren sich das psychische Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit. Die relevanten Faktoren sind hierbei die erlebte Authentizität und Selbstkonsistenz. Dies bezieht sich zum einen auf die innere Konsistenz (Stabilität in Persönlichkeitseigenschaften oder persönlichen Vorstellungen) und zum anderen auf die äußere Konsistenz (Stabilität in Abläufen und Strukturen).

Wird Kontinuität bewusst angestrebt und als sinnhaft erlebt, wirkt sich dies positiv auf das psychische Wohlbefinden aus. Kommt es zu Diskontinuität, falls diese nicht erwünscht ist, wird sich das mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf das psychische Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit auswirken. Diskontinuität kann sich z. B. durch körperliche oder kognitive Funktionseinschränkungen wie Mobilitätseinbußen oder eine verringerte Aufmerksamkeit sowie Merkfähigkeit ergeben (Erlemeier, 2002).

Entwicklungsprozesse, auch im hohen Alter, werden durch die Idee der erlebten Kontinuität nicht abgesprochen. Personen brauchen allerdings die Möglichkeit, Einstellungen und Verhalten durch kompensatorische und selektierende Maßnahmen anzupassen (Tesch-Römer, 2010). Rantanen et al. (2019) untersuchten 235 Frauen und Männer im Alter zwischen 60 und 94 Jahren und befragten sie zu ihren Lebensbedingungen, Interessen und Vorlieben. Im Sinne der Kontinuitätstheorie konnten sie zeigen, dass Wohlbefinden dann aufrechterhalten blieb, wenn die Befragten nicht rigide den gängigen Empfehlungen zum gesunden Altern, wie Kontakte pflegen, gesund essen und viel Bewegung folgten, sondern das taten, was den persönlichen und ureigenen Interessen, Zielen und Fähigkeiten entsprach. Die gängigen Empfehlungen gesund und glücklich zu altern, sind zwar richtig und wichtig, aber noch bedeutsamer scheint es zu sein, den persönlichen Eigenarten, Zielen und Vorlieben gerecht zu werden. Ob durch Wanderungen in der Natur, die Pflege des Hauses und des Gartens oder ein Engagement in der Gemeinde, es spielt prinzipiell keine Rolle wodurch das Aktivitätsniveau aufrechterhalten wird. Es geht vielmehr darum, das Niveau durch Aktivitäten aufrechtzuerhalten, die als authentisch und selbstkonsistent erlebt werden.

Einen weiteren Erklärungsansatz, wie Menschen sich auch im hohen Alter den eigenen Bedürfnissen und Zielen entsprechend verhalten, liefert das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation von Baltes und Baltes (1989). Danach haben Menschen auch im Alter die Möglichkeit, ihr Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten und sich an altersbedingte Veränderungen, die persönliche, soziale und strukturelle Faktoren betreffen, erfolgreich anzupassen. Eine erfolgreiche Anpassung kennzeichnet sich durch die Aufrechterhaltung oder die Steigerung des psychischen Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit.

Als zentral wird in diesem Modell angesehen, dass sich mit fortschreitendem Alter die körperliche, kognitive und soziale Leistungsfähigkeit verringert. Demgegenüber stehen individuelle Ressourcen und Fähigkeiten, die sich im Verlauf des Lebens entwickelt haben und vorhanden sind oder erlernt werden können. Das kann z. B. durch das Erlernen von Strategien oder durch ein bestimmtes Training erreicht werden. Grundsätzlich ist Lernen bis zum Ende des Lebens möglich, wobei es mit Fortschreiten des Alters schwieriger wird und die Hürden immer größer werden. Gelingt allerdings der Anpassungsprozess an alterstypische Veränderungen, kann das Funktionsniveau aufrechterhalten werden, was sich positiv auf das Selbstbild, auf soziale Beziehungen und letztlich auf das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit auswirkt.

Bei diesem Anpassungsprozess sind drei Teilkomponenten relevant, die sich gegenseitig bedingen und im Verhältnis zueinanderstehen (Faltermaier et al., 2014). Diese drei Teilkomponenten sind Selektion, Optimierung und Kompensation. Die Selektion beinhaltet die Auswahl oder (Neu-)Formulierung von persönlich relevanten Zielen. Dabei geht es um die adaptive Leistung, sich auf solche Bereiche zu konzentrieren, die eine hohe persönliche Priorität haben. Ziele mit geringerer Relevanz werden nicht mehr verfolgt, um Ressourcen zu sparen. Eine erfolgreiche Selektion bedarf motivationaler Bereitschaft, kognitiver Flexibilität und Handlungsorientierung (Kruse, 1998). Prozesse der Selektion werden z. B. beim Verlust des Partners oder der Partnerin erforderlich. Um weiterhin ein gewisses Maß an Autonomie aufrechtzuerhalten, was ein persönlich relevantes Ziel darstellen kann, verändern Menschen z. B. ihre bisherige Wohnsituation und ziehen in eine kleinere Wohnung oder eine betreute Wohneinrichtung.

Bei der Optimierung geht es um die Nutzung bereits vorhandener Ressourcen und Fähigkeiten, um Ziele zu erreichen. Zusätzlich werden Ressourcen neu erworben, die für das Erreichen der selektierten Ziele relevant sind. Kraft und Energie werden in den Erwerb einer neuen Fähigkeit investiert, um das bestehende Funktionsniveau zu erhalten oder ggf. zu verbessern. Für den Erwerb ist ein Investment von Mühe, Anstrengung, Zeit und Übung notwendig. Zur Optimierung gehört allerdings auch an geeigneter Stelle auf die Unterstützung von Dritten zurückzugreifen. Durch den Einsatz externer Hilfen (Haushaltshilfe, Pflege- oder Essensdienst) oder Hilfsmitteln (Geh- oder Aufstehhilfen, Hilfsmittel zur Körperpflege, barrierefreies Wohnen) bleiben Handlungs- und Kontrollspielräume aufrechterhalten (Hautzinger, 2000).

Bei der Kompensation werden Maßnahmen eingeleitet, die Defizite oder Funktionseinbußen ausgleichen. Ziel dabei ist es, bewusst oder unbewusst auf Defizite zu reagieren, um das ursprüngliche Funktionsniveau so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Ein typisches Beispiel für eine Kompensation wäre die Nutzung eines Hörgerätes beim Nachlassen des Hörvermögens (Baltes & Baltes, 1993).

Eines der bekanntesten Beispiele zur Verdeutlichung des Modells der selektiven Optimierung und Kompensation ist der Pianist Arthur Rubinstein. Aus dem Wunsch heraus, die Qualität seiner Darbietungen auch mit fortschreitendem Alter aufrechtzuerhalten, führte er folgende Maßnahmen durch: Er wählte nur noch bestimmte Stücke aus, die er spielen wollte. Damit verringerte er sein Repertoire und spielte weniger Stücke (Selektion). Die Stücke, die er spielte, übte er häufiger (Optimierung). Des Weiteren wendete er bestimmte Strategien an, z. B. vor schnellen Passagen Verlangsamungen einzuführen, damit die nachfolgende Passage im Vergleich dazu schneller wirkte (Kompensation; Hautzinger, 2000).

Die gerontologische Interventionsforschung konnte zeigen, dass der regelmäßige Gebrauch von Ressourcen und Fähigkeiten zur Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus führt. Werden Ressourcen und Fähigkeiten nicht gebraucht, lassen sie nach und verkümmern (Baltes & Baltes, 1989). Durch Training und Übung ist es prinzipiell in jeder Altersgruppe möglich, Fähigkeiten zu entwickeln oder auszubauen. Effekte für unterschiedliche Bereiche konnten auch für das Alter empirisch belegt werden. Beispielsweise konnten positive Effekte eines Trainings auf Gedächtnis (Lindenberger, Smith & Baltes, 1989), soziale Kompetenz (Stien & Adler, 2007), Schlafstörungen und Ängste (Hautzinger, 2000) sowie Krankheitsverarbeitung (Gignac, Cott & Badley, 2002) nachgewiesen werden. Durch spezielle Übungen und Trainings zur Entspannung, Achtsamkeit (Ma & Teasdale, 2004; Smith, 2006), Tagesplanung (Baldwin, 1997) oder Steigerung sozialer Kompetenzen (Niederehe, 1996) konnten des Weiteren positive Effekte auf eine vorliegende depressive Symptomatik erreicht werden.

Es kann festgehalten werden, dass das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation verschiedene Bereiche der Entwicklung umfasst. Es zeigt, dass das erfolgreiche Zusammenspiel der beschriebenen Teilkomponenten Verlusten entgegenwirken bzw. diese ausgleichen und zur Autonomie und einem selbstbestimmten Leben beitragen kann. Ein großer Vorteil dieses Modells besteht in der Ableitung konkreter und zielorientierter Verhaltensprinzipien und Handlungsalternativen, die in der Therapie und Behandlung psychischer Störungen genutzt werden können.

Im Vergleich zu früheren eher deterministischen Auffassungen, die von einem Defizitmodell des Alterns ausgingen, betrachten aktuelle Konzeptionen den Prozess des Alterns weniger eindimensional. Aktivitätstheorie, Disengagementansatz sowie die Kontinuitätstheorie gehen zwar von unterschiedlichen Zielerreichungsprozessen aus, haben aber ein Bild des Alterns gemeinsam, in dem es dem alternden Menschen möglich ist, persönlich relevante Ziele zu setzen und diese zu verfolgen, um damit ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nach diesen Theorien sind Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg in der Lage, ihre persönliche Entwicklung durch eigenständiges und autonomes Handeln zu regulieren (Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006; Bühler, 1933). Auch im hohen Alter geht es um die Bewältigung alterstypischer Aufgaben und Herausforderungen (Havighurst, 1948/1972). Zur Bewältigung dienen individuelle Ressourcen, die entsprechend den persönlichen Bedürfnissen und Zielen angepasst und trainiert werden können. Dazu liefert das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation praktische Implikationen und Ansatzpunkte und betont ebenfalls die Bedeutsamkeit von persönlichen Zielen beim Prozess des erfolgreichen Alterns (Baltes & Baltes, 1989). Wie viele andere neuere Theorien stellen auch die hier beschriebenen Theorien Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die psychologischen Konstrukte Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden dienen somit als Kriterien zur Messung eines erfolgreichen Alterungsprozesses (Baltes & Baltes, 1990).

Aktuelle Ansätze zu Entwicklungsprozessen im Alter betonen ebenfalls die Bedeutsamkeit von Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden. Sie beziehen allerdings noch weitere Faktoren mit ein, die einen Einfluss haben können: Emotionen und Emotionsregulation. Theorien des emotionalen Alterns gehen ähnlich wie die bereits beschriebenen Entwicklungstheorien davon aus, dass das Erreichen persönlich relevanter Ziele einen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden hat. Zudem gehen sie davon aus, dass bei der Auswahl von Zielen und während des Zielerreichungsprozesses das emotionale Erleben eine wichtige Rolle spielt.

Eine der bekanntesten Theorien des emotionalen Alterns ist die sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen et al., 1999). Im Vergleich zu anderen Theorien stehen bei der sozioemotionalen Selektivitätstheorie die Wahrnehmung von Zeit und die motivationalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, im Vordergrund. Der Kerngedanke ist, dass Menschen sich nicht identisch anhand eines normierten Maßstabs entwickeln oder lediglich, weil sie älter werden, sondern aufgrund der Wirkung, die sich durch den Blick in die Zukunft ergibt. Ziele und Bedürfnisse ändern sich, wenn Zeit nicht mehr als unendliche Ressource und in genügendem Ausmaß erlebt wird. Die Ausrichtung der Ziele und Bedürfnisse verändert sich dahingehend, dass der Fokus eher auf die Gegenwart als auf die Zukunft gelegt wird.

Die Steigerung des Wohlbefindens im gegenwärtigen Moment steht im Alter zunehmend im Vordergrund. Bei der Steigerung oder Aufrechterhaltung des psychischen Wohlbefindens spielt das emotionale Erleben im Rahmen sozialer Interaktion eine entscheidende Rolle. Im Hinblick auf den Faktor Zeit bedeutet das, dass Menschen die Zeit als unbegrenzt und die Zukunft als weitreichend erleben, so wie es i. d. R. in der Jugend der Fall ist, aktiv auf der Suche nach neuen Informationen und nach neuem Wissen sind. Sie knüpfen Kontakte und halten quantitativ mehr Beziehungen aufrecht, da sie sich davon in der Zukunft einen gewissen Gewinn versprechen (Carstensen et. al., 2000). Im Vergleich dazu sind Menschen, die ihre Lebenszeit als endlich und zeitlich begrenzt erleben, was häufig erst im höheren Alter der Fall ist, eher bestrebt, ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit im gegenwärtigen Moment zu steigern. Nach der sozioemotionalen Selektivitätstheorie wird im Alter nahestehenden Bezugspersonen oder Familienangehörigen mehr Zeit gewidmet. Dafür wird die Anzahl sozialer Kontakte oder Bekanntschaften verringert und das soziale Netzwerk wird insgesamt verkleinert.

Allgemein wird davon ausgegangen, dass soziale Interaktion und ein großes soziales Netzwerk zu einer Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit führen (Kienle, Knoll & Renneberg 2006; Lang, 2004; Uvnäs-Moberg & Petersson, 2005). Die Verringerung des sozialen Netzwerks im Alter scheint zunächst im Widerspruch mit dem Wunsch nach der Steigerung des Wohlbefindens zu stehen. In verschiedenen empirischen Studien konnte zwar gezeigt werden, dass soziale Interaktion auch im Alter zur Verbesserung des Wohlbefindens und der psychischen sowie körperlichen Gesundheit beiträgt (Bath & Deeg, 2005; Oppikofer, Albrecht & Martin, 2010; Oppikofer, Albrecht, Schelling & Wettstein 2002), allerdings spielen die Qualität und die Art der sozialen Beziehungen eine entscheidende Rolle und nicht lediglich quantitative Faktoren (Carstensen & Lang, 2007; Conner, Powers & Bultena, 1979). Wird ausschließlich die Anzahl der sozialen Kontakte betrachtet, zeigt sich im Alter kein Zusammenhang mit Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit (Chapell & Badker, 1989; Lee & Markides, 1990). Ein positiver Zusammenhang mit psychischem Wohlbefinden zeigt sich jedoch in der Qualität der sozialen Eingebundenheit und dem Maß an Vertraulichkeit und Intimität, welche im interaktionellen Kontakt erlebt werden (Antonucci & Jackson, 1987; Lowenthal & Haven, 1968).

Das Entwicklungsziel Wissens- und Informationserwerb, das im jungen Erwachsenenalter eher verfolgt wird, verringert sich mit dem Alter zu Gunsten des Ziels der gegenwärtigen Affektoptimierung. Beide Ziele lösen sich dabei nicht vollständig ab. Es kommt allerdings zu einer Verschiebung des Verhältnisses, in welchem Kraft und Energie für die Erreichung des jeweiligen Einwicklungsziels eingesetzt werden. Diese Verschiebung der Präferenzen bei der Wahrnehmung von Endlichkeit scheint altersunabhängig zu sein. So konnte in verschiedenen Altersgruppen im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 gefunden werden, dass es durch dieses existenzbedrohende Ereignis, was die Endlichkeit des Lebens auf extreme Weise verdeutlichte, zu einem erhöhten Bedürfnis nach Sicherheit kam. Zudem nahm insbesondere die Hinwendung zu emotional relevanten Zielen und Bedürfnissen deutlich zu (Fung & Carstensen, 2006).

Nach der Theorie der sozioemotionalen Selektivität sind Menschen, die ihre Lebenszeit als endlich und zeitlich begrenzt erleben, bestrebt, ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit im gegenwärtigen Moment zu steigern. Dafür wird das soziale Netzwerk im Alter verkleinert, was einen selektiven Prozess darstellt. Beziehungen von emotionaler Bedeutsamkeit, bei denen Vertraulichkeit und Intimität erlebt werden, bleiben erhalten oder werden sogar verstärkt. Beziehungen, die als emotional nicht relevant oder sogar als belastend erlebt werden, werden abgebrochen bzw. verringert (Carstensen, 1992; Fung, Carstensen & Lang, 2001; Lang, Staudinger & Carstensen, 1998). Es finden Prozesse der Selektion, Optimierung und Kompensation statt, wie sie im der Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation beschrieben werden (Carstensen & Fredrickson, 1998).

Im höheren Lebensalter wird im Vergleich zum jungen Erwachsenenalter eher ein Zustand emotionaler Balance angestrebt. Es findet eine Veränderung vom jüngeren zum höheren Erwachsenenalter statt, bei der emotionales Gleichgewicht und emotionale Zufriedenheit an Bedeutung gewinnen. Dieser Veränderungsprozess, bei dem emotionale Aspekte verstärkt in den Vordergrund rücken, sollte Auswirkungen auf die emotionale Kompetenz und den Einsatz der verschiedenen Emotionsregulationsstrategien haben.

Der Blick auf die Endlichkeit der Lebenszeit scheint einen motivationalen Einfluss auf die Regulation von Emotionen zu haben. Altersunterschiede ergeben sich z. B. im Hinblick auf den Abruf und die Verarbeitung emotional relevanter Informationen. Es wird angenommen, dass ältere Erwachsene ihre Aufmerksamkeit zum einen eher Informationen mit positiver als mit negativer Valenz zuwenden und sich zum anderen besser an positive als an negative Informationen erinnern. Diese bevorzugte Verarbeitung positiver Informationen wird als Positivitätseffekt bezeichnet (Charles, Mather & Cartensen, 2003; Levine & Bluck, 1997; Mather & Carstensen, 2003). Dem Positivitätseffekt zugrunde liegen valenzspezifische Veränderungen der Aufmerksamkeitsausrichtung und des Gedächtnisses. Aufmerksamkeitsausrichtung und Gedächtnis sind dabei nicht unabhängig voneinander. Die im Folgenden aufgeführten Studien konnten zeigen, dass altersspezifische Veränderungen in der Ausrichtung der Aufmerksamkeit nachfolgende gedächtnisbezogene Verarbeitungsprozesse beeinflussen.

Experimentelle Studien konnten zeigen, dass sich ältere Erwachsene im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen weniger von Reizen und Informationen ablenken lassen, die negativ besetzt sind. Der Einfluss positiv besetzter Ablenkungsreize hatte bei Menschen im höheren Lebensalter einen größeren Einfluss. Bei neutralen Reizen konnten keine Altersunterschiede in der Ablenkbarkeit festgestellt werden (Ebner & Johnson, 2010; Hahn, Carlson, Singer & Gronlund, 2006; Thomas & Hasher, 2006). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass ältere Erwachsene ihre Aufmerksamkeit eher positiven als negativen Reizen zuwenden. Älteren und jungen Erwachsenen wurden dafür Bilder von Gesichterpaaren gezeigt. Eines der Gesichter hatte einen neutralen Ausdruck, während das andere einen fröhlichen, traurigen oder verärgerten Ausdruck hatte. Anhand der Reaktionszeit stellte sich heraus, dass ältere Erwachsene schneller auf emotional positive Bilder reagierten, also auf die Bilder mit dem fröhlichen Gesichtsausdruck. Bei jungen Erwachsene lag keine Präferenz bei den Gesichtsausdrücken vor. Zudem wurde die Wiederkennungsleistung überprüft. Auch hier zeigte sich, dass sich ältere Erwachsene häufiger an Gesichter erinnerten, die einen emotional positiven Ausdruck hatten (Mather & Carstensen, 2003). Zur Messung von Aufmerksamkeitsprozessen wird neben der Reaktionszeit auch die Bewegung der Augen genutzt. Studien, die die Augenbewegungen erfassten, konnten zeigen, dass ältere Erwachsene im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen ihre Aufmerksamkeit eher positiven als negativen Reizen zuwendeten. In den meisten Fällen bestanden die Reize aus Bildern mit emotionalem Inhalt (Isaacowitz, Wadlinger, Goren & Wilson, 2006; Nikitin & Freund, 2011; Rösler, Mapstone, Hays-Wicklund, Gitelman & Weintraub, 2005). Es wird davon ausgegangen, dass diese selektierte Aufmerksamkeit mit Präferenz positiver Reize, dem Ziel der Affektoptimierung dient.

Die beschriebenen Altersunterschiede in der Ausrichtung der Aufmerksamkeit haben einen Einfluss auf die nachfolgende Gedächtnis- und Erinnerungsleistung. Empirisch konnte zunächst gezeigt werden, dass sich ältere Menschen generell besser an Informationen erinnerten, die mit Emotionen verbunden waren als an Informationen ohne emotionalen Anteil (Rahhal, May & Hasher, 2002). In einer experimentellen Studie fanden Levine und Bluck (1997), dass ältere Studienteilnehmende im Vergleich zu jüngeren Studienteilnehmenden die Intensität ihrer Traurigkeit hinsichtlich vergangener Ereignisse häufiger unterschätzen. Auch in Laborstudien zeigte sich die Tendenz einer besseren Erinnerungsleistung an positive im Vergleich zu negativen Informationen. Ältere Erwachsene erinnerten sich im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen quantitativ an mehr positive Reize (Kensinger, 2008; Kwon, Scheibe, Samanez-Larkin, Tsai & Carstensen, 2009; Mather & Knight, 2005) und an weniger negative Reize (Grady, Hongwanishkul, Keightley, Lee & Hasher, 2007; Grühn, Scheibe & Baltes, 2007). Charles et al. (2003) fanden zudem, dass emotionale Erinnerungen von älteren Erwachsenen im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen überwiegend positiv gefärbt waren. Dafür wurden jüngeren, mittelalten und älteren Erwachsenen positive, negative oder neutrale Bilder gezeigt und daraufhin Wiedererkennung und Erinnerungsleistung untersucht. Zunächst zeigte sich, dass die Erinnerungsleistung mit dem Alter insgesamt abnahm. Wurde die Erinnerungsleistung allerdings für die einzelnen Bilderkategorien spezifisch betrachtet, zeigte sich, dass lediglich der Anteil negativer Bilder, die korrekt erinnert und wiedererkannt wurden, mit dem Alter abnahm. Mit zunehmendem Alter wurden positiv besetzte Informationen, in diesem Falle Bilder, besser erinnert als negative oder neutrale. Auch Untersuchungen zum autobiografischen Gedächtnis konnten Altersunterschiede nachweisen. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass ältere Erwachsene im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen autobiografischen Ereignissen eine positivere Wertung gaben und sie in der Erinnerung positiver und angenehmer erlebten bzw. dass ältere Erwachsene sogar quantitativ von weniger negativen Ereignissen berichteten als jüngere Erwachsene (Kennedy, Mather & Carstensen, 2004; Ready, Weinberger & Jones, 2007; Schlagman, Schulz & Kvavilashvili, 2006). In einer anderen Studie wurden Erwachsene nach moralisch bedeutsamen Erfahrungen im Verlauf ihres Lebens gefragt. Es zeigte sich, dass ältere Erwachsene im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen oder Adoleszenten mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer positiven Erfahrung berichteten (Quackenbush & Barnett, 2001).

Für die dargestellten valenzspezifischen Altersunterschiede in Aufmerksamkeit und Gedächtnis scheinen zum einen ausreichend kognitive Ressourcen und zum anderen eine hohe kognitive Kontrollfähigkeit notwendig zu sein (Kryla-Lighthall & Mather, 2009). In einer experimentellen Studie konnten Mather und Knight (2005) zeigen, dass eine positiv gefärbte Erinnerungsleistung von der Höhe der kognitiven Leistungsfähigkeit abhing. Ältere Studienteilnehmende mit hoher kognitiver Leistungsfähigkeit wurden mit Studienteilnehmenden mit verringerter Leistungsfähigkeit verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass sich Studienteilnehmende mit hoher kognitiver Leistungsfähigkeit an verhältnismäßig mehr positive und an weniger negative Bilder erinnerten als Studienteilnehmende mit geringerer Leistungsfähigkeit. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine Verringerung der kognitiven Ressourcen einen Einfluss auf den Positivitätseffekt hatte. Die Verringerung der kognitiven Ressourcen wurde anhand einer Doppelaufgabe herbeigeführt. Es zeigte sich, dass die Präferenz älterer Studienteilnehmenden sich an positive Ereignisse anstatt an negative Ereignisse zu erinnern und die Präferenz die Aufmerksamkeit positiven Bildern im Vergleich zu negativen Bildern zuzuwenden, unter diesen Bedingungen nicht mehr vorhanden war. Wurden Aufmerksamkeitsausrichtung und Gedächtnis durch die Bearbeitung einer zweiten Aufgabe manipuliert, verschwand der Positivitätseffekt (Knight et al., 2007; Mather & Knight, 2005).

Die vorgestellten empirischen Arbeiten geben einen Hinweis darauf, dass für den altersspezifischen Positivitätseffekt ein kontrollierter kognitiver Verarbeitungsprozess notwendig ist. Diese Verarbeitung basiert auf aktiven und bewussten emotionsregulativen Prozessen mit dem Ziel, emotional bedeutsame Bedürfnisse zu befriedigen. Der Positivitätseffekt scheint damit nicht zwingend die Folge altersspezifischer kognitiver Funktionseinbußen zu sein oder lediglich auf Erfahrungen zu basieren, die im Verlauf des Lebens gemacht wurden. Er scheint vielmehr die Folge altersspezifischer motivationaler Veränderungen zu sein, die auf den beschriebenen kognitiven Verarbeitungsprozessen beruhen (Reed & Carstensen, 2012). Die Theorie der sozioemotionalen Selektivität erlaubt ebenfalls Hypothesen über altersspezifische und motivationale Veränderungen im Hinblick auf die Relevanz persönlicher Ziele. Aufgrund der affektoptimierenden Wirkung erfolgt im Alter die bewusste Auswahl und Präferenz bestimmter sozialer Kontakte. Intimität, soziale Eingebundenheit und Vertrautheit werden durch die aktive Selektion sozialer Beziehungen gesteigert, was sich positiv auf das psychische Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit auswirkt (Carstensen & Lang, 2007). Weitere Faktoren, die das Wohlbefinden in den verschiedenen Phasen des Alters beeinflussen, werden im Folgen erläutert.

3.1.4 Psychisches Wohlbefinden, Gesundheit und Krankheit im Alter

Aufgrund des Anstiegs der Lebenserwartung verändert sich auch die Vorstellung vom Alter. Mehr Jahre denn je werden mittlerweile der Lebensphase des hohen Alters zugeschrieben und somit steigt in dieser Phase auch das Bedürfnis nach Wohlbefinden sowie nach möglichst langer körperlicher und psychischer Gesundheit. Dabei ist das psychische Wohlbefinden nicht zwangsläufig an die körperliche Konstitution gekoppelt. Es zeigt sich zwar, dass körperliche Erkrankungen und Einschränkungen mit Veränderungen des Affekts und der Stimmung verbunden sind, besonders Einschränkungen der Mobilität gehen häufig mit depressiver Symptomatik einher, allerdings bedeutet eine chronische körperliche Erkrankung nicht zwangsläufig die Entwicklung einer depressiven Symptomatik (Jacobi et al., 2002).

Das Wohlbefinden stellt im Alter einen bedeutsamen Faktor dar und wird unter anderem durch das soziale Aktivitätsniveau (Adelman, 1994; Tartler, 1961), die Möglichkeit eines selbstbestimmten Rückzugs aus sozialen Rollen und Aufgaben (Cumming & Henry, 1961), wahrgenommene Authentizität und Selbstkonsistens (Achtley, 1989), Selbstbestimmung (Baltes & Baltes, 1989) und durch das emotionale Erleben im Rahmen sozialer Interaktion (Carstensen et al., 1999) beeinflusst (siehe Abschnitt 3.1.3). Das Alter bzw. das dritte und vierte Lebensalter umfasst allerdings eine Spanne von etwa 40 Jahren. Diese Spanne ist sehr groß, sodass allgemeingültige Aussagen über das psychische Wohlbefinden im Alter problematisch sind. An dieser Stelle kann es sinnvoll sein, die bereits erwähnte Einteilung in junge Alte und Hochaltrige vorzunehmen und psychisches Wohlbefinden in diesen beiden Altersphasen spezifisch zu betrachten. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass es in jeder Altersphase verschiedene Entwicklungsaufgaben gibt, die es zu bewältigen gilt. Die Altersphasen lassen sich nicht exakt definieren und aufgrund einer hohen Heterogenität und Individualität der Lebensverläufe, z. B. durch die sehr unterschiedlichen Zeitpunkte, zu denen Menschen in den Ruhestand eintreten, lassen sich spezifische Entwicklungsaufgaben nicht immer exakt einer Altersphase zuordnen. Die Grenzen zwischen den Phasen sind fließend. Dennoch gibt es Entwicklungsaufgaben, die tendenziell von den jungen Alten bewältigt werden und Aufgaben, die eher die Hochaltrigen betreffen. Im Folgenden findet deshalb eine eher künstliche Unterteilung in junge Alte und Hochaltrige statt. Es werden Entwicklungsaufgaben dargestellt, die den beiden Lebensabschnitten lediglich mit größerer Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden.

3.1.4.1 Einflüsse auf das Wohlbefinden der jungen Alten

Eine der größten Veränderungen, die tendenziell eher die jungen Alten betrifft, ist der Austritt aus dem Berufsleben. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist der Austritt aus dem Berufsleben und somit der Eintritt in den Ruhestand ein Lebensereignis, das mit spezifischen Entwicklungsaufgaben verbunden ist. Dadurch ergeben sich Rollen- und Funktionsveränderungen, Veränderungen in Alltagsroutinen, Verschiebungen im Zeitbudget und im sozialen Netzwerk (Faltermaier et al., 2014). Diese Veränderungen werden entweder als belastend oder als Ausgangspunkt für die persönliche Weiterentwicklung erlebt. Für die einen bedeutet dieses Lebensereignis einen Gewinn an Lebenszeit und Lebensqualität und wird als „späte Freiheit“ bezeichnet (Rosenmayr, 1983). Für die anderen bedeutet diese Veränderung der Verlust von Aufgaben und Zielen sowie von Ansehen und Macht (Baltes & Mayer, 1996). In diesem Zusammenhang wird häufig vom Bore-out-Syndrom gesprochen. Ursprünglich beschreibt dieses Syndrom die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz aufgrund andauernder Unterforderung. Durch diese anhaltende Unterforderung entwickeln sich Langeweile, Gleichgültigkeit und Desinteresse, die zu einem Zustand von Lust- und Ratlosigkeit führen (Brühlmann, 2015). Im Zusammenhang mit dem Austritt aus dem Berufsleben handelt es sich beim Bore-out-Syndrom um das Gefühl von Langeweile und Leere, das mit dem Eintritt in den Ruhestand erlebt wird. Männer scheinen von diesem Erleben häufiger betroffen zu sein als Frauen (Lehr, 2007).

Eine weitere Herausforderung, die eher den jungen Alten zugeordnet werden kann, besteht darin, dass mit fortschreitendem Alter körperliche Erkrankungen sowie der Abbau der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit im Vergleich zum mittleren Erwachsenenalter eine immer größere Rolle spielen. Es wird mehr Zeit für Alltagsroutinen benötigt. Zunehmende Vergesslichkeit oder Mobilitätseinbußen werden je nach subjektiver Bewertung als belastend erlebt und beeinflussen das Wohlbefinden. Während die meisten Menschen im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter seltener oder zumindest nur vorübergehend in der Rolle von Patient:innen sind, ändert sich dies häufig mit dem Alter. Zunehmende körperliche Erkrankungen führen zur längerfristigen Einnahme diverser Medikamente, längerer Behandlungsdauer und ggf. Krankenhausaufenthalten. Der Alltag verändert sich. Fehlende Akzeptanz gegenüber diesen körperlichen Veränderungen kann zu psychischen Problemen führen. Besonders junge Alte mit einem vormals sehr aktiven Lebensstil, die versuchen, das gewohnte Pensum an Aktivität beizubehalten, stoßen an ihre körperlichen Grenzen. Aktivitäten, die früher kein Problem waren, können nicht mehr beliebig durchgeführt werden bzw. führen früher zu Ermüdung und Erschöpfung. Wird versucht, das Aktivitätsniveau um jeden Preis zu halten, kommt es in der Konsequenz zur Überforderung. Durch die ständige Überforderung treten körperliche Erkrankungen auf oder es kommt zu einer Verschlechterung der bereits vorhandenen Krankheiten (Forstmeier & Maercker 2009).

3.1.4.2 Einflüsse auf das Wohlbefinden der Hochaltrigen

Im Folgenden werden spezifische Entwicklungsaufgaben erläutert, die tendenziell eher den Hochaltrigen zugeordnet sind. Diese sind aufgrund der hohen Individualität der verschiedenen Lebensverläufe aber dennoch bereits für junge Alte relevant.

Der Alterungsprozess sowie das damit verbundene psychische Wohlbefinden werden individuell sehr unterschiedlich empfunden. Je nach Lebensphase beeinflussen unterschiedliche Faktoren das psychische Wohlbefinden. Ein maßgeblicher Faktor zur Beurteilung des psychischen Wohlbefindens in der Gruppe der Hochaltrigen ist die zunehmende Multimorbidität durch psychische und körperliche Erkrankungen (Steinhagen-Thiessen, Gerok & Borchelt, 1994). Mit dem Beginn des 70. Lebensjahres liegt bei 96 % der Menschen im höheren Lebensalter mindestens eine körperliche Erkrankung vor. Bei fast einem Drittel der älteren Menschen bestehen fünf oder mehr internistische, neurologische oder orthopädische Erkrankungen (Walter & Schwartz, 2001). Auch psychische Erkrankungen spielen im höheren Lebensalter eine bedeutende Rolle. In der Berliner Altersstudie litten beinah ein Viertel der über 70-jährigen Studienteilnehmenden unter mindestens einer psychischen Erkrankung (Wernicke, Linden, Gilberg & Helmchen, 2000). Die häufigsten psychischen Störungen im Alter sind dementielle Erkrankungen und affektive Störungen wie die Major Depression (Robert-Koch-Institut, 2002).

Körperliche und psychische Erkrankungen im Alter führen zu Funktionseinbußen im Bereich der Sensorik, Motorik und Kognition (Hajek, Brettschneider & Ernst, 2015; Weyerer, Eifflaender-Gorfer & Wiese, 2013). Diese Funktionseinbußen betreffen basale Fähigkeiten des täglichen Lebens wie die tägliche Körperpflege, Treppensteigen, Spazierengehen oder Essen. Betroffen sind häufig auch instrumentelle Fähigkeiten wie Telefonieren, Einkaufen, Kochen, Haushaltsführung oder die korrekte Einnahme von Medikamenten. Mit Abnahme dieser Fähigkeiten steigt die Hilfsbedürftigkeit und mit zunehmendem Alter steigt diese sogar sprunghaft an. Die Berliner Altersstudie zeigte, dass ab einem Alter von 85 Jahren bis zu 40 % der Studienteilnehmenden Hilfe bei Tätigkeiten des alltäglichen Lebens benötigten und 60 bis 80 % Hilfe bei instrumentellen Tätigkeiten wie Finanzen verwalten, Besuch bewirten oder bei Arztbesuchen (Baltes & Mayer, 1996; Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 2010).

Die Zunahme von Hilfsbedürftigkeit kann für viele Menschen im höheren Lebensalter eine Abnahme der Autonomie und der Fähigkeit zur Selbstbestimmung bedeuten. Auf andere Menschen angewiesen zu sein, bedeutet allerdings nicht, abhängig zu sein. Bestehen daran Zweifel, kann die Angewiesenheit beispielsweise auf die Partner:innen oder auf die Kinder als Abhängigkeit erlebt werden und sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken (Baltes & Mayer, 1996; Schwarzbach, Luppa, Forstmeier, König & Riedel‐Heller, 2014). Zudem kann abhängig vom Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit auch das Gefühl von sich verringernder Bedeutsamkeit entstehen. Personen fühlen sich in ihrer Partnerschaft, im familiären Verbund oder in der Gesellschaft weniger gebraucht und haben das Gefühl, dass sie keine relevanten Aufgaben mehr erfüllen. Mehr noch als in jedem anderen Lebensabschnitt kommt es zudem zur Auseinandersetzung mit der Endlichkeit der eigenen Existenz und mit Themen wie Verletzlichkeit, Sterblichkeit, Vergänglichkeit (Supprian & Hauke, 2017). Psychisches Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit werden durch die Bewertung dieser Ereignisse beeinflusst. Je nach Art der Bewertung, ob ein Ereignis als Problem oder als Herausforderung betrachtet wird, sind bei einer eher problemorientierten Bewertung depressive Störungen eine mögliche Folge (Perrig-Chiello, 1997).

Insgesamt zeigt sich beim Vergleich der jungen Alten mit den Hochaltrigen, dass das subjektive Wohlbefinden mit fortschreitendem Alter abnimmt. Pinquart (2001) zeigte in einer Metaanalyse, in der 180 englisch- und deutschsprachige Studien einbezogen wurden, dass sich die subjektive Gesundheit und das subjektive Wohlbefinden mit steigendem Alter statistisch signifikant reduzierten. Während Zufriedenheit und psychisches Wohlbefinden bei jungen Alten einen vergleichsweise stabilen Wert darstellten, nahm dieser bei den Hochaltrigen tendenziell ab. Die Folge eines abnehmenden Wohlbefindens können in allen Altersphasen depressive Störungen sein. Das Störungsbild der Depression im Alter wird im Folgenden beschrieben.

3.2 Depression im Alter

Weltweit erfüllt jeder fünfte Mensch im Laufe seines Lebens mindestens einmal die Kriterien einer depressiven Episode (WHO, 2013). In Deutschland sind die Zahlen vergleichbar (Wittchen, Jacobi, Klose, Ryl & Ziese, 2010). Depressive Störungen zählen hier, mit einer Lebenszeitprävalenz von 25 % bei Frauen und 12 % bei Männern, zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Hoffmann & Schauenburg, 2000). Es wird von einer Zwölf-Monats-Prävalenz von 10,7 % in der deutschen Allgemeinbevölkerung ausgegangen (Jacobi, 2004).

Depressive Störungen verursachen in hohem Maß persönliches Leid für die Betroffenen und ihre Angehörigen, da sie mit einer hohen Krankheitslast und starken funktionellen Beeinträchtigungen einhergehen. Zudem sind sie für das Gesundheitssystem eine große Herausforderung: Schätzungen zufolge liegen die direkten und indirekten Kosten, die mit diesem Krankheitsbild verbunden sind, bei knapp 16 Milliarden Euro pro Jahr (Krauth et al., 2014).

Depressive Störungen gehören neben der Demenz zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter (Morley, 2004). Das Symptombild zeigt sich nicht grundsätzlich anders als in jüngeren Jahren. Allerdings gibt es eine Reihe altersspezifischer Besonderheiten, die die Krankheitslast vergrößern und sich auf das psychische Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit auswirken (Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 2010). Zudem stellen diese Besonderheiten wie beispielsweise eine hoch ausgeprägte Multimorbidität den Hauptgrund für ein erhöhtes Suizidrisiko in dieser Altersgruppe dar (Schulz, Drayer & Rollman, 2002; Wolfersdorf, Schneider & Schmidtke, 2015).

Im Folgenden werden die Kriterien zur Diagnosestellung beschrieben. Die diagnostischen Kriterien einer depressiven Störung sind altersunspezifisch und beziehen sich auf das junge, mittlere sowie höhere Erwachsenenalter. Zudem werden zusätzlich verschiedene altersspezifische Besonderheiten des Störungsbildes erläutert.

3.2.1 Psychopathologie – Das Störungsbild der Depression

Zur Kernsymptomatik einer depressiven Störung gehören eine niedergeschlagene oder gedrückte Stimmung, Freud- und Interessenverlust an Dingen, die der Person üblicherweise Freude machen sowie ein verminderter Antrieb mit schneller Ermüdbarkeit. Hinzukommen können Symptome wie kognitive Defizite, besonders Konzentration, Aufmerksamkeit und Gedächtnis betreffend, Schwierigkeiten Entscheidungen zu treffen, ein vermindertes Selbstwertgefühl, Selbstzweifel, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Reizbarkeit, Ängstlichkeit und Unruhe, Schlafstörungen, Gewichts- und Appetitverlust oder Gewichtszunahme und Appetitsteigerung, psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung, Schmerzen sowie Suizidgedanken und ggf. Suizidversuche.

Diese Symptome sind den meisten Menschen prinzipiell bekannt und sind eine adaptive Reaktion auf negative Ereignisse wie Misserfolge, Enttäuschungen, Verlust, Einsamkeit oder Überforderung. Sie sind nur dann als pathologisch zu klassifizieren, wenn sie eine bestimmte Dauer oder Intensität überschreiten. Eine Herausforderung besteht demnach in der Abgrenzung zwischen einer natürlichen Reaktion und einer klinisch relevanten Störung (Hautzinger, 2000). In Abbildung 3.1 finden sich die Kriterien depressiver Störungen nach ICD-10 (International Classifikation of Diseases), die zur diagnostischen Entscheidungsfindung genutzt werden. Von einer klinisch relevanten und behandlungsbedürftigen depressiven Störung wird erst dann gesprochen, wenn mindesten zwei Haupt- sowie zwei Zusatzsymptome über mindestens zwei Wochen an durchgängig allen bzw. an den meisten Tagen vorliegen und die Symptomatik nicht durch andere Umstände oder Erkrankungen erklärt wird (Hautzinger, 2000). Je nach Schweregrad der Erkrankung treten verschiedene Zusatzsymptome auf. Zur Klassifikation von weiteren Untergruppen werden Schweregrad, Verlauf und Ausprägung der Symptomatik genutzt (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011). Die Untergruppen werden ausführlich in Abschnitt 3.2.2 beschrieben.

Abbildung 3.1
figure 1

Kriterien zur diagnostischen Entscheidungsfindung bei depressiven Störungen nach ICD-10 in Anlehnung an Hautzinger (2000)

Depressive Störungen sind durch eine Vielzahl unterschiedlicher Symptome gekennzeichnet. Unterschieden werden Symptome auf emotionaler, motivationaler, motorisch-behavioraler, imaginativ-kognitiver und physiologisch-vegetativer Ebene. Abbildung 3.2 zeigt eine Übersicht von Symptomen, die auf den verschiedenen Ebenen vorkommen können, aber nicht müssen. Das Vorkommen und die Ausprägung dieser Symptome ist von Patient:in zu Patient:in sehr unterschiedlich und erfordert eine präzise und multimethodale Diagnostik. Besonders ältere Patient:innen berichten häufig von physiologischen Symptomen wie Schlaf- oder Appetitstörungen. Zudem berichten sie von kognitiven Symptomen wie Gedächtnis- oder Aufmerksamkeitsstörungen oder von verschiedenen Ängsten, die die Zukunft oder die eigene Gesundheit betreffen. Deutlich seltener werden hingegen Symptome auf der emotionalen Ebene, wie Niedergeschlagenheit oder das Gefühl von Leere oder Schuld, berichtet (Hautzinger, 2000).

Abbildung 3.2
figure 2

Ebenen einer depressiven Störung mit den spezifischen Symptomen in Anlehnung an Hautzinger (2000)

3.2.1.1 Altersspezifische Besonderheiten der Psychopathologie

Ältere und jüngere Patient:innen unterscheiden sich bezüglich der depressiven Symptomatik nicht grundsätzlich (Wolter, 2016). Dennoch ist eine konzeptuelle Abgrenzung vom Symptombild depressiver Kinder und Jugendlicher sowie jüngerer und mittlerer Erwachsener sinnvoll, da das Störungsbild der Depression im höheren Lebensalter die im Folgenden beschriebenen altersspezifischen Besonderheiten aufweisen kann:

Somatische Symptome

Empirisch konnte gezeigt werden, dass sich die Art der depressiven Symptomatik mit zunehmendem Alter verändert (Balsis & Cully, 2008; Hybels, Blazer, Landerman & Steffens, 2011). In der klinischen Praxis berichten ältere Patient:innen mit Depressionen häufiger über körperliche Beschwerden wie diffuse Schmerzen, Schwindel oder Schlaf- oder Appetitstörungen, zu denen kein organisches Korrelat gefunden werden kann. Sie berichten seltener über emotionale Symptome wie Niedergeschlagenheit, Schuldgefühle oder einen verringerten Selbstwert (Hegeman, De Waal, Comijs, Kok & Van der Mast, 2015). Der verstärkte Fokus der Patient:innen auf somatische Symptome und die dementsprechende Berichterstattung bei den Behandelnden birgt die Gefahr, dass die affektive Symptomatik in den Hintergrund gerät und eine depressive Störung nicht erkannt wird (Hautzinger, 2000).

Ältere Patient:innen wenden sich beim Vorliegen einer körperlichen wie auch einer psychischen Symptomatik in der Regel als erstes an den Hausarzt. Dabei sind Depressionen die häufigste psychische Erkrankung, mit der Menschen im höheren Lebensalter in der Hausarztpraxis vorstellig werden. Gleichzeitig ist die Hausarztpraxis auch das Setting, in der diese psychische Erkrankung am häufigsten diagnostiziert wird (Wittchen et al., 2010). Hier kommt es allerding häufig zu einer Unterversorgung, da vonseiten der Behandelnden zeitliche oder fachliche Ressourcen fehlen oder von Patient:innenseite Befürchtungen bzgl. Selbststigmatisierung einer richtungsweisenden und präzisen Diagnostik im Wege stehen (Stenkamp, Burian & Diefenbacher, 2016). Weiterführende Behandlungsangebote wie beispielsweise Psychotherapie werden dann häufig nicht in Anspruch genommen. Etwa die Hälfte der Patient:innen verbleibt mit der depressiven Symptomatik in der Hausarztpraxis. Dort werden zwar die somatischen Symptome so gut wie möglich behandelt, allerdings nicht die depressive Störung als gesamtes Störungsbild, wodurch die Gefahr der Chronifizierung steigt (Areán, 2012).

Multimorbidität

Multimorbidität beschreibt das gleichzeitige Auftreten von drei oder mehr chronischen Erkrankungen. Bei diesen Erkrankungen kann es sich um somatische (z. B. Diabetes Mellitus oder Bluthochdruck), psychische (z. B. Angststörungen oder Demenz) oder um eine Kombination aus beiden Erkrankungen handeln.

Aufgrund altersbedingter Multimorbidität kann es zu wechselseitigen Prozessen körperlicher und psychischer Symptome kommen, die einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf i. S. einer Chronifizierung haben. Mobilitätseinbußen beispielsweise führen dazu, dass soziale Aktivitäten außerhalb des häuslichen Umfeldes nicht mehr wie gewohnt wahrgenommen werden. Damit steigt die Gefahr der sozialen Isolation und es kommt zu einem Ausbleiben positiver sozialer Verstärker. Durch den Wegfall dieser positiven Verstärkung steigt das Risiko eine depressive Symptomatik zu entwickeln.

Auch in umgekehrter Richtung scheint es einen Zusammenhang zu geben. Symptome einer Depression wie Interessenverlust, verminderter Antrieb und eine gesteigerte Ermüdbarkeit führen zu einem sozialen Rückzug in das häusliche Umfeld. Aufgrund der damit eingehenden Verringerung des Aktivitätspotentials kann es zum Abbau körperlicher Leistungsfähigkeit kommen, durch den die Entstehung oder Chronifizierung körperlicher Erkrankungen begünstigt wird (Lenze et al., 2000).

Das Vorliegen einer Depression kann auch den Verlauf somatischer Erkrankungen wie Krebs-, Herz- und Lungenerkrankungen, Diabetes Mellitus oder Schmerzsyndrome negativ beeinflussen (Sobel & Markov, 2005). Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Ein Erklärungsansatz beschreibt, dass die Symptome einer Depression wie verminderter Antrieb und gesteigerte Ermüdbarkeit einen sozialen Rückzug begünstigen. Aufgrund der verringerten sozialen Interaktion wird das soziale Hilfenetzwerk der Betroffenen nicht aktiviert. Freund:innen und Angehörige sind nicht ausreichend involviert und die Betroffenen erhalten kaum Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Erkrankung. Zudem ist vorstellbar, dass depressive Symptome wie Antriebs- und Hoffnungslosigkeit eine aktive Bewältigung der somatischen Erkrankung vonseiten der Patient:innen zusätzlich erschweren oder sogar verhindern (Supprian & Hauke, 2017).

Möglicherweise kann bei Patient:innen im höheren Lebensalter von einer sich gegenseitig bedingenden Wechselbeziehung zwischen somatischen Erkrankungen und depressiver Störung ausgegangen werden. Mit steigendem Lebensalter steigt tendenziell die Belastung durch körperliche Erkrankungen. Im Zusammenspiel mit der depressiven Symptomatik kann es zu einer Rückkopplung und einer möglichen Verstärkung der Symptomatik auf beiden Ebenen kommen (Drayer et al., 2005).

Frailty

Für den Begriff Frailty (Gebrechlichkeit) existiert derzeit keine allgemeingültige Definition. In der Praxis besteht allerdings ein Konsens darüber, dass Frailty einen altersassoziierten Abbau körperlicher und kognitiver Funktionen beschreibt sowie eine zunehmende Vulnerabilität (Verletzlichkeit) gegenüber Erkrankungen und deren psychosozialen Folgen. Patient:innen berichten von Kraftlosigkeit und einem verringerten Appetit, der aufgrund einer im Verlauf einsetzenden Unterernährung zum Verlust der Muskelkraft und der körperlichen Aktivität führt. Diese Symptome werden nicht oder nur teilweise auf diagnostizierte Erkrankungen zurückgeführt. Weitere Symptome, die sich häufig im Verlauf ergeben sind Inkontinenz, kognitive Schädigungen, Arteriosklerose oder hormonelle Veränderungen. Neben physischen und psychischen Merkmalen wurden mittlerweile auch soziale Aspekte wie sozialer Rückzug, Vernachlässigung von Freundschaften und anderen sozialen Bindungen zum Symptombild ergänzt (Nikolaus, 2013). In Screeningverfahren werden mittlerweile bis zu 70 verschiedene Symptome und Parameter berücksichtigt.

In den letzten Jahren konnte ein positiver Zusammenhang zwischen Depression und Frailty gezeigt werden (Fried et al., 2001). Der prospektive Zusammenhang zwischen depressiver Symptomatik und einem erhöhten Risiko für Frailty war besonders bei älteren Frauen relativ robust. Für die entgegengesetzte Wirkrichtung fanden sich bei beiden Geschlechtern lediglich schwache Zusammenhänge (Vaughan, Corbin & Goveas, 2015).

Insgesamt ist die symptomatische Schnittmenge der beiden Syndrome sehr hoch. Appetitlosigkeit, Inaktivität und Kraftlosigkeit machen einen erheblichen Anteil der gemeinsamen Varianz der beiden Syndrome aus und begünstigen sich gegenseitig (Lohman, Dumenci & Mezuk, 2015). Weitere Studien sind erforderlich, um den Zusammenhang genauer zu untersuchen und um medizinische und Verhaltensinterventionen zu entwickeln. Das vorrangige Ziel bei der Konzeption dieser Interventionen sollte sein, unerwünschte Folgen wie Stürze oder sozialen Rückzug zu verhindern, um damit die erhöhte Mortalität, die sich aus dem Zusammenspiel beider Syndrome ergibt, zu verringern.

Subsyndromale Depression

Empirisch nimmt die Häufigkeit der Depressionsdiagnosen im Laufe des Alters ab (Ernst & Angst, 1995; Kessler et al., 2010; Meeks, Vahia, Lavretsky, Kulkarni & Jeste, 2011). Ursächlich dafür kann eine Vernachlässigung der minoren oder subsyndromalen Depression (subtreshold depression) sein. Dabei bestehen zwar depressive Symptome, diese erfüllen aber in Anzahl und Ausprägung nicht die Kriterien einer majoren depressiven Störung und werden verkannt und fälschlicherweise nicht diagnostiziert. Aufgrund der ausbleibenden bzw. unzureichenden Behandlung besteht daher besonders bei älteren Patient:innen ein erhöhtes Risiko der Chronifizierung und damit einhergehend eine erhöhte Mortalität (Lyness et al., 2006).

Kognitive Beeinträchtigungen

Bei der Mehrzahl der älteren Patient:innen kommt es während einer depressiven Episode zu kognitiven Beeinträchtigungen. Diese betreffen Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Konzentrationsfähigkeit. Bestanden während einer depressiven Episode starke kognitive Beeinträchtigungen bestehen diese häufig selbst nach dem Abklingen der depressiven Symptomatik fort (Adler, Chwalek & Jajcevic, 2004). Bei einigen Patient:innen entwickelt sich im Rahmen einer depressiven Episode sogar ein Demenzsyndrom, das sich zwar mit dem Rückgang der Symptomatik ebenfalls rückläufig entwickelt, allerdings einen starken Prädiktor für die spätere Entstehung einer irreversiblen Demenz darstellt (Alexopoulos, Meyers, Young, Mattis & Kakuma, 1993).

Ein Syndrom, das sich häufig im Zusammenhang mit der Depression im Alter zeigt, ist das Dys-exekutive Syndrom. Patient:innen zeigen einen Mangel an Zielstrebigkeit und Flexibilität bei der Planung, Initiierung und Durchführung von Handlungen. Häufig sind diese Patient:innen massiv antriebsgemindert, psychomotorisch verlangsamt oder sogar apathisch, was zu starken Beeinträchtigungen bei der Bewältigung von alltäglichen Aufgaben führen kann (Alexopoulos, Kiosses, Klimstra, Kalayam & Bruce, 2002).

Eine weitere diagnostische Herausforderung besteht in einer möglichen Überlagerung der depressiven Symptomatik durch eine andere Störung, die ebenfalls kognitive Defizite verursacht. Dazu gehören zum einen verschiedene Formen der Demenz sowie zerebrale oder psychotische Störungen, bei denen es zu Exekutiv-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisdefiziten kommen kann (Fellgiebel & Hautzinger, 2017; Frank & Konta, 2005; Gonda et al., 2015; Herrmann, Goodwin & Ebmeier, 2007; McClintock, Husain & Greer, 2010; Preiss, et al., 2009; Sheline, Gado & Kraemer, 2003).

Für die Behandelnden ist es zudem herausfordernd, einen altersbedingten natürlichen Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit zwar zu berücksichtigen, eine womöglich vorliegende depressive Symptomatik aber nicht zu verkennen und lediglich als Folge des natürlichen Alterungsprozesses zu bewerten (Beblo, 2002; Dybedal, Tanum, Sundet, Gaarden & Bjølseth, 2013; Elderkin-Thompson, Moody, Knowlton, Hellemann & Kumar, 2011).

Angststörungen

Bei Menschen im höheren Lebensalter wird die Diagnose einer Angststörung seltener gestellt als bei jüngeren Menschen (Flint, 1994). Bei vielen älteren Patient:innen, die unter einer depressiven Störung leiden, liegen jedoch häufig komorbide Angstsymptome vor (Forsell & Winblad, 1998). Empirisch konnte in großen klinischen Stichproben gezeigt werden, dass bei 80 % der älteren Patient:innen mit der Diagnose einer Depression zusätzlich Angstsymptome vorlagen (Braam et al., 2014). Bei einem Drittel lag eine klinisch relevante Angststörung vor (Van Der Veen, Van Zelst, Schoevers, Comijs & Voshaar, 2015). In Bezug auf die Lebensqualität (Adler, Tremmel, Brassen & Scheib, 2000), den Behandlungsbedarf und Behandlungserfolg (Greenlee et al., 2010) sowie das Suizidrisiko (Oude Voshaar, Van Der Veen, Hunt & Kapur, 2016) ist das Vorliegen von Ängsten als Begleitsymptom oder die Diagnose einer Angststörung prognostisch eher ungünstig.

Neben den beschriebenen altersspezifischen Besonderheiten bestehen zudem Unterschiede in der Ätiologie zwischen jungen und älteren Erwachsenen. Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression im höheren Lebensalter spielen psychosoziale Bedingungen wie Veränderungen aufgrund des Austritts aus dem Berufsleben, Einsamkeit aufgrund des Verlusts der Partner:innen oder des sozialen Umfelds eine wichtige Rolle. Hinzukommen kann der Einfluss bestimmter Medikamente wie Antihypertensiva, Parkinsonmedikamente, Antihypertonika, Neuroleptika oder Immunsuppressiva, die die Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung begünstigen (Müller-Spahn & Hock, 1997; Zaudig, 1995).

Aufgrund dieser zahlreichen Besonderheiten stellt die Diagnose der Depression im Alter eine besondere Herausforderung dar. Den aufgeführten Besonderheiten Beachtung zu schenken, ermöglicht es, auf spezifische Verläufe der Depression im höheren Lebensalter einzugehen. Risikofaktoren wie körperliche Erkrankungen, kognitive Funktionseinschränkungen und ein Mangel an sozialer Interaktion und Unterstützung steigen häufig mit zunehmendem Alter und haben einen negativen Einfluss auf den Verlauf einer Depression (Fellgiebel & Hautzinger, 2017).

3.2.2 Klassifikation und Diagnostik

Bereits 1896 berichtete der deutsche Psychiater Emil Kraepelin von depressiven Symptomen in Verbindung mit Ängsten und hypochondrischen Befürchtungen, die erstmalig im Alter auftraten. Er vermutete dahinter ein eigenständiges Krankheitsbild, das sich von dem im jungen Erwachsenenalter unterschied. Er bezeichnete dieses Krankheitsbild als Altersdepression. Dieser Begriff war nicht unumstritten, wurde aber viele Jahre genutzt. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch haben sich heute die Begriffe Late-Onset-Depression (LOD) und Late-Life-Depression (LLD) etabliert. Die LOD ist gekennzeichnet durch eine Erstmanifestation im höheren Lebensalter (Heser et al., 2013). Allerdings ist das Ersterkrankungsalter nicht explizit und einheitlich definiert (Heser et al., 2013; Naismith et al., 2012, Vu & Aizenstein, 2013). Die LLD hingegen bezeichnet konzeptuell alle depressiven Störungen bei Patient:innen ab dem 65. Lebensjahr. Dabei werden frühere Erkrankungsphasen in jüngeren Lebensjahren berücksichtigt, das Ersterkrankungsalter hingegen ist nicht ausschlaggebend für die LLD. Hier steht der rezidivierende Charakter der depressiven Störung im Vordergrund.

Mittlerweile wird in einigen wenigen Studien zusätzlich noch eine dritte Gruppe unterschieden, die durch die Erstmanifestation ab dem 75. Lebensjahr gekennzeichnet ist: die Very-Late-Onset-Depression (Hüll & Bjerregaard, 2015). Diese Einteilung wird in den gängigen Klassifikationssystemen wie der International classification of diseases (ICD-10), dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-5) oder in den aktuellen S3-Leitlinien (DGPPN, BÄK, KBV & AWMF, 2017) nicht vorgenommen. Die Depression im Alter wird dort nicht als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet und somit auch nicht explizit definiert. Begründet wird dies damit, dass es keine kategorialen Unterschiede in der Vielseitigkeit der Symptomatik oder der Phänomenologie im Vergleich mit depressiven Störungen in jüngeren Jahren gibt (Kurz, 1997). Dennoch gab es für dieses Krankheitsbild im Verlauf der letzten Jahre immer wieder verschiedene Bezeichnungen. Frühere Bezeichnungen wie Jammerdepression“, „Spätdepression“ oder „Altersdepression“ sind allerdings einseitig und unpassend und es ist präziser von einer Depression im Alter zu sprechen (Kurz, 1997).

Unabhängig vom Alter gelten in beiden gängigen Klassifikationssystemen die depressive Stimmung, der Freud- und Interessenverlust und im ICD-10 zusätzlich die Störung des Antriebs als Kernsymptome einer depressiven Störung. Wie in Abbildung 3.1 gezeigt wurde (siehe Abschnitt 3.2.1) müssen mindestens zwei Kern- sowie zwei Zusatzsymptome vorhanden sein, um eine depressive Episode zu diagnostizieren. Das Ausmaß der Beeinträchtigung und die Schwere der Symptomatik entscheiden über eine leichte, mittelschwere oder schwere Manifestation. Der Verlauf, die Schwere und die besondere Ausprägung der Symptomatik werden zur Definition von weiteren Hauptgruppen genutzt. Zu den Hauptgruppen gehören die episodisch auftretenden affektiven Störungen, die chronisch affektiven Störungen und verschiedene Sonderformen, die im Folgenden näher erläutert werden.

Episodisch auftretende affektive Störungen

  • Majore depressive Störung: Sie kann bei Menschen im höheren Lebensalter als Ersterkrankung im Rahmen einer depressiven Episode oder als rezidivierende Erkrankung auftreten.

  • Bipolar I-Störung: Depressive und manische Krankheitsphasen wechseln sich ab. Häufig beginnt diese Erkrankung bereits im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Ein Erkrankungsbeginn im Alter ist eher selten.

  • Bipolar II-Störung: Die depressiven Episoden erfüllen die Kriterien einer majoren Depression und wechseln sich mit hypomanen Episoden ab. Bei den hypomanen Episoden werden nicht alle Kriterien einer manischen Episode vollständig erfüllt. Eine Ersterkrankung im Alter ist ebenfalls eher selten (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Chronisch affektive Störungen

  • Dysthymie: Auch chronische oder anhaltende Depression genannt. Dabei muss eine depressive Stimmungslage mindestens zwei Jahre an der überwiegenden Anzahl der Tage bestehen. Die Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung werden dabei nicht vollständig erfüllt. In einigen Fällen kann die Dysthymie von sich wiederholenden voll ausgeprägten depressiven Episoden überlagert werden. Man spricht dann von einer Double depression. Häufig beginnen chronische Depressionen bereits in der Kindheit und Jugend (Klein & Beltz, 2014) und mit geringerer Häufigkeit im hohen Alter.

  • Zyklothymie: Anhaltende abgeschwächte bipolare Störung, bei der es zu einem Wechsel von hypomanen und depressiven Episoden kommt. Die Kriterien einer Bipolaren Störung werden nicht erfüllt. Erkrankungsbeginn ist meist im späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Sonderformen

  • Zu den Sonderformen gehören u. a. die minore oder auch subsyndromale Depression. Die Symptomatik erfüllt nicht die Kriterien einer majoren Depression und die Symptome sind weniger schwer ausgeprägt. Im Alter kommt diese Form besonders häufig vor und es besteht bei den Patient:innen ein hoher Leidensdruck und ein dadurch gerechtfertigter Behandlungsbedarf (Fellgiebel & Hautzinger, 2017).

Winkler, Pjrek und Kasper (2005) beschreiben zusätzlich zu den Symptomen, die im ICD-10 und DSM-5 aufgeführt werden, eine geschlechterspezifische Manifestation bestimmter Symptome. Demnach kann bei Männern häufiger eine geringe Stresstoleranz mit hoher Reizbarkeit und ein höheres Ausmaß passiver und teilweise aktiver Aggressivität beobachtet werden. Frauen hingegen berichten im Vergleich häufiger von Angstsymptomen, Selbstwertverlust oder Tagesmüdigkeit.

Ein häufig genutztes Instrument zur Diagnostik einer depressiven Störung stellt der Patient Health Questionnaire (PHQ-2, Zwei-Fragen-Test; Gräfe, Zipfel, Herzog & Löwe, 2004) dar. Dabei handelt es sich um ein Screening Instrument, das aus den folgenden zwei Fragen besteht:

  1. 1.

    Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?

  2. 2.

    Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?

Mit einer hohen Sensitivität von über 90 % und geringer Spezifität von 57 % kann damit eine erste Verdachtsdiagnose erhoben werden, bevor weitere diagnostische Maßnahmen eingeleitet werden. Eine erweiterte Version besteht aus neun Fragen (Patient-Health-Questionnaire-9; PHQ-9) und kann ebenfalls gut bei älteren Patient:innen eingesetzt werden. Es handelt sich um ein Selbstbeurteilungsverfahren, bei dem die Patient:innen auf einer 4-stufigen Skala die depressive Symptomatik in den vergangenen zwei Wochen beurteilen (Löwe, Kroenke, Herzog & Gräfe, 2004).

Um eine Verdachtsdiagnose abzusichern, stehen insgesamt nur wenige Verfahren zur Verfügung, die speziell an die Bedürfnisse älterer Patient:innen angepasst sind. Zur Verfügung steht das Composite International Diagnostic Interview (CIDI65 + ), bei dem die Items kürzer formuliert sind und ein Fokus auf somatische Beschwerden gelegt wird. Zudem werden aktuelle Verlust-, Kränkungs- und Vereinsamungssituationen erfasst (Wittchen et al., 2015).

Den Goldstandard zur Diagnostik depressiver Störungen im Alter stellt die Geriatrische Depressionsskala (GDS; Yesavage et al., 1988) dar, die zum geriatrischen Basis-Assessment gehört. Die GDS ist international weit verbreitet. Zudem liegen unterschiedliche Versionen vor, die zwischen 4 und 30 Items enthalten und in Abhängigkeit von der kognitiven Leistungsfähigkeit der Patient:innen eingesetzt werden. Die 15-Item-Version ist ein guter Kompromiss zwischen Kürze und Validität. Patient:innen beantworten im Selbstbericht oder gemeinsam mit den Behandelnden die Items auf einer dichotomen Antwortskala (Ja/Nein). Kritisiert werden kann die GDS dahingehend, dass zu Gunsten der Kürze ein genauerer Blick auf somatische Symptome entfällt (Yesavage et al., 1988).

3.2.3 Differentialdiagnosen

Schätzungsweise wird bei 30 bis 40 % der Patient:innen im höheren Lebensalter, die eine:n Allgemeinmediziner:in aufsuchen, eine Depression nicht erkannt bzw. unzureichend behandelt (Hautzinger, 2000). Zahlreiche Studien konnten zudem zeigen, dass das Auftreten einer depressiven Störung häufig in Verbindung mit Somatisierungsstörungen (Hein et al., 1996; Rief, 2000), körperlichen Erkrankungen (Lohman, Dumenci & Mezuk, 2015), Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (Deykin, Levy & Wells, 1987; Swendsen & Merikangas, 2000), endokrinen oder immunologischen Störungen (Kühn, 2002), zerebralen Abbauprozessen sowie neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Schlaganfällen (Brand et al., 2007; Lenze et al., 2001) steht.

In der Differentialdiagnostik ist der Ausschluss einer körperlichen Erkrankung, die ursächlich für die depressive Symptomatik sein kann, besonders relevant. Zu den Auslösern symptomatischer bzw. organischer Depressionen gehören Hirnerkrankungen, Infektionen oder Entzündungen, kardiopulmonale Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz), Atemwegserkrankungen, endokrinologische und metabolische Erkrankungen (z. B. Hypo- oder Hyperthyreose, Diabetes mellitus, Fehl- bzw. Mangelernährung, Pankreatitis), Krebserkrankungen, Substanzmissbrauch oder die Einnahme von Medikamenten. Diesbezüglich bedarf es einer gründlichen somatischen Abklärung durch die Behandelnden (Hautzinger, 2000).

Die Diagnosestellung wird dadurch erschwert, dass ältere Patient:innen signifikant häufiger an körperlichen Komorbiditäten leiden. Körperliche Komorbiditäten können durch eine depressive Störung ausgelöst werden (DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, 2017). Die körperlichen Symptome stehen bei der Diagnostik allerdings häufig im Vordergrund, sodass die Gefahr besteht eine depressive Störung zu verkennen und als Folge des physiologischen Alterungsprozesses zu interpretieren (Wittchen & Pittrow, 2002). Hinweise auf das Vorliegen einer depressiven Störung im Alter können unerklärliche körperliche Symptome ohne organisches Korrelat, deutliche psychomotorische Verlangsamung, herabgesetztes Interesse an der eigenen Körperhygiene, vermehrtes Sorgen und Ruminieren, Ängste sowie Niedergestimmtheit sein (Gallo & Rabins, 1999).

Im Rahmen der Differentialdiagnosen spielen die Demenz und die Suizidalität eine besondere Rolle und werden deshalb im Folgenden ausführlicher beschrieben.

3.2.3.1 Depression und Demenz

Eine besondere differentialdiagnostische Herausforderung stellt das Krankheitsbild der Demenz dar. Anhand verschiedener Merkmale können beide Krankheitsbilder allerdings voneinander unterschieden werden. Ein erstes Unterscheidungsmerkmal ist der zeitliche Verlauf: Eine Depression beginnt rasch und die Diagnosestellung kann bei vorliegender Symptomatik nach zwei Wochen erfolgen. Eine dementielle Symptomatik beginnt eher langsam und schleichend und muss zur Diagnosestellung mindestens sechs Monate vorliegen. Eine neuropsychologische Testung kann bei der Diagnosestellung zusätzlich Aufschluss geben. Ältere Patient:innen, die unter Depressionen leiden, zeigen häufiger spezifische Aufmerksamkeits- und Exekutivfunktionsstörungen sowie Gedächtnisstörungen, besonders das episodische Gedächtnis betreffend. Im Vergleich zu dementen Patient:innen zeigen sie seltener Benennstörungen beim Abruf von visuell präsentierten Objekten (Notzon, Alferink & Arolt, 2016). Bei dementen Patient:innen liegen wiederum häufiger zeitliche und örtliche Orientierungsstörungen und Probleme bei der Alltagsbewältigung vor (Dessonville, Stoudemire & Morris, 1992). Auch der klinische Eindruck liefert Anhaltspunkte zur Differenzierung. Demente Patient:innen kommen häufig in Begleitung ihrer Angehörigen und bagatellisieren kognitive Defizite, während depressive Patient:innen alleine in die Praxis kommen und vermehrt über die Symptomatik klagen. Des Weiteren weisen depressive Patient:innen häufiger vaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen oder Diabetes mellitus auf (Rapp, 2005). Diese Risikofaktoren werden im Sinne eines ätiologischen Erklärungsmodells diskutiert, müssen diesbezüglich aber in der Zukunft noch weiter untersucht werden (Delaloye et al., 2010; Köhler, Thomas, Barnett & O´Brien, 2010).

Empirisch zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen Depression und Demenz. Das Risiko einer neurogenerativen Erkrankung wie z. B. der Alzheimer-Demenz ist bei Patient:innen mit einer depressiven Störung in der Vorgeschichte erhöht (Stoppe & Staedt, 1993). Wilson, Mottram und Vassilas (2008) konnten in einer prospektiven Studie zeigen, dass bei den über 65-jährigen Teilnehmenden mit jedem depressiven Symptom das Risiko, an Alzheimer-Demenz zu erkranken, um 19 % steigt. Die Ergebnisse einer Multicenterstudie wiesen ebenfalls darauf hin, dass ein später Beginn der depressiven Erkrankung mit einem erhöhten Risiko, eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln, assoziiert ist (Heser, 2013). Umgekehrt besteht ein ähnlicher Zusammenhang: Patient:innen mit Alzheimer-Demenz haben ein signifikant höheres Risiko, an einer depressiven Störung zu erkranken (Wernicke, Reischies & Linden, 2001). Derzeit existiert allerdings noch kein umfassender Erklärungsansatz für diese Befunde. Die Studienlage schwankt zudem bezüglich der Häufigkeit der depressiven Symptomatik bei Alzheimer-Demenz stark. In der Literatur werden Häufigkeiten zwischen 20 und 50 % diskutiert (Enache, Winblad & Aarsland, 2011).

3.2.3.2 Depression und Suizidalität

Die WHO (2013) schätzt, dass weltweit etwa eine halbe Million Menschen pro Jahr an den Folgen eines Suizids sterben. Die Zahl der Suizidversuche ist schätzungsweise 15- bis 20-mal höher. In Deutschland suizidierten sich im Jahr 2018 über 9 000 Menschen. Dabei sind bei den Männern deutlich häufiger als bei den Frauen vollendete Suizide zu verzeichnen. Etwa 76 % der vollendeten Suizide wurden von Männern begangen. Bei den Suizidversuchen sind hingegen junge Frauen gefährdeter. Das durchschnittliche Sterbealter lag bei den Männern bei 57,9 Jahren. Zwanzig Jahre zuvor betrug das Durchschnittsalter bei Suizid bei Männern noch 53,2 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 59,1 Jahre alt (Statistisches Bundesamt, 2020). Insbesondere bei Männern steigt die Suizidrate mit dem Alter erheblich an. So lag die Suizidrate im Jahr 2017 bei Männern im Alter zwischen 65 und 70 Jahren bei 22,1 Fällen pro 1 000 Einwohnenden und bei Männern im Alter zwischen 80 und 85 Jahren bei 49,7 Fällen pro 1 000 Einwohnenden. Dieser Zuwachs an Suiziden im höheren Erwachsenenalter wird auch als „ungarisches Muster“, nach dem Land seiner Erstbeobachtung, bezeichnet. In Deutschland wird ein Zuwachs seit den frühen 1950er Jahren beobachtet (Müller-Pein & Lindner, 2020).

Bei depressiven Patient:innen ist das Suizidrisiko deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Es wird auf etwa 15 bis 20 % geschätzt, wobei das Risiko bei Hochbetagten besonders hoch ist. Bei etwa 80 % der älteren depressiven Patient:innen zeigten sich klinisch relevante suizidale Tendenzen. In diesem Zusammenhang sind die Schwere der depressiven Symptomatik und vorangegangene Suizidversuche die besten Prädiktoren eines erneuten Suizidversuchs (Alexopoulos, Bruce, Hull, Sirey & Kakuma, 1999). Als soziologische Risikofaktoren eines Suizids fand Bronisch (2003) eine höhere soziale Schicht, Getrenntleben, Krisen in Familienbeziehungen, männliches Geschlecht, Arbeitslosigkeit, finanzielle Unsicherheit bezüglich des Lebensunterhalts und ein höheres Lebensalter. Der häufigste Anlass für Suizide sowie Suizidversuche im höheren Alter stellen Trennungen in partnerschaftlichen oder anderen persönlich relevanten sozialen Beziehungen dar.

3.2.4 Epidemiologie

In der Berliner Altersstudie wurden Prävalenzraten von 24 % für psychische Störungen bei der Altersgruppe der über 70-jährigen Teilnehmenden berichtet (Helmchen et al., 2010). Die Prävalenz für depressive Störungen im Alter variiert zwischen den Studien allerdings stark. Es liegen Befunde für eine Zunahme sowie für eine Abnahme klinisch bedeutsamer Depressionen und auch für ein altersunabhängiges Auftreten vor (Jorm, 2000; Pálsson & Skoog, 1997). Die erfassten Prävalenzraten werden deshalb in Abhängigkeit bestimmter Kriterien betrachtet. Werden die gängigen Diagnosekriterien sehr streng gefasst, werden Prävalenzraten bei Menschen im höheren Lebensalter von 0,8 bis 8 % berichtet (Blazer, Hughes & George, 1987; Cappeliez, 1988). Werden auch subklinische Manifestationen und leichtere Formen der Depression miteinbezogen, schwanken die Angaben zwischen 11 und 27 % (Luppa et al., 2012; Meeks et al. 2011). Bei Menschen im höheren Lebensalter mit Multimorbidität kann von einer Depressionsprävalenz von etwa 37 % ausgegangen werden (Linden et al., 1998). Bei Bewohner:innen von Heimen, stationären Einrichtungen oder anderen Institutionen werden Raten von 15 bis 50 % berichtet (Ernst, 1997; Teresi et al., 2001).

Querschnittsuntersuchungen konnten zeigen, dass die Prävalenz einer Depression nach dem 65. Lebensjahr geringer ist als in den mittleren Lebensjahren. Hochbetagte sind wiederum häufiger von depressiven Symptomen betroffen (Bland, Newmann & Orn, 1988; Kramer, German, Anthony, Von Korff & Skinner, 1985). Die erhöhte Vulnerabilität dieser Altersgruppe wird u. a. auf organische, soziale und biochemische Veränderungen zurückgeführt (Bruce, 2001).

3.2.5 Ätiologie

Bislang liegt kein einheitliches Modell vor, das die Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen im Alter kausal erklären kann. Im Folgenden werden das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Zubin & Spring, 1977), das Verstärker-Verlust-Modell (Lewinsohn, 1974) und das Modell der dysfunktionalen Kognitionen und Schemata (Beck, 1970, 1974) vorgestellt. Diese Modelle sind altersunspezifisch und beziehen sich auf ursächliche Zusammenhänge über die gesamte Lebensspanne. Im Folgenden werden die aufgeführten Modelle erläutert und es werden auf Basis dieser Modelle Bezüge zur Entstehung der Depression im Alter hergestellt.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell ist ein allgemein verbreitetes Modell, das seinen Ursprung in der klinischen Psychologie hat. Es wurde von den Psychiater:innen Josef Zublin und Bonnie Spring (1977) entwickelt. Im Kern dieses Modells steht die Annahme, dass eine Wechselwirkung zwischen Vulnerabilität (Verletzlichkeit, Krankheitsneigung) und Stress (Umwelteinflüsse) stattfindet, und dass beide Faktoren zur Entwicklung einer psychischen Störung notwendig sind. Es wird davon ausgegangen, dass psychologische, biologische und Umweltfaktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung beteiligt sind. Diese unterschiedlichen Faktoren sowie entwicklungspsychologische Prozesse finden im Modell, das in Abbildung 3.3 dargestellt wird, Berücksichtigung.

Die Entstehung einer psychischen Störung wird durch eine erhöhte Vulnerabilität in Verbindung mit kritischen und i. d. R. stressreichen Lebensereignissen begünstigt. Menschen mit einer geringen Vulnerabilität erkranken demnach erst bei hoher Stressintensität, Menschen mit erhöhter Vulnerabilität bereits bei niedriger. Eine erhöhte Vulnerabilität ergibt sich aus prädisponierenden Faktoren wie Genetik oder aus frühen adversen sozialen oder umweltbezogenen Erfahrungen wie z. B. körperliche oder emotionale Traumata. Über entwicklungspsychologische Prozesse akzentuieren sich diese Prädispositionen oder schwächen sich ab. Die Konstellation aus einer erhöhten Vulnerabilität und einem oder mehreren auslösenden kritischen Lebensereignissen führt zur Entstehung einer psychischen Störung. Die Schwere und der Verlauf der Erkrankung ergeben sich aus aufrechterhaltenden Faktoren wie beispielsweise aus fehlender sozialer Unterstützung oder aus dysfunktionalen Bewältigungsstrategien (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Abbildung 3.3
figure 3

Vulnerabilitäts-Stress-Modell zur Entstehung einer psychischen Störung in Anlehnung an Wittchen und Hoyer (2011)

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell erklärt allgemein die Entstehung psychischer Störungen und kann somit auch auf den Bereich der depressiven Störungen angewendet werden. Es findet sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung von Patient:innen mit depressiven Störungen Anwendung (Wittchen & Hoyer, 2011). Allerdings handelt es sich um ein heuristisches Modell. Es wird keine Aussage über die Gewichtung der einzelnen Komponenten gemacht und wie diese miteinander interagieren. Teilkomponenten dieses Modells konnten in Studien bereits belegt werden, die große Anzahl der beteiligten Faktoren und die Komplexität des Modells erschweren allerdings die vollständige Annahme.

Im Folgenden werden depressionsspezifische Risikofaktoren, die dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell entnommen wurden, näher erläutert. Dabei liegt der Fokus auf der Darstellung von Risikofaktoren, die spezifisch an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression im höheren Lebensalter beteiligt sind.

Traumata: Eine Reihe empirischer Studien konnte zeigen, dass die Entwicklung einer depressiven Störung mit erhöhter Wahrscheinlichkeit mit einem Trauma in der Kindheit assoziiert ist (Ege, Messias, Thapa & Krain, 2015; Raposo, Mackenzie, Henriksen & Afifi, 2014). Unter dem Begriff des Traumas werden sehr unterschiedliche Ereignisse wie Deprivation, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Vernachlässigung oder schwerwiegende Krankheitserfahrungen zusammengefasst (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Der Fokus der aktuellen Forschung von Traumafolgestörungen liegt im Bereich von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im mittleren Lebensalter. Das höhere Lebensalter über 65 Jahren und das hohe Alter ab 80 Jahren fanden bisher nur wenig Beachtung (Böttche, Kuwert & Knaevelsrud, 2012). In wenigen Studien, die das Alter fokussierten, waren die Daten zudem uneinheitlich. In einigen Studien zeigte sich eine verringerte, in anderen Studien eine erhöhte Prävalenz traumatischer Lebensereignisse im höheren Lebensalter (Frans, Rimmö, Åberg & Fredrikson, 2005; Maercker, Forstmeier, Wagner, Glaesmer & Brähler, 2008). Betrachtet man allerdings die Prävalenzzahlen der posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) zeigen sich Altersunterschiede. Die Lebenszeitprävalenz für eine PTBS liegt in der deutschen Allgemeinbevölkerung etwa zwischen 1,5 und 2,3 % (Schäfer et al., 2019). Studien, die das junge Erwachsenenalter fokussierten, fanden eine Lebenszeitprävalenz zwischen 1,3 und 4,7 % (McLaughlin et al., 2013; Perkonigg, Kessler, Storz & Wittchen, 2000). Bei Menschen im höheren Erwachsenenalter zeigten sich höhere Prävalenzzahlen. In einer Studie konnten Glaesmer, Kaiser, Bräehler, Freyberger und Kuwert (2012) zeigen, dass bei über 1 000 zufällig ausgewählten Studienteilnehmenden im Alter zwischen 60 und 85 Jahren die Prävalenz klinisch relevanter PTBS-Symptome bei über 4 % lag. Weitere 12,2 % erfüllten die Kriterien einer subsyndromalen PTBS. Andere Studien berichten, dass bei Menschen ab dem 70. Lebensjahr das Auftreten einer voll ausgeprägten PTBS bei etwa 5 bis 11 % liegt (Hunt & Robbins, 2001; Maerker et al., 2008), bei Kriegsveteranen bei etwa 12 % (Durai et al., 2011) und eine subsyndromale PTBS bei bis zu 40 % (Wendt, Freitag & Schmidt, 2012). In einzelnen Untersuchungen zeigten sich in der Allgemeinbevölkerung sogar Häufigkeiten eines Vollbildes einer PTBS zwischen 10 und 20 % (Favaro, Tenconi, Colombo & Santonastaso, 2006; Kuwert, Spitzer, Träder, Freyberger & Ermann, 2007).

In diesen sowie in anderen Untersuchungen wurden die erhöhten Häufigkeiten posttraumatischer Symptome in der Generation der über 75-Jährigen zum Teil auf Traumata zurückgeführt, die während des Zweiten Weltkriegs erlebt wurden. Dazu gehören beispielsweise der gewaltsame Tod bzw. Verlust wichtiger Bezugspersonen (Maercker & Leopold, 2002), Fronteinsätze, körperliche und sexuelle Gewalt, Folter, Bombenangriffe, Flucht, Hunger, Kriegsgefangenschaft (Hunt & Robbins, 2001; Kuwert et al., 2007) oder Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Holocaust (Kruse & Schmitt, 2013).

Zu den Symptomen der PTBS in dieser Altersgruppe kommen zudem häufig weitere komorbide Störungen wie Depressionen, Angst-, Substanzmissbrauchs- oder somatoforme Störungen hinzu (Böttche et al., 2012; Glaesmer et al., 2012).

Persönlichkeit und kognitiver Stil: Traumata oder kritische Lebensereignisse haben einen Einfluss auf die Persönlichkeit und den kognitiven Stil und erhöhen darüber hinaus das Risiko, eine depressive Störung zu entwickeln. Individuelle Dispositionen wie Verhaltenshemmung oder Affektlabilität in der Kindheit gelten als umfassend untersuchte und gut gesicherte Prädiktoren einer depressiven Störung (Goodyer, Ashby, Altham, Vize & Cooper, 1993). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass es Menschen im höheren Lebensalter mit unflexiblen und rigiden Vorstellungen, hoch ausgeprägtem Perfektionismus, fatalistischen Attributionsstilen und einer ausgeprägten Misserfolgsorientierung schwerer fällt, sich an altersspezifische Veränderungen anzupassen. Das Festhalten an früheren Zielen und Vorstellungen kann mit Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Frustration einhergehen, die das Risiko einer depressiven Störung begünstigen (Hautzinger, 2000; Heisel, 2004).

Soziale Faktoren: Der Verlust einer nahestehenden Bezugsperson, z. B. durch Verwitwung, scheint mit einem erhöhten Depressionsrisiko einherzugehen (Weyerer & Bickel, 2006). Es scheint naheliegend, dass eine Trauerreaktion bei der Entstehung einer depressiven Störung eine kausale Rolle spielen kann. Dies trifft allerdings nur sehr bedingt zu: Trauer scheint in den meisten Kulturen eine adaptive Reaktion auf Verluste zu sein. Sie dient dem Erhalt sozialer Unterstützung und der Zuwendung durch Dritte. Kurzfristig dient Trauer der Ablösung, langfristig aufrechterhaltend hat sie allerdings psychopathologische Effekte (Birbaumer & Schmidt, 2006). Trauer und Depression sind komplexe psychische Phänome, die sich in ihrem Symptombild überlappen. Eine Trauerreaktion kann ebenfalls Ärger, Angst, ein Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit beinhalten. Allerdings können bei einer depressiven Episode im Vergleich zur Trauerreaktion neben den genannten emotionalen Reaktionen auch Wut, Ekel, Schuld und Scham hinzukommen. Besonders in der zeitlichen Dimension finden sich relevante Unterschiede. Während bei den meisten die trauern die Schwere der Symptomatik nach einiger Zeit graduell abnimmt, wird bei depressiven Störungen ein längerer Verlauf der depressiven Episoden beobachtet (Fox & Jones, 2013). Das DSM-5 unterscheidet Trauer, komplexe Trauer und unipolare Depressionen, um inhaltliche und phänomenologische Abgrenzungen zu ermöglichen und Behandlungsbedarfe einzuschätzen.

Aus Verlusterlebnissen resultiert demnach nicht zwangsläufig eine depressive Reaktion, sie stellen jedoch einen begünstigenden Risikofaktor dar. Nach einem Verlusterlebnis scheinen Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung u. a. durch soziale Bindung und Unterstützung beeinflusst zu werden. Ein spärliches soziales Netzwerk und subjektiv empfundene Einsamkeit (emotional loneliness) erhöhen das Erkrankungsrisiko und beeinflussen Intensität und Dauer der depressiven Symptomatik (Luijendijk, Van Den Berg, Hofman, Tiemeier & Stricker, 2011; Peerenboom, Collard, Naarding & Comijs, 2015).

Geschlecht: Frauen weisen in jüngeren Jahren ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko für Depressionen auf wie Männer. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass der Erkrankungsbeginn bei Mädchen und jungen Frauen tendenziell früher ist und im Jugend- und frühen Erwachsenenalter steiler ansteigt als bei Jungen und jungen Männern. Zudem ist die Rückfallhäufigkeit bei Frauen im Vergleich zu Männern erhöht. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verringern sich allerdings mit fortschreitendem Alter. Im mittleren und höheren Erwachsenenalter sind die Depressionsraten nahezu vergleichbar (Hoffmann & Schauenburg, 2000).

Als weitere Risikofaktoren zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression im Alter gelten vorangegangene depressive Episoden, kognitive und funktionelle Beeinträchtigungen, Schlafstörungen (Djernes, 2006), Adipositas (Almeida, Calver, Jamrozik, Hankey & Flicker, 2009), finanzielle Belastungen (Cole & Dendukuri, 2003), Rauchen und Alkoholmissbrauch (Weyerer et al., 2013) sowie körperliche Inaktivität (Almeida et al., 2011). Allerdings gibt es auch eine Reihe umfassend untersuchter protektiver Faktoren wie soziale Unterstützung, körperliche und geistige Aktivität (Weisenbach & Kumar, 2014), hoher sozioökonomischer Status, höheres Bildungsniveau sowie soziales Engagement verbunden mit Gefühlen von Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit (Fiske, Wetherell & Gatz, 2009; Lützenkirchen, 2008).

Unabhängig vom gerontopsychologischen Kontext hat Lewinsohn (1974) ein lern- und verhaltenspsychologisches Modell zur Entstehung depressiver Störungen entwickelt. Das Verstärker-Verlust-Modell wird in Abbildung 3.4 dargestellt. Nach diesem Modell kann aus einem Verstärkerverlust bzw. aus einer zu geringen Rate an verhaltenskontingenter positiver Verstärkung eine depressive Symptomatik resultieren. Zu den positiven Verstärkern gehören insbesondere Erfahrungen aus sozial-interaktionellen Prozessen.

Das Verstärker-Verlust-Modell wurde empirisch überprüft und von Gallagher-Thompson und Thompson (1981) auf den gerontopsychiatrischen Bereich übertragen. Bei Menschen im höheren Erwachsenenalter sind für die Verringerung der Rate positiver Verstärker unterschiedliche Faktoren verantwortlich:

  1. 1.

    Die Anzahl und die Qualität positiv verstärkender Ereignisse verringern sich beispielsweise aufgrund schlechterer finanzieller Möglichkeiten oder sozialer Isolation durch Mobilitätseinbußen.

  2. 2.

    Mangelnde Erreichbarkeit oder Verfügbarkeit von verstärkenden Ereignissen beispielsweise durch Tod der Ehepartner:innen oder bei Berentung, wodurch ein Verlust des sozialen Netzwerks entstehen kann.

  3. 3.

    Defizite im Bereich des instrumentellen Verhaltens oder der instrumentellen Fähigkeiten: Bestimmte Aktivitäten werden aufgrund von Fertigkeitsdefiziten nicht mehr durchgeführt. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Sportarten oder Handarbeiten, die ein hohes Maß an Feinmotorik erfordern.

Abbildung 3.4
figure 4

Verstärker-Verlust-Modell zur Entstehung depressiver Störungen nach Lewinsohn (1974)

Bezogen auf den gerontopsychologischen Kontext kann festgestellt werden, dass ältere Menschen einer Reihe von altersassoziierten Entwicklungsaufgaben und Veränderungen gegenüberstehen. Dazu kann der Verlust von Funktionen, Aufgaben und Rollen durch die Berentung gehören, aber auch soziale, körperliche, kognitive, ökonomische Veränderungen, wie der Verlust nahestehender Bezugspersonen, die Verkleinerung des sozialen Netzwerkes, die Veränderung bekannter Alltagsstrukturen, finanzielle Einschränkungen oder ein subjektiv empfundener Kontrollverlust.

Das Modell beschreibt Bedingungen zur Entstehung- und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung im Alter: Positive Verstärker verringern sich, sind nicht mehr zugänglich oder verschwinden ganz, was das Erkrankungsrisiko erhöht. Weiterhin problematisch ist, dass die depressive Symptomatik kurzfristig sogar positiv verstärkt wird, und zwar durch ein höheres Maß an Zuwendung, Aufmerksamkeit und Hilfestellung durch Freund:innen oder Angehörige. Dies kann zur Aufrechterhaltung der Symptomatik beitragen. Mittel- und langfristig ergeben sich durch die Symptomatik für Patient:innen allerdings Probleme besonders im sozialen Bereich. Aufgrund bestimmter krankheitsbedingter Symptome wie Defiziten im Sozialverhalten (verringerter Blickkontakt, leise und monotone Stimme, Vermeidung sozialer Interaktion, Schuldzuschreibungen, mangelnde Empathiefähigkeit) werden Menschen mit Depressionen von anderen Personen dann oft eher gemieden, wodurch es zu einem Wegfall von weiteren Verstärkern kommt. Die Gefahr einer abwärts gerichteten Spirale entsteht: Durch Antriebs- und Interessenverlust kommt es zum sozialen Rückzug, der einen Verlust an (sozialen) positiven Verstärkern bedeuten kann. Durch den Verlust kann es wiederum zu einer Verschlechterung der Stimmung kommen, womit weitere Rückzugstendenzen verbunden sind. Die daraus resultierenden Verstärkerverluste begünstigen die beschriebene abwärts gerichtete Spirale und es kann von einem Teufelskreis gesprochen werden (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Aufrechterhaltende Bedingungen einer depressiven Störung (Verringerung der Rate sozial-interaktioneller Verstärker) werden durch das Modell gut erklärt, allerdings mangelt es an empirischen Befunden zur Störungsentstehung. Dennoch besitzt dieses Modell starken heuristischen Wert für die Gestaltung psychotherapeutischer Behandlungsmaßnahmen. Beispielsweise lassen sich daraus Behandlungsmaßnahmen wie etwa die Steigerung positiver Aktivitäten oder der Aufbau eines sozialen Netzwerkes ableiten (Hautzinger, 2000).

Ein weiteres Modell zur Entstehung depressiver Störungen stellt das Modell der dysfunktionalen Kognitionen und Schemata nach Aaron T. Beck (1970, 1974) dar. Nach diesem Modell beruhen depressive Störungen auf dysfunktionalen kognitiven Schemata oder Überzeugungen, die für eine verzerrte Sicht auf die Realität sorgen. Diese Wahrnehmungsverzerrungen beziehen sich auf drei Bereiche: negative Grundannahmen gegenüber sich selbst, der Umwelt und bezüglich der Zukunft. Beck spricht dabei von einer kognitiven Triade. Die Entwicklung dieser negativen Grundannahmen kann durch Erfahrungen in der Kindheit bedingt sein (z. B. Zurückweisung, Mangel an elterlicher Zuwendung und Wärme) und im weiteren Lebensverlauf durch bestimmte Situationen wieder aktiviert werden (z. B. Verlust einer Bezugsperson).

Durch dysfunktionale Grundannahmen über sich selbst (z. B. „Nur wenn ich perfekte Leistungen bringe, bin ich es wert, gemocht zu werden.“) kommt es zu automatischen Gedanken, die häufig absolutistisch, verallgemeinernd oder verzerrt sind. Diese automatischen Gedanken verstärken wiederum die dysfunktionalen kognitiven Schemata und führen zu kognitiven Fehlern wie voreiligen Schlüssen („Ich werde nicht zu diesem Treffen gehen. Dort will mich sowieso niemand sehen.“), Katastrophisieren („Ich werde im Ruhestand verarmen.“), Übergeneralisierung („Die Nachbarin hat mich nicht gegrüßt. Sie und die anderen Nachbarn haben etwas gegen mich.“), Alles-oder-Nichts-Denken („Wenn ich nicht nach wie vor jeden Tag zum Sport gehe, roste ich komplett ein.“), Über- und Untertreibung („Ich habe heute meine Bekannte versetzt. Sie wird sich nie wieder mit mir treffen wollen.“) oder emotionale Beweisführung („Der Ruhestand macht mir Angst. Das ist ein Zeichen, dass ich unglücklich sein werde.“; Beesdo-Baum & Wittchen, 2011).

Abbildung 3.5 zeigt das Modell der dysfunktionalen Kognitionen und Schemata und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einem auslösenden Ereignis, automatischen Gedanken, die aus dysfunktionalen Grundannahmen resultieren, und der Entstehung depressiver Symptome.

Abbildung 3.5
figure 5

Modell der dysfunktionalen Kognitionen und Schemata nach Aaron T. Beck (1970, 1974)

Offen bleibt, ob kognitive Verzerrungen und Denkfehler im ätiologischen Sinne verantwortlich für die Entstehung einer depressiven Störung sind. In Therapie und Behandlung spielen Hoffnungslosigkeit, Selbstzweifel und ein geringer Selbstwert, deren Entstehung durch negative dysfunktionale Überzeugungen erklärt werden, eine zentrale Rolle. Kognitive Behandlungsstrategien zeigen eine hohe Wirksamkeit in der Behandlung von Depressionen (Beck, Rush, Shaw & Emery, 1996; Hautzinger, 2013; McCullough, 2007). Die Wirksamkeit einer Therapie ist zwar kein Beleg für das Zutreffen zugrundeliegender ätiologischer Annahmen, allerdings konnte in Metaanalysen gezeigt werden, dass dysfunktionale Denkstile und Depressionen stark miteinander assoziiert sind und dass es einen positiven Zusammenhang zwischen einem dysfunktionalen Attributionsstil und depressiver Symptomatik gibt (Gladstone & Kaslow, 1995; Sweeney, Anderson & Bailey, 1986).

Wie können ätiologische Modelle und Konzepte zur Entstehung depressiver Störungen auf die Depression im Alter angewendet werden? Nach der Theorie der selektiven Optimierung und Kompensation (Baltes & Baltes, 1989), die in Abschnitt 3.1.3 vorgestellt wurde, resultieren Depressionen, wenn (1) eine Anpassung an altersspezifische Voraussetzungen nicht gelingt und Ziele nicht entsprechend angepasst werden, (2) sinnvolle und persönlich relevante Selektionen z. B. in persönlichen Ansprüchen oder im sozialen Bereich nicht gelingen oder (3) kompensatorische Ressourcen nicht vorhanden sind oder nicht genutzt werden. Hinzu kommen mangelnde Kontrollüberzeugungen und wiederholte Erfahrungen von Hilflosigkeit oder geringer Selbstwirksamkeit in der Lerngeschichte.

Die beschriebenen Theorien zeigen, dass depressive Störungen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dann auftreten, wenn Situationen oder Veränderungen, die Personen als persönlich relevant ansehen, als unkontrollierbar erlebt werden und es der Person an Ressourcen oder Strategien fehlt, die zur Bewältigung nötig bzw. hilfreich wären. Dies ist im Alter häufiger der Fall: Der Verlust wichtiger Bezugspersonen und eine altersbedingte Verschlechterung der körperlichen Konstitution können als Kontrollverlust erlebt werden. Zudem kann es zu einem Verlust von Ressourcen kommen, wodurch mangelnde Kontrollüberzeugungen zusätzlich begünstigt werden. Psychologische Interventionen unterstützen Patient:innen darin, Verhalten zur Bewältigung oder Veränderung zu erlernen, Kompetenzen und Ressourcen aufzubauen, neue Ziele zu entwickeln und an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Letztlich sollen damit Kontrollüberzeugungen zum einen gefördert und zum anderen aktiviert werden (Hautzinger, 2000).

3.2.6 Therapie und Behandlung

In einer deutschlandweiten Untersuchung konnte gezeigt werden, dass lediglich 2 %, der mit ambulanter Psychotherapie behandelten Patient:innen über 65 Jahre alt waren (Zepf, Mengele & Marx, 2002). Eine Befragung von 97 psychosomatischen Kliniken in Deutschland zeigte, dass 21,5 % der Patient:innen 50 bis 59 Jahre, 5,2 % 60 bis 69 und 1,3 % über 70 Jahre alt waren (Lange, Peters & Radebold, 1995). Geht man von Prävalenzraten zwischen 20 und 25 % für depressive Störungen bei über 65-jährigen Menschen aus, scheint der Anteil der Patient:innen, die sich in ambulanter oder klinischer Behandlung befinden, gering (Bickel, 2003). Es kann davon ausgegangen werden, dass Personen im höheren Erwachsenenalter im Vergleich zu anderen Altersgruppen psychotherapeutisch unterversorgt sind (Holthoff, 2015; Melchinger, 2011). Dabei gelten für die psychotherapeutische Behandlung älterer Menschen prinzipiell keine Einschränkungen. Allerdings kommen bestimmte altersspezifische Besonderheiten hinzu. Dazu gehören der Einbezug somatischer Komorbiditäten, Mobilitätseinschränkungen, mögliche kognitive Funktionseinschränkungen oder Vorbehalte der Betroffenen bzgl. psychischer Erkrankungen oder Psychotherapie (Hirsch, Bronisch & Sulz, 2009; Riedel-Heller, Weyerer, König & Luppa, 2012).

Zur Beantwortung der Frage, ob psychotherapeutische Interventionen auch bei der Behandlung depressiver Störungen im höheren Lebensalter effektiv sind, liegt derzeit lediglich eine geringe Anzahl von Studien vor. Es existiert ein deutlicher Mangel an qualitativ hochwertigen Interventionsstudien, die das höhere Erwachsenenalter fokussiert haben. Dennoch kann anhand der vorliegenden Daten zunächst davon ausgegangen werden, dass Psychotherapie auch im Alter wirksam ist (De Jong-Meyer, Hautzinger, Kühner & Schramm, 2007; Gühne, Luppa, König, Hautzinger & Riedel-Heller, 2014; Wilson et al., 2008). Zudem gibt es eindeutige Hinweise auf die Wirksamkeit von Psychotherapie bei depressiven Störungen und die Psychotherapie kann durchaus auch im Alter als Mittel der Wahl angesehen werden (Francis & Kumar, 2013).

Im Rahmen einer Metaanalyse konnten Cuijpers, Van Straten, Smit und Andersson (2009) zeigen, dass die Effektivität psychotherapeutischer Interventionen im höheren Erwachsenenalter mit der in jüngeren Jahren vergleichbar war. Die den Metaanalysen und systematischen Reviews zugrundeliegenden Primärstudien weisen allerdings einige Mängel auf. Limitationen ergeben sich beispielsweise aus stark selektierten Stichproben mit vergleichsweise gesunden und kognitiv wie körperlich wenig beeinträchtigten jungen Alten (Gühne et al., 2014). Reynolds III et al. (1999) untersuchten in einer Langzeitstudie die Effektivität verschiedener Interventionen bei Menschen über 59 Jahren mit rezidivierender Depression. Dazu gehörten Psychopharmaka (Antidepressivum), Psychotherapie oder eine Kombination aus beidem. Die Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmaka zeigte sich bei der Zielgruppe als hochwirksam und allen Einzelmaßnahmen überlegen. Die Autor:innen wiederholten daraufhin die Studie mit hochaltrigen Patient:innen (≥ 70 Jahre) mit mehr kognitiven Beeinträchtigungen und körperlichen Komorbiditäten. Hier erwies sich die Psychotherapie weder als Monotherapie noch in Kombination mit dem Antidepressivum als wirksam. Statt daraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass Psychotherapie bei Hochaltrigen nicht wirksam ist, sollte über die Modifikation psychotherapeutischer Verfahren, ggf. mit einer höheren Frequenz (mehrmals pro Woche, dafür kürzer) nachgedacht werden.

Bei der Behandlung der Depression im Alter haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze bewährt und sind mittlerweile empirisch gut abgesichert (Gühne et al., 2014; Karel & Hinrichsen, 2000). Ältere Patient:innen, die mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelt wurden, zeigten im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe einen deutlich günstigeren Verlauf der depressiven Symptomatik. Im Vergleich zu einer psychodynamischen Gruppentherapie zeigte sich kein Unterschied bezüglich der Wirksamkeit (Steuer et al., 1984). Unabhängig von der Therapieform zeigten sich zudem keine relevanten Unterschiede zwischen psychotherapeutischer Einzel- oder Gruppenbehandlung (Agronin, 2009; Cuijpers et al., 2009). Aufgrund aktueller systematischer Reviews scheint die Kombination aus Psychotherapie und einer geeigneten antidepressiven Medikation, besonders bei älteren Patient:innen mit einem höheren Schweregrad der depressiven Symptomatik, wirksamer zu sein als eine Monotherapie (Cuijpers et al., 2012; Simon & Perlis, 2010). Wirkfaktoren der Psychotherapie, die unabhängig von der Therapieschule, Diagnose und dem Alter als relevant angesehen werden, sind die therapeutische Beziehung als wichtigster Wirkfaktor, die Aktivierung von Ressourcen und ggf. eines Helfernetzwerks sowie die Problemaktualisierung und aktive Problembewältigung (Grawe, 1998).

In der Psychotherapie mit Menschen im höheren Lebensalter ist es sinnvoll, Einschränkungen und Grenzen sowie Potenziale und Chancen des Alters zu beachten. Altersspezifische Entwicklungsaufgaben müssen erkannt und die Betroffenen bei der Bewältigung unterstützt werden (Kruse, 2014; Radebold, 2006). Besonderheiten im psychotherapeutischen Prozess bestehen darin, dass bei vielen Menschen im höheren Lebensalter Vorbehalte und Vorurteile bezüglich Psychotherapie vorliegen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und emotionalen Zuständen kann verunsichern oder Skepsis hervorrufen (Peters, 2009). Es kann zur Abwertung des häufig jüngeren psychotherapeutischen Teams oder zu einer Fixierung auf somatische Symptome kommen. Aufgrund des Altersunterschieds muss zudem die Rolle der psychotherapeutisch Behandelnden klar definiert werden.

Trotz dieser Besonderheiten konnte in den letzten Jahren ein positiver Wandel im Hinblick auf Einstellungen und Erwartungen bezüglich Psychotherapie bei jüngeren Menschen sowie bei Menschen im höheren Lebensalter beobachtet werden. Durch diesen Wandel gewinnt die Psychotherapie als Mittel der Wahl an Akzeptanz, was für die Behandlung der Depression im Alter mithilfe von psychotherapeutischen Interventionen durchaus hilfreich ist (Floyd, Scogin, McKendree-Smith, Floyd & Rokke, 2004; Gum et al., 2006).

3.3 Emotionen und Emotionsregulation

Emotionen bereichern das Leben mit angenehmen oder sogar großartigen Erfahrungen und können ebenso Erlebniszustände verursachen, die schmerzhaft oder furchtbar sind. Emotionen sind fester Bestandteil des Lebens und der Umgang mit ihnen läuft häufig automatisch ab: Menschen mit Prüfungsangst versuchen diese zum Beispiel zu verringern, indem sie sich vorstellen, die Prüfung bereits bestanden zu haben. Bei Traurigkeit oder Ärger über einen Misserfolg versuchen Betroffene die Situation kognitiv neu zu bewerten und die positiven Seiten dieser Angelegenheit zu betrachten oder sich in dieser belastenden Situation selber Mut zuzusprechen. Eine typische Reaktion bei Scham wiederum ist es, die reale oder gedankliche Auseinandersetzung mit dieser speziellen Situation zu vermeiden oder zu unterdrücken, da diese mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist.

Diese Fälle aus dem alltäglichen Leben zeigen, dass Individuen Einfluss auf ihre Emotionen nehmen. Sie versuchen diese, mit dem bewussten oder unbewussten Ziel, ihr Wohlbefinden wiederherzustellen oder zu steigern, zu regulieren (Gross, 1998b). In der Regel wird dahingehend reguliert, belastende Emotionen zu verringern bzw. zu eliminieren und angenehme Emotionen zu intensivieren oder zeitlich auszudehnen (Gross, Richards & John, 2006). Dieser emotionsregulative Prozess ist für die meisten Menschen intuitiv und läuft beinah automatisch ab. Es gibt allerdings Menschen, denen dieser Prozess Probleme bereitet. Der Regulationsprozess verursacht dann Emotionen und Verhaltensweisen, die hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität Leidensdruck erzeugen und es der jeweiligen Person erschweren, sich bedürfnisorientiert zu verhalten (Eismann & Lammers, 2017).

Es gibt unzählige Beispiele für Situationen, in denen der Regulationsprozess nicht zu Gunsten persönlicher Bedürfnisse gelingt. Psychische Erkrankungen wie Depressionen sind deutliche Beispiele dafür, dass die adaptive Regulation von Emotionen problematisch sein kann. Trotz anhaltender belastender Emotionen wie Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sind Menschen, die unter Depressionen leiden, weniger erfolgreich darin, diese belastenden Gefühle zu beeinflussen und zu regulieren. Sie haben Schwierigkeiten intensive und belastende Gefühlszustände auszuhalten bzw. zu verändern und verbleiben deutlich länger in diesen negativen emotionalen Zuständen (Radkovsky, 2017).

Um das Störungsbild der Depression im Sinne eines Emotionsregulationsdefizits zu untersuchen, werden im Folgenden die Konstrukte Emotionen und Emotionsregulation definiert und ausführlich beschrieben. Zudem wird auf die Problematik bei der Definition des Emotionsbegriffs eingegangen. Theoretische Modelle der Emotionsregulation sowie verschiedene Emotionsregulationsstrategien, die für diese Arbeit besonders relevant sind, werden beschrieben. Des Weiteren werden die Begriffe adaptiv und maladpativ eingeführt und als Klassifikationskriterium kritisch beleuchtet. Außerdem werden die Möglichkeiten und Grenzen von Selbst- und Fremdbeurteilungen bei der Messung emotionsregulativer Kompetenzen dargestellt. Abschließend erfolgt eine Analyse des derzeitigen Forschungsstandes zum Zusammenhang von Emotionsregulation und depressiven Störungen über die gesamte Lebensspanne. Dabei wird der Fokus auf das Kindes- und Jugendalter sowie auf das junge und mittlere Erwachsenenalter gelegt. Des Weiteren wird der derzeitige Forschungsstand zum Zusammenhang  von Emotionsregulation und der Depression im höheren Erwachsenenalter dargestellt. Aus dieser Analyse werden abschließend die Fragestellungen abgeleitet und die Hypothesen dieser Arbeit gebildet.

3.3.1 Emotionen

Wenn von Emotionen oder Gefühlen die Rede ist, bestehen im Allgemeinen bestimmte Vorstellungen oder Ideen von diesem Konstrukt. Allerdings bereitet die konkrete Definition im alltäglichen und besonders im wissenschaftlichen Sprachgebrauch Probleme (Brandstätter, Schüler, Puca & Lozo, 2013). Selbst die Entscheidung, was zum Konstrukt der Emotion gehört, ist bis heute nicht gänzlich geklärt. So bezeichnen wir z. B. Angst, Ärger, Wut oder Freude relativ klar als Emotionen, aber wie ist es mit Neugier oder Langeweile? Bei der theoretischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen scheinen eine genaue Definition und Klassifikation oder zumindest eine Eingrenzung sinnvoll.

Der Begriff der Emotion entwickelte sich aus dem lateinischen Wort emovere und kann mit unterbrechen, herausbewegen oder wegbewegen übersetzt werden. Häufig synonym werden die Begriffe Gefühl, Affekt und Stimmung verwendet, die bei näherer Betrachtung allerdings deutliche Unterschiede aufweisen.

Das Gefühl stellt nur einen Teil der Emotion dar. Hier geht es um das Fühlen, die Wahrnehmung einer spezifischen Emotion oder um „ein individuelles Empfinden bzw. um die private, mentale Erfahrung einer Emotion“ (Lammers, 2007, S. 30). Es handelt sich um eine subjektive Erlebenskomponente, die abhängig von der Person ist und sehr individuell wahrgenommen wird. Das Gefühl ist somit lediglich eine von mehreren Komponenten der Emotion (Merten, 2003). Oder um es in den Worten des Neurowissenschaftlers Antonio R. Damasio (2016) zu sagen: „Die Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, die Gefühle auf der Bühne des Geistes. […] Emotionen sind sichtbar für Außenstehende; Gefühle bleiben verborgen, sie sind Vorstellungen im Gehirn“ (S. 103).

Der Begriff des Affekts wird im deutschen häufig im psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kontext verwendet. Darunter werden kurze und intensive Emotionszustände zusammengefasst, die eine starke Verhaltenstendenz aufweisen bzw. zum Verlust der Handlungskontrolle führen (Sokolowski, 2008). Im Englischen werden die Begriffe affect und emotion häufig synonym verwendet.

Stimmungen unterscheiden sich bezüglich Intensität und Dauer von Emotionen. Sie sind zeitlich ausgedehnter, dafür allerdings weniger intensiv (Brandstätter et al., 2013). Deshalb werden sie teilweise auch als verringerte, sogenannte low-level-Emotionen bezeichnet (Isen, 1984). Im Vergleich zu Stimmungen sind Emotionen objektgerichtet, d. h. sie sind auf ein bestimmtes Objekt oder Ereignis bezogen. Stimmungen sind im Gegensatz dazu situationsunabhängig und sind keine direkte Reaktion auf unmittelbare Reize bzw. lösen keine eindeutige Handlungskonsequenz aus. Stimmungen werden genau wie Emotionen als angenehm oder unangenehm erlebt (Brandstätter et al., 2013).

3.3.1.1 (Arbeits-) Definition von Emotionen

Es existiert eine Vielzahl an Definitionen zum Begriff der Emotion, die sich je nach wissenschaftlicher Tradition und Orientierung unterscheiden und sich dennoch an mehreren Stellen überschneiden (Scherer, 1990).

Nach Gross (1999) entsteht eine Emotion aus der Bewertung eines internalen oder externalen Reizes. Dieser Bewertungsprozess aktiviert ein koordiniertes Netzwerk von Verhaltens-, Erlebens- und physiologischen Reaktionstendenzen, das die adaptive Bewältigung einer bestimmten Situation ermöglichen soll. Auch andere Autor:innen beschreiben verschiedene Ebenen, auf denen Emotionen wahrgenommen bzw. die von ihnen beeinflusst werden (Izard, 1991; Izard & Kobak, 1991; Lang, 1995). Emotionen umfassen dabei neuronale, expressive und kognitive Prozesse, die eine subjektive Interpretation, Körpersymptome und einen Handlungsimpuls beinhalten. Frijda (1986) definiert Emotionen als ein für die Person informatives Bedeutungssystem, das Rückmeldungen über aktuelle körperliche oder geistige Zustände und Prozesse gibt. Vice versa ausgedrückt bedeutet dies: Die Bewertung oder Einschätzung einer bestimmten Situation oder eines Ereignisses führt zur Entstehung einer spezifischen Emotion. Die Emotion informiert die Person über die Relevanz und Bedeutung einer Situation oder eines Ereignisses und ermöglicht die Ausrichtung der persönlichen Bedürfnisse.

Angesichts der Notwendigkeit einer Eingrenzung des Konstruktes, die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung notwendig ist, scheint es naheliegend zu sein, eine der vielen Definitionen auszuwählen und zu verwenden. Frijda (1986) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Konstrukt dieses zwar von anderen abgrenzbar sein sollte, aber eine exakte Definition des Begriffs nicht unbedingt erforderlich ist. Eine solche Definition ist zu Beginn einer Untersuchung auch schwer möglich, da die Abgrenzung von anderen mehr oder weniger verwandten Phänomenen wie Stimmungen, Bedürfnissen, Gedanken oder körperlichen Empfindungen problematisch ist und sich im Untersuchungsverlauf ergibt. Die Frage, was Emotionen sind und wie sie exakt definiert werden, stellt keine Voraussetzung für den wissenschaftlichen Prozess dar, sondern ist in aller Regel das Ergebnis (Frijda, 1986).

Eine exakte Definition ist (noch) nicht möglich und auch nicht notwendig. Allerdings wird eine Eingrenzung benötigt, die die Charakteristika des zu untersuchenden Konstrukts beschreibt. Eine solche Charakterisierung kann als Arbeitsdefinition bezeichnet werden (Frijda, 1986). Eine Arbeitsdefinition sollte den größtmöglichen Konsens zwischen den verschiedenen Definitionen darstellen. Nach aktueller wissenschaftlicher Beurteilung sollte eine Arbeitsdefinition des Emotionsbegriffs die folgenden Merkmale enthalten: (1) es werden aktuelle Zustände beschrieben, (2) Qualität und Intensität werden unterschieden, (3) Objektgerichtetheit liegt vor, (4) ein charakteristisches Erleben von einem genannten Zustand kann beschrieben werden, (5) es treten physiologische Veränderungen auf, (6) bestimmte Verhaltensweisen werden initiiert bzw. die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Verhalten auszuführen, steigt (Brandstätter et al., 2013).

Eine Arbeitsdefinition, die diese Merkmale beinhaltet, ist die Definition von Kleinginna und Kleinginna (1981). Sie listeten 92 wissenschaftliche Definitionen in elf Kategorien auf und kondensierten daraus eine Arbeitsdefinition:

Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural-hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goal-directed, and adaptive. (S. 355)

Nach dieser Definition haben Emotionen eine subjektive und eine objektive Komponente, die neuronal und hormonell vermittelt wird. Zu den beschriebenen Komponenten in dieser Definition gehören auch Gefühle, die auf zwei Achsen eingeordnet werden. Die Achsen haben die Pole Erregung und Beruhigung sowie Lust und Unlust. Zudem gehören eine kognitive Komponente wie die individuelle Bewertung und eine physiologische Komponente wie die Veränderung der Herzrate, Erhöhung der Hautleitfähigkeit oder Veränderungen des autonomen Nervensystems dazu. Diese physiologischen Veränderungen sorgen für eine Anpassung an die aktuelle Situation. Eine Erhöhung der Herzrate bei Angst bereitet beispielsweise auf eine mögliche Flucht vor und sorgt dafür, dass dem Körper genügend Ressourcen wie z. B. Sauerstoff zur Verfügung stehen. Das Verhalten, das aus der Emotion resultiert, sollte dann zielgerichtet und adaptiv sein, d. h., eine angemessene Anpassung ermöglichen. Eine Emotion stellt somit eine unmittelbare und zeitlich begrenzte gefühlsmäßige, physiologische, behaviorale und kognitive Reaktion auf ein für die jeweilige Person relevantes Ereignis dar (Kleinginna & Kleinginna, 1981).

Obwohl es Schwierigkeiten bei der Einigung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes gab, und van Brackel (1994) später weitere 22 Definitionen auflistete, stellt die Definition von Kleinginna und Kleinginna (1981) einen guten Kompromiss dar, der in dieser Dissertation, als Arbeitsdefinition verwendet wird.

3.3.1.2 Komponenten von Emotionen

Es gibt einen weitgehenden Konsens darüber, dass Emotionen aus mehreren Komponenten bestehen. Diese werden im Folgenden näher beschrieben. Je nach Modell oder Definitionsversuch werden die physiologische, die Erlebens-, die kognitive und die Verhaltenskomponente unterschieden und entsprechend unterschiedlich gewichtet (Brandstätter et al., 2013; Frenzel, Götz & Pekrun, 2009; Scherer, 1984).

Physiologische Komponente: Diese Komponente bezeichnet peripher-physiologische Veränderungen, die in den meisten Fällen vom autonomen Nervensystem ausgelöst werden (Parkinson, 2006). Dazu gehören beispielsweise das Erröten des Gesichts beim Gefühl von Scham, das Schwitzen oder die Veränderung der Herzrate oder der Atemfrequenz bei Angst oder Wut. In einigen früheren Theorien stellte sie die zentrale Komponente einer Emotion dar (James, 1884; Lange, 1887; Schachter & Singer, 1962). Besonders in den letzten Jahren gerieten spezifische Zustände des Nervensystems wieder in den Fokus der emotionspsychologischen Forschung. Durch bildgebende Untersuchungsverfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) oder die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) haben die neuropsychologischen Wissenschaften eine Reihe homogener, aber auch z. T. sehr heterogener Theorien zur Emotionsentstehung produziert. Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass in den Arealen im Gehirn, in denen Aktivität bei kognitiven Prozessen beobachtet werden konnte, auch Aktivität bei emotionalen Prozessen nachweisbar war (Davidson & Irwin, 1999). Das könnte ein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion sein und die kognitiven Emotionstheorien stärken.

Des Weiteren gab es Erkenntnisse zur Bedeutung des limbischen Systems (Davis & Whalen, 2001; LeDoux, 2004; Phelps, 2004). Dem limbischen System werden die Amygdala, der Hippocampus und der Gyrus cinguli zugeordnet. Besonders die Amygdala scheint eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Emotionen zu spielen. Hier kommt es zur Verknüpfung von Gedächtnisinhalten und emotionalem Erleben. Zudem scheint sie eine Rolle beim Erkennen von mimischen Emotionsausdrücken zu spielen und steht somit im Zusammenhang mit der Ausprägung empathischer Fähigkeiten (Derntl, 2012; Häusser, 2012).

Bezugnehmend auf das höhere Erwachsenenalter konnte gezeigt werden, dass Menschen im höheren Lebensalter beim Erinnern an vergangene emotionale Erfahrungen im Vergleich zu jüngeren Personen eine verringerte Aktivität des autonomen Nervensystems aufwiesen (Lawton, 2001; Levenson, Carstensen, Friesen & Ekman, 1991). Das autonome Nervensystem ist der Teil des Nervensystems, der weitgehend der willkürlichen Kontrolle entzogen ist. Es kontrolliert lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Verdauung oder Teile der Augenmuskeln. Dieser Befund könnte zum einen bedeuten, dass die verringerte Aktivität zu einer verminderten Wahrnehmung der Emotion führt und Menschen im höheren Lebensalter weniger Energie für die Regulation von Emotionen aufwenden, weshalb sie möglicherweise erfolgreicher und flexibler im Umgang mit Emotionen sind. Zum anderen kann er bedeuten, dass sich aufgrund der höheren Lebenserfahrung im Alter emotionale Kompetenzen dahingehend verbessern, dass besonders starke Emotionen mit einer geringeren physiologischen Reaktion einhergehen (Krug & Mitmansgruber, 2008).

Erlebenskomponente: Diese Komponente wird vielfach auch als subjektive Komponente oder als Gefühl bezeichnet. Das Erleben von Emotionen hat für die meisten Menschen etwas mit Fühlen zu tun, deshalb wird das Gefühl als die unmittelbare Erfahrung beim Erleben einer Emotion angesehen. Das Fühlen oder Erleben einer Emotion unterscheidet sich somit charakteristisch von anderen Zuständen wie Vorstellungen oder Gedanken und ist sehr individuell (Brandstätter et al., 2013). So kann der bloße Anblick eines großen Hundes bei manchen Menschen das Gefühl von Freude, bei anderen Menschen wiederum Angst oder Furcht auslösen.

Eine der bekanntesten psychologischen Theorien, in der die subjektive Erlebenskomponente im Vordergrund steht, ist die James-Lange-Theorie. Diese Theorie wurde beinah zeitgleich von dem amerikanischen Psychologen William James (1884) und dem Dänen Carl Lange (1885, deutsche Übersetzung 1887) entwickelt. Nach dieser Theorie sind körperliche Vorgänge nicht die Folge einer Emotion, sondern ihre Ursache. Das Gefühl von Angst entsteht, weil wir fliehen oder uns verteidigen, wir fühlen uns niedergeschlagen oder bedrückt, weil wir weinen. Das emotionale Erleben basiert somit auf physiologischen Veränderungen, die dafür zwingend notwendig sind (Mitmansgruber, 2003).

Walter Cannon (1927), ein ehemaliger Student von William James, kritisierte die Theorie später dahingehend, dass viszerale Reaktionen zu langsam seien, um vor einem emotionalen Erleben aufzutreten. Die Eingeweide reagieren verhältnismäßig langsam und brauchen zu viel Zeit, um relevante Informationen an das ausführende Nervensystem zu transportieren. Kritik kam auch von anderen Wissenschaftler:innen, die anmerkten, dass zwischen einem emotionsauslösenden Reiz und den daraus resultierenden Veränderungen eine weitere Komponente, wie beispielsweise ein individueller Bewertungsprozess, liegen müsse (Worcester, 1893). Die Idee einer kognitiven Komponente trat in den Vordergrund und war Wegbereiter kognitiver Bewertungstheorien (Brandstätter et al., 2013).

Kognitive Komponente: Bei den kognitionstheoretischen Ansätzen steht die individuelle Bewertung (appraisal) eines bestimmten Ereignisses im Vordergrund (Scherer, Schorr & Johnstone, 2001). Die Kognitionstheorien sind derzeit die am weitesten verbreiteten Erklärungsmodelle für die Entstehung von Emotionen. Dennoch führen nicht alle auch eine kognitive Komponente auf. Die Begründung vieler Autor:innen: Sobald Bewertungen als Entstehungsgrund für Emotionen fungieren, sei es problematisch, diese als gesonderte Komponente einer Emotion zu betrachten (Brandstätter et al., 2013).

Die Idee, dass Einschätzungen oder Bewertungen an der Entstehung von Emotionen maßgeblich beteiligt sind, findet sich allerdings bereits in Werken aus der Antike (Brandstätter, 2013). So soll der griechische Stoiker und Philosoph Epiktet (um 50–138 n. Chr.) in seinem Handbüchlein der Moral gesagt haben, dass es nicht die Dinge selbst sind, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von diesen Dingen (Schmidt & Metzler, 1984).

In den 1960er Jahren forschte Richard Lazarus (1966), einer der bekanntesten Vertreter der Appraisal-Theorie, zur Entstehung und Bewältigung von Stress. Im Rahmen dieser Forschung betrachtete er das emotionale Geschehen als einen fortlaufenden Prozess. Nach der Wahrnehmung eines Stimulus vermutete er eine darauffolgende kognitive Bewertung, die ursächlich für die emotionale Reaktion ist (Scherer, 1987). Wie stressreich eine Person ein bestimmtes Ereignis erlebt, ist abhängig von der Bewertung dieses Ereignisses. Stimuli, auf die eine Bewertung erfolgt, sind extern wie bestimmte Situationen, Ereignisse oder Verhaltensweisen oder intern wie Vorstellungen, Überzeugungen oder Erinnerungen (Gross & Thompson, 2007). Bei der Bewertung und somit beim eigentlichen Entstehungsprozess einer Emotion werden drei Einschätzungsdimensionen unterschieden: Zunächst wird das Ereignis bezüglich seiner Valenz beurteilt (primäre Einschätzung). Es wird überprüft, ob das Ereignis relevante Ziele einer Person beeinträchtigt und ob das Ereignis eine positive oder negative Bedeutung für das Wohlbefinden hat. Im nächsten Schritt erfolgt eine Einschätzung hinsichtlich der individuellen Bewältigungs- oder Copingstrategien (sekundäre Einschätzung). Es wird überprüft, ob die Anforderungen der jeweiligen Situation mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bewältigen sind. Im letzten Schritt erfolgt ggf. eine Neubewertung des Ereignisses (reappraisal). Dies geschieht auf Grundlage der neuen Informationen, die nach den ersten beiden Schritten zur Verfügung stehen (Lazarus & Folkman, 1984). LeDoux (2004) geht davon aus, dass der Bewertungsprozess nicht unbedingt bewusst ablaufen muss, sondern dass ebenfalls implizite Bewertungen zu einer unmittelbaren Handlungs- oder Verhaltenstendenz führen.

Verhaltenskomponente: Einige Autor:innen zählen zu der Verhaltenskomponente ein Repertoire an beobachtbaren instrumentellen Handlungen, die dem Erreichen eines bestimmten Ziels dienen (Frijda, 1986; Izard, 1993). Emotionen sind demnach für die Initiierung bestimmter Verhaltensweisen verantwortlich und werden in dieser Definition auch als motivationales System betrachtet. So kann beispielsweise die Emotion Angst mit Flucht- oder Angriffsverhalten einhergehen und zu Handlungen motivieren, deren Ziel es ist, möglichst große Distanz zum angstauslösenden Reiz zu schaffen (Frijda, 1986).

Im engeren Sinne definiert, beinhaltet die Verhaltenskomponente den motorischen und auditiven Ausdruck von Emotionen. Daher wird diese Komponente auch expressive oder Ausdruckskomponente genannt. Im Rahmen dieser Definition beinhaltet die Verhaltenskomponente die Mimik, Gestik, Körperhaltung, Körperorientierung (Orientierung des Körpers bzgl. der Interaktionspartner:innen) sowie auditive Merkmale wie Lautstärke, Sprechtempo, -pausen und Sprachmelodie (Scherer, 1982). Der mimische Ausdruck hat von vergangenen Emotionstheoretiker:innen die größte Aufmerksamkeit erhalten. Bereits Darwin (1872) beschrieb die Mimik im Rahmen seiner evolutionsbiologischen Theorien als die relevante Komponente, die einen Anpassungsvorteil bei natürlichen Selektionsprozessen ermöglicht. Er ging davon aus, dass der mimische Ausdruck bei der Lösung von Problemen des Überlebens und der Reproduktion hilft. Der Ausdruck von Angst beispielsweise warnt Artgenoss:innen vor einer drohenden Gefahr und kann ggf. eine Flucht initiieren. Darwins Idee von der Relevanz des mimischen Ausdrucks wurde von Paul Ekman weiterentwickelt, der ebenfalls davon ausgeht, dass von einer Emotion nur dann gesprochen werden kann, wenn ein distinkter Gesichtsausdruck damit verbunden ist (Ekman & Friesen, 1971). Laut Ekman (1993) existiert eine begrenzte Anzahl von Basisemotionen, oft auch Primäremotionen genannt. Dazu zählen Freude, Trauer, Ärger, Angst, Überraschung und Ekel. Diese Basisemotionen lassen sich anhand des distinkten mimischen Ausdrucks identifizieren und werden universell über alle Kulturen hinweg und ab dem Säuglingsalter gezeigt. Diese Annahme wird auch als Universalitätshypothese bezeichnet (Ekmann, 1994). Im Folgenden werden die typischen mimischen Merkmale am Beispiel der Emotion Trauer beschrieben. Dabei ist die mimische Expression von Trauer sehr vielfältig. Eine abgeschwächte Form von Trauer zeigt sich im Gesicht bereits anhand von hängenden Augenlidern und am Heben des inneren Teils der Augenbrauen. Hinzukommen kann ein unfokussierter und unscharfer Blick, der einen Objektverlust ausdrückt. Zu einer Intensivierung des Ausdrucks kommt es durch die herabhängenden Mundwinkel sowie dem leicht gehobenen Kinnbuckel, durch den das Kinn etwas faltig wirkt. Die Augenbrauen ziehen sich auf der Innenseite zusammen und nach oben. Ein weiteres Merkmal von besonders intensiver Traurigkeit zeigt sich auf der Stirn. Hier bilden sich Mimikfalten, allerdings nicht über die gesamte Fläche, sondern nur mittig. Beim gleichzeitigen Erleben von Trauer und Verzweiflung wird häufig die Nasolabialfalte schräg zur Seite gezogen. Bei der Nasolabialfalte oder Nasenlippenfurche (früher „Kummerfalte“) handelt es sich um die Weichteilvertiefung, die beidseits vom oberen Ende der Nasenflügel neben die Mundwinkel zieht. Tränen können, müssen aber nicht zwangsläufig ein Zeichen von Traurigkeit sein (Merten, 2016).

Der mimische Ausdruck einer Emotion kann allerdings gehemmt bzw. manipuliert werden. Häufig wird der Gesichtsausdruck aus Gründen der sozialen Erwünschtheit kontrolliert. Die Regeln, wann und wie kontrolliert wird, werden individuell erlernt oder ergeben sich anhand kulturspezifischer Normen (Ekman, 2004). Trotz dieses Einwands geht Ekman (1999) davon aus, dass alle Emotionen ein distinktes mimisches Signal aufweisen, dieses jedoch nicht immer und unmittelbar feststellbar sei.

Carstensen, Gottman und Levenson (1995) baten jüngere und ältere Ehepartner:innen über einen früheren Beziehungskonflikt zu sprechen. In ihrem mimischen Ausdruck zeigten ältere Teilnehmende im Vergleich zu jüngeren Befragten in Konfliktsituationen mit ihren Partner:innen weniger Ärger, Kampflust oder Ablehnung. Auch nach Kontrolle der Intensität des diskutierten Beziehungskonfliktes zeigte sich, dass ältere Teilnehmende mehr Zuwendung zu ihren Partner:innen empfanden und seltener in ihrem emotionalen Ausdruck negative Emotionen zeigten. Die Autor:innen erklärten dieses Ergebnis mit einer generell höheren Verträglichkeit älterer Menschen und dem Wunsch, gute und enge Beziehungen aufrechtzuerhalten. Der verringerte mimische Ausdruck negativer Emotionen sorgt für die Aufrechterhaltung relevanter Beziehungen zu nahestehenden Bezugspersonen oder Familienangehörigen, die als besonders angenehm und emotional bedeutsam erlebt werden. Damit steht dieser Befund im Einklang mit der Theorie der sozioemotionalen Selektivität, die in Abschnitt 3.1.3 erläutert wurden.

3.3.2 Emotionsregulation

Emotionsregulation beschreibt alle Prozesse, bei denen Individuen aktiv Einfluss auf die Entstehung und Bewertung sowie auf den Verlauf und den Ausdruck von Emotionen nehmen (Garber & Dodge, 2004; Gross, 1998b, 1999). Es wird der aktive Charakter der Einflussnahme betont, mit dem das Individuum emotionales Erleben aktiv erzeugt, bewahrt oder verändert, um damit eine Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen zu erreichen (Zimmermann, 1999). Emotionsregulation umfasst somit die Auslösung neuer und die Veränderung bereits bestehender Emotionen (Eisenberg & Spinrad, 2004). Anders ausgedrückt: Individuen nehmen Einfluss darauf, welche Emotionen erlebt und wann sie ausgedrückt werden, aber auch in welcher Intensität sie erlebt werden (Gross, 1999). Dabei werden alle Ebenen des emotionalen Erlebens angesprochen: die kognitive, die motivationale, die behaviorale und die physiologische Ebene (Scherer, 1990). Dementsprechend ist Emotionsregulation ein komplexer Prozess, bei dem es zu Initiierung, Aufrechterhaltung und Veränderung von subjektiv wahrgenommenen Gefühlszuständen, physiologischen Prozessen, emotionsspezifischen Kognitionen und emotionsbezogenen Verhaltensweisen kommt. Um individuelle Ziele zu verfolgen, wird demnach aktiv Einfluss auf die Dauer sowie die Intensität emotionaler Zustände genommen (Thompson, 1994).

Bei der Analyse früherer Definitionen des Konzepts der Emotionsregulation wird deutlich, dass dieses Konzept Ende der 1980er Jahre eher als etwas Statisches betrachtet wurde. Emotionsregulation fand in diesen Definitionen als etwas vom Kontext Unabhängiges statt (Catanzaro & Mearns, 1990). Im weiteren Verlauf veränderte sich dieses Bild zu Gunsten der Kontextabhängigkeit. Emotionsregulation wird in diesem Verständnis als flexibel verstanden und als gelungen bezeichnet, wenn eine Anpassung an den jeweiligen Kontext erfolgt (Gross, 1998a, 1999; Thompson, 1994).

Der Konsens heutiger Definitionen liegt darin, dass bei einer adaptiven und gelungenen Emotionsregulation Strategien eingesetzt werden, die für die Befriedigung situationsangemessener Bedürfnisse sorgen (Horowitz & Znoj, 1999; Linehan, 1996; Weber, Geisler, Kubiak & Siewert, 2008). Dieser Prozess ist besonders im Hinblick auf die Auswahl der eingesetzten Strategien flexibel. Strategien wie Vermeidung oder Unterdrückung, die vor einiger Zeit noch als negativ klassifiziert wurden, sind bei situationsadäquatem Einsatz durchaus adaptiv (siehe Abschnitt 3.3.2.3).

Emotionsregulation wird zudem in einigen aktuellen Definitionen als etwas Reflexives beschrieben. Holodynski (2006) beispielsweise beschreibt zwei Phasen, die den Prozess der Emotionsregulation ausmachen: Reflektion und konkretes Handeln. Eine Emotion wird auf verschiedenen Ebenen erlebt. Daraus ergibt sich zunächst eine Phase, in der dieses Erleben reflektiert bzw. analysiert wird. Aus dieser Reflektion entstehen Impulse zur Verhaltensplanung und -steuerung, die die Phase des konkreten Handelns einleiten.

Das Konzept der Emotionsregulation hat sich im Verlauf der letzten Jahre stark gewandelt. Wo vormals die Kontrolle psychopathologisch impulsiven Verhaltens im Vordergrund stand (Catanzaro & Mearns, 1990; Gross, 1998b, 1999), wird heute der Fokus deutlich erweitert. Mittlerweile schließt der Prozess der Emotionsregulation das aktive und bewusste Wahrnehmen und die Modulation von Emotionen ein, um sich im Einklang mit individuellen Bedürfnissen und Zielen zu verhalten und diese zu verfolgen. Dabei werden auch die Akzeptanz und Toleranz von unangenehmen Emotionen angestrebt, solange deren Erleben einem bestimmten Ziel dient. Psychisches Wohlbefinden stellt im Rahmen dieses Prozesses einen wichtigen Richtwert dar (Gratz & Roemer, 2004; Linehan, 1996).

Aufgrund der Fähigkeit unsere Gefühle gezielt zu beeinflussen, sind wir in der Lage, Handlungen zu planen und auszuführen, um persönlich relevante Ziele zu erreichen. Ist dieser Prozess gestört, kann sich das auf unser Wohlbefinden auswirken. Menschen mit Defiziten im Bereich des Emotionsbewusstseins, des Emotionsverständnisses, der Empathie und letztlich der eigentlichen Emotionsregulation sind signifikant häufiger von Angststörungen und Depressionen betroffen und weisen ein geringeres Wohlbefinden sowie häufiger körperliche Erkrankungen auf (Aldao, 2013; Aldao et al., 2010; Berking & Wuppermann, 2012; Henry & Crawford, 2005; Petermann, Petermann & Nitkowski, 2016). Aufgrund dieses Zusammenhangs, der sich auch bei anderen Störungsbildern zeigt, wurden emotionsregulatorische Prozesse besonders im Bereich der klinischen Psychologie in den letzten Jahren intensiv untersucht. Therapieverfahren, die emotionsübergreifende Regulationsfertigkeiten systematisch trainierten, stellten sich als effektiv heraus. Die Förderung der emotionalen Kompetenz wurde beispielsweise Bestandteil des Skill-Trainings der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) von Marsha Linehan (1993) oder der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT; Hayes, Strosahl & Wilson, 2014). Die Verbesserung emotionaler Kompetenzen stellte sich als bedeutender therapeutischer Ansatzpunkt heraus. Auch in der Entwicklungspsychologie erfährt das Konzept der Emotionsregulation bereits seit vielen Jahren Beachtung (Gross, 1998b) sowie seit einiger Zeit auch in der Arbeits- und Organisationspsychologie und der Persönlichkeitspsychologie (Gross, 2015).

Trotz des regen Forschungsinteresses und einer Vielzahl an Publikationen fehlt derzeit noch eine einheitliche Definition und Operationalisierung des Konzeptes. Modelle und Interventionen weisen eine starke Heterogenität auf. Dadurch wird die Interpretation der aktuellen Befundlage erschwert (Berking, 2017; Gross, 2015; Heber, Lehr, Riper & Berking, 2014). Im folgenden Abschnitt werden zwei der bekanntesten Modelle der Emotionsregulation vorgestellt: Das (erweiterte) Prozessmodell der Emotionsregulation nach Gross (1998a, 2015) und das Modell der adaptiven Emotionsregulation nach Berking (2017).

3.3.2.1 Theoretische Modelle der Emotionsregulation

Laut Masters (1991) dient Emotionsregulation dem Ziel, positive wie auch negative Emotionen zu aktivieren oder zu unterdrücken. Dabei unterscheidet er drei unterschiedliche Formen der Regulation: Zum einen beschreibt er eine reaktive Form, bei der Emotionen, die nach einem bestimmten Ereignis auftreten, aktiv beeinflusst werden. Die zweite Form beschreibt Regulationsstrategien, die vor dem Eintreten eines bestimmten Ereignisses eingesetzt werden. Die dritte Form besteht aus kognitiven Regulationsstrategien, wie der kognitiven Neubewertung, die ebenfalls eingesetzt werden, bevor ein bestimmtes Ereignis eintritt. Letzteres beschreibt er als eine eher passive Form, die er mit individuellen Persönlichkeitseigenschaften oder einem persönlichen Attributionsstil assoziiert. Neben der Idee, dass Emotionsregulation zu verschiedenen Zeitpunkten des emotionalen Prozesses möglich ist, beschreibt Masters (1991) das Vorhandensein von adaptiven und maladaptiven Emotionsregulationsstrategien. Allerdings liefert er nur wenige eindeutige Kriterien, an denen die Adaptivität einer Strategie beurteilt werden kann.

Das Prozessmodell der Emotionsregulation nach Gross (1998a) ist eines der bekanntesten Konzepte. Gross (1998a) klassifiziert wie Masters (1991) verschiedene Emotionsregulationsstrategien nach dem Zeitpunkt ihres Einsatzes. Es werden Strategien beschrieben, die eingesetzt werden, bevor die Emotion entsteht (antezedens-fokussierte Strategien) und Strategien, die auf eine Veränderung der Emotion abzielen, wenn diese bereits aktiviert wurde (response-fokussierte Strategien). Zu diesen Strategien gehören

  1. 1.

    Situationsauswahl,

  2. 2.

    Situationsveränderung,

  3. 3.

    Aufmerksamkeitslenkung,

  4. 4.

    Kognitive Neubewertung,

  5. 5.

    Reaktionsveränderung.

Die verschiedenen Strategien setzen an unterschiedlichen Abschnitten des Entstehungs- und Verarbeitungsprozesses der Emotion an. Zu den Strategien, die relativ früh in der Entstehung der Emotion ansetzen, gehören (1) Situationsauswahl, (2) Situationsveränderung, (3) Aufmerksamkeitslenkung und (4) Kognitive Neubewertung.

Bei der Situationsauswahl werden Personen, Gegenstände, Orte und Situationen, die eine unerwünschte Emotion verursachen, vermieden bzw. aktiv aufgesucht, um eine gewünschte Emotion auszulösen. Bei depressiven Patient:innen könnte beispielsweise ein maladaptiver Umgang im Hinblick auf die Situationsauswahl darin bestehen, dass sie Treffen mit Freund:innen oder Arzttermine vermeiden, was sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken kann.

Bei der Situationsveränderung soll aktiv Einfluss auf eine Emotion genommen werden. Eine emotionale Situation soll dahingehend verändert werden, dass die Emotion, die entstanden ist, entweder verringert oder verstärkt wird. Zum Beispiel werden durch die Einnahme von Medikamenten Ängste, die in einer bestimmten Situation aufkommen, verringert.

Bei der Aufmerksamkeitslenkung, werden bestimmte emotionsauslösende Aspekte einer Situation entweder fokussiert oder bewusst ausgeklammert. Depressive Patient:innen leiden häufig unter Grübeln, welches belastende Emotionen wie Angst oder Hoffnungslosigkeit auslösen kann (Nolen-Hoeksema, 2000). Eine Fokussierung auf den Inhalt dieser Gedanken und damit eingehergehendes Katastrophisieren wirkt sich negativ auf die Stimmung und den Krankheitsverlauf aus. Ein wirksames Mittel im Umgang mit Grübelgedanken sind Achtsamkeits- oder Atemübungen. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird dabei auf emotional weniger bedeutsame Aspekte wie z. B. die Atmung gelegt, was zur einer Unterbrechung der Grübelgedanken führt (Deyo, Wilson, Ong & Koopman, 2009). Zudem werden das Kontrollerleben und die Selbstwirksamkeit der Patient:innen gefördert, da sie die Erfahrung machen, dass Emotionen beeinflussbar sind.

Eine weitere antezedens-fokussierte Strategie ist die kognitive Neubewertung. Bei der Neu- oder Umbewertung wird einer emotionsauslösenden Situation eine neue Bedeutung verliehen, um damit Einfluss auf die entstehenden Emotionen zu nehmen. Ein Beispiel wäre die Angst vor einem bevorstehenden Klinikaufenthalt. Die Angst würde sich dadurch verringern, indem die Patient:innen den Klinikaufenthalt weniger als Bedrohung, sondern mehr als Möglichkeit verstehen, Unterstützung im Umgang mit ihrer Erkrankung zu erhalten (Hofmann, Heering, Sawyer & Asnaani, 2009). In Abschnitt 3.3.2.2 erfolgt eine ausführliche Beschreibung der kognitiven Neubewertung.

Die Strategie, die eine Veränderung der bereits aktivierten Emotion bewirken soll, ist (5) Reaktionsveränderung. Ziel dieser Strategie ist es, die Emotion auf kognitiver, physiologischer oder auf Verhaltensebene zu beeinflussen. Ängste, die mit physiologischer Erregung einhergehen, werden beispielsweise durch den Konsum von Alkohol beeinflusst. Eine adaptive Variante, die physiologische Erregung zu verringern, sind Entspannungstechniken. Zur Reaktionsveränderung gehört auch die aktive Unterdrückung des emotionalen Ausdrucksverhaltens oder eines belastenden Gedankens (Suppression). Dabei kann es sich zum einen um Bemühungen handeln, den mimischen Ausdruck einer Emotion zu verbergen, eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen, oder zum anderen darum, die Gedanken an ein emotionsauslösendes Ereignis zu unterdrücken (Gedankenunterdrückung). Der Schmerz beim Gedanken an eine verstorbene Person kann beispielsweise dadurch vermieden werden, dass systematisch alle Erinnerungen an diese gehemmt werden.

Die antezedens-fokussierten Strategien werden als effektive Strategien konzeptualisiert, während die response-fokussierte Strategie als weniger effektiv beschrieben wird. In einer Studie von Gross (1998a) konnte gezeigt werden, dass kognitive Neubewertung der Unterdrückung des emotionalen Ausdrucks (Suppression) überlegen war. Den Studienteilnehmenden wurde dafür ein Film über eine Armamputation gezeigt, der bei den meisten Menschen Ekel auslöst. Eine Gruppe wurde beim Betrachten des Filmes instruiert, die Strategie der kognitiven Neubewertung anzuwenden. Sie sollten den Film als Lehrmaterial für Medizinstudierende ansehen. Die andere Gruppe sollte die Strategie der Unterdrückung des emotionalen Ausdrucks (Suppression) anwenden und während des Film bewusst keine emotionale Erregung zeigen. Eine Kontrollgruppe betrachtete den Film ohne weitere Instruktionen. Hinsichtlich des mimischen Ausdrucks war die Strategie der Suppression am erfolgreichsten. Zeichen des Ekels im mimischen Ausdruck waren zwar reduziert, allerdings zeigte diese Gruppe im Vergleich zur Gruppe, die die Strategie der kognitiven Neubewertung anwenden sollte, eine höhere physiologische Reaktion und die Studienteilnehmenden berichteten von einem höheren subjektiven Ekelgefühl. Die Strategie der kognitiven Neubewertung war der Suppression überlegen und stellte sich als effizientere Strategie im Umgang mit belastenden Emotionen dar. In weiteren Studien, in denen die Emotionen Trauer und Freude untersucht wurden, zeigten sich ähnliche Ergebnisse (Gross & Levenson, 1997). Diese Befunde wurden von den Autoren dadurch erklärt, dass Menschen zur Regulation von Emotionen kognitive Ressourcen aufwenden. Der Zeitpunkt des Einsatzes der jeweiligen Strategie entscheidet darüber, in welchem Ausmaß der Einsatz der kognitiven Ressourcen erforderlich ist. Wird die Emotion bereits vor dem Auftreten reguliert, z. B. durch die Auswahl einer günstigeren oder angenehmeren Situation oder durch kognitive Neubewertung der Situation, sollte die Beanspruchung geringer sein. Die Regulation einer bereits aktivierten Emotion sollte demnach mit einem höheren kognitiven Aufwand einhergehen. Wird beispielsweise eine anstehende Prüfung als Herausforderung gewertet (kognitive Neubewertung), wird ein Prüfling weniger Aufwand bei der Regulation von Angst haben, als wenn er während der Prüfung versucht, die Symptome der Angst lediglich zu verstecken (Suppression).

Eine hohe kognitive Beanspruchung bedeutet in der Regel auch eine erhöhte Aktivität des vegetativen Nervensystems. Auf körperlicher Ebene wird dies durch einen erhöhten Herzschlag, Schwitzen oder durch eine gesteigerte Atemfrequenz wahrgenommen. Der Körper befindet sich in einem Aktivitätsmodus (Gross, 2001; Gross & Levenson, 1997). Weitere Studien konnten dieses Ergebnis replizieren, was als Beleg für die Annahmen gewertet wurde (Aldao et al., 2010; Koole, 2009; Sheppes & Meiran, 2008).

Die kognitive Neubewertung wurde in diesen Studien stellvertretend für die antezedens-fokussierten Strategien und die Suppression stellvertretend für die response-fokussierte Strategie angesehen. Von einer allgemeinen Überlegenheit der antezedens-fokussierten Strategien gegenüber den response-fokussierten Strategien aufgrund der Überlegenheit von kognitiver Neubewertung gegenüber Suppression zu sprechen, scheint allerdings problematisch zu sein. Im Rahmen eines adaptiven und kontextspezifischen Einsatzes der verschiedenen Emotionsregulationsstrategien sollte keine Strategie gegenüber der anderen per se überlegen sein. Vielmehr sollte eine adaptive Emotionsregulation abhängig von der Häufigkeit und der Dauer des Einsatzes der verschiedenen Strategien sein sowie vom Kontext, in denen sie eingesetzt werden (Heber et al., 2014). Des Weiteren konnte eine Metaanalyse von Webb, Miles und Sheeran (2012) zeigen, dass die unterschiedlichen Strategien den emotionalen Prozess auf verschiedene Ebenen beeinflussen. Bei der Aufmerksamkeitslenkung zeigten sich moderate Effekte auf allen Ebenen des emotionalen Prozesses. Bei der Suppression zeigten sich große Effekte lediglich auf die Verhaltenskomponente, während Neubewertung einen Einfluss auf die behaviorale und subjektive Komponente hatte, allerdings keinen auf die physiologische Komponente.

Kritik am Prozessmodell der Emotionsregulation kommt zudem aus der Praxis. Besonders in der psychotherapeutischen Behandlung scheint es wenig hilfreich zu sein, Strategien zeitlich in antizipatorisch und reaktiv einzuteilen. Für Patient:innen ist im Rückblick die Zuordnung häufig nicht eindeutig möglich und es entstehen Probleme bei der Abgrenzung der verschiedenen Strategien.

Das Prozessmodell der Emotionsregulation (Gross, 1998a) macht keine Aussage darüber, was eine Person dazu veranlasst, eine der beschriebenen Strategien zu wählen oder eben nicht zu wählen. Die Gründe für die Auswahl einer Strategie werden durch das Modell nicht ausreichend erklärt und es wird zudem nicht deutlich, warum Strategien initiiert und warum sie wieder beendet werden. Zur Beantwortung dieser Fragen entwickelte Gross (2015) das erweiterte Prozessmodell. Dieses Modell folgt dem Ansatz der Emotionsregulationsflexibilität, der in Abschnitt 3.3.2.3 beschrieben wird. Es wird dabei keine generelle Kategorisierung von Emotionen oder Regulationsstrategien vorgenommen, sondern die Effektivität wird stärker kontextbezogen betrachtet (Aldao et al., 2016; Gross, 2015).

Ausgehend von einer inneren oder äußeren Welt bzw. Situation (world) wird in diesem Modell eine aufkommende Emotion zunächst einmal wahrgenommen (perception) und in einem nächsten Schritt bewertet (valuation). Bei der Bewertung wird gegenübergestellt, ob die aktuelle Emotion zum angestrebten emotionalen Zielzustand passt oder davon abweicht. Bei einer Abweichung wird die Emotion durch eine Handlung reguliert (action). Dadurch soll die Kluft zwischen dem wahrgenommenen und dem gewünschten Zustand verringert werden. Die Handlung sollte in einem weiteren Sinne verstanden werden: Sie kann die Regulation einer Emotion auf kognitiver Ebene (kognitive Neubewertung) sein, es kann eine aktive Handlung (aktives Problemlösen, soziales Teilen) oder eine physiologische Veränderung (Schwitzen, Erröten, Erhöhung des Herzschlags) darunter verstanden werden. Der beschriebene Regulationsprozess wird in Form von Feedbackschleifen wiederholt durchlaufen. Zu Störungen dieses Prozesses kann es beispielsweise dann kommen, wenn Emotionen nicht ausreichend wahrgenommen (Kahn & Garrison, 2009; Rude & McCarthy, 2003), korrekt erkannt und benannt werden (Brody, Haaga, Kirk & Solomon, 1999) oder wenn der Regulationsprozess, z. B. aufgrund der Überzeugung, dass Emotionen unveränderbar sind (Tamir, John, Srivastava & Gross, 2007), nicht initiiert wird.

In der Erweiterung seines Modells berücksichtigt Gross (2015) stärker die Dynamik und die Steuerung des emotionsregulativen Prozesses. Der Regulationsprozess wird als etwas Dynamisches verstanden und es wird ein 3-stufiger, sequenzieller Zyklus angenommen. Zu den sequenziellen Phasen gehören (1) Identifikation von Emotionen, (2) Selektion einer passenden Regulationsstrategie und (3) Implementierung der gewählten Strategie und Umsetzung. Diese sequenziellen Phasen werden immer wieder durchlaufen, solange bis der Regulationsprozess das erwünschte Ziel erreicht hat. Die implementierte Strategie wird im Sinne eines Monitorings überwacht, um herauszufinden, ob eine weitere Modifikation notwendig ist oder ob der angestrebte Zielzustand bereits erreicht wurde. Wird ein weiterer Zyklus eingeleitet, kommt es wiederum zum Monitoring des gegenwärtigen Zustandes und die gewählte Strategie wird beibehalten, gestoppt oder es findet ein Wechsel zu einer anderen Strategie statt. Innerhalb der drei sequenziellen Phasen kommt es zu den beschriebenen Feedbackschleifen (world, perception, valuation, action). Abbildung 3.6 zeigt die verschiedenen sequenziellen Phasen, die aus mehreren Feedbackschleifen bestehen können.

Abbildung 3.6
figure 6

Das erweiterte Prozessmodell der Emotionsregulation in Anlehnung an Gross (2015). Der Regulationsprozess ist dynamisch und läuft in sequenziellen Phasen (Identifikation, Selektion und Implementierung) ab. Innerhalb dieser Phasen kommt es wiederholt zu Feedbackschleifen, in denen die äußere/innere Welt (world; W) und die Emotionen, die damit einhergehen, wahrgenommen (perception; P), bewertet (valuation; V) und ggf. mit gegensteuernden Handlungen (action; A) verändert werden. Auf die Darstellung der sich wiederholenden Feedbackschleifen, während der sequenziellen Phasen, wurde verzichtet

Der prozessorientierte Ansatz der flexiblen Emotionsregulation nach Gross (2015) ermöglicht es, spezifische Probleme im Regulationsprozess zu erfassen und differenzierter zu untersuchen, anstatt sie als allgemeine Störung der Emotionsregulation zu verstehen. Spezifische Probleme, die in der Therapie behandelt werden, sind dann beispielsweise das Fehlen eines definierten Zielzustandes (Regulation, um besser zu arbeiten oder um einen Konflikt zu vermeiden), Probleme bei der Wahrnehmung und Benennung von Emotionen („Ist das Scham oder Traurigkeit?“) oder Schwierigkeiten bei der Initiierung oder Beendigung einer bestimmten Strategie. Das Modell berücksichtigt die Flexibilität emotionaler Reaktionen und betrachtet den emotionsregulatorischen Prozess auf einem ausgedehnten Zeitstrahl. Diese Prozesssicht ist im Vergleich zu der vorherigen Aufteilung der Strategien in vor oder nach der affektiven Reaktion differenzierter und damit für die klinische Praxis wesentlich besser geeignet.

Ein weiteres bekanntes Modell, das den Prozess der Emotionsregulation erklärt, ist das Modell der adaptiven Emotionsregulation nach Berking (2017). Dieses wird im Folgenden ausführlich dargestellt, da es die theoretische Grundlage dieser Untersuchung darstellt. Zudem wurde das Konstrukt der Emotionsregulationskompetenz anhand dieser Theorie operationalisiert.

Das Modell baut auf bereits bestehenden Theorien und Modellen auf (Gilbert & Procter, 2006; Greenberg, 2002; Gross, 1998a). Es zielt darauf ab, Emotionsregulationsdefizite besonders für klinische und andere Risikogruppen zu identifizieren und Ansatzpunkte für Interventionen zu entwickeln. Effektive Emotionsregulation wird im Modell der adaptiven Emotionsregulation als ein situationsadaptives Zusammenspiel der unterschiedlichen Emotionsregulationskompetenzen definiert (Berking, 2017). Es wird davon ausgegangen, dass die folgenden sieben Kompetenzen für die adaptive Regulation von Emotionen relevant sind:

  1. 1)

    Bewusstes Wahrnehmen: Um belastende Emotionen zu regulieren, werden affektive Zustände zunächst einmal wahrgenommen und in den Fokus der bewussten Aufmerksamkeit gerückt. Wahrgenommen werden kann alles, was auf körperlicher, kognitiver oder Verhaltensebene geschieht. Was auf den verschiedenen Ebenen wahrgenommen wird, sollte laut der Theorie nicht bewertet werden, um maladaptives Problemverhaltens zu verringern bzw. zu verhindern (Berking, 2017).

    Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Frauen mit Bulimia nervosa signifikant mehr Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung ihrer Emotionen hatten und dass dadurch Purging-Verhalten wie selbst-induziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien begünstigt wurde (Sim & Zeman, 2004). Es wird davon ausgegangen, dass die verringerte Emotionswahrnehmung die Aufrechterhaltung einer negativen Stimmung begünstigt und Problemverhalten wie Purging oder Essanfälle auslöst (Crosby, 2009; Smyth, 2009). Ziel der bewussten Wahrnehmung ist es, die aktuelle emotionale Reaktion zunächst bewusst wahrzunehmen, sie zu spüren und zu beobachten, ohne dass unmittelbarer Handlungsdruck entsteht bzw. bevor Maßnahmen zur Veränderung der emotionalen Reaktion eingeleitet werden (Berking, 2017).

    Studien zur bewussten und bewertungsfreien Wahrnehmung kommen aus den achtsamkeitsbasierten Ansätzen und zeigen, dass diese Kompetenz trainierbar ist. Neben diesen Studien geben weitere Studien aus der Forschung zu Wahrnehmungstrainings (Wells, White & Carter, 1997) eindeutige Hinweise auf die Relevanz und Effektivität dieser Kompetenz (Baer, 2003; Berking & von Känel, 2007; Heidenreich & Michalak, 2016; Kabat-Zinn, 2003).

  2. 2)

    Erkennen und Benennen: Beim Erkennen und Benennen werden Emotionen korrekt erkannt und es wird ihnen ein semantisches Konzept zugeordnet. Eine mentale Repräsentation einer ansonsten automatischen oder teilweise auch unbewusst ablaufenden Reaktion wird gebildet und Konzepte bezüglich des Umgangs mit dieser Emotion aktiviert. Diese Konzepte enthalten explizit abgespeichertes Wissen über den Umgang mit dieser Emotion und werden zur adaptiven Emotionsregulation herangezogen. Das Benennen der Emotion ermöglicht im nächsten Schritt eine Analyse der Ursache. Erst wenn die Ursache einer Emotion identifiziert wurde, können Maßnahmen zum adaptiven und konstruktiven Umgang eingeleitet werden. Wird beispielsweise die Emotion Traurigkeit korrekt erkannt, kann das Wissen über den Umgang mit Traurigkeit genutzt werden, um gegensteuernde Maßnahmen wie ein Treffen mit Freund:innen bewusst einzuleiten (Berking, 2017).

  3. 3)

    Analyse der Ursachen: Um die eigenen emotionalen Reaktionen zu verstehen, wird ein Arbeitsmodell zu den auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen benötigt. Vielen Patient:innen fehlt es an diesem Modell und somit auch an Ansatzpunkten zur Veränderung der belastenden Emotion. Wissen Patient:innen nicht, warum eine Emotion ausgelöst wurde und was sie aufrechterhält, entwickeln sich Gefühle des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit. Diese Gefühle werden häufig als Kontrollverlust erlebt und lösen Ärger, Stress oder Anspannung aus. Es kommt zu einer gesteigerten physiologischen Erregung, wodurch kognitive Funktionen wie analytisches Denken gehemmt werden. Aufgrund der gehemmten kognitiven Funktionsfähigkeit fällt es Patient:innen schwer, konstruktive Lösungsmöglichkeiten für belastende Emotionen zu entwickeln, was das Erleben von eigener Machtlosigkeit begünstigt. Der dadurch entstehende Teufelskreis kann dann unterbrochen werden, wenn Patient:innen darin unterstützt werden, funktionale Erklärungsmodelle für belastende Emotionen zu entwickeln, die konkrete Lösungsmöglichkeiten beinhalten.

    Die Analyse der Ursache kann ebenso zu der Erkenntnis führen, dass eine Emotion gerade nicht veränderbar ist oder dass eine Veränderung im Moment nicht gewünscht wird. Diese konstruktive Hoffnungslosigkeit gilt als wichtige Voraussetzung, eine Emotion für eine gewisse Zeit zu akzeptieren und auszuhalten, um vergebliche Regulationsversuche, die Kraft und Energie kosten, einzustellen (Berking, 2017).

  4. 4)

    Emotionale Selbstunterstützung: Emotionen wie Wut, Ärger oder Angst lösen bei einigen Patient:innen Selbstvorwürfe aus. Diese richten sich gegen die eigene Person, aber besonders gegen die eigenen Emotionen. Patient:innen sind verärgert über ihre Emotionen und werten sich deswegen ab. Diese oft harte und abwertende Selbstkritik führt zur Aktivierung eines negativen Selbstbilds, wodurch es in der Folge zu immer massiveren Selbstabwertungen kommt. Innere Dialoge wie „Die Angst macht mich zu einem Schwächling.“ oder „Du Idiot, schon wieder ärgerst du dich.“ sind Teil dieser Selbstabwertungen und entwertenden Selbstbeschimpfungen und begünstigen zusätzlich belastende Emotionen wie Scham oder Traurigkeit. Adaptiver ist es, sich beim Aufkommen einer belastenden Emotion selbst zu unterstützen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb innerlich aufzumuntern und aufzubauen, um so aktiv das Abrutschen in eine depressive Stimmungslage zu verhindern. Selbstbezogenes Mitgefühl und eine positive Selbstunterstützung stellen eine wichtige Kompetenz im Umgang mit belastenden Emotionen dar (Berking et al., 2014). Menschen, die unter emotionalen Problemen leiden, zeigen allerdings häufig einen deutlichen Mangel an emotionaler Selbstunterstützung und selbstbezogenem Mitgefühl. Dieser Mangel kann einen auslösenden sowie einen aufrechterhaltenden Faktor für die belastende Emotion und letztlich für die psychische Störung darstellen. Die Behandlung von Patient:innen mit emotionsregulatorischen Problemen sollte dementsprechend auch immer die Arbeit an der Förderung und Stärkung der emotionalen Selbstunterstützung enthalten (Eismann & Lammers, 2017).

  5. 5)

    Gezielte Regulation: Die bisher beschriebenen Kompetenzen werden im Modell der adaptiven Emotionsregulation als Hilfskompetenzen betrachtet, die den Prozess der Basiskompetenzen unterstützen. Zu diesen Basiskompetenzen gehören die Akzeptanz und Toleranz, die unter Punkt 6) beschrieben werden sowie die gezielte Regulation. Auf Basis einer selbstunterstützenden und wohlwollenden Grundhaltung werden belastende Emotionen bewusst reguliert. Bei der gezielten Regulation werden emotionale Reaktionen hinsichtlich Qualität, Intensität und Dauer aktiv beeinflusst und in eine weniger belastende und zugleich gewünschte Reaktion umgewandelt. Bei der gezielten Regulation werden zunächst Überlegungen zu einem angemessenen und realistischen Zielgefühl angestellt. Wird als belastende Emotion beispielsweise die Angst in einer bestimmten Situation identifiziert, kann ein mögliches Zielgefühl Mut, Zuversicht, Gelassenheit oder ein Gefühl von Sicherheit sein. Das Formulieren eines positiv besetzten Zielgefühls soll die Patient:innen im Sinne eines Annäherungsziels motivieren und ihre Regulationsbemühungen dahingehend organisieren. Im zweiten Schritt werden Veränderungsideen und konkrete Verhaltensstrategien entwickelt, mit deren Hilfe sich die belastende Emotion in das gewählte Zielgefühl umwandeln lässt (Berking, 2017).

  6. 6)

    Akzeptanz und Toleranz: Die zweite Basiskompetenz im Modell der adaptiven Emotionsregulation ist die Akzeptanz und Toleranz belastender Emotionen. Diese Kompetenz ist besonders dann wichtig, wenn belastende Emotionen im gegenwärtigen Moment nicht veränderbar sind. Dies kann dann der Fall sein, wenn die Veränderung dieser Emotion von hormonausschüttenden Zentren im Gehirn abhängig ist, die allerdings nur zu einer langsamen physiologischen Veränderung führen. Emotionale Reaktionen wie Panik oder Wut gehen mit der Ausschüttung bestimmter Hormone und Neurotransmitter einher, die ihre Wirkung im Körper erst einmal entfalten und dann eine gewisse Zeit brauchen, bis sie wieder merklich abgebaut wurden. Die Erwartung, innerhalb kürzester Zeit nach einer extremen emotionalen Reaktion, ruhig und ausgeglichen zu sein, ist aufgrund physiologischer Bedingungen entsprechend unrealistisch. Indem Patient:innen sich ausdrücklich die eigene Erlaubnis geben, eine belastende Emotion für den Moment zu erleben und diese nicht mit allen Mittel vermeiden wollen, fällt es ihnen leichter, das Vorhandensein der Emotion im gegenwärtigen Moment zu tolerieren. Dabei ist es in der Arbeit zu Toleranz und Akzeptanz von belastenden Emotionen besonders wichtig, den Patient:innen zu vermitteln, dass das Aushalten einer Emotion ein absichtlicher Prozess ist und nicht einer Resignation gleichkommt. Sie sollten darin bestärkt werden, dass sie belastende Emotionen aushalten können, ohne zwangsläufig maladaptive Verhaltensweisen zur Vermeidung wie Selbstverletzungen oder Substanzkonsum einzusetzen. Mit der Akzeptanz einer belastenden Emotion erfahren Patient:innen einen Rückgang der inneren und äußeren Anspannung. Nur in diesem Zustand der emotionalen Ruhe lassen sich Emotionen adaptiv regulieren (Berking, 2017).

    Das Konzept der Akzeptanz und Toleranz von belastenden Emotionen ist nicht neu. In achtsamkeitsbasierten Ansätzen wie der Mindfulness-Based Stress Reduction (Kabat-Zinn, 1990) oder in der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (Hayes, Strosahl & Wilson, 2014) wird seit einigen Jahren bewusst mit einer akzeptierenden Haltung gegenüber dem aversiven Erleben von Emotionen gearbeitet. Ziel dieser Ansätze ist die bewusste Ausrichtung der eigenen Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, um so die Fähigkeit zu fördern, die Existenz einer Emotion zu akzeptieren, ohne dass diese ein maladaptives Verhalten auslöst. Akzeptanz im Sinne einer Regulationsstrategie wird in Abschnitt 3.3.2.2 ausführlich beschrieben

  7. 7)

    Konfrontationsbereitschaft: Sich emotional mit belastenden Situationen zu konfrontieren, wird dann notwendig, wenn es um das Erreichen persönlich relevanter Ziele geht. Das bewusste Konfrontieren mit einer belastenden Situation oder Emotion ist eine relevante Hilfskomponente. Ohne die Bereitschaft, sich absichtsvoll zu konfrontieren, werden die anderen Kompetenzen nicht trainiert und entwickeln sich nicht ausreichend. Diese bewusste und absichtsvolle Konfrontation führt zum Erwerb von Veränderungskompetenzen. Sie ermöglicht die Regulation oder die Akzeptanz von Emotionen und sorgt letztlich für die langfristige Befriedigung individueller Bedürfnisse (Berking, 2017). Fehlt die Bereitschaft sich beispielsweise mit einer angstauslösenden Prüfungssituation bewusst zu konfrontieren, werden bestimmte schulische oder beruflichen Ziele nicht erreicht und leistungsorientierte Bedürfnisse nicht befriedigt.

    1. 7a)

      Resilienzbildung: Resilienz kann als psychische Widerstandkraft definiert werden, die eine aktive und konstruktive Anpassung an besondere Herausforderungen oder an Anforderungen des täglichen Lebens erlaubt. Als Gegenpart zur Resilienz wird Vulnerabilität (Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit) verstanden (Gabriel, 2005). Anwendung kann der Begriff in der Beschreibung von Personen finden. Während manche Menschen auf problematische Lebensumstände oder Krisen mit psychische Erkrankungen reagieren oder besonders anfällig dafür sind, fällt es anderen leichter, Krisen zu überwinden, z. B. durch den Rückgriff auf ihre persönlichen Ressourcen. Zu den persönlichen Ressourcen können Persönlichkeitseigenschaften wie Optimismus oder das soziale Netzwerk gehören (Masten, 2001). Wird Resilienz als ein Aspekt des adaptiven Emotionsregulationsprozesses betrachtet, wird sie durch die Bereitschaft gefördert, sich absichtlich mit Situationen zu konfrontieren, die belastende Emotionen auslösen, aber zur Erreichung persönlicher Ziele notwendig sind (Hayes et al., 1996; Margraf & Berking, 2005). Resilienz kann in diesem Kontext als die Überzeugung, auch intensive belastenden Emotionen aushalten zu können, betrachtet werden (Berking, 2010). Des Weiteren konnte ein altersunspezifischer positiver Zusammenhang zwischen Resilienz und positivem Affekt gefunden werden (Ong, Bergeman, Bisconti & Wallace, 2006). Je höher das Ausmaß des positiven Affekts desto geringer war das Stresserleben und desto stärker war der Rückgriff auf bestehende Ressourcen ausgeprägt. Verschiedene Studien konnten darüber hinaus zeigen, dass ein hohes individuelles Potenzial zur Entwicklung und Förderung von Resilienz vorliegt (Gabriel, 2005; Werner & Smith, 1977). Davon lässt sich ableiten, dass Resilienz keine stabile Persönlichkeitseigenschaft darstellt und grundsätzlich gefördert werden kann.

Abbildung 3.7 zeigt das Modell einer adaptiven Emotionsregulation nach Berking (2017) mit der Abfolge eines konstruktiven Umgangs mit belastenden Emotionen. Emotionen werden zunächst bewusst wahrgenommen, erkannt und korrekt benannt. Danach erfolgt eine Analyse der Ursachen, bei der die auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren identifiziert werden. Um die verschiedenen Kompetenzen situationsspezifisch zu aktivieren, ist emotionale Selbstunterstützung wichtig. Als Basiskompetenzen werden in diesem Modell die Fähigkeiten, negative Emotionen gezielt zu regulieren und zu akzeptieren bzw. zu tolerieren, angesehen. Akzeptanz und Toleranz negativer Emotionen sollte sich dann einstellen, wenn belastende Ereignisse nicht mehr veränderbar sind bzw. wenn eine Veränderung mit zu hohen Kosten verbunden ist. Die konstruktive Hoffnungslosigkeit ist der Akzeptanz und Toleranz belastender Emotionen vorgeschaltet. Die gezielte Regulation einer Emotion sollte nach der Analyse der Ursache erfolgen, in der Maßnahmen für Veränderung identifiziert wurden. Die Abfolge eines adaptiven Regulationsprozesses funktioniert nur bei ausreichender Konfrontationsbereitschaft. Dadurch kommt es zum Erwerb von Veränderungskompetenzen oder zur Resilienzbildung (Berking, 2017; Heber et al., 2014).

Abbildung 3.7
figure 7

Das Modell adaptiver Emotionsregulation in Anlehnung an Berking (2017). Die Abbildung zeigt die einzelnen Emotionsregulationskompetenzen eines konstruktiven Umgangs mit belastenden Emotionen und deren Abfolge

Berking et al. (2010) konnten zeigen, dass systematisches Training die Anwendung der einzelnen Kompetenzen verbessert. In anderen Studien zeigten sich zudem positive Zusammenhänge zwischen einzelnen Kompetenzen des Modells und psychischer Gesundheit und Lebenszufriedenheit (Berking, Orth, Wuppermann, Meier & Casper, 2008; Berking & Wupperman, 2012; Berking & Znoj, 2008). Auch konnte gezeigt werden, dass die Ergänzung einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Standardbehandlung (KVT) durch das gezielte Training emotionaler Kompetenzen die Wirksamkeit der Behandlung auf die depressive Symptomatik verbessern konnte (Berking et al., 2013). Eine empirische Absicherung des Modells bei älteren Erwachsenen steht noch aus.

Das erweiterte Prozessmodell der flexiblen Emotionsregulation (Gross, 2015) und das Modell der adaptiven Emotionsregulation (Berking, 2017) weisen Gemeinsamkeiten auf. Um diese beiden Modelle als Einheit zu verstehen und in diesem Sinne anzuwenden, wurden sie zusammengeführt und in Abbildung 3.8 überblicksartig dargestellt. In beiden Modellen wird ein prozessorientierter Ansatz verfolgt. Besonders bei Gross (2015) wird der Regulationsprozess als dynamisch verstanden und folgt dem aktuellen Ansatz der Emotionsregulationsflexibilität, der in Abschnitt 3.3.2.3. beschrieben wird. Emotionsregulationsstrategien werden dabei nicht mehr kategorisiert. Stattdessen wird die Effektivität einer Strategie situations- und zielbezogen beurteilt. Auch bei Berking (2017) geht es um einen konstruktiven Umgang mit Emotionen, bei der die effektive und zielführende Anwendung von Strategien als etwas Individuelles betrachtet wird. Beide Modelle integrieren die Idee der Vielfalt von Regulationsstrategien und betonen, dass über verschiedene Situationen hinweg eine hohe Variabilität in der Anwendung besteht. Gross (2015) geht in seinem Modell von einem Zyklus aus, der ein Monitoring der gegenwärtigen Emotion bzw. Situation enthält und zu dem ein rückkoppelnder Prozess bzw. ein Feedback gehören. Auch bei Berking (2017) kann davon ausgegangen werden, dass der Regulationsprozess i. d. R. nicht nach einem ersten Regulationszyklus endet. Die Abfolge der Regulationskompetenzen wiederholt sich gemäß dem Modell aufgrund von Rückmeldungen. Beide Modelle liefern darüber hinaus konkrete Ansatzpunkte für wissenschaftliche Arbeiten zu Themen der Regulationsproblematiken und eignen sich aus diesem Grunde für eine praxisbezogene Anwendung.

Abbildung 3.8
figure 8

Zusammenführung des erweiterten Prozessmodells der flexiblen Emotionsregulation (Gross, 2015) und des Modells der adaptiven Emotionsregulation (Berking, 2017) in Anlehnung an Barnow, Pruessner & Schulze (2020)

Neben Gross (2015) und Berking (2017) sehen mittlerweile auch andere Autor:innen im emotionsregulativen Prozess nicht lediglich eine Kontrolle des emotionalen Erlebens oder des Ausdrucks bzw. eine Kontrolle impulsiver, emotionaler Verhaltensweisen (Gratz & Roemer, 2004; Greenberg, 2002; Linehan, 1993, 1996). Vielmehr wird die Fähigkeit, eigene Emotionen achtsam wahrzunehmen und ihnen Bedeutung beizumessen, als eine bedeutende emotionale Kompetenz angesehen. Diese Fähigkeit stellt für einige Forschende die Basis dar, Emotionen adaptiv zu regulieren und zur Befriedigung individueller Bedürfnisse einzusetzen.

Nach Marsha Linehan (1993, 1996) sind in diesem Verständnis von Emotionsregulation zwei grundlegende emotionale Kompetenzen besonders relevant: Die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu erkennen und zu benennen sowie die Fähigkeit belastende Emotionen, die zu maladaptiven Verhaltensweisen führen, bewusst zu reduzieren bzw. zu modifizieren. Eine adaptive Emotionsregulation beschreibt Linehan (1993, 1996) als einen Prozess, bei dem Individuen fähig sind, bereits aktivierte, intensive und belastende Emotionen zu beeinflussen. Die Einflussnahme sollte durch aktive Modifikationsversuche, wie dem Hemmen von unangemessenen Bewertungen oder Erwartungen oder durch das Umlenken oder Vermeiden von selbstschädigenden Handlungen, erfolgen (Linehan, 1996).

Diese neueren Konzepte finden ihren Einsatz vor allem in der klinischen Praxis. Patient:innen werden beim Erlernen der beschriebenen emotionalen Kompetenzen unterstützt. So werden z. B. konkrete Schritte erarbeitet, die impulsiven Verhaltensweisen kurzzeitig zu unterdrücken, um so adaptives Handeln zu ermöglichen. Dementsprechend soll adaptives Handeln, unabhängig von der aktuellen emotionalen Verfassung, das Erreichen eines persönlich relevanten Ziels ermöglichen. Dafür lernen die Patient:innen, Emotionen zunächst einmal wahrzunehmen, ihnen ein semantisches Konzept zuzuordnen („Das ist Angst/ Trauer.“), den Zusammenhang zwischen Bewertung und Emotion zu erkennen und letztendlich durch aktives, adaptives Handeln impulsives, selbstschädigendes oder unangemessenes Verhalten zu vermeiden. Auf eine vermeintliche Kränkung lernen Patient:innen z. B. nicht mehr mit sozialem Rückzug oder übermäßigem Alkoholkonsum zu reagieren, sondern mit adaptiven Verhaltensweisen wie dem Einsatz von bestimmten Skills (z. B. Atemübungen, Sport) oder der Neubewertung der Situation. Damit wird die physiologische Aktivierung reduziert und ein aktives Hilfesuchverhalten gefördert. Aktivierte dysfunktionale Bewertungen, die in diesen spezifischen Situationen aufkommen, werden erkannt und ggf. angepasst (Linehan, 1993, 1996).

Die verschiedenen Konzepte der Emotionsregulation gehen von einem unterschiedlichen Repertoire an Regulationsstrategien aus. Diese Strategien werden zum Erreichen individueller Ziele eingesetzt, um individuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Im Folgenden werden Emotionsregulationsstrategien beschrieben, die für diese Untersuchung von besonderer Relevanz sind.

3.3.2.2 Emotionsregulationsstrategien

In den letzten Jahren wurden verschiedene Emotionsregulationsstrategien umfangreich untersucht und beschrieben. Zu diesen Strategien gehören beispielsweise Rumination, das Unterdrücken (Suppression) des emotionalen Ausdrucks oder des gedanklichen Inhalts, das Vermeiden einer realen oder gedanklichen Auseinandersetzung mit einer emotionalen Anforderung, Substanzgebrauch, sozialer Rückzug, das Beschuldigen anderer Menschen, Selbstbeschuldigung, aktives Problemlösen, Planen, Relativieren, Katastrophisieren, Ablenkung (Distraktion), kognitives Neubewerten (reappraisal), soziales Teilen, Suchen nach sozialer Unterstützung oder die Akzeptanz eigener Emotionen oder der Situation (Barnow, 2018; Barnow et al., 2020; Loch, Hiller & Witthöft, 2011; Petermann et al., 2016). Diese Auflistung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit – eine Liste möglicher Regulationsstrategien ist denkbar lang. Im Folgenden werden ausgewählte Regulationsstrategien vorgestellt, die sich bisher im Bereich depressiver Störungen als relevant erwiesen haben. Dazu gehören Akzeptanz, kognitive Neubewertung und Rumination. Diese werden im Folgenden ausführlich beschrieben. Des Weiteren werden Selbstbeschuldigung, Andere beschuldigen, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, Relativieren und Katastrophisieren beschrieben. Dabei handelt es sich ebenfalls um Strategien, die sich im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen als relevant erwiesen haben und daher in dieser Arbeit untersucht werden (Garnefski, Kraaij & Spinhoven, 2001).

Akzeptanz: In Kombination mit achtsamkeitsbasierten Ansätzen hat das Konzept der Akzeptanz in den letzten Jahren besonders im Bereich der Psychotherapie an großer Bedeutung gewonnen. Heidenreich und Michalak (2016) sehen in der Akzeptanz den Gegenpart zur Vermeidung. Sie verstehen darunter die Bereitschaft, die inneren Erfahrungen oder Ereignisse so anzunehmen wie sind, selbst wenn diese unangenehm sind. Im ursprünglichen Sinne geht es bei der Akzeptanz um eine Grundhaltung, in der Ereignisse bewusst angenommen werden, ohne dass dies mit einem Veränderungs- oder Vermeidungswunsch verbunden ist (Kabat-Zinn, 1990). Akzeptanz spielt in der Psychotherapie besonders dann eine wichtige Rolle, wenn Emotionen wie Traurigkeit, Wut oder Scham als stark belastend erlebt werden und Betroffene dieses Erleben mit aller Macht beenden wollen. Allerdings ist das nicht in jedem Fall möglich, z. B. bei Ereignissen oder Situationen, die nicht beeinflussbar sind oder eine Kontrolle der emotionsauslösenden Faktoren nicht möglich ist. Dies ist z. B. beim Tod einer geliebten Person oder bei einer irreversiblen Erkrankung der Fall. Vermeidung oder Unterdrückung der belastenden Emotionen würden in diesem Fall allenfalls einen kurzfristigen mildernden Effekt haben, langfristig würde sich die Belastung aber durch das ständige (Wieder-) Erleben der Emotionen verstärken. Bei Ereignissen, die nicht veränderbar sind, kann es hilfreich sein, das Ereignis an sich und die Folgen zunächst einmal zu akzeptieren. Dabei handelt es sich nicht um Resignation oder bloße Hinnahme, sondern um die absichtsvolle und wertungsfreie Wahrnehmung der Emotion. Aktuelle Gefühle, Gedanken und körperlichen Empfindungen werden wahrgenommen, bewusst erlebt und nicht ignoriert oder unterdrückt. Es wird kein Versuch unternommen, diese Gefühle, Gedanken oder körperliche Empfindungen aktiv zu verändern, zu kontrollieren oder zu vermeiden. Zur Akzeptanz gehört das Wissen, dass belastende Emotionen nicht dauerhaft anhalten und dass diese mit der Zeit an Intensität verlieren. Ziel ist es, emotionale, körperliche und kognitive Ressourcen zu schonen, indem Energie und Kraft nicht in etwas Unveränderliches investiert werden. Durch die akzeptierende und annehmende Haltung wird eine gewisse Distanz zum emotionsauslösenden Ereignis aufgebaut. Aus dieser distanzierten Haltung kann die Entscheidung, ob sich ein Investment von Kraft und Energie lohnt besser getroffen werden. Dahinter steckt die Annahme, dass die Bewältigung eines bestimmten Problems oder einer Situation erst dann möglich wird, wenn das Problem und die Emotionen, die dadurch entstehen, als solche akzeptiert und ihre Existenz nicht verleugnet wird. In einer Prüfungssituation, die mit starker Angst verbunden ist, kann es sinnvoll sein, die Angst anzuerkennen und sich bewusst zu machen, dass diese Situation wahrscheinlich bei den meisten Menschen Angst auslöst. Anspannung und Erregung können sich durch die Akzeptanz der Angst verringern. In diesem Zustand wird es möglich, weiterführende Interventionen oder Maßnahmen einzuleiten (Barnow, 2018).

Studien im Zusammenhang mit depressiver Symptomatik zeigen erste vielversprechende Ergebnisse (Ehring et al., 2008; Eifert & Heffner, 2003; Hofman, Sawyer, Witt & Oh, 2010; Levitt, Brown, Orsillo & Barlow, 2004; Liverant, Brown, Barlow & Roemer, 2008). Campbell-Sills et al. (2006a) untersuchten in einer klinischen Stichprobe den Effekt der Akzeptanz und der Gefühlsunterdrückung einer emotionalen Reaktion vor, während und nach einer negativen, emotionalen Filmsequenz. Der Vergleich zeigte, dass depressive Patient:innen, die die Instruktion bekamen, belastende Gefühle zu unterdrücken, über ein deutlich höheres Anspannungsniveau berichteten. Bei diesen Patient:innen wurde zudem eine erhöhte Herzfrequenz gemessen. Patient:innen, die die Strategie der Akzeptanz anwenden sollten, konnten sich signifikant schneller vom emotionsauslösenden Ereignis und von den damit verbundenen belastendenden Gefühlen distanzieren. Zudem berichteten diese Patient:innen nach dem Film über ein geringeres Maß an negativen Affekt und subjektiven Stresserleben. Auch wurde bei ihnen eine deutlich geringere Herzfrequenz gemessen.

Brassen, Gamer, Peters, Gluth und Büchel (2012) verglichen ältere depressive Patient:innen mit gesunden Kontrollproband:innen hinsichtlich ihres adaptiven Umgangs mit emotionalen Empfindungen wie beispielsweise Bedauern. Die Höhe der Akzeptanz war entscheidend dafür, wie stark das Bedauern über verpasste Gelegenheiten im Verlauf des Lebens ausgeprägt war. Zudem zeigte sich ein positiver Zusammenhang mit körperlicher Gesundheit und ein negativer mit der Ausprägung der depressiven Symptomatik. Die Autor:innen weisen auf die Relevanz der Akzeptanz gerade in dieser Altersgruppe hin, da Personen hier häufiger mit Ereignissen konfrontiert werden, die unveränderbar sind, wie z. B. dem Tod einer nahestehenden Person, schweren Erkrankungen oder Einbußen der persönlichen Autonomie. Ein akzeptierender Verarbeitungsstil scheint bezüglich dieser unveränderbaren Ereignisse hilfreich zu sein. Er fördert eine verstärkte Ausrichtung des Lebens auf das Hier und Jetzt, ist hilfreich beim Umgang mit Ungewissheit sowie bei der Relativierung und Anpassung persönlicher Werte.

Kognitive Neubewertung: Kognitive Neubewertung wird in der Literatur häufig als positive Neu- oder Umbewertung bezeichnet. Die Basis besteht in einer veränderten bzw. adaptiveren und häufig auch in einer realistischen Bewertung einer emotionsauslösenden Situation. Die emotionale Bedeutung einer spezifischen, i. d. R. belastenden Situation wird verändert. Dies führt zu einer anderen Sichtweise, durch welche die Intensität belastender Emotionen verringert wird. Zudem kann früh in den emotionalen Verarbeitungsprozess eingegriffen werden, sodass belastende Emotionen gar nicht erst entstehen (Gross, 1998a). Die Neubewertung findet entweder unmittelbar nach der auslösenden Situation und vor der emotionalen Reaktion statt oder die Situation kann nachträglich, mit etwas zeitlichem Abstand, neu bewertet werden (Gross, 2014).

Die kognitive Neubewertung wird dadurch ermöglicht, dass ein Ereignis in der Regel nie gänzlich positiv oder negativ ist. Es ist abhängig von der Bewertung, ob ein belastendes Ereignis als Problem oder als Herausforderung angesehen wird. Eine irreversible Erkrankung beispielsweise ist ein leidvolles Ereignis. Sie kann unter Umständen aber auch als Möglichkeit des persönlichen Wachstums oder als Reifung interpretiert werden und bietet damit zugleich gewisse Chancen. Die Bewältigung oder der Umgang mit dieser Erkrankung können die erlebte Selbstwirksamkeit fördern oder die erkrankten Personen können als Vorbild für andere Betroffene dienen (Shiota & Levenson, 2009).

Die Regulationsstrategie der Neubewertung sollte allerdings nicht mit positivem Denken gleichgesetzt werden. Alles in einem positiven Licht zu betrachten ist im Sinne einer adaptiven Emotionsregulation nicht sinnvoll bzw. sogar schädigend (McMahon & Naragon-Gainey, 2018). Bei der kognitiven Neubewertung geht es vielmehr um einen Perspektivwechsel, bei dem versucht wird, eine Situation realistisch zu erfassen und zu bewerten, um damit eine distanzierte Sichtweise einzunehmen. Besonders bei belastenden Ereignissen kann diese Distanz bzw. der realistische Blick auf die Situation stark entlastend sein, da er erlaubt, die Situation noch einmal ruhig und lösungsorientiert zu betrachten (Troy, Shallcross & Mauss, 2013).

Insbesondere depressive Patient:innen berichten häufig, dass sie als unangenehm oder belastend erlebte Ereignisse aus der Vergangenheit immer wieder analysieren, sich gedanklich nur schlecht von ihnen lösen und letztendlich unverhältnismäßig lange grübeln, was einen negativen Einfluss auf die depressive Symptomatik hat (Nolen-Hoeksema, 2000). Dass sich Perspektivwechsel und eine distanzierte Betrachtungsweise positiv auf das emotionale Erleben depressiver Patient:innen auswirken, konnte von Kross, Gard, Deldin, Clifton und Ayduk (2012) gezeigt werden. Die Autor:innen untersuchten depressive Patient:innen und baten sie, sich ganz bewusst an ein belastendes Ereignis aus ihrer Vergangenheit zu erinnern. Eine Gruppe bekam die Instruktion, die damit in Verbindung stehenden Emotionen aus einer Ich-Perspektive zu betrachten („Warum habe ich mich damals so gefühlt?“). Die andere Gruppe sollte die Rolle eines distanzierten Beobachtenden einnehmen und aus dieser Perspektive die aufkommenden Emotionen beurteilen („Warum hat Frau Müller sich damals so gefühlt?“). Es zeigte sich, dass die depressiven Studienteilnehmenden, die eine distanzierende Haltung einnehmen sollten, von weniger depressionstypischen Gedanken und Überzeugungen und einem geringeren negativen Affekt berichteten als die Vergleichsgruppe. Zudem zeigten diese Studienteilnehmenden weniger Vermeidung in der Schilderung der Situation und den damit verbundenen Emotionen und sie berichteten eine geringere Anzahl stark emotional aufgeladenen Details. Die Autor:innen gingen davon aus, dass besonders bei depressiven Patient:innen eine distanzierte Haltung zu mehr Objektivität führt und so belastende Emotionen adaptiver reguliert werden. John und Gross (2004) konnten ebenfalls zeigen, dass kognitive Neubewertung eine wirksame Strategie zur Regulation belastender Emotionen ist. Sie ist assoziiert mit dem Erleben von mehr positiven und weniger negativen Emotionen sowie mit erhöhtem psychischen und körperlichen Wohlbefinden.

John und Gross (2004) gehen davon aus, dass sich die Fähigkeit, Emotionen adaptiv zu regulieren, im Verlauf des Lebens entwickelt. Sie nehmen an, dass Menschen im höheren Lebensalter häufiger auf adaptive Strategien wie Neubewertung als auf maladaptive Strategien wie Unterdrückung zurückgreifen. Sie untersuchten dafür ältere Frauen bezüglich der Häufigkeit der Anwendung der Strategien Neubewertung und Unterdrückung. Da im Fokus der Untersuchung eine mögliche Veränderung der Strategieanwendung über den Verlauf des Lebens stand, verglichen sie aktuelle und retrospektive Daten. Für die retrospektiven Daten sollten die Teilnehmerinnen beurteilen, wie sie im Alter von 20 Jahren geantwortet hätten. Die Ergebnisse zeigten, dass mit 20 Jahren signifikant häufiger Unterdrückung und im Alter häufiger Neubewertung angewandt wurde. Die Autoren erklären diesen Befund damit, dass individuelle Erfahrungen über den Verlauf des Lebens zu einer adaptiven Regulation beitragen. Im Alter werden also vermehrt Strategien angewendet, die zu einer langfristigen Steigerung positiver Emotionen beitragen und das Wohlbefinden erhöhen. Das positive Neubewerten und der damit einhergehende Perspektivwechsel erlauben es, den Aufmerksamkeitsfokus zu verändern, die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und eine akzeptierende Haltung einzunehmen.

Grübeln: Der Begriff Grübeln wird in der Fachsprache als Rumination bezeichnet, was vom lateinischen Wort ruminatio stammt. Es bedeutet so viel wie wiederkäuen, wiederholendes Reden oder Gedankenkreisen. Beim Ruminieren wird ein belastendes Ereignis aus der Vergangenheit immer wieder gedanklich rekapituliert. Dabei kommt es zu einer intensiven gedanklichen Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen und Gedanken bzgl. eines belastenden Ereignisses. Das belastende Ereignis wird nachträglich gedanklich mit dem Ziel durchgespielt, es besser zu verstehen. Ruminieren stellt damit im Prinzip den Versuch einer Problemlösung dar, ohne den aktiven Versuch, das Problem zu lösen. Im Vergleich zum Nachdenken ist dieser Prozess allerdings nicht konstruktiv und lösungsorientiert. Es erfolgt keine Änderung der Situation. Stattdessen kreisen die Gedanken fortwährend um das belastende Ereignis und die Emotionen, die damit verbunden sind (Barnow, 2018). Dabei werden Argumente und Überlegungen lediglich wiederholt, zusätzliche Informationen fließen nicht ein. So werden z. B. schambesetzte Ärgerreaktionen wiederholt erlebt und es kommt zu einem erhöhten Stresserleben, was sich auf körperlicher Ebene durch einen erhöhten Blutdruck, den Anstieg der Herzrate und des Muskeltonus sowie durch Symptome wie Kopf- und Magenschmerzen zeigen kann. Die Grübelgedanken beziehen sich bei Menschen mit einer Depression häufig auf bestimmte Ereignisse oder auf die Ursachen und Konsequenzen der depressiven Stimmung. Dabei sind sie in ihrer Beschaffenheit weder zielorientiert, noch motivieren sie zur Lösungssuche oder -umsetzung. Durch das Ausbleiben einer Lösung verstärken sich Gefühle von Hilf- und Machtlosigkeit, die einen Einfluss auf den Selbstwert haben. Rumination hat zudem stark negative Auswirkungen auf die Stimmung (Zhou et al., 2020).

Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Rumination eine der problematischsten Strategien im Zusammenhang mit depressiven Störungen darstellt und dass es an der Entstehung und Aufrechterhaltung maßgeblich beteiligt ist (Barnow, Reinelt & Sauer, 2016; Nolen-Hoeksema, 2000; Olatunji, Naragon‐Gainey & Wolitzky‐Taylor, 2013; Papageorgiou & Wells, 2003; Zhou et al., 2020). Nolen-Hoeksema (1991) definiert Rumination im Kontext einer depressiven Störung als sich wiederholende Gedanken über die Ursache, Bedeutung und Konsequenz depressiver Symptome. Dabei wird angenommen, dass der eigene als belastend erlebte emotionale Zustand im Mittelpunkt der sich wiederholenden Gedankenkreise steht und Patient:innen sich gedanklich nur schwer von diesem passiven Denken distanzieren.

Der Einfluss des Ruminierens auf die depressive Symptomatik konnte in Studien wiederholt gezeigt werden. So fand sich in verschiedenen Quer- und Längsschnittstudien, dass Ruminieren einen erheblichen Risikofaktor bei der Entstehung einer depressiven Episode darstellt (Morrow & Nolen-Hoeksema, 1990; Trask & Sigmon, 1999). Auch in experimentellen Laboruntersuchungen führte die Anweisung zur Rumination bei Studienteilnehmenden dazu, dass eine depressive Stimmung länger und intensiver aufrechterhalten wurde (Lyubomirsky, Caldwell & Nolen-Hoeksema, 1998; Nolen-Hoeksema & Morrow, 1993). In prospektiven Studien wurde festgestellt, dass übermäßiges Ruminieren zu einer verlängerten Persistenz der depressiven Symptomatik führte (Nolan, Roberts & Gotlib, 1998; Nolen-Hoeksema, McBride & Larson, 1997). Rumination stellte zudem einen guten Prädiktor für die Entstehung einer erneuten depressiven Episode dar und es zeigte sich, dass depressive Patient:innen mit verstärktem Ruminationsverhalten schlechter auf eine psychotherapeutische Behandlung ansprachen (Just & Alloy, 1997; Nolen-Hoeksema, 2000).

Zudem konnte gezeigt werden, dass Rumination Konzentration und Gedächtnis beeinflusst, lösungsorientierte Handlungstendenzen vermindert (Lyubomirsky, Tucker, Caldwell & Berg, 1999), Risikofaktoren wie verzerrtes und selbstkritisches Denken fördert (Spasojevic & Alloy, 2002) und einen negativen Einfluss auf interpersonelle und soziale Kompetenzen (Lyubomirsky & Nolen-Hoeksema, 1995) hat.

Selbstbeschuldigung und Andere beschuldigen: Dabei handelt es sich um kognitive Strategien, die sich auf die kausale Zuschreibung eines negativen Ereignisses auf sich selbst oder auf Andere beziehen. Zwar ist die aktuelle Studienlage besonders zur Selbstbeschuldigung inkonsistent, aber eine Übersichtsstudie konnte zeigen, dass verhaltens- und personenbezogene Selbstbeschuldigung zur Entstehung einer Depression und zur Einsamkeit beitrugen (Anderson, Miller, Riger, Dill & Sedikides, 1994). Zur Strategie Andere beschuldigen konnte über verschiedene Stichproben hinweg gezeigt werden, dass beim Erleben bedrohlicher Ereignisse Andere für das eigene Unglück verantwortlich zu machen, mit Beeinträchtigungen des emotionalen Wohlbefindens und der körperlichen Gesundheit assoziiert war (Tennen & Affleck, 1990).

Positive Refokussierung: Bei dieser Strategie geht es um die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf angenehme Gedanken, nach dem Erleben eines belastenden Ereignisses. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, sich in einer Problemsituation mit schönen und angenehmen Gedanken und Erinnerungen abzulenken. Die Refokussierung auf angenehme Gedanken könnte im weiteren Sinne als ein mentaler Rückzug verstanden werden und hätte in diesem Fall konzeptuelle Überschneidungen mit der Vermeidung belastender Emotionen. Im Sinne einer adaptiven Emotionsregulation kann positive Refokussierung demnach kurzfristig hilfreich sein; eine langfristig und kontextunspezifische Nutzung hat allerdings eher maladaptiven Charakter (Garnefski et al., 2001).

Refokussierung auf Planung: Bei der Anwendung dieser Strategie wird die Aufmerksamkeit bewusst darauf gerichtet, was das Individuum tun kann, um eine unangenehme Situation zu lösen oder sie leichter zu bewältigen. Es handelt sich hierbei um eine kognitive Strategie, welcher idealtypisch aktive Bemühungen zur Problemlösung folgen (Garnefski et al., 2001). Wird Refokussierung auf Plannung als eine Vorbereitung zu einer aktionsfokussierten Problemlösung angesehen, konnten Carver et al. (1989) positive Zusammenhänge zu Optimismus und Selbstwertgefühl sowie einen negativen Zusammenhang zu Ängstlichkeit finden.

Relativieren: Das Relativieren bezieht sich auf die Abmilderung eines unangenehmen Ereignisses, indem es mit schlimmeren Ereignissen verglichen wird oder die Auswirkungen des aktuellen Ereignisses über den zeitlichen Verlauf betrachtet werden (Garnefski et al., 2001). Beim Relativieren handelt es sich um das Herunterspielen einer Problemsituation anhand eines Vergleichs mit anderen Situationen oder mit den Problemen anderer Menschen. Auch hier sollte der Einsatz kurzfristig und kontextspezifisch erfolgen, da ansonsten die Anwendung eher vermeidenden Charakter hat. Wird Relativieren kontextunspezifisch und längerfristig eingesetzt, um belastende Emotionen zu regulieren, kann es zur gedanklichen und realen Vermeidung des emotionsauslösenden Ereignises kommen. Durch die Vermeidung werden Problemlösekompetenzen nicht erlernt und neue, positive Erfahrungen verhindert (Barnow, 2018). Die Vermeidung verhindert die Erfahrung, eine Situation bewältigen zu können und ist deshalb auch von psychopathologischer Bedeutung (Fries & Grawe, 2006).

Katastrophisieren: Katastrophisieren wird als das Vorwegnehmen von Gedanken bezogen auf die übertriebenen Konsequenzen eines negativen Ereignisses beschrieben. Es handelt sich hierbei um eine kognitive Verzerrung, bei der die Überzeugung besteht, dass ein bestimmtes negatives Ereignis mit großer Sicherheit tatsächlich eintreten wird und dass dieses Ereignis bei den Betreffenden den größtmöglichen Schaden anrichten wird. Dabei würde ein Großteil der anderen Menschen dieses Ereignis als sehr unwahrscheinlich oder als erträglich beurteilen. Beim Katastrophisieren kommt es zur Antizipation des belastenden Ereignisses und dessen Folgen und im weiteren Verlauf zu übermäßigem Grübeln (Jenness et al., 2016). So konnten positive Zusammenhänge zwischen Katastrophisieren und emotionaler Belastung sowie Depression gefunden werden (Sullivan, Bishop & Pivik, 1995).

In diesem und in den vorherigen Kapiteln wurden die Begriffe positiv und negativ zu Klassifikation von emotionalem Erleben verwendet. Konsens besteht darüber, dass beispielsweise Freude und Stolz zu den positiven Emotionen gehören und Emotionen wie Wut, Angst oder Traurigkeit unangenehm sind und deshalb eher den negativen Emotionen zugeordnet werden. Bei emotionalen Empfindungen wie Wehmut oder Melancholie ist eine Zuordnung weniger eindeutig. Die Dichotomisierung von Emotionen in positiv und negativ ist demnach per Definition schwierig. Zudem sind vermeintlich negative Emotionen zwar häufig unangenehm, können aber durchaus von Nutzen sein (Eismann & Lammers, 2017). Die Problematik einer Dichotomisierung von Emotionen wird im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben und es werden Ansätze zur Lösung dieses Problems vorgestellt.

3.3.2.3 Adaptiv vs. maladaptiv? Klassifikation von Emotionen und Emotionsregulationsstrategien

Die Klassifizierung von Emotionen und Emotionsregulationsstrategien in positiv oder negativ ist problematisch. Zwar sind Emotionen mit positivem, lustvollem Erleben assoziiert bzw. werden als schmerzhaft und unangenehm empfunden, allerdings scheint es an dieser Stelle sinnvoller zu sein, den emotionsauslösenden Anlass entsprechend als positiv oder negativ zu bewerten (Eismann & Lammers, 2017). Bei der Betrachtung spezifischer Emotionsregulationsstrategien, die üblicherweise als negativ klassifiziert werden, wie z. B. das Unterdrücken oder Vermeiden wird deutlich, dass ein zeitlich begrenzter Einsatz durchaus sinnvoll sein kann. Sie sind z. B. in Akutsituationen hilfreich, um belastende Emotionen kurzfristig zu regulieren oder sie sind bei traumatischen Ereignissen hochgradig funktional, um das Überleben zu sichern (English, Lee, John & Gross, 2017). Insgesamt sind die Kategorien positiv und negativ in Bezug auf emotionales Erleben wenig hilfreich, da diese Bezeichnungen automatisch zu Bewertungen führen, die den Umgang mit der jeweiligen Emotion und letztlich mit der Situation erschweren. Die Emotion Ärger generell als negativ zu bewerten, würde einen konstruktiven Umgang mit dieser Emotion verhindern. Das Ziel bestünde lediglich darin, den Ärger zu vermeiden oder zu unterdrücken anstatt die Energie und die Potenziale, die in dieser Emotion liegen, zu nutzen.

Mit dem steigenden Interesse an den Prozessen der Emotionsregulation stieg auch das Interesse an einer Klassifikation, die eine Aussage über die Effektivität von Emotionen, aber besonders von bestimmten Regulationsstrategien machte. Aufgrund von Untersuchungen zum Zusammenhang von Emotionsregulation und psychischer Gesundheit wurden die Kategorien adaptiv und maladaptiv eingeführt. Beeinflusst wurde diese Kategorisierung besonders von Forschenden aus dem Bereich der klinischen Psychologie (Aldao et al., 2010; Gross, 2015; Goossens, Van Malderen, Van Durme & Braet, 2016; McMahon & Naragon-Gainey, 2018). Es wird davon ausgegangen, dass jede Emotion und jede Emotionsregulationsstrategie adaptiv oder maladaptiv sein kann (Gross, 1999). Adaptiv bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Emotion oder die Regulationsstrategie in der jeweiligen Situation nachvollziehbar, angemessen und bezüglich einer bedürfnisorientierten Verhaltenssteuerung hilfreich ist. Die Emotion Schuld beispielsweise ist dann adaptiv, wenn ein berechtigterweise kritisierbares Verhalten vorliegt und das Schuldgefühl eine Verhaltenskorrektur beispielsweise in Form einer Entschuldigung initiiert. Diese soll den Konflikt abwenden und für die Aufrechterhaltung relevanter sozialer Beziehungen sorgen.

Als maladaptiv gelten Emotionen oder Strategien, die hinsichtlich Qualität oder Quantität im situativen Kontext unangemessen und nicht hilfreich bei der Befriedigung individueller und häufig langfristiger Bedürfnisse sind. Das Bedürfnis kurzfristig „Dampf abzulassen“ kann mit dem Bedürfnis, persönlich relevante Beziehungen nicht zu gefährden, sondern langfristig aufrechtzuerhalten, konkurrieren. Scham beispielsweise wäre dann maladaptiv, wenn keine Verhaltenskorrektur erfolgen würde, sondern lediglich ein sozialer Rückzug. Allerdings ist Scham häufig mit starker Selbstabwertung verbunden und nur in wenigen Situationen adaptiv. Von Adaptivität kann nur dann gesprochen werden, wenn aufgrund der Scham ein unangemessenes Verhalten in der Vergangenheit reflektiert und die Unterlassung dieses Verhaltens in der Zukunft wahrscheinlicher wird (Eismann & Lammers, 2017).

Auch bei der Betrachtung spezifischer Emotionsregulationsstrategien zeigten sich Zusammenhänge zwischen Häufigkeit und Nutzung bestimmter Strategien mit Wohlbefinden und Psychopathologie. Strategien, die besonders häufig untersucht wurden, waren kognitive Neubewertung und Unterdrückung (Dryman & Heimberg, 2018; Goldin, McRae, Ramel & Gross, 2008; Gross & John, 2003). Empirische Studien konnten zeigen, dass Neubewertung einen größeren Beitrag zur Verringerung des negativen Affekts leisten konnte als Unterdrückung. Des Weiteren zeigten sich bei Personen, die vermehrt Neubewertung zur Regulation belastender Emotionen einsetzten, negative Zusammenhänge mit Psychopathologie (Aldao, Gee, De Los Reyes & Seager, 2016; Barnow, 2012; Sheppes, Suri & Gross, 2015). Positive Zusammenhänge mit Psychopathologie zeigten sich bei einer häufigeren Nutzung von Unterdrückung (Gross & John, 2003; Izadpanah, Barnow, Neubauer & Holl, 2019; John & Gross, 2004). Auch bei anderen Emotionsregulationsstrategien wurden Hinweise darauf gefunden, dass bestimmte Strategien entweder eher in einem positiven oder einem negativen Zusammenhang mit Wohlbefinden und Psychopathologie stehen. So wurden Strategien wie Neubewertung, Akzeptanz und Problemlösen als adaptiv klassifiziert, da empirische Studien negative Zusammenhänge mit Psychopathologie zeigen konnten. Strategien wie Unterdrückung, Vermeidung und Rumination, die im Mittel eher positiv mit psychischen Beschwerden assoziiert waren, wurden als maladaptiv klassifiziert (für eine Übersicht, siehe Aldao et al., 2010; für empirische Beispiele, siehe Conklin et al., 2015; Goossens et al., 2016; McMahon & Naragon-Gainey, 2018; Wante, Mezulis, Van Beveren & Braet, 2017).

Diese Dichotomie hat heuristischen Wert für die Forschung, aber besonders für die Praxis. Allerdings wird angenommen, dass die als adaptiv klassifizierten Strategien grundsätzlich funktional sind und die als maladaptiv klassifizierten Strategien im Allgemeinen mit dysfunktionalen Konsequenzen verbunden sind. Aktuelle empirische Befunde zeigen jedoch, dass es sinnvoll sein kann, die Effektivität einer Strategie in Abhängigkeit vom Kontext zu beurteilen (Birk & Bonanno, 2016; English et al., 2017; Haines et al., 2016; Sheppes & Gross, 2011; Troy, Ford, McRae, Zarolia & Mauss, 2017). Troy et al. (2013) konnten zeigen, dass die Effektivität der Strategie Neubewertung von der Kontrollierbarkeit der Situation abhängig war. In einer Laborstudie induzierten sie Traurigkeit und stellten fest, dass bei einigen Studienteilnehmenden die Anwendung von Neubewertung mit höherer Depressivität assoziiert war. Da Neubewertung im Allgemeinen als adaptive Strategie angesehen wird, entsprach dieser Befund nicht den Erwartungen. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass diejenigen der Studienteilnehmenden mit höheren Depressionswerten reagierten, welche in den vergangenen Monaten häufiger kontrollierbare Stresssituationen erlebt hatten. Studienteilnehmende hingegen, die in den vergangenen Monaten überwiegend unkontrollierbaren Stressoren ausgesetzt waren, reagierten bei Anwendung von Neubewertung mit geringeren depressiven Symptomen. Die Kontrollierbarkeit der Situation scheint für die Effektivität von Neubewertung entscheidend zu sein. Dieser Befund konnte in anderen Laborstudien (Troy et al., 2017) und unter Verwendung von Ecological Momentary Assessment (EMA; Haines et al., 2016) repliziert werden. Ecological Momentary Assessment bezeichnet eine Erhebungsstrategie, die das Ziel verfolgt, unverzerrt und unmittelbar im „natürlichen“ Umfeld der Versuchsperson zu erfassen, z. B. durch Tagebücher, Audio- oder Videoaufzeichnungen. Dadurch werden Verzerrungen durch Antworttendenzen verringert und die Validität der Messung erhöht sich (Haines et al., 2016). Die Autor:innen erklären die Ergebnisse damit, dass es unter kontrollierbaren Bedingungen adaptiver ist, aktive Regulationsstrategien wie beispielsweise das aktive Problemlösen anzuwenden. In Situationen, die als unkontrollierbar erlebt werden, kann es wiederum hilfreicher sein, die emotionale Reaktion mithilfe von Neubewertung zu regulieren (Haines et al., 2016; Troy et al., 2013). Auch eine andere Studie zu emotionalen Reaktionen im Zusammenhang mit Verlusterlebnissen zeigte, dass Strategien wie Rumination oder Unterdrückung in diesen bestimmten Situationen adaptive Strategien darstellten, die zur Reduktion depressiver Symptome führten (Eisma et al., 2015).

Des Weiteren konnten Studien aus den vergangenen Jahren zeigen, dass die Effektivität einer Strategie auch vom interpersonellen Kontext beeinflusst werden kann. Arens, Balkir und Barnow (2013) untersuchten Frauen aus Deutschland und der Türkei. Sie fanden, dass die häufige Unterdrückung einer Emotion oder des emotionalen Ausdrucks bei Frauen aus der Türkei, einer eher kollektivistisch geprägten Kultur, mit verringertem negativen Affekt und erhöhtem psychischen Wohlbefinden assoziiert war. Bei den Frauen aus Deutschland, bei denen eher ein individualistisch geprägter kultureller Hintergrund angenommen wird, fand sich ein umgekehrter Wirkmechanismus. Auch andere Studien fanden, dass das kulturelle Wertesystem einen moderierenden Einfluss auf den Einsatz von Unterdrückung und negativen Affekt bzw. die erlebte Qualität sozialer Beziehungen hatte (Butler, Lee & Gross, 2007).

Außerdem scheinen die Intensität der zu regulierenden Emotionen und die Anzahl von Stressoren einen Einfluss auf die Effektivität einer Strategie zu haben (Dorman Ilan, Tamuz & Sheppes, 2019; Hay, Sheppes, Gross & Gruber, 2015; Sauer et al., 2016; Sheppes & Gross, 2011; Suri et al., 2018). Bei hoher emotionaler Intensität, die beispielsweise unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis erlebt wird, kann der Einsatz von Vermeidung oder Unterdrückung zunächst einmal sinnvoll sein. Die prinzipiell als eher maladaptiv klassifizierten Strategien ermöglichen eine kurzfristige Verschiebung der Aufmerksamkeit vom aversiven Reiz und haben so eine protektive Wirkung (Shafir, Thiruchselvam, Suri, Gross & Sheppes, 2016). Bei Emotionen mit geringer Intensität scheinen wiederum Strategien wie Neubewertung oder Relativieren effektiver zu sein (Sheppes & Gross, 2011; Suri et al., 2018).

Dieser Zusammenhang zeigte sich auch in Bezug auf die Anzahl von Stressoren. Studienteilnehmende, die einen leichten Stromschlag erhielten, konnten den negativen Affekt unter der Verwendung von Neubewertung effektiver regulieren als Studienteilnehmende, die zusätzlich einem weiteren Stressor, hier dem Kaltwassertest (cold pressure task), ausgesetzt waren. Die Autor:innen erklärten diesen Befund damit, dass unter hohem Stress Neubewertungen weniger effektiv angewendet werden können und andere Strategien wesentlich effektiver sind (Raio, Orederu, Palazzolo, Shurick & Phelps, 2013).

Ein weiterer Aspekt, der einen Einfluss auf die Effektivität einer Strategie hat, ist das individuelle Ziel, das mit der Regulation verbunden ist. In der Regel dient Regulation dazu, angenehme Emotionen zu intensivieren und belastende Emotionen zu verringern (Gross et al., 2006). Verschiedene Studien konnten allerdings zeigen, dass Personen unter bestimmten Umständen bestrebt sind, negative Emotionen zu intensivieren. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Wut und Ärger genutzt werden, um in einer Auseinandersetzung den eigenen Standpunkt entschiedener und bestimmter vertreten zu können oder wenn Trauer bewusst gesteigert wird, um in einer belastenden Lebenssituation soziale Unterstützung zu erhalten (English et al., 2017; Tamir, 2009; Tamir & Ford, 2012). Emotionen werden somit nicht ausschließlich im Sinne eines hedonistischen Prinzips reguliert. Stattdessen spielt auch das Erreichen eines persönlich relevanten Ziels bei der Wahl der Emotion, die erlebt werden soll, und somit bei der gewählten Regulationsstrategie, eine entscheidende Rolle. Die Passung zwischen regulatorischen Zielen und eingesetzten Strategien scheint von Bedeutung zu sein.

Die Kategorisierung von Emotionen und Emotionsregulationsstrategien als adaptiv und maladaptiv ist für Forschung und Praxis praktikabel und empirisch gut belegt. Allerdings sollte bei der Definition der beiden Kategorien berücksichtigt werden, dass eine Strategie nicht per se adaptiv oder maladaptiv ist. Stattdessen sollte bei der Beurteilung der Effektivität zusätzlich die Häufigkeit berücksichtigt werden, mit der die Strategie angewendet wird sowie der Kontext. Kontextfaktoren, die einen Einfluss auf die Effektivität haben, sind die Kontrollierbarkeit einer Situation (Haines et al., 2016; Troy et al., 2013; Troy et al., 2017), interpersonelle Faktoren (Arens et al., 2013; Butler, 2007; Eisma et al., 2015), die Intensität der zu regulierenden Emotion, die Anzahl von Stressoren (Dorman et al., 2019; Hay et al., 2015; Sauer et al., 2016; Sheppes & Gross, 2011; Suri et al., 2018; Szasz, Coman, Curtiss, Carpenter & Hofmann, 2018) und die Ziele, die mit der Regulation verfolgt werden (English et al., 2017; Tamir, 2009; Tamir & Ford, 2012). Aufgrund der aktuellen Befunde haben verschiedene Forschende die Idee der Emotionsregulationsflexibilität entwickelt. Die Effektivität von Emotionsregulationsstrategien wird danach in Abhängigkeit vom Kontext betrachtet. Es wird von einer allgemeinen Kategorisierung abgesehen, da das Potenzial der Regulationsstrategie abhängig von der jeweiligen Situation ist und auch die Adaptivität somit kontextbezogen ist.

Zusammengefasst sollte eine adaptive Emotionsregulation nicht starr und einseitig verlaufen, sondern flexibel und situationsangemessen. Zudem geht ein adaptiver und funktional flexibler Regulationsstil mit geringerer Psychopathologie einher (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2012). Die verursachten Kosten stellen einen guten Indikator für den adaptiven Einsatz einer Emotionsregulationsstrategie dar. Verursacht eine Regulationsstrategie hohe kognitive oder körperliche Anstrengung bzw. ist sie mit hohen sozialen Kosten verbunden, wird sie in der derzeitigen Literatur als eher maladaptiv beschrieben (Petermann et al., 2016, Aldao et al., 2010, Aldao & Nolen-Hoeksma, 2012).

Im Rahmen dieser Untersuchung wird eine Unterscheidung zwischen adaptiven und maladaptiven Emotionen bzw. Regulationsstrategien vorgenommen. Die Definition dieser Begriffe orientiert sich dabei an den aktuellen empirischen Daten, die die Effektivität von Emotionsregulation kontextabhängig betrachten. Dabei werden adaptive Emotionen und Emotionsregulationsstrategien als allgemein nachvollziehbar und in der jeweiligen Situation als angemessen und hilfreich angesehen. Sie gelten als Richtmaß für die Umsetzung von sinnvollen und reflektierten Handlungen und helfen bei der Befriedigung angemessener Bedürfnisse. Eine adaptive Emotionsregulation wird als flexibel und situationsbezogen verstanden. Zudem verringert sie unangenehme Folgen von belastenden Emotionen und ermöglicht das Erreichen langfristiger Ziele (Barnow, 2012). Maladaptive Regulationsstrategien stehen oft im Zusammenhang mit kritischen Lebenserfahrungen und führen in ihrer Folge nicht zur Befriedigung eines angemessenen Bedürfnisses bzw. stehen der langfristigen Ziel- und Bedürfnisbefriedigung entgegen (Barnow, 2012). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie belastendes emotionales Erleben nicht verringern, sondern bestenfalls unterdrücken. Bei einseitiger und unflexibler Anwendung führen maladaptive Strategien häufig zu zwischenmenschlichen Konflikten und stehen in einem positiven Zusammenhang mit der Entstehung und der Aufrechterhaltung von verschiedenen psychopathologischen Störungsbildern wie affektiven Störungen oder Angststörungen. Daher spielen maladaptive Regulationsstrategien eine relevante Rolle für das Verständnis unterschiedlicher Psychopathologien und deren Behandlung (Eismann & Lammers, 2017).

3.3.2.4 Emotionsregulation im Alter

Nach der Theorie der Entwicklungsaufgaben (Havighurst, (1948, 1972) sowie nach den Konzepten der Lebensspannenpsychologie (Baltes & Baltes, 1990; Thomae 1979; siehe Abschnitt 3.1.2) stehen Menschen in jeder Lebensphase altersspezifischen Herausforderungen gegenüber. So wie in jungen Jahren spielen ebenso im Alter emotionale Ressourcen und Kompetenzen eine relevante Rolle, wenn es um die Bewältigung der jeweiligen Aufgaben geht. Dabei sind das emotionale Erleben und die Fähigkeit Emotionen adaptiv zu regulieren auch im Alter ein entscheidender Faktor, der zur Stabilität des Wohlbefindens beiträgt. Im Rahmen des Konzepts des erfolgreichen Alterns wird das psychische Wohlbefinden als zentrales Beurteilungskriterium definiert. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Forschung erst verhältnismäßig spät mit dem Zusammenhang zwischen Wohlbefinden, emotionalen Ressourcen und Emotionsregulation im Alter beschäftigt hat (Lawton, 2001).

Derzeit existiert lediglich eine vergleichsweise geringe Anzahl an Studien zu emotionsregulativen Prozessen und zum subjektiven Wohlbefinden bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter. In der Tendenz weisen diese bisherige Daten darauf hin, dass emotionale Kompetenzen und Ressourcen sowie subjektives Wohlbefinden im Alter nicht, wie früher angenommen, prinzipiell abnehmen. Die Häufigkeit positiver Emotionen weist sogar eine gewisse Stabilität auf. Es wird vermutet, dass bestimmte, als adaptiv klassifizierte Emotionsregulationsstrategien im Alter mit höherer Effizienz eingesetzt werden. Die Häufigkeit negativer Emotionen scheint im Verlauf des Lebens sogar abzunehmen (Charles, Reynolds & Gatz, 2001; Lawton, 2001). Dennoch kann die Befundlage als eher heterogen angesehen werden, weshalb es sinnvoll erscheint, verschiedene Bereiche des Emotionsregulationsprozesses differenzierter zu betrachten. Martin und Kliegel (2014) schlagen dafür eine Einteilung in die subjektive Emotionswahrnehmung, die affektive Komplexität, den Emotionsausdruck und die eigentliche Emotionsregulation vor. Für die Fragestellungen dieser Arbeit sind die Bereiche subjektive Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation besonders relevant und werden im Folgenden beschrieben.

Im Rahmen der subjektiven Emotionswahrnehmung werden Altersunterschiede in der Häufigkeit und in der Intensität von Emotionen betrachtet. In der Regel werden Emotionen dabei auf zwei unabhängige Dimensionen reduziert: positiver und negativer Affekt. Der positive Affekt bezieht sich beispielsweise auf das Ausmaß an freudiger Erregtheit, Ruhe und Ausgeglichenheit. Der negative Affekt auf das Ausmaß an Lethargie, Trauer, Verachtung, Anspannung, Ärger, Gereiztheit und Angst (Watson & Tellegen, 1985). Besonders der positive Affekt gilt als zentraler Faktor bei der Beurteilung des subjektiven Wohlbefindens (Diener, Sandvik & Larsen, 1985). In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass positiver Affekt mit erhöhtem subjektiven Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit einhergeht (Burgdorf & Panksepp, 2006; Moriwaki, 1974) und das Risiko von Frailty im Alter reduzieren kann (siehe Abschnitt 3.2.1.1; Ostir, Ottenbacher & Markides, 2004).

Wird die Häufigkeit erlebter Emotionen im Alter betrachtet, wurde früher davon ausgegangen, dass negative Emotionen im Alter kontinuierlich ansteigen, z. B. aufgrund von steigenden Verlusterfahrungen und sich verringernden Entwicklungsgewinnen. Es wurde angenommen, dass damit eine Verringerung des Wohlbefindens einhergeht (Stacey & Gatz, 1991). Die Mehrzahl der aktuellen Studien widerspricht dieser früheren Annahme. Während einige wenige Studien auf eine generelle Abnahme der Häufigkeit negativer wie positiver Emotionen im Alter hinweisen (Diener et al., 1985; Lawton, Kleban, Rajagopal & Dean, 1992), zeigt der Großteil der Untersuchungen bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter eine Abnahme lediglich des negativen Affekts mit darauffolgender stabiler Phase (Barrick, Hutchinson & Deckers, 1989; Carstensen et al., 2000). Allerdings kann das Erleben eines negativen Affekts auch als adaptiv betrachtet werden. Dies ist der Fall, wenn er die Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben unterstützt (Labouvie-Vief, 2003). In verschiedenen Studien wurde der negative Affekt nicht als Gesamtwert operationalisiert, sondern es wurden verschiedene diskrete negative Emotionen betrachtet und hinsichtlich ihrer Funktionalität unterschieden. Dabei stellte sich heraus, dass im jungen Erwachsenenalter im Vergleich zum höheren Erwachsenenalter zwar mehr Ärger berichtet wird, dieser aber beim Aufbau von Ressourcen und bei der Verfolgung altersspezifischer Ziele unterstützt. Im Alter wiederum werden häufiger Emotionen wie Traurigkeit und Verachtung berichtet, diese scheinen allerdings bei der Bewältigung von Verlusten und bei Prozessen der Zielablösung zu unterstützen und hätten dann eher einen adaptiven Charakter (Kunzmann, Kappes & Wrosch, 2014; Neumann, 2016). Das Erleben negativer Emotionen kann eine angemessene und adaptive Reaktion auf altersspezifische Entwicklungsaufgaben sein und nicht lediglich als Emotionsregulationsdefizit interpretiert werden. Die Entwicklung des subjektiven Wohlbefindens ist unter diesen Annahmen noch nicht eindeutig geklärt.

Im Hinblick auf die Häufigkeit positiver Emotionen zeigte sich ebenfalls kein eindeutiges Ergebnis. Einige wenige Studien gehen von einer Abnahme positiver Emotionen im Alter aus (Stacey & Gatz, 1991). Eine Erklärung für eine mögliche Abnahme der Häufigkeit positiver allerdings auch negativer Emotionen kann darin bestehen, dass mit zunehmendem Alter die kognitive Leistungsfähigkeit nachlässt, wodurch das Erkennen und Identifizieren der eigenen Emotionen unter Umständen eingeschränkt sein kann (Mather, 2012). Eine Vielzahl anderer Studien weist allerdings darauf hin, dass im Rahmen eines erfolgreichen Alterungsprozesses die Häufigkeit positiver Emotionen stabil bleibt bzw. positiver Affekt sogar ansteigt (Charles et al., 2001; Gross et al., 1997; Mroczek & Kolarz, 1998).

Untersuchungen zur Intensität erlebter Emotionen im Alter zeigen ebenfalls ein eher heterogenes Bild: Eine Studie konnte zeigen, dass in einer Gruppe älterer Erwachsener die Intensität der erlebten negativen wie positiven Emotionen mit dem Alter nachließ (Lawton et al., 1992). Dagegen zeigten Kunzmann und Grühn (2005), dass die Intensität von Trauer bei Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Befragten stärker ausgeprägt war, wenn beide Gruppen eine Videosequenz betrachten sollten, in der es um Themen wie Tod, Sterben und Vergänglichkeit ging. In einer anderen Studie wurden ältere und jüngere Studienteilnehmende gebeten, über ein persönliches Ereignis zu berichten, das entweder von Wut oder von Traurigkeit geprägt war. Dabei reagierten die Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu den jüngeren Befragten mit weniger Wut im mimischen und verbalen Ausdruck, in der physiologischen Erregung und im subjektiven, selbstberichteten emotionalen Erleben. In Bezug auf die Intensität von Traurigkeit gab es keine Altersunterschiede (Kunzmann, Rohr, Wieck, Kappes & Wrosch, 2017). Die Inkonsistenz dieser Ergebnisse kann sich aus dem querschnittlichen Studiendesign ergeben. Die National Health and Nutrition Examination Study (1992), in der 5 000 Teilnehmende im Alter von 24 bis 74 Jahren über einen Zeitraum von neun Jahren zweimal jährlich zu ihrem subjektiven Wohlbefinden befragt wurden, zeigte, dass im Querschnitt der positive wie auch der negative Affekt im Alter abnahmen. Wurden die Daten im Längsschnitt betrachtet, ergaben sich keine Alterseffekte. Carstensen et al. (2000) wählten ebenfalls einen Längsschnitt und kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Im Einklang mit anderen Längsschnittuntersuchungen fanden auch sie weder Alterseffekte in der Häufigkeit und Intensität positiver Affekte noch in der Intensität negativer Affekte. Allerdings fanden sie, dass die Häufigkeit des negativen Affekts bei Studienteilnehmenden bis zu einem Alter von 60 Jahren verringert war. Mit fortschreitendem Alter verringerte sich dann die Häufigkeit des positiven Affekts. Dieses Ergebnis konnte im Rahmen der Berliner Altersstudie repliziert werden. Kotter-Grühn et al. (2010) fanden im Längsschnitt ebenfalls keine Altersunterschiede in der Intensität positiver und negativer Affekte bei Menschen im höheren Lebensalter. Allerdings zeigte sich auch hier eine Abnahme positiver Affekte bei Studienteilnehmenden über 85 Jahren. Auch in anderen Studien konnte gezeigt werden, dass es im sehr hohen Erwachsenenalter, besonders in den letzten Jahren vor dem Tod, zu einer Abnahme positiver Affektivität (Charles, et al., 2001; Diener & Suh, 1997) sowie zu einem Anstieg negativer Affektivität kam (Gerstorf, Ram, Röcke, Lindenberger & Smith, 2008; Griffin, Mroczek & Spiro, 2006). Da bei einem Großteil der beschriebenen Studien das subjektive Wohlbefinden nicht erhoben wurde, kann keine eindeutige Aussage über den Einfluss der Veränderungen der Affektivität auf das Wohlbefinden gemacht werden.

Auch wenn die empirische Evidenz zur subjektiven Emotionswahrnehmung gemischt ist (Kunzmann et al., 2017), weist ein Großteil der Studien darauf hin, dass das subjektive Wohlbefinden über die Lebensspanne stabil bleibt (Charles & Carstensen, 2007; Diener & Suh, 1997; Lawton, 2001). Ältere Studien konnten sogar zeigen, dass kein Unterschied im Wohlbefinden zwischen älteren und jüngeren Erwachsenen existiert (Diener & Lucas, 1999; Diener & Suh, 1997). Gesunde Menschen im höheren Lebensalter scheinen besonders erfolgreich in der Aufrechterhaltung positiver Affektivität (Barrick et al., 1989; Carstensen et al., 2000; Charles, et al., 2001; Gross et al., 1997) und in der Verminderung negativer Affektivität zu sein (Carstensen et al., 1999; Charles, 2010). Erklärend wird hier angenommen, dass sich aufgrund von Lernprozessen die Fähigkeit zur adaptiven Emotionsregulation mit fortschreitendem Alter stetig verbessert (Charles & Carstensen, 2007; Charles & Luong, 2013; Isaacowitz & Blanchard-Fields, 2012; Scheibe & Carstensen, 2010). Allerdings zeigt sich auch, dass es im hohen Alter offensichtlich zu einer Zunahme des negativen Affekts und zu einem Abfall der emotionalen Stabilität kommt (Gerstorf et al., 2008; Kunzmann et al., 2000; Mroczek & Spiro III, 2005). In zukünftigen Untersuchungen zum Zusammenhang von subjektiver Emotionswahrnehmung und Wohlbefinden im Alter könnten neben Quer- und Längsschnittuntersuchungen Untersuchungen zur intraindividuellen Variabilität differenzierte Informationen liefern.

Im Folgenden werden zum einen die Studienlage zum Prozess der Emotionsregulation bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter beschrieben und zum anderen die Effektivität verschiedener Emotionsregulationsstrategien beurteilt. Zunächst einmal konnte gezeigt werden, dass gesunde Menschen im höheren Lebensalter die Effektivität ihrer Emotionsregulationsstrategien positiver einschätzten als dies jüngere Menschen taten (Birditt & Fingermann, 2005; Gross et al.,1997; Scheibe & Carstens, 2010). Allerdings liefern Studien zu physiologischen Parametern des Emotionsregulationsprozesses (z. B. Hauttemperatur, Hautleitfähigkeit, Herzfrequenz) ein eher heterogenes Bild, an dem eine alterskorrelierte Verbesserung der Emotionsregulation nicht eindeutig erkennbar war (Bäckman & Molander, 1991; Magai, Consedine, Krivoshekova, Kudadije-Gyamfi & McPherson, 2006). Einige Studien zeigten, dass emotionale Reize bei Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Menschen eine verringerte physiologische Reaktion auslösten. Erklärt wurde dieses Ergebnis durch eine verringerte Flexibilität des kardiovaskulären Systems (Kunzmann & Grühn, 2005; Levenson et al., 1991). Allerdings ist nach wie vor unklar, ob eine verringerte physiologische Reaktion die Ursache oder die Folge einer erfolgreicheren Emotionsregulation im Alter ist. Dies muss durch weitere Untersuchungen geklärt werden (Cacioppo, Berntson, Klein & Poehlmann, 1997).

Eine Vielzahl an Studien zeigte, dass gesunde Menschen im höheren Lebensalter erfolgreich in der Regulation ihrer Emotionen sind und dass es ihnen tendenziell gut gelingt, sich an Veränderungen, die mit dem Alterungsprozess einhergehen, emotional anzupassen. Dafür wurden u. a. Untersuchungen zur Aufmerksamkeit und zum Gedächtnis durchgeführt. Dabei konnte gezeigt werden, dass gesunde Menschen im höheren Lebensalter emotional positive Inhalte besser erinnerten und wahrnahmen als neutrale oder negative Inhalte (Charles et al., 2003; Grühn et al., 2007; Mather & Carstensen, 2003). Diese Untersuchungen stützen die Annahme des Positivitätseffekts (siehe Abschnitt 3.1.3). Es wird davon ausgegangen, dass Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Menschen erfolgreicher darin sind, ihren Aufmerksamkeitsfokus von negativen emotionalen Informationen zu weniger belastenden Informationen zu verschieben (Scheibe & Carstensen, 2010), irrelevante negative Stimuli zu ignorieren und sich an mehr positive als an negative emotionale Ereignisse zu erinnern (Mather, 2012). Mit dem Ziel ihr subjektives Wohlbefinden zu steigern, sind sie zunehmend motivierter, ihre Emotionen mit Fokus auf den gegenwärtigen Moment zu regulieren (Carstensen, Fung & Charles, 2003; Charles & Carstensen, 2007).

Auch in Laborstudien sowie in Studien, die das emotionale Erleben der Menschen im höheren Lebensalter im Alltag anhand von Experience Sampling-Methoden (zeitnahe Befragung durch elektronische Endgeräte oder Tagebücher) erfassten, konnte gezeigt werden, dass Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Menschen von einem verbesserten emotionalen Erleben und höherem subjektiven Wohlbefinden berichteten. Dieser Befund wird u. a. damit erklärt, dass sich mit dem Alter der negative Affekt verringert und das emotionale Erleben differenzierter wird. Eine gewisse emotionale Stabilität tritt ein, wenn Erinnerungen mit positiven emotionalen Erfahrungen länger aufrechterhalten werden als emotional belastende (Carstensen et al., 2000; Gross et al., 1997).

Zur Erhöhung des subjektiven Wohlbefindens und zur emotionalen Stabilität scheinen nach der Theorie der sozioemotionalen Selektivität von Carstensen et al. (1999) auch soziale Veränderungen beizutragen. Wie in Abschnitt 3.1.3. erläutert wurde, wird angenommen, dass mit dem Bewusstwerden der abnehmenden Lebenszeit der Fokus eher auf gegenwärtig emotionale als auf zukunftsorientierte Ziele gelegt wird. Das Verfolgen emotionaler Ziele gelingt in der Regel am besten im Familien- und engen Freundeskreis (Carstensen, Mikels & Mather, 2006), weshalb das soziale Netzwerk mit dem Alter bewusst verkleinert wird (Lang & Carstensen, 2002). Zudem ist die Aufrechterhaltung eines verringerten sozialen Netzwerks, bestehend aus Familienmitgliedern oder anderen nahestanden Personen, organisatorisch besser zu bewältigen, was zu dem beschriebenen Fokus beiträgt (Charles & Carstensen, 2007).

Die gesteigerte Motivation der Menschen im höheren Lebensalter zu Affektoptimierung konnte auch von Scheibe, Mata und Carstensen (2009) gezeigt werden. Sie fanden, dass Menschen im höheren Lebensalter ihre eigenen emotionalen Reaktionen, bezogen auf ein zukünftiges Ereignis, besser einschätzen konnten als jüngeren Menschen. Allerdings zeigte sich dieser Effekt lediglich bei positiven Ereignissen und nicht bei negativen. Dieser Befund wird dahingehend interpretiert, dass diese Fähigkeit für eine effektive Situationsauswahl prädestiniert. Menschen im höheren Lebensalter sind erfolgreicher in der Auswahl von Situationen, die zur Erhöhung ihres subjektiven Wohlbefindens potenziell beitragen (Nielsen, Knutson & Carstensen, 2008).

Auch bei einer gesundheitsbezogenen Entscheidungsaufgabe riefen Menschen im höheren Lebensalter wesentlich mehr positive als negative Entscheidungskriterien ab und nahmen vermehrt die positiven Aspekte einer Entscheidung in den Blick (Löckenhoff & Carstensen, 2007). Diese Selektivität und Ausrichtung auf positive Emotionen kann in bestimmten Bereichen allerdings auch nachteilig sein. Besonders bei gesundheitsbezogenen Entscheidungen kann es sinnvoll sein, nicht lediglich die positiven Aspekte zu betrachten, sondern auch mögliche negative Folgen. Ein Emotionsregulationsstil, der darauf ausgerichtet ist, positive Emotionen zu fördern und negative Emotionen zu vermeiden, ist im Hinblick auf medizinische Behandlungen problematisch. Häufig müssen negative Emotionen, wie z. B. Ängste vor bestimmten Eingriffen, in Kauf genommen werden, um Gesundheit langfristig zu erhalten (Tesch-Römer, 2010).

Neben den beschriebenen Studien, die annehmen, dass sich emotionale Kompetenzen bei gesunden Menschen mit dem Alter verbessern, zeigen einige wenige Studien gegenteilige Ergebnisse. Ong, Rothstein und Uchino (2012) gehen davon, dass es mit dem Alter zu einem Verlust der Flexibilität des peripher-physiologischen Systems kommt und somit zu einer altersbezogenen Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit (Lindenberger & Baltes, 1997). Dadurch stehen nicht mehr genug Ressourcen zur Verfügung, um anspruchsvolle, kognitive Emotionsregulationsstrategien anzuwenden. Eine erfolgreiche und adaptive Emotionsregulation und eine Affektoptimierung sind nur noch begrenzt möglich (Charles, 2010; Charles & Luong, 2013). Menschen im höheren Lebensalter fällt es im Vergleich zu jüngeren Menschen deutlich schwerer, komplexe Affektzustände zum einen zu erleben (Labouvie-Vief, 2003) und zum anderen stark emotionale bzw. anhaltende Belastungssituationen auszuhalten und diese zu bewältigen (Charles, 2010). Diese Befunde stützen die Annahme, dass positive Affekte mit dem Alter abnehmen, negative Affekte kontinuierlich zunehmen und dass das subjektive Wohlbefinden mit dem Alter negativ korreliert (Stacey & Gatz, 1991).

Auch im Bereich der Personenwahrnehmung zeigte sich, dass Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Menschen bei der Beurteilung einer fremden Person ihren Fokus vermehrt auf vorab gegebene, negative anstatt auf positive emotionale Informationen richteten. Im Verlauf der Beurteilung waren sie rigider und ließen sich stärker von dem Gesamteindruck einer Person beeinflussen anstatt differenzierte Informationen, die sie später bekamen, in den Entscheidungsprozess einzubeziehen (Hess & Pullen, 1994). Andere Studien konnten zudem zeigen, dass Menschen im höheren Lebensalter weniger gut in der Lage waren, bereits aktivierte negative Emotionen zu regulieren (Mather, 2012; Shiota & Levenson, 2009). Gesunde Frauen im höheren Lebensalter reagierten zwar auf uneindeutige emotionale Situationen tendenziell eher mit einem positiven Interpretationsstil, benötigten allerdings signifikant mehr Zeit als jüngere Frauen, um sich von negativen emotionalen Bildern zu erholen. Darüber hinaus hatten sie vergleichsweise mehr Probleme, ein breites Spektrum positiver Emotionsregulationsstrategien flexibel anzuwenden (van Reekum et al., 2011).

Bei der Betrachtung spezifischer Emotionsregulationsstrategien zeigt sich zunächst, dass das Anwendungsmuster nicht statisch ist, sondern sich im Verlauf des Lebens offenbar anpasst und verändert. Diehl, Coyle und Labouvie-Vief (1996) untersuchten Altersunterschiede in der Anwendung von Coping- und Vermeidungsstrategien beim Erleben eines konflikthaften Ereignisses. Sie konnten zeigen, dass Jugendliche und jüngere Erwachsene verschiedene Strategien eher undifferenziert anwendeten und tendenziell ein aggressives Verhalten bei der Bewältigung zeigten, was auf ein geringeres Maß an Impulskontrolle und Selbstbewusstsein hinwies. Im Vergleich dazu zeigten Menschen im höheren Lebensalter eine Kombination aus Bewältigungs- und Vermeidungsstrategien, die auf eine stärkere Impulskontrolle und die Tendenz hinwiesen, Konfliktsituationen eher vermeiden oder positiv bewerten zu wollen. Der Fokus der Menschen im höheren Lebensalter lag dementsprechend eher auf Konfliktvermeidung als auf Konfrontation und sie wendeten häufiger kognitive Strategien wie Neubewertung an. Dieses Ergebnis stimmt mit anderen Befunden überein, die zeigen konnten, dass Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Menschen generell weniger maladaptive Regulationsstrategien anwendeten (Folkman, Lazarus, Pimley & Novacek, 1987; McCrae, 1989; Schirda, Valentine, Aldao & Prakash, 2016).

Weitere Befunde weisen ebenfalls darauf hin, dass Menschen im höheren Lebensalter ihre Emotionen häufig besser regulieren und zwar dahingehend, dass sie im verstärkten Maße kognitive Ressourcen mit dem Ziel aufwenden, positive Affektzustände zu maximieren und gleichzeitig negative oder aversive Emotionen zu verringern oder zu vermeiden (Carstensen et al., 2006). Auch Lawton et al. (1992) zeigten anhand einer Fragebogenstudie, dass mit fortschreitendem Alter die aktive Suche nach neuen Herausforderungen oder emotionalen Belastungssituationen abnahm. Dafür stieg die Fähigkeit emotionaler Impulskontrolle deutlich an. Phillips, Henry, Hosie und Milne (2008) ließen jüngere und ältere Studienteilnehmende Filme ansehen, in denen es um Ungerechtigkeit und Leid ging. Sie fanden, dass Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu jüngeren Studienteilnehmenden besser in der Lage waren, ihre subjektiven Gefühle nach dem Betrachten des Films zu verbalisieren und ihnen ein semantisches Konzept zuzuordnen. Zudem fanden sie, dass es den älteren Studienteilnehmenden besser gelang, mithilfe von positiven Erinnerungen die belastenden Emotionen, die der Film bei ihnen ausgelöst hatte, zu regulieren (positive Refokussierung), allerdings nur dann, wenn sie explizit dazu aufgefordert wurden.

In welchem Verhältnis und mit welcher Variabilität Personen die verschiedenen Emotionsregulationsstrategien einsetzen, scheint einem Entwicklungsprozess über die gesamte Lebensspanne zu unterliegen. Mit zunehmendem Alter scheinen gesunde Menschen vermehrt solche Strategien einzusetzen, die sich für sie zur Stabilisierung oder Steigerung des subjektiven Wohlbefindens als effektiv erwiesen haben. Es kann als funktional angesehen werden, in Belastungssituationen nach Lösungen zu suchen, die sich bereits bewährt haben. Strategien, deren Einsatz sich im Verlauf des Lebens als uneffektiv und dysfunktional herausgestellt hat, werden verringert. Der adaptive Einsatz von Emotionsregulationsstrategien lässt darauf schließen, dass mit dem Alter nicht nur die emotionale Kontrolle ansteigt, sondern ebenfalls die emotionale Kompetenz, mit der bewussten Regulation von Emotionen auf das subjektive Wohlbefinden aktiv Einfluss zu nehmen (Charles & Carstensen, 2007; John & Gross, 2004).

Nach Schulz (1976) lassen sich zwei emotionale Kontrollstrategien unterscheiden: primäre und sekundäre Kontrolle. Bei den primären Kontrollstrategien findet bei der Regulation von Emotionen vermehrt eine Einflussnahme auf die externe Umwelt statt. Hierzu zählen z. B. die bewusste Situationsauswahl oder die Situationsveränderung. Bei den sekundären Kontrollstrategien kommt es eher zu intrapersonellen Veränderungen. Dies umfasst eine veränderte Betrachtungsweise oder neue Bewertungen, die durch die kognitive Neubewertung einer Situation erreicht werden. McConatha und Huba (1999) konnten zeigen, dass sich primäre Kontrollstrategien im Verlauf des Lebens umgekehrt u-förmig entwickeln, während die sekundäre Kontrolle von Emotionen kontinuierlich ansteigt. Es kommt zu einem Wechsel von überwiegend primärer Kontrolle im Jugend- und Erwachsenenalter hin zu einem vermehrten Einsatz von sekundären Kontrollstrategien im Alter. Emotionsregulationsstrategien verändern sich demnach mit fortschreitendem Alter und es kann von einem Alterstrend gesprochen werden. Während im Jugend- und Erwachsenenalter eher instrumentelle, externale Strategien präferiert werden, werden im Alter vermehrt verschiedene intrapsychisch-internale Strategien angewendet (Martin & Kliegel, 2014). Verschiedene korrelative Studien wie auch Laborstudien konnten diese Annahmen unterstützen (Affleck, Tennen, Croog & Levine, 1987; Gross & John, 2003; Loewenstein, 2007; Taylor, 1983). Gesunde Menschen im höheren Lebensalter, die bei belastenden Lebensereignissen wie z. B. chronischen Erkrankungen oder Unfällen häufiger die Strategie der kognitiven Neubewertung anwendeten, berichteten von mehr sozialen Kontakten, seltener von negativem und mehr positivem Affekt und von einem höheren subjektiven Wohlbefinden. Diese Effekte fanden sich zum einen im Selbstbericht, aber auch im Fremdbericht, wenn Angehörige, Familienmitglieder oder nahestehende Personen befragt wurden (Gross & John, 2003; Loewenstein, 2007).

Zusammengefasst gehen einige wenige Studien von einem Anstieg des negativen Affekts mit zunehmenden Alter und einer zunehmenden Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Emotionsregulation aus (Charles, 2010; Charles & Luong, 2013; Stacey & Gatz, 1991). Allerdings sei hier festzuhalten, dass ein Anstieg des negativen Affekts nicht zwangsläufig mit einem verringerten Wohlbefinden einhergehen muss. Das verstärkte Erleben negativer Emotionen wie beispielsweise Trauer kann ebenfalls als adaptive Strategie im Umgang mit altersspezifischen Entwicklungsaufgaben angesehen werden und würde in diesem Fall nicht zwangsläufig ein Emotionsregulationsdefizit darstellen (Kunzmann et al., 2014; Labouvie-Vief, 2003; Neumann, 2016).

Aktuelle Quer- und Längsschnittstudien zeigen ein sehr komplexes Bild des Zusammenhangs von Affektivität und Wohlbefinden, das zunächst von Stabilität und später von Veränderungen geprägt ist (Griffin et al., 2006). Der Großteil der aktuellen Studien zur Affektivität im Alter geht davon aus, dass sich in der Altersgruppe der jungen Alten der negative Affekt verringert und der positive Affekt stabil bleibt (Barrick et al., 1989; Carstensen et al., 2000; Charles, et al., 2001; Gross et al., 1997). Erst im sehr hohen Erwachsenenalter, in der Altersgruppe der Hochaltrigen, scheint es zu einem Anstieg der negativen Affektivität und zu einer Verringerung des subjektiven Wohlbefindens zu kommen (Gerstorf, et al. 2008; Griffin et al., 2006).

Bezüglich der Anwendung spezifischer Emotionsregulationsstrategien kann anhand der Mehrzahl der Studien festgestellt werden, dass es Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Menschen gibt (Birditt & Fingermann, 2005; Carstensen et al., 2000; Gross et al., 1997; Levenson et al., 1991; Scheibe & Carstensen, 2010). Zur Steigerung des Wohlbefindens liegt der Fokus der gesunden Menschen im höheren Lebensalter eher auf dem Erreichen emotionaler Ziele (Carstensen et al., 2006). Im Sinne des Positivitätseffekts werden positive und angenehme Informationen besser erinnert und wahrgenommen als negative oder neutrale (Mather, 2012; Scheibe & Carstensen, 2010). Menschen im höheren Lebensalter setzen dafür eher Emotionsregulationsstrategien ein, die sich für sie im Verlauf ihres Lebens als effektiv und funktional erwiesen haben und vermeiden Strategien, die für sie uneffektiv und dysfunktional sind (Charles & Carstensen, 2007; John & Gross, 2004; Rantanen et al., 2019). Verschiedene Studien konnten zeigen, dass junge Erwachsene eher aktive Regulationsstrategien bei der Bewältigung von Problemen einsetzen, während Menschen im höheren Lebensalter neben aktiven Regulationsstrategien vermehrt kognitive Strategien einsetzen und damit über ein umfangreicheres Strategie-Repertoire zur Regulation ihrer Emotionen verfügen (Blanchard-Fields, Chen & Norris, 1997; Blanchard-Fields, Mienaltowski & Seay, 2007). Der Regulationsprozess bei Menschen im höheren Lebensalter scheint eher passiv zu sein, da sie im Vergleich zu jüngeren Menschen zwar vermehrt kognitive Strategien einsezen, hier aber hauptsächlich Strategien wie Vermeidung, Ablenkung, Unterdrückung oder sozialer Rückzug (Blanchard-Fields, Stein & Watson, 2004; Blanchard-Fields et al., 1997; Charles, Piazza, Luong & Almeida, 2009; Scheibe, Sheppes & Staudinger, 2015). Der vermehrte Einsatz dieser Strategien wird in der gegenwärtigen Literatur als eher maladaptiv klassifiziert. Allerdings kann der Einsatz als Schutz vor aversiven Emotionen betrachtet werden und dabei helfen, Energie zu sparen und Konzentration aufrechtzuerhalten (Consedine, Magai & Bonanno, 2002).

Insgesamt kann von einem Zugewinn an emotionaler Kompetenz und Emotionsregulationsfähigkeit bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter ausgegangen werden. Dieser ergibt sich zum einen aus der Lebenserfahrung, die den Einsatz effektiver und funktionaler Emotionsregulationsstrategien begünstigt (Blanchard-Fields, 2007), und zum anderen dadurch, dass Menschen im höheren Lebensalter zunehmend motivierter sind, ihre Emotionen dahingehend zu regulieren, dass subjektives Wohlbefinden im gegenwärtigen Moment stabilisiert oder gesteigert wird (Carstensen et al., 2003; Charles & Carstensen, 2007).

3.3.2.5 Emotionsregulation in der Selbst- und Fremdbeurteilung

In der klinischen Psychologie fehlen oft objektivierbare Indikatoren zur Erfassung von pathologischen Dimensionen, sodass Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen im klinischen Kontext vielfach auf die Selbstbeurteilungen von Patient:innen angewiesen sind. Die Beurteilungs- oder Ratingverfahren, die dabei zum Einsatz kommen, sind nicht unumstritten und es wird immer wieder die Frage gestellt, ob die Kosten den Wert dieser Verfahren übersteigen (Coombs, 1964; McClelland, 1959). Dennoch sind Selbstbeurteilungsverfahren fester Bestandteil der klinischen Diagnostik. Das liegt zum einen daran, dass die Beschaffung von objektiven Daten sehr aufwendig ist und zum anderen, dass kein anderes Messverfahren so geeignet ist, um die Erlebnisrealität von Betroffenen abzubilden (Langer & Schulz von Thun, 1974). Trotz diverser Nachteile, zu denen insbesondere auch die leichte Fälschbarkeit im Sinne von bewussten oder unbewussten Über- oder Untertreibungen gehören, sind Selbstbeurteilungsverfahren derzeit das Mittel der Wahl zur Erfassung von Persönlichkeitseigenschaften in Forschung und Praxis.

Demgegenüber stehen die Fremdbeurteilungsverfahren. Bei diesen Verfahren werden Urteile von außenstehenden Dritten, wie Eltern, Partner:innen oder Behandelnden, eingeholt. Diese beurteilen die Fähigkeiten und Kompetenzen der zu bewertenden Person auf Basis ihres sichtbaren Verhaltens. Der Vergleich von Selbst- und Fremdbeurteilungen ist eine häufig verwendete Validierungsstrategie in der Persönlichkeitsdiagnostik (Funder, 1999; Mervielde, 2005). Besonders in institutionellen Kontexten wird der Fremdbeurteilung häufig der Vorrang vor der Selbstbeurteilung gegeben. Beispielsweise wird in der Schule der Beurteilung durch die Lehrkräfte größeres Gewicht beigemessen als der der Schüler:innen (Brouër, 2014).

Von einer generellen und allgemeingültigen Überlegenheit von Fremd- gegenüber Selbstbeurteilen auszugehen, ist allerdings problematisch (Langer & Schulz von Thun, 1974). Die Fremdbeurteilung kann ebenso durch Urteilstendenzen oder -fehler beeinflusst sein wie das Selbsturteil. Beide haben keinen Anspruch auf „objektive Richtigkeit“ (Brouër, 2014). Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass in bestimmten Gruppen die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und das eigene Verhalten valide einzuschätzen, eingeschränkt ist. Dies ist z. B. bei bei der Verhaltens- und Psychodiagnostik von Kindern der Fall. Neben der Exploration des Kindes durch die Behandelnden, ist die Beurteilung der Eltern oder Lehrkräfte notwendig und wird standardmäßig eingeholt (Döpfner & Petermann, 2012). Auch im höheren Erwachsenenalter, beispielsweise bei der Früherkennung von Demenzen, kommt der Auskunft enger Bezugspersonen eine wichtige Bedeutung zu. Kognitive Defizite, die sich aufgrund der Demenz entwickeln, werden von den Betroffenen häufig nicht berichtet, da die Krankheitseinsicht bereits zu Beginn der Erkrankung stark beeinträchtigt ist. Damit verringert sich die Zeit bis zur Diagnosestellung und somit auch die Zeit, die Patient:innen bleibt, um auf die Ausgestaltung von Behandlungs- und Pflegeangeboten aktiv und bewusst Einfluss zu nehmen. Eine nahe Bezugsperson kann meist präzisere Aussagen zu kognitiven Veränderungen der Betroffenen machen, wodurch die Fremdbeurteilung die Validität der Beurteilung erhöht und eine bedeutende Rolle einnimmt (Wolf et al., 2009).

Bei Personen, die sich in einer depressiven Episode befinden, kann die Selbstwahrnehmung ebenfalls beeinträchtigt sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei Menschen mit einer akuten Depression eine eingeschränkte Introspektions- und Mentalisierungsfähigkeit einen Teil der Symptomatik ausmacht (WHO, 2012). Besonders während einer schweren depressiven Episode verändert sich die Genauigkeit einer Selbstbewertung (Matt et al., 1992; Shiota & Levenson, 2009; für eine ausführliche Erläuterung zum Zusammenhang von Mentalisierungsfähigkeit und Depression siehe Fonagy, Gergely, Jurist & Target, 2004). Die Validität der Selbstbeurteilung nimmt mit zunehmendem Schweregrad der Erkrankung ab und es wird empfohlen die Diagnostik durch Fremdbeurteilungen zu ergänzen (Fischer-Kern, 2008; Gallwitz & Lehrl, 1978). Fremdbeurteilungen sind sinnvoll, da sie auf dem externen Bezugsrahmen von Behandelnden mit häufig langjähriger Erfahrungen und einer großen Anzahl von Patient:innen basieren. Dieser stellt den Vergleichsmaßstab für die Beurteilung dar. Aufgrund der Fehleranfälligkeit von Selbstbeurteilungen gelten die Ergebnisse der Fremdbeurteilungsverfahren deshalb bei einem Großteil der klinisch-psychologischen Untersuchungen als das Kriterium, an dem Selbstbeurteilungen von Menschen mit akuter Depression zu validieren sind (Schahn & Amelang, 1992).

Bezogen auf die Beurteilung der eigenen Emotionsregulationskompetenz konnte zudem gezeigt werden, dass die globale Bewertung dieser Kompetenz eine hohe Introspektionsfähigkeit voraussetzt (Feldman Barrett, 1997). Unter Introspektionsfähigkeit ist die nach innen gerichtete Beobachtung von eigenen emotionalen Vorgänge zu verstehen. Diese planmäßige und zielgerichtete Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess. Ein hohes kognitives Funktionsniveau ist erforderlich, da das emotionale Erleben zunächst wahrgenommen, beschrieben und letztlich analysiert werden muss (Eder & Raab, 2015). Dieser Prozess stellt bereits für gesunde Menschen eine Herausforderung dar. Eine noch größere Herausforderung ist er für Patient:innen in klinisch psychotherapeutischer Behandlung, die häufig unter formalen Denkstörungen (z. B. verlangsamtes oder umständliches Denken) leiden. Des Weiteren kann gerade die retrospektive Selbsteinschätzung von emotionsregulativen Kompetenzen häufig Gedächtnisverzerrungen und Effekten der sozialen Erwünschtheit unterliegen, die die Beurteilung beeinflussen (Kluemper, 2008).

Vor allem bei Patient:innen mit emotionalen Problematiken würde eine ergänzende Fremdbeurteilung der emotionalen Kompetenz zur Erhöhung der Objektivität bei der diagnostischen Entscheidungsfindung führen. Die Frage, ob bei Patient:innen ein Regulationsdefizit einen auslösenden oder aufrechterhaltenden Beitrag zur depressiven Symptomatik leistet, wird besser beantwortet und die Sicherheit der Diagnose erhöht. Die auf der Diagnose aufbauende therapeutische Behandlung würde maßgelblich davon profitieren, da die einzelnen Bausteine der Therapie besser auf die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Patient:innen abgestimmt werden und ein patient:innenzentriertes Behandlungsangebot ermöglichen.

Besonders im Bereich der Behandlung von Patient:innen im höheren Erwachsenalter ist der Einsatz von Fremdbeurteilungsverfahren augenscheinlich sinnvoll. Fremdbeurteilungen sollen auch hier die Selbstbeurteilungen nicht ersetzen, aber sie stellen eine wichtige und geeignete Ergänzung in der Diagnostik dar (Schmitt et al., 2010). Allerdings ist die Validität von Fremd- gegenüber Selbstbeurteilungen bezogen auf die emotionale Kompetenz bisher kaum Gegenstand empirischer Studien. Es konnten keine Studien gefunden werden, die den Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Depression in der Selbst- sowie in der Fremdwahrnehmung bei Menschen im höheren Lebensalter untersucht haben. Es fehlt derzeit an Befunden, die eine Einschätzung über die Validität von Fremdbeurteilungsverfahren bei der Erfassung emotionsregulativer Kompetenzen in dieser Altersgruppe erlauben.

3.3.3 Aktueller Forschungsstand zum Zusammenhang von Emotionsregulation und Depression über die Lebensspanne

Eine Vielzahl empirischer Befunde weist darauf hin, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und psychischen Störungen besteht und dass Personen mit psychischen Störungen eher zu einem maladaptiven Umgang mit belastenden Emotionen neigen (Berking et al., 2010; Garnefski & Kraaij, 2006; Gross, 1999; Gross & Levenson, 1997). Derzeit existieren vergleichsweise wenig Studien, die diesen Zusammenhang zum einen bei klinischen Stichproben und zum anderen störungsspezifisch untersucht haben. Im Folgenden werden Studien aufgeführt, die die Emotionsregulationskompetenz spezifisch in der Gruppe depressiver Patient:innen untersucht haben und der Frage nachgegangen sind, ob sich diese Zielgruppe von Menschen ohne diagnostizierte psychische Erkrankung in ihren Emotionsregulationsstrategien unterscheidet. Der Fokus dieser Studien liegt dabei auf dem Kindes- und Jugendalter sowie dem frühen und mittleren Erwachsenenalter.

Ein Kriterium der Depression ist ein anhaltend negativer Affekt. Es scheint von Bedeutung zu sein, dass Menschen mit Depressionen Probleme haben, negative Emotionen adaptiv zu regulieren (Joormann & D’Avanzato, 2010). Allerdings stellt sich die Frage, ob eine maladaptive Emotionsregulation die Ursache für eine depressive Störung darstellt oder ob Emotionsregulationsdefizite die Folge bzw. ein Symptom der Störung sind.

Um erste Annahmen über eine mögliche Kausalrichtung zu treffen, eignet sich die Übersichtsarbeit von Goodman (2007), bei der die Auswirkungen einer mütterlichen depressiven Störung auf die Entwicklung der Psychopathologie der Kinder betrachtet wurden. Es konnte gezeigt werden, dass Kinder depressiver Mütter ein deutlich erhöhtes Risiko aufwiesen, später selbst eine Depression zu entwickeln. Zudem zeigte sich, dass bei depressiven Kindern bereits vor dem Auftreten der depressiven Symptomatik ein eher maladaptiver Emotionsregulationsstil vorlag. Die Maladaptivität des Regulationsstils bestand zum einen darin, dass belastende Emotionen nicht adäquat reguliert werden konnten (Field et al., 2007) und zum anderen darin, dass der Aufmerksamkeitsfokus auf negative Affektzustände nur schwer verschoben werden konnte (Maughan, Cicchetti, Toth & Rogosch, 2007). Zum Kindes- und Jugendalter haben Magai und Hunziker (1998) des Weiteren festgestellt, dass wiederholte aversive emotionale Erlebnisse in der frühen Kindheit Einfluss auf die Emotionsregulationskompetenz im Erwachsenenalter hatten und negatives affektives Erleben in Form depressiver Symptome begünstigten. Den positiven Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiver Symptomatik konnten auch Klemanski et al. (2017) in einer aktuellen Studie zeigen. Dafür untersuchten sie Jugendliche mit schwerer depressiver Symptomatik. Sie kamen zu den Ergebnissen, dass die betroffenen Jugendlichen über ein geringeres Bewusstsein über das eigene affektive Erleben und über einen dysregulierten Emotionsausdruck verfügten. Zudem berichteten sie über den vermehrten Einsatz maladaptiver Emotionsregulationsstrategien. Auch in anderen Studien konnten bei Jugendlichen negative Zusammenhänge zwischen als adaptiv klassifizierten Regulationsstrategien wie kognitiver Neubewertung, Akzeptanz oder lösungsorientiertem Handeln und depressiven Symptomatik gezeigt werden (Lange & Tröster, 2015; Koglin, Petermann, Jaščenoka, Petermann & Kullik, 2013). Des Weiteren konnten hohe bis moderate positive Zusammenhänge bezüglich maladaptiver Strategien wie Rumination, Unterdrückung, Selbstbeschuldigung, sozialer Rückzug oder Selbstabwertung gefunden werden (Avenevoli, Knight, Kessler & Merikangas, 2008; Grob & Smolenski, 2009; Hughes, Gullone &Watson, 2011). In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass Emotionsregulationsdefizite von Jugendlichen die Schwere der sieben Monate später auftretenden depressiven Symptome vorhersagen konnten (McLaughlin, Hatzenbuehler, Mennin & Nolen-Hoeksema, 2011).

Die aufgeführten Studien weisen darauf hin, dass Emotionsregulationsdefizite eine relevante Rolle im Hinblick auf auslösende und aufrechterhaltende Faktoren für eine depressive Störung im Kindes- und Jugendalter spielen.

Im Folgenden werden Studien vorgestellt, die das frühe- und mittlere Erwachsenenalter fokussieren. Dabei werden zunächst Befunde zur allgemeinen Emotionsregulationskompetenz vorgestellt und im Anschluss der Einfluss spezifischer Emotionsregulationsstrategien auf depressive Symptome betrachtet.

Eine defizitäre Emotionsregulation gilt als Faktor, der an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression im frühen- und mittleren Erwachsenalter beteiligt ist. Verschiedene Längsschnittstudien, die diese Altersgruppe fokussierten, konnten bereits einen Zusammenhang zwischen Emotionsregulationskompetenz und depressiver Symptomschwere zeigen (Berking et al., 2014; Wirtz, Radkovsky, Ebert & Berking, 2014). Zudem scheint die Förderung der Emotionsregulation eine erfolgversprechende Intervention zur Verringerung depressiver Symptome zu sein. So konnten Radkovsky et al. (2014) zeigen, dass Emotionsregulationskompetenzen wie die gezielte Regulation sowie die Akzeptanz und Toleranz von belastenden Emotionen zur Verringerung der Symptomatik während einer Depressionsbehandlung beitrugen. In anderen Längsschnittstudien konnte darüber hinaus der negative Zusammenhang zwischen dem Verstehen, der mitfühlenden Selbstunterstützung sowie der Konfrontationsbereitschaft und depressiver Symptome zu verschiedenen Zeitpunkten einer psychotherapeutischen Behandlung gezeigt werden (Ehret, 2014; Hopfinger, 2016).

In Querschnittstudien fanden sich ebenfalls negative Zusammenhänge zwischen depressiver Symptomatik und verschiedenen Kompetenzen der adaptiven Emotionsregulation. Es zeigte sich, dass es depressiven Patient:innen im Vergleich zu Erwachsenen ohne Depression schwerer fiel, belastende Emotionen zu identifizieren (Honkalampi et al., 1999; Kahn & Garrison, 2009; Rude & McCarthy, 2003), diese Emotionen zu akzeptieren, zu tolerieren und auszuhalten (Brody et al., 1999; Campbell-Sills, Barlow, Brown und Hofman 2006b; Shallcross et al., 2010; Tull, Gratz, Salters & Roemer, 2004), sich beim Erleben belastender Emotionen effektiv mitfühlend und wohlwollend selbst zu unterstützen (Gilbert, Baldwin, Irons, Baccus & Palmer, 2006; Hofmann et al., 2011; Kuyken et al., 2010) und diese Emotionen adaptiv zu modifizieren (Catanzaro et al., 2000; Ehring et al., 2008; Kassel, Bornovalova & Mehta, 2007).

Greenberg (2000, 2004) fand bei depressiven Patient:innen im Vergleich zu Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung einen emotional überregulierenden Stil. Dieser kennzeichnete sich dadurch, dass Patient:innen mit Depressionen mehr Probleme hatten, aversive Emotionen in der gegenwärtigen Situation erst einmal zuzulassen und zu akzeptieren. Belastende, emotionale Erfahrungen wurden zum einen nur vermindert wahrgenommen und zudem wurden im Sinne einer Regulation der belastenden Emotionen hauptsächlich Strategien angewendet, die der Vermeidung des Erlebens dienten. Zusätzlich war bei den depressiven Patient:innen die emotionale Ausdrucksfähigkeit eingeschränkt, was ebenfalls als vermeidende Strategie und als eine verringerte Emotionsakzeptanz und -toleranz interpretiert wurde.

Zusätzlich zeigte Leppänen (2006) in einem Übersichtsartikel, dass bei depressiven Patient:innen eine Aufmerksamkeitstendenz hin zu negativen emotionalen Hinweisreizen (z. B. traurige Gesichter) und weg von positiv emotionalen Hinweisreizen (z. B. glückliche Gesichter) vorlag. Zudem fand er bei diesen Patient:innen eine verbesserte Erinnerung an emotional negatives Material. Im Vergleich zu gesunden Kontrollen zeigten sie eine erhöhte neuronale Aktivität als Reaktion auf traurige Gesichter und eine verminderte neuronale Aktivität als Reaktion auf glückliche Gesichter. Dieses spezifische Muster bei der Verarbeitung von emotionalen Informationen blieb größtenteils nach Remission der Symptome bestehen und wurde ebenfalls bei Hochrisikogruppen, wie bei Nachkommen bipolarer oder depressiver Eltern, gefunden.

Die aufgeführten Untersuchungen zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen dysfunktionaler Emotionsregulationskompetenz und depressiver Psychopathologie. Im Folgenden werden Untersuchungen zum Einfluss spezifischer Emotionsregulationsstrategien auf die depressive Symptomatik im jungen und mittleren Erwachsenenalter dargestellt.

Anhand experimenteller Untersuchungen werden Aussagen über mögliche Kausalrichtungen gemacht. Dabei werden Emotionsregulationsstrategien systematisch manipuliert und daraufhin Veränderungen in der depressiven Symptomatik erfasst. Ergebnisse experimenteller Studien sprechen für einen positiven Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiver Psychopathologie. Liverant et al. (2008) zeigten, dass depressive Patient:innen Probleme bei der Anwendung adaptiver Emotionsregulationsstrategien, besonders von Akzeptanz und Toleranz, hatten. Maladaptive Emotionsregulationsstrategien wie Unterdrückung wurden von depressiven Patient:innen signifikant häufiger genutzt als von nicht-depressiven Kontrollen, wenn negative Stimmung systematisch induziert wurde (Ehring, Tuschen-Caffier, Schnülle, Fischer & Gross, 2010). Wurden Menschen mit aktuell vorliegender Depression instruiert, ihre Emotionen auf ein negatives Ereignis zu unterdrücken, benötigten sie länger, um die dysphorische Stimmung zu überwinden, als Studienteilnehmende, die die Strategie der Akzeptanz und Toleranz anwenden sollten (Campbell-Sills et al., 2006a).

Auch verschiedene Längsschnittuntersuchungen bei Erwachsenen konnten zeigen, dass die häufige Nutzung maladaptiver Emotionsregulationsstrategien sowie die Überzeugung, negativen Affekt weniger erfolgreich regulieren zu können, die Schwere der depressiven Symptomatik im Verlauf der Erkrankung signifikant vorhersagen konnten (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2012; Kassel et al., 2007). In einer Studie von Peeters, Nicolson, Berkhof, Delespaul und DeVries (2003) zeigte sich, dass Menschen mit Depressionen den negativen Affekt nach einem belastenden Ereignis länger aufrecht erhielten, als dies nicht depressive Kontrollen taten. Im Umgang mit positiven Emotionen zeigten sich ebenfalls Unterschiede. Die Tendenz depressiver Patient:innen auf als positiv erlebte Emotionen mit weniger Wertschätzung und eher mit Ablehnung und Skepsis zu reagieren, sagte geringer intensive positive Emotionen und eine Verschlechterung der depressiven Symptomatik vorher (Raes, Smets, Nelis & Schoofs, 2012).

Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass besonders Rumination bei der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Symptome eine entscheidende Rolle spielt. Anhand der Häufigkeit von Rumination konnten in klinischen wie auch in nicht-klinischen Stichproben Beginn, Dauer und eine erneute Exazerbation der depressiven Symptomatik vorhersagt werden. Der Vorhersagewert der Rumination zeigte sich über verschiedene Altersgruppen hinweg (Nolen-Hoeksema, 2000; Nolen-Hoeksema & Morrow, 1991; Nolen-Hoeksema et al., 2008; Roelofs et al., 2009; Rood, Roelofs, Bögels, Nolen-Hoeksema & Schouten, 2009). Eine mögliche Erklärung dieser Befunde kann darin liegen, dass depressive Patient:innen Probleme bei der Akzeptanz und Toleranz belastender Emotionen haben. Rumination wird als Versuch betrachtet, diese belastenden Emotionen zu unterdrücken. Im Sinne einer Vermeidungsstrategie stellt Rumination allerdings eine maladaptive Strategie dar, da das Ruminieren einen negativen Einfluss auf die Schwere und die Dauer der depressiven Symptomatik hat (Nolen-Hoeksema & Morrow, 1993). Zudem konnte gezeigt werden, dass mit der Vermeidung von belastenden Emotionen ein Defizit in der kognitiven Neubewertung einhergeht und dass die Fähigkeit zum aktiven Problemlösen verringert wird (Barnow, 2012).

In einer Metaanalyse, in der überwiegend Studien mit College-Studierenden aufgenommen wurden, untersuchten Aldao et al. (2010) den Zusammenhang zwischen dem Einsatz spezifischer Regulationsstrategien und depressiver Symptomatik. Sie fanden, dass der vermehrte Einsatz adaptiver Strategien das Risiko, eine depressive Störung zu entwickeln, nur mäßig verringerte. Der vermehrte Einsatz maladaptiver Strategien war hingegen mit einem deutlich erhöhten Risiko verbunden. Zudem korrelierten in dieser Altersgruppe Strategien wie Rumination und Unterdrückung mit einer starken Symptomausprägung, während positive Neubewertung, aktives Problemlösen oder Akzeptanz zwar in einem negativen, allerdings schwachen und inkonsistenten Zusammenhang mit der depressiven Symptomatik standen. Ein maladaptiver Regulationsstil wurde als Risikofaktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störung identifiziert. Darüber hinaus berichten auch andere Übersichtsarbeiten über mittlere bis hohe positive Zusammenhänge zwischen der Schwere depressiver Symptome und dem vermehrten Einsatz von als maladaptiv klassifizierten Strategien wie Vermeidung, Unterdrückung, Rumination, Katastrophengedanken oder Selbstbeschuldigung. Ein vermehrter Einsatz dieser Strategien stellte einen stabilen Prädiktor für die Schwere der depressiven Symptomatik dar (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2012; Aldao et al., 2010; Garnefski & Kraaij, 2006; Garnefski, Kraaij & Van Etten, 2005). Ausgehend von diesen Ergebnissen scheint bei depressiven Patient:innen im jungen und mittleren Erwachsenenalter weniger die Förderung adaptiver Strategien als die Reduktion maladaptiver Regulationsstrategien ein guter Ansatzpunkt für Interventionen und präventive Maßnahmen zu sein.

Auch verschiedene Querschnittstudien zeigen einen Zusammenhang zwischen der Nutzung spezifischer kognitiver Emotionsregulationsstrategien und emotionalen Problemen. Garnefski et al. (2002a) verglichen 99 depressive Patient:innen im Alter zwischen 18 und 68 Jahren mit gesunden sogenannten matched samples und erfassten in beiden Gruppen die Nutzung von neun kognitiven Emotionsregulationsstrategien: Selbstbeschuldigung, Andere beschuldigen, Rumination, Katastrophisieren, Akzeptanz, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, positive Neubewertung und Relativieren. Dabei zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen der klinischen Stichprobe und den gesunden Kontrollen in der Nutzung der Strategien Selbstbeschuldigung, Andere beschuldigen, Rumination, Katastrophisieren, Akzeptanz und positive Refokussierung. Nur positive Refokussierung wurde von den gesunden Kontrollen signifikant häufiger angewendet, alle anderen Strategien signifikant häufiger von der klinischen Stichprobe. Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren und positive Neubewertung wurden als signifikante Prädiktoren identifiziert, um zwischen den Gruppen zu unterscheiden. In anderen Querschnittsstudie stellten sich neben den von Garnefski et al. (2002a) identifizierten Strategien auch häufige Rumination und ein verringerter Einsatz von Akzeptanz als relevante Prädiktoren heraus (Garnefski, Legerstee, Kraaij, Van Den Kommer & Teerds, 2002b; Garnefski, Teerds, Kraaij, Legerstee & Van Den Kommer, 2004).

Im Rahmen von Interventionsstudien konnte der Einfluss der Regulationskompetenz auf die depressive Symptomatik gezeigt werden. Eine geringe Regulationszuversicht innerhalb einer kognitiven-verhaltenstherapeutischen Depressionsbehandlung sagte eine verringerte Abnahme der depressiven Symptome vorher (Backenstrass et al., 2006; Cohen, Gunthert, Butler, O’Neill & Tolpin, 2005; Fehlinger, Stumpenhorst, Stenzel & Rief, 2013). Im Rahmen einer anderen randomisiert-kontrollierten Interventionsstudie wurden 432 depressive Patient:innen im frühen und mittleren Erwachsenenalter untersucht. Dabei wurden Patient:innen, die eine konventionelle kognitiv-verhaltenstherapeutische Depressionsbehandlung erhielten, mit Patient:innen verglichen, deren Therapie zusätzlich um ein Training zur Förderung emotionaler Kompetenzen (Berking, 2017) ergänzt wurde. Es zeigte sich eine signifikant höhere Reduktion der depressiven Symptomatik und des negativen Affekts bei den Patient:innen, die ein zusätzliches Training zur Förderung ihrer emotionsregulativen Kompetenzen bekommen hatten. Zudem zeigte sich in dieser Gruppe ein stärkerer Anstieg des Wohlbefindens, den die Autoren durch eine Verbesserung der Regulationsfähigkeit erklärten. Die Regulationsfähigkeit spielt eine relevante Rolle beim Erhalt der psychischen Gesundheit und des subjektiven Wohlbefindens (Berking et al., 2013). Auch andere Interventionsstudien, die die Förderung emotionaler Kompetenzen fokussieren, wie beispielsweise die DBT (Linehan, 1993) oder die ACT (Hayes et al., 2014), konnten einen positiven Einfluss auf die Reduktion der depressiven Symptomatik zeigen (Bai, Luo, Zhang, Wu & Chi, 2020; Forman, Herbert, Moitra, Yeomans & Geller, 2007; Panos, Jackson, Hasan & Panos, 2014). Diese und weitere Studien liefern einen Hinweis auf die Wirksamkeit und Effektivität emotionsregulatorischer Techniken oder Trainings, die als Ergänzung zu einer klinischen oder ambulanten Depressionsbehandlung durchführbar sind (Rohde, Adolph, Dietrich & Michalak, 2014; Bakker, 2017). Sie geben einen Hinweis darauf, dass die Förderung der Emotionsregulationskompetenz einen erfolgsversprechenden Ansatzpunkt zur Verbesserung der Wirksamkeit einer Depressionsbehandlung darstellen kann.

Zusammenfassend zeigen die beschriebenen Studien, dass Defizite in der Emotionsregulation ein relevanter Risikofaktor und eine aufrechterhaltende Bedingung für eine depressive Störung im jungen und mittleren Erwachsenenalter darstellen (Hofmann, Sawyer, Fang & Asnaani, 2012). Eine Erklärung dafür ist, dass es depressiven Erwachsenen im Vergleich zu Erwachsenen ohne Depression schwerer fällt, belastende Emotionen adaptiv zu regulieren und dass diese Regulationsdefizite bereits vor der Entstehung der depressiven Symptomatik bestehen können (Field et al., 2007; Goodman, 2007; Maughan et al., 2007; Kovacs, Joormann & Gotlib, 2008). Spezifische Strategien wie Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren, positive Neubewertung, Rumination und Akzeptanz scheinen im Rahmen einer depressiven Symptomatik eine relevante Rolle zu spielen (Garnefski et al., 2002a; Garnefski et al., 2004). Studien zu Emotionsregulationsprozessen bei verschiedenen anderen psychischen Störungen zeigen ebenfalls Unterschiede, die sich zwischen den jeweiligen Krankheitsbildern unterscheiden (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2010). Des Weiteren zeigen die aufgeführten Befunde, dass es altersabhängige Unterschiede in der Emotionsregulationskompetenz zwischen Kindern und Jugendlichen und Erwachsenen gibt. Neben einem der Kernsymptome einer depressiven Episode, der gedrückten Stimmung, geben die aufgeführten Studien einen Hinweis darauf, dass beim Krankheitsbild der Depression im frühen und mittleren Erwachsenenalter emotionale Instabilität und verminderte Emotionserkennung eine relevante Rolle spielen. Die Emotionsregulation scheint eine wichtige Fähigkeit darzustellen, die mit verschiedene Aspekten der depressiven Störung assoziiert ist. Zudem konnte gezeigt werden, dass die Förderung der Emotionsregulationskompetenz einen vielversprechenden Ansatz bei der Behandlung depressiver Störungen darstellt (Backenstrass et al., 2006; Berking et al., 2013; Bai et al., 2020; Cohen et al., 2005; Forman et al., 2007; Panos et al., 2014). Offen bleibt allerdings die Frage, ob und inwiefern ein Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und depressiver Symptomatik auch im Alter besteht.

3.3.4 Aktueller Forschungsstand zum Zusammenhang von Emotionsregulation und Depression im Alter

Depressionen und dementielle Erkrankungen gehören zu den häufigsten Gesundheitsproblemen im Alter (Blazer, 2003; Linden, et al., 1998; Naismith, et al., 2012; Soeder, 2002). Besonders die Depression hat einen großen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit und das psychische Wohlbefinden der Menschen im höheren Lebensalter (Hoe, Hancock, Livingston & Orrell, 2006; James, Xie & Karlawish, 2005; Scocco, Fantoni & Caon, 2006; Shin, Carter, Masterman, Fairbanks & Cummings, 2005). Weiss et al. (2012) konnten zeigen, dass depressive Symptome einen größeren Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Menschen im höheren Lebensalter hatten als kognitive Beeinträchtigungen. Verglichen mit depressiven Störungen im mittleren Erwachsenenalter sind depressive Episoden im Alter schwerer und mit höherer Symptombelastung verbunden (Castro-Costa et al., 2007). Zusätzlich weisen sie höhere Rezidiv- und Suizidraten auf (Mitchell & Subramaniam, 2005) und gehen mit einer erhöhten nicht-suizidalen Mortalität einher (Schulz et al., 2002; Waern et al., 2002).

Im Rahmen der Ätiologie ist die Rolle depressiver Episoden im Jugend- oder frühen bzw. mittleren Erwachsenenalter in Bezug auf die Depression im Alter noch nicht ausreichend geklärt. Es hat sich allerdings gezeigt, dass der Großteil der Patient:innen, die im Alter unter einer Depression leiden, die erste depressive Episode erst nach dem 60. Lebensjahr entwickeln (Brodaty et al., 2001; Bruce et al., 2002; Fiske et al., 2009). Es scheint daher von besonderer Relevanz, altersspezifische Vulnerabilitäten und Risikofaktoren zu untersuchen. Erkenntnisse darüber leisten einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung des Krankheitsbildes.

Studien, die das frühe und mittlere Erwachsenalter fokussiert haben, konnten zeigen, dass Personen mit depressiven Störungen häufiger maladaptive Emotionsregulationsstrategien einsetzten als gesunde Kontrollen (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2012; Ehring et al., 2010; Garnefski et al., 2002a; Garnefski & Kraaij, 2006; McLaughlin et al., 2011). Ein Großteil der Studien weist auf einen positiven Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiver Symptomatik hin (Gross & Munoz, 1995; Hollon et al., 2002; Joormann & D’Avanzato, 2010; Kring & Werner, 2004; Rude & McCarthy, 2003). Welche Rolle Emotionsregulation beim Krankheitsbild der Depression im Alter spielt, kann anhand dieser Studien nicht beantwortet werden. Erkenntnisse aus Studien, die das frühe oder mittlere Erwachsenenalter untersucht haben, sind nicht ohne Weiteres auf das höhere Erwachsenenalter übertragbar. Zudem ist es problematisch, therapeutische Interventionen auf Grundlage dieser empirischen Daten zu entwickeln. Altersspezifische Bedingungen, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung dieses Krankheitsbildes beteiligt sind, sollten empirisch untersucht werden. Auf dieser Grundlage sollten therapeutische Interventionen entwickelt werden, die an die Bedürfnisse der Altersgruppe angepasst sind.

Insgesamt existieren derzeit nur wenige Quer- und kaum Längsschnittstudien, die den Einfluss der Emotionsregulationskompetenz auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression im Alter untersucht haben. Im Folgenden werden zunächst Studien vorgestellt, die den Zusammenhang zwischen verschiedenen Aspekten der Emotionsregulationskompetenz und depressiver Symptomatik untersucht haben und anschließend Studien zum Einsatz spezifischer Regulationsstrategien.

In einer experimentellen Studie verglichen Mah und Pollock (2010) über 60-jährige Patient:innen, bei denen eine Major Depression diagnostiziert wurde, mit einer gesunden Kontrollgruppe hinsichtlich der Erkennungsleistung emotionaler Stimuli. Dafür zeigten sie den Studienteilnehmenden Bilderserien mit fröhlichen, traurigen, ängstlichen oder neutralen Gesichtsausdrücken. Sie baten die Studienteilnehmenden, die Gesichtsausdrücke zu benennen und erfassten die Latenzzeit der Reaktion. Außer bei den neutralen Gesichtsausdrücken zeigten die gesunden Kontrollen bei der Beurteilung der Gesichtsausdrücke insgesamt längere Latenzzeiten als die Menschen mit Depression. Menschen mit Depressionen nahmen sich im Vergleich zu den gesunden Kontrollen insgesamt weniger Zeit, um die Gesichtsausdrücke zu beurteilen, was auf Kosten der korrekten Erkennung der neutralen Gesichtsausdrücke ging. Bei der Beurteilung der neutralen Gesichter kam es im Vergleich zu den gesunden Kontrollen zu signifikant mehr Fehlinterpretationen. Dieses Ergebnis war für die Autor:innen ein erster Hinweis auf das Vorliegen von Unterschieden in der emotionalen Wahrnehmung zwischen gesunden und depressiven Menschen im höheren Lebensalter.

Dass Unterschiede in der emotionalen Wahrnehmung existieren, konnte bereits häufig in Studien gezeigt werden, die depressive Patient:innen im jungen oder mittleren Erwachsenenalter mit gesunden Kontrollen verglichen haben. Aus diesen Untersuchungen ist bekannt, dass eine negative Stimmung im Zusammenhang mit einer stimmungskongruenten Wahrnehmungsverzerrung steht (Leppänen, 2006; Mogg & Bradley 1998; Robinson & Compton, 2008; Tamir, Robinson & Solberg, 2006; Tamir & Robinson, 2007). Die depressiven Patient:innen zeigten in diesen Untersuchungen im Vergleich zu den gesunden Kontrollen eine schnellere und signifikant bessere Erkennungsleistung von negativen, aber nicht von positiven Stimuli. In depressiver Stimmung wurden als negativ bewertete Informationen bevorzugt wahrgenommen. Wie stark negative Informationen präferiert wurden und wie stark die Aufmerksamkeit auf diese Informationen ausgerichtet wurde, war abhängig von der Schwere der depressiven Symptomatik (Broomfield, Davies, MacMahon, Ali & Cross, 2007; Dudley, O’Brien, Barnett, McGuckin & Britton, 2002).

Savaskan (2010) konnte diese stimmungskongruente Verzerrung auch bei älteren Menschen mit Depressionen zeigen. Er zeigte zunächst, dass die Wiedererkennungsleistung bei den Menschen im höheren Lebensalter insgesamt abnahm, ein Positiv-Bias aber zumindest bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter erhalten blieb. Im Vergleich zu depressiven Menschen im höheren Lebensalter favorisierten diese positive emotionale Stimuli beim Erkennen und Erinnern. Im Einklang mit Studien aus dem jungen und mittleren Erwachsenenalter fand er, dass auch ältere depressive Patient:innen negative emotionale Stimuli favorisierten, was Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der depressiven Symptomatik hatte und zu dysfunktionalen Verhaltensweisen beitrug.

Diese stimmungskongruente Wahrnehmungsverzerrung konnte in der Pilotstudie von Mah und Pollock (2010) nicht eindeutig gezeigt werden. Menschen mit Depression reagierten im Vergleich zu den gesunden Kontrollen zwar schneller auf die negativen Stimuli, allerdings auch auf die positiven. Es kam nicht zu einer Favorisierung der negativen Stimuli durch die depressiven Studienteilnehmenden, was sich durch eine signifikant geringe Fehlerquote beim Wiedererkennen der traurigen Gesichter gezeigt hätte.

Die Ergebnisse der aufgeführten experimentellen Studien erlauben einen Hinweis darauf, dass eine depressive Symptomatik im Alter scheinbar ebenfalls mit Veränderungen in der emotionalen Wahrnehmung verbunden ist. Diese Veränderungen unterscheidet sich aber möglicherweise von der stimmungskongruenten kognitiven Verzerrung in anderen Altersgruppen. Unabhängig von diesen heterogenen Befunden scheinen bei depressiven Menschen im höheren Lebensalter im Vergleich zu gesunden Menschen im höheren Lebensalter und im Vergleich zu Menschen mit Depressionen aus anderen Altersgruppen unterschiedliche Muster in der emotionalen Wahrnehmung vorzuliegen, die eine emotionale Verarbeitungsstörung und somit Probleme in der Regulation von belastenden Emotionen begünstigen.

Einige wenige Querschnittstudien untersuchten den Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen und selbstberichteter Regulationskompetenz. Orgeta (2011) und Phillips et al. (2010) ließen ältere Studienteilnehmende die Effektivität ihrer intrapersonellen Emotionserkennungs- und Regulierungskompetenzen im Rahmen von Selbstbeurteilungsverfahren einschätzen und fanden mittlere bis hohe negative Zusammenhänge mit depressiven Symptomen. Je stärker die depressive Symptomatik ausgeprägt war, desto uneffektiver wurde die emotionale Kompetenz in diesen Bereichen beurteilt.

In einer Querschnittstudie fanden Steixner et al. (2015) ähnliche Ergebnisse. Sie erfassten in einer Stichprobe von über 60-jährigen depressiven und nicht-depressiven Studienteilnehmenden selbsteingeschätzte emotionale Kompetenzen und verglichen diese mit den selbsteingeschätzten Kompetenzen von jüngeren Befragten. Bei den emotionalen Kompetenzen handelte es sich um die Regulation und das Erkennen eigener Emotionen (intrapersonelle Skalen) und um die Regulation von Emotionen bei anderen Menschen (interpersonelle Skalen). Sie fanden, dass Menschen im höheren Lebensalter ihre emotionalen Kompetenzen insgesamt schlechter einschätzten, als die jüngeren Teinehmenden dies taten. Wurde allerdings die depressive Symptomatik berücksichtigt, schnitten lediglich die älteren Studienteilnehmenden mit einer Depression innerhalb der intrapersonellen Skalen schlechter ab. Bei den älteren Studienteilnehmenden, die nicht unter einer Depression litten, zeigten sich keine Unterschiede zu den jüngeren Befragten. Im Rahmen der interpersonellen Skala schnitten Menschen im höheren Lebensalter mit und ohne Depression im Vergleich zu den jüngeren Befragten schlechter ab.

Diese Studien zeigen, dass die depressive Symptomatik einen Einfluss auf die selbsteingeschätzte Fähigkeit der Menschen im höheren Lebensaltern hatte, die eigenen Emotionen zu erkennen und zu regulieren, und sie somit eine entscheidende Rolle bei der adaptiven Regulation der eigenen Emotionen spielen kann. Die Selbsteinschätzung zeigte einen relevanten Zusammenhang zwischen einer Depression im höheren Lebensalter und einer verringerten emotionalen Kompetenz. Inwiefern die selbsteingeschätzten Fähigkeiten nach einer Remission der depressiven Symptomatik beurteilt werden, kann anhand dieser Studien nicht beantwortet werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, welche spezifischen Regulationsstrategien im Zusammenhang mit der Depression im Alter stehen. Im Folgenden werden Studien vorgestellt, die diesen Zusammenhang untersucht haben.

Um den Einfluss spezifischer Regulationsstrategien auf die Schwere der depressiven Symptomatik zu untersuchen führten Kraaij et al. (2002b) eine Längsschnittstudie durch. Dafür rekrutierten sie 99 Personen aus der Allgemeinbevölkerung, die über 67 Jahre alt waren, und erfassten depressive Symptome, die Nutzung verschiedener Emotionsregulationsstrategien und kritische Lebensereignisse. Aus vorherigen Studien war bekannt, dass die Anzahl und die Schwere früherer oder gegenwärtiger kritischer Lebensereignisse (z. B. Kriegstraumatisierungen oder Verlust der Partner:innen) sowie depressive Episoden im frühen oder mittleren Erwachsenenalter Risikofaktoren für die Entwicklung einer depressiven Störung im Alter darstellen (Katona, 1993; Kraaij, Arensman & Spinhoven, 2002a; Kraaij & De Wilde, 2001). Aufgrund vorheriger Befunde wurden zudem ein positiver Zusammenhang zwischen der vermehrten Nutzung maladaptiver Strategien und ein negativer Zusammenhang zwischen der Nutzung adaptiver Strategien und depressiver Symptomatik erwartet (Aldao et al., 2010; Garnefski et al., 2001; Garnefski et al., 2002a; Smoski, LaBar & Steffens, 2014). Zur Untersuchung dieser Zusammenhänge wurden die älteren Studienteilnehmenden an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten mit einem Abstand von etwa 2,5 Jahren untersucht. Wie erwartet, zeigte sich ein moderat positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß kritischer Lebensereignisse und ein stark positiver Zusammenhang zwischen früheren depressiven Episoden und der Schwere der gegenwärtigen depressiven Symptomatik. Bezüglich einzelner Regulationsstrategien zeigte sich, dass Menschen im höheren Lebensalter mit hoch ausgeprägter depressiver Symptomatik über einen vermehrten Einsatz von Akzeptanz, Rumination und Katastrophisieren und weniger über positive Neubewertung berichteten als ältere Menschen mit geringer Symptomausprägung. Nach Kontrolle früherer depressiver Episoden und dem Ausmaß kritischer Lebensereignisse behielten lediglich positive Neubewertung und Akzeptanz ihre Signifikanz. Der positive Zusammenhang zwischen Akzeptanz und depressiver Symptomatik entsprach aufgrund vorheriger Befunde nicht den Erwartungen. Die Autor:innen interpretieren diesen Befund dahingehend, dass die Akzeptanz von altersassoziierten Veränderungen oder kritischen Lebensereignissen möglicherweise als Resignation erlebt wird. Aufgrund des Gefühls der Resignation entwickelt sich eine negative Erwartungshaltung bezüglich der Zukunft und die Überzeugung, dass angestrebte Ziele mit den gegebenen Mitteln nicht mehr erreicht werden. Aufgrund dieser Erwartungen wird die Verbesserung belastender Situationen nicht mehr angestrebt und es werden keine Maßnahmen zur Veränderung bestimmter Lebensbereiche eingeleitet.

Die Ergebnisse dieser Längsschnittstudie zeigen, dass kognitive Emotionsregulationsstrategien auch nach Kontrolle vorheriger depressiver Episoden eine relevante Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression im höheren Erwachsenenalter spielen. Zudem zeigten sich altersassoziierte Unterschiede in der Nutzung und im Zusammenhang mit depressiver Symptomatik.

Wie in Abschnitt 3.3.3 beschrieben, führten Aldao et al. (2010) eine Metaanalyse zum Einfluss spezifischer Emotionsregulationsstrategien auf die Schwere der depressiven Symptomatik durch. Sie konnten zeigen, dass bei jungen Erwachsenen maladaptive Strategien mit einer starken Symptomausprägung positiv korrelierten, während adaptive Strategien zwar in einem negativen, allerdings schwachen und inkonsistenten Zusammenhang mit der depressiven Symptomatik standen. Nolen-Hoeksema und Aldao (2011) gingen aufgrund der Ergebnisse dieser Metaanalyse der Frage nach, ob sich dieser Befund auch in anderen Altersgruppen replizieren lässt und ob geschlechterspezifische Unterschiede bestehen. Dafür untersuchten sie Unterschiede im Zusammenhang von depressiven Symptomen und der Nutzung spezifischer Emotionsregulationsstrategien zwischen Männern und Frauen und zwischen Erwachsenen im jungen, mittleren und höherem Alter. Sie rekrutierten über 1 300 Personen aus der Allgemeinbevölkerung und erfassten depressive Symptome und verschiedene Regulationsstrategien wie Rumination, Unterdrückung, positive Neubewertung, Akzeptanz, soziale Unterstützung und aktive Problembewältigung. Wie in der Metaanalyse von Aldao et al. (2010) wurde auch in dieser Untersuchung ein robuster Zusammenhang zwischen der Nutzung maladaptiver Strategien und einer höheren Symptomausprägung gefunden, der sich unabhängig vom Geschlecht und in allen drei Altersgruppen zeigte. Ein Zusammenhang zwischen der vermehrten Nutzung adaptiver Strategien und einer geringeren Ausprägung depressiver Symptome konnte in keiner der Gruppen gefunden werden. Ausgehend von diesem Ergebnis, scheint auch bei depressiven Menschen im höheren Lebensalter die Reduktion maladaptiver Regulationsstrategien ein wirksamer Ansatzpunkt zur Verringerung der depressiven Symptomatik zu sein.

Bezogen auf altersspezifische Veränderungen fanden die Autor:innen einen altersassoziierten Rückgang in der Nutzung der meisten Regulationsstrategien – mit zwei Ausnahmen: Der Einsatz von Unterdrückung erhöhte sich im Vergleich zu den anderen Altersgruppen bei Frauen, allerdings nicht bei Männern. Zudem verringerte sich der Einsatz von Akzeptanz bei Frauen im höheren Alter nicht. Die altersassoziierte Verringerung in der allgemeinen Nutzung der meisten Regulationsstrategien kann im Sinne der sozioemotionalen Selektivitätstheorie (Carstensen, 1993) erklärt werden, die in Abschnitt 3.1.3 erläutert wurde. In dieser Untersuchung zeigten sich in der Gruppe der Menschen im höheren Lebensalter zudem stark positive Zusammenhänge zwischen der Ausprägung der depressiven Symptomatik und den Regulationsstrategien Rumination und Unterdrückung. Allerdings zeigten sich diese Zusammenhänge auch in den anderen Altersgruppen. Zwischen den als adaptiv klassifizierten Strategien gab es weder geschlechter- noch altersspezifische Zusammenhänge zur depressiven Symptomatik. Bei der Interpretation dieser Untersuchungsergebnisse wird ein historischer oder altersbedingter Kohorteneffekt nicht ausgeschlossen. Zudem wurden die verschiedenen Variablen in Selbstbeurteilungsverfahren erfasst, die bei der Beurteilung emotionaler Vorgänge nicht grundsätzlich valide sind (Feldman Barrett, 1997; Kluemper, 2008; Shiota & Levenson, 2009). Des Weiteren handelt es sich bei dieser Untersuchung um einen Querschnitt, in dem Personen aus der Allgemeinbevölkerung untersucht wurden und nicht Patient:innen aus einem klinischen oder ambulanten Kontext, in dem die depressive Symptomatik standardisiert und somit valider erfasst werden kann.

Da ein Großteil der älteren Patient:innen nicht ausreichend auf eine antidepressive Medikation anspricht und die Rezidivrate in dieser Altersgruppe deutlich erhöht ist, kann der Einsatz psychosozialer Interventionen sinnvoll sein (Alexopoulos et al., 2005; DGPPN, 2017; Härter et al., 2010). In einer randomisiert kontrollierten Interventionsstudie untersuchten Kiosses et al. (2015) in einer Gruppe älterer depressiver Erwachsener zwischen 66 und 95 Jahren die Wirksamkeit einer problem adaption therapy (PATH). Diese Therapie kann mit einem aktiven Problemlösetraining verglichen werden, in dem die Teilnehmenden lernen, Probleme beispielsweise in der häuslichen Lebensführung durch kompensatorische Maßnahmen oder durch Zuhilfenahme Dritter zu lösen. Ziel der PATH ist es, die Selbstwirksamkeit der Menschen im höheren Lebensalter zu stärken, um so die Regulation belastender Emotionen zu fördern und in diesem Sinne Einfluss auf die depressive Symptomatik zu nehmen. Um Hinweise über die Wirksamkeit zu erhalten, verglichen Kiosses et al. (2015) eine Experimentalgruppe und eine Kontrollgruppe. Die Experimentalgruppe wurde über einen Zeitraum von zwölf Wochen mit der PATH behandelt, die Kontrollgruppe erhielt eine unspezifische unterstützende Therapie. Patient:innen, die mit PATH behandelt wurden, zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe eine signifikante Verringerung der depressiven Symptomatik sowie signifikant geringere Rezidivraten. Das aktive Problemlösen wird als Strategie im Rahmen eines adaptiven Emotionsregulationsprozesses betrachtet. Kiosses et al. (2015) konnten zeigen, dass die Förderung dieser Regulationsstrategie bei älteren Patient:innen einen effektiven Beitrag zur Verringerung der depressiven Symptomatik leisten konnte.

Trotz der Heterogenität einiger Befunde scheinen Emotionsregulationsdefizite auch im Alter einen Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung zu haben. Eine stimmungskongruente Wahrnehmungsverzerrung (Mah & Pollock, 2010; Martins, Sheppes, Gross & Mather, 2018; Savaskan, 2010) und die Überzeugung belastende Emotionen nicht ausreichend zu regulieren (Orgeta, 2011; Phillips et al., 2010; Steixner et al., 2015) haben Auswirkungen auf die Entwicklung einer Depression im Alter sowie auf die Schwere einer bereits bestehenden Symptomatik. Wie auch in anderen Altersgruppen scheint der vermehrte Einsatz maladaptiver Strategien bei den Menschen im höheren Lebensalter mit höherer depressiver Symptomatik assoziiert zu sein (Kraaij et al., 2002a; Nolen-Hoeksema & Aldao, 2011). Die Rolle der als adaptiv klassifizierten Strategien scheint noch mehr oder weniger unklar. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass psychotherapeutische Interventionen zur Behandlung depressiver Störungen im Alter grundsätzlich wirksam sind und sich gegenüber passiver Kontrollintervention oder einer reinen Pharmakotherapie überlegen zeigen (Areán & Cook, 2002; Karel & Hinrichsen, 2000; Luijendijk et al., 2011; Reynolds III et al., 1999). Allerdings erlebt ein Großteil der Patient:innen einen mittel- bis kurzfristigen Rückfall in die depressive Symptomatik (DGPPN, 2017; Härter et al., 2010). Einzelne Interventionsstudien konnten bereits zeigen, dass die Förderung emotionsregulativer Kompetenzen auch im Alter wirksam ist und die depressive Symptomatik so signifikant verringert werden kann (Areán, 2010; Kiosses et al., 2015; Petkus & Wetherell, 2013). Diese Ergebnisse und die hohen Rezidiv- und Suizidraten sollten Anlass für die Suche nach auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren sein, um die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen zu verbessern und diese an die spezifischen Bedürfnisse der Altersgruppe anzupassen.

3.4 Herleitung der Fragestellungen

Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse des aktuellen Forschungsstandes (siehe Abschnitt 3.3.3 und 3.3.4) zusammenfasst. Ausgehend davon, werden Bedarfe ermittelt, die zur Beantwortung der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Depression im höheren Lebensalter besteht, relevant, aber durch den aktuellen Forschungsstand noch nicht vollständig beantwortet sind. Auf dieser Grundlage erfolgt die Herleitung der Fragestellungen und im folgenden Abschnitt 3.5 die Zielsetzung dieser Arbeit.

Derzeit besteht ein Mangel an kontrollierten Studien, die den Effekt der Psychotherapie auf das Krankheitsbild der Depression im Alter untersucht haben und der Frage nach der längerfristigen Effizienz psychotherapeutischer Interventionen nachgegangen sind (siehe Abschnitt 3.3.4; sowie Areán & Cook, 2002; Hautzinger & Welz, 2008). Die Ergebnisse der vorhandenen Studien weisen zwar darauf hin, dass Psychotherapie im Alter grundsätzlich wirksam ist (Areán & Cook, 2002; Gühne et al., 2014; Karel & Hinrichsen, 2000; Luijendijk et al., 2011; Reynolds III et al., 1999). Allerdings zeigen verschiedene Übersichtsarbeiten, dass bis zu 40 % der Patient:innen gar nicht auf Psychotherapie ansprechen bzw. einen kurzfristigen Rückfall in die depressive Symptomatik erleben oder sich ein chronischer Verlauf einstellt (DGPPN, 2017; Härter et al., 2010). Um Präventionsprogramme und Therapieangebote effektiver zu gestalten, sollten auslösende und aufrechterhaltende Faktoren der Depression im Alter betrachtet und die Rolle unterstützender Elemente bei Menschen mit Depressionen und ohne Depression in dieser Altersgruppe geklärt werden (Laurenceau, Hayes & Feldman, 2007).

Emotionsregulationsdefizite werden als möglicher Faktor diskutiert, der an der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen über die gesamte Lebensspanne hinweg maßgeblich beteiligt ist. Um die Relevanz dieses Faktors auch bei älteren Erwachsenen zu klären, sollten zunächst Studien betrachtet werden, die die Emotionsregulation bei gesunden Menschen im höheren Lebensalter fokussieren. Dabei sollten solche Studien einbezogen werden, die unterschiedliche Affektvariablen untersucht haben, da es eine zu starke Vereinfachung wäre, eine effektive Emotionsregulation lediglich mit dem vermehrten Gebrauch adaptiver und einem seltenen Einsatz maladaptiver Strategien gleichzusetzten (zur umfassenden Erläuterung siehe Abschnitt 3.3.2.3). Die Erfassung emotionaler Reaktionen und die Operationalisierung effektiver Emotionsregulationsstrategien ist komplex. Um die Effektivität von Emotionsregulationsstrategien zu untersuchen, sollte der Zusammenhang zu unterschiedlichen Affektvariablen betrachtet werden. Dabei sollte neben dem negativen Affekt auch der positive Affekt Beachtung finden. Dies ist in Hinblick auf depressive Störungen bedeutsam, da betroffene Personen im Vergleich zu gesunden Personen über signifikant weniger positivem Affekt berichten (Watson, Clark & Carey, 1988). Zum anderen wird bereits seit einiger Zeit kritisiert, dass in der Emotionsregulationsforschung die allgemeine Tendenz besteht, den negativen Affekt auf Kosten der Untersuchung des positiven Affekts zu fokussieren (Heiy & Cheavens, 2014). Es kann außerdem sinnvoll sein, neben der depressiven Symptomatik auch das psychische Wohlbefinden als weitere Affektvariable zu betrachten (Adelman, 1994; Scherer, 1984).

Bei der Betrachtung der genannten Affektvariablen zeigt sich, dass die aktuelle Studienlage zum Zusammenhang von Affekt und Emotionsregulationskompetenz im höheren Erwachsenenalter heterogen ist. Wie in Abschnitt 3.3.2.4 erläutert, gehen einige wenige Studien von einem Anstieg des negativen Affekts im höheren Lebensalter aus (Charles, 2010; Charles & Luong, 2013; Stacey & Gatz, 1991). Aktuelle Studien zeigen allerdings einen komplexeren Verlauf von Affekt und Wohlbefinden, der zunächst von Stabilität und in späteren Jahren auch von Veränderungen geprägt ist (Griffin et al., 2006). Der Großteil der aktuellen Studien geht davon aus, dass sich in der Altersgruppe der jungen Alten der negative Affekt verringert und der positive Affekt stabil bleibt (Barrick et al., 1989; Carstensen et al., 2000; Charles, et al., 2001; Gross et al., 1997). Die Gründe für den komplexen Verlauf des Affekts und des Wohlbefindens im Alter sind noch nicht ausreichend geklärt (siehe Abschnitt 3.3.2.4). Neben körperlichen Faktoren wie zunehmender Multimorbidität (Steinhagen-Thiessen et al., 1994; Walter & Schwartz, 2001) kann auch eine Verbesserung der emotionsregulativen Kompetenz die aktuellen Befunde erklären. Allerdings ist bislang unklar, welche spezifische Rolle die Emotionsregulationskompetenz im Alter spielt und welche Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz und den verschiedenen Affektvariablen bestehen. Besonders fehlt es an Studien, in denen untersucht wurde, welche einzelnen Emotionsregulationskompetenzen einen Beitrag zum Wohlbefinden in dieser Altersgruppe leisten.

Zum Einsatz der verschiedenen Regulationsstrategien liegen für das höhere Erwachsenenalter nur wenige Studien vor. Die vorhandenen Studien gehen davon aus, dass gesunde Menschen im höheren Lebensalter über ein breites Repertoire an adaptiven Regulationsstrategien verfügen (Blanchard-Fields, Jahnke & Camp, 1995). Sie nutzen seltener maladaptive Regulationsstrategien (Folkman et al., 1987; Schirda et al., 2016) und nehmen mit dem bewussten Einsatz bestimmter Regulationsstrategien auf ihr subjektives Wohlbefinden aktiv Einfluss (Charles & Carstensen, 2007; John & Gross, 2004; siehe Abschnitt 3.3.2.2 und 3.3.2.4). Derzeit fehlt es allerdings an Studien, die eine Bandbreite von verschiedenen adaptiven und maladaptiven Emotionsregulationsstrategien erfasst und deren Einfluss auf Affekt und Wohlbefinden in dieser Altersgruppe untersucht haben. Offen bleiben daher die Fragen, ob sich die aufgeführten Befunde replizieren lassen und welche spezifischen Emotionsregulationsstrategien im höheren Erwachsenenalter eingesetzt werden, um den Affekt und das Wohlbefinden zu beeinflussen.

Insgesamt liegen bislang kaum Studien vor, die die Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenzen, dem Einsatz spezifischer Emotionsregulationsstrategien und den verschiedenen Affektvariablen in Bevölkerungsstichproben untersucht haben. Mithilfe solcher Untersuchungsdesigns können Aussagen über Entstehungsfaktoren der Depression im Alter gemacht werden. Zudem liefern sie erste wichtige Implikationen für die zukünftige Forschung und Praxis und haben einen hohen Nutzen für die Gestaltung präventiver Maßnahmen.

Um die spezifische Rolle der Emotionsregulationskompetenz bei depressiven Patient:innen im höheren Erwachsenenalter zu untersuchen, können Befunde aus anderen Altersgruppen erste Anhaltspunkte liefern. Wie in Abschnitt 3.3.3 beschrieben, konnte in jüngeren Altersgruppen bereits gezeigt werden, dass Menschen mit einer depressiven Störung im Vergleich zu Personen ohne Depression häufiger Probleme bei der Identifikation (Honkalampi et al., 1999), beim bewussten Wahrnehmen (Ehret, 2014), beim Akzeptieren und Tolerieren (Berking et al., 2014; Brody et al., 1999; Campbell-Sills et al., 2006b; Shallcross et al., 2010), beim Modifizieren einer belastenden Emotion (Catanzaro et al., 2000; Ehring et al., 2008; Kassel et al., 2007), beim Benennen und beim Verstehen der Ursachen der aktuell erlebten Emotion sowie bei der mitfühlenden Selbstunterstützung (Gilbert et al., 2006; Hofmann et al., 2011; Kuyken et al., 2010) hatten. Zudem leisteten Akzeptanz und Regulationskompetenz in jüngeren Altersgruppen einen relevanten Beitrag zur Reduktion der depressiven Symptomatik (Radkovsky et al., 2014).

Auch in der Nutzung der verschiedenen Regulationsstrategien gibt es erste Erkenntnisse aus anderen Altersgruppen. Dort konnte gezeigt werden, dass Regulationsstrategien wie Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren und positive Neubewertung die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression beeinflussen (Garnefski et al., 2002a). Zudem konnte gezeigt werden, dass jüngere depressive Patient:innen im Vergleich zu gesunden Personen signifikant häufiger als maladaptiv klassifizierte Emotionsregulationsstrategien wie Rumination, Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren und Vermeidung zur Regulation belastender Emotionen einsetzen und seltener adaptive Strategien wie Akzeptanz, positive Neubewertung, Refokussierung, Relativieren oder aktives Problemlösen (Aldao et al., 2010; Campbell-Sills et al., 2006a; Klemanski et al., 2017). Die vermehrte Nutzung maladaptiver Strategien bzw. ein unflexibles Nutzungsprofil werden dabei nicht lediglich als Symptom verstanden, sondern als ein relevanter Faktor, der an der Entstehung und Aufrechterhaltung der depressiven Symptomatik beteiligt ist (siehe Abschnitt 3.3.3 & Barnow et al., 2020).

Die beschriebenen Studien aus anderen Altersgruppen zeigen einheitlich einen positiven Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiver Symptomatik. Zudem weisen sie daraufhin, dass die Förderung der Emotionsregulationskompetenz einen relevanten Wirkfaktor bei der Behandlung depressiver Störungen darstellen kann (siehe Abschnitt 3.3.3 sowie Aldao et al., 2010; Berking et al., 2013; Berking et al., 2014; Campbell-Sills et al., 2006a; Garnefski et al., 2002a; Goodman, 2007; Klemanski et al., 2017; Radkovsky et al., 2014). Zur Behandlung der Depression im höheren Erwachsenenalter existiert bislang allerdings nur eine vergleichsweise geringe Anzahl an kontrollierten Studien, die den Wirkfaktor Emotionsregulationskompetenz berücksichtigt haben. Erste Befunde weisen darauf hin, dass Emotionsregulationsdefizite an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression im Alter beteiligt sind und dass ein positiver Zusammenhang zwischen einem maladaptiven Regulationsstil und depressiver Psychopathologie auch in dieser Altersgruppe vorliegt (siehe Abschnitt 3.3.4 sowie Garnefski & Kraaij, 2006; Kraaij et al., 2002b; Martins et al., 2018; Nolen-Hoeksema & Aldao, 2011; Smoski et al., 2014). Unklar ist allerdings bislang, welche Rolle einzelne Emotionsregulationskompetenzen bei älteren depressiven Patient:innen spielen und ob Unterschiede in den Emotionsregulationskompetenzen zu gesunden Menschen im höheren Lebensaltern bestehen. Auch der Einfluss spezifischer Regulationsstrategien auf die depressive Symptomatik wurde in dieser Altersgruppe bislang noch nicht ausreichend untersucht. Die vorhandenen Studien von Kraaij et al. (2002b) sowie Nolen-Hoeksema und Aldao (2011), die in Abschnitt 3.3.4 beschrieben wurden, untersuchten zwar den Zusammenhang zwischen spezifischen Emotionsregulationsstrategien und depressiver Symptomatik, allerdings ausschließlich anhand von Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung. Derzeit fehlen Studien, in denen ältere Patient:innen in klinischer oder ambulanter Behandlung mit gesunden Menschen im höheren Lebensaltern verglichen wurden. Der Behandlungskontext würde es ermöglichen, die depressive Symptomatik standardisiert und somit valide zu erfassen und Unterschiede zwischen beiden Gruppen zu untersuchen.

Des Weiteren fehlen Längsschnittstudien, die aussagekräftige Schlussfolgerungen über den zeitlichen Verlauf und Zusammenhang von emotionsregulativer Kompetenz und depressiver Symptomatik im Alter erlauben. Anhand von Längsschnittanalysen können Kausalstrukturen identifiziert werden (Lazarsfeld, 1940; Lazarsfeld & Fiske, 1938) und es kann sich der Frage angenähert werden, ob Emotionsregulationsdefizite die Ursache oder eine Folge einer depressiven Störung darstellen. Die gewonnenen Erkenntnisse über emotionsregulatorische Veränderungen und zeitliche Zusammenhänge zwischen Depression und Emotionsregulationskompetenz sind bedeutsam für zukünftige theoretische Überlegungen sowie die Konzeption von altersspezifischen Interventionsmaßnahmen.

In den vorhandenen Studien zum Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Depression im Alter wurden zudem bislang ausschließlich Selbstbeurteilungsverfahren verwendet. Retrospektive Selbstbeurteilungsmaße sind in Bezug auf soziale Erwünschtheit, den Einfluss der aktuell vorherrschenden und situationsbezogenen Stimmung sowie hinsichtlich Verzerrungen durch Erinnerungseffekte problematisch (Matt et al., 1992; Shiota & Levenson, 2009). Nicht zuletzt erfordert die Erfassung emotionsregulativer Prozesse ein hohes Maß an Reflexions- und Introspektionsfähigkeit (Feldman Barrett, 1997). Besonders bei Personen, die von psychischen Störungen betroffen sind, können diese Fähigkeiten eingeschränkt und die Selbstbeurteilungsmaße nicht grundsätzlich valide sein (Fischer-Kern et al., 2008; Gallwitz & Lehrl, 1978). Die Erfassung der Regulationskompetenz im Rahmen einer Selbstbeurteilung kann generell als kritisch betrachtet werden, da sich relevante Regulationsprozesse häufig der Selbstwahrnehmung entziehen (siehe Abschnitt 3.3.2.5 sowie Kluemper, 2008). Personen, die nach ihrer Fähigkeit befragt werden, ihre Emotionen korrekt zu erkennen und zu identifizieren, müssten persönliche und soziale Vergleichswerte haben. Besonders bei Personen, die unter depressiven Störungen leiden und bei denen Regulationsdefizite einen Teil der Störung ausmachen, sind Vergleichswerte häufig nicht vorhanden oder in der Akutphase nicht abrufbar (Lane, Sechrest & Riedel, 1998). Studien, in denen der Zusammenhang zwischen emotionsregulativer Kompetenz und Depression im Alter untersucht und die Ergebnisse der Selbstbeurteilungsverfahren durch Fremdbeurteilungen ergänzt wurden, konnten nicht gefunden werden.

3.5 Zielsetzung

Die im vorherigen Kapitel dargelegten Ausführungen weisen auf einen Mangel an kontrollierten Studien hin, in denen neben Emotionsregulationskompetenzen auch spezifische Regulationsstrategien erfasst und depressive Patient:innen mit Menschen im höheren Lebensalter ohne depressive Störung verglichen wurden. Bezüglich der Auswirkungen von Emotionsregulationskompetenz auf die Depression im höheren Erwachsenenalter gibt es dementsprechend offene Fragen. So ist bislang unklar, welche Emotionsregulationskompetenzen einen Beitrag zum Wohlbefinden bei älteren Erwachsenen leisten und welche spezifischen Emotionsregulationsstrategien eingesetzt werden, um den Affekt zu beeinflussen. Des Weiteren ist unklar, ob Emotionsregulationskompetenz einen Einfluss auf eine bereits bestehende depressive Symptomatik hat und welche Rolle einzelne Kompetenzen der adaptiven Emotionsregulation bei älteren depressiven Patient:innen spielen. Es ist nicht ausreichend bekannt, ob Unterschiede in den Emotionsregulationskompetenzen und -strategien zwischen Menschen mit Depressionen und ohne Depression im höheren Erwachsenenalter bestehen. Auch bezüglich des Einflusses spezifischer Regulationsstrategien auf die depressive Symptomatik gibt es in dieser Altersgruppe offene Fragen.

Ziel dieser Studie ist es zum Störungsverständnis der Depression im Alter und zur Entwicklung bzw. Verbesserung vorhandener Interventionsprogramme beizutragen. Dafür liefern die durchgeführten Untersuchungen Erkenntnisse darüber, welche Emotionsregulationskompetenzen und -strategien zu einer adaptiven Emotionsregulation nach dem Modell von Berking (2017) beitragen und einen Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung im Alter haben (siehe Abschnitt 3.3.2.1). Dabei werden Kompetenzen der adaptiven Emotionsregulation wie bewusstes Wahrnehmen, Erkennen und Benennen von Emotionen, emotionale Selbstunterstützung, gezielte Regulation, Akzeptanz und Toleranz sowie Konfrontationsbereitschaft untersucht (siehe Abschnitt 3.3.1.1). Zudem werden spezifische Emotionsregulationsstrategien wie Selbstbeschuldigung, Akzeptanz, Rumination, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, positive Neubewertung, Relativieren, Katastrophisieren und Andere Beschuldigen in die Analyse einbezogen (siehe Abschnitt 3.3.2.2). Mögliche Anhaltspunkte, die sich daraus ergeben, sind nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern können bei der Gestaltung präventiver Maßnahmen genutzt werden, die bereits vor der Entstehung einer depressiven Störung in Risikogruppen einsetzbar sind. Zudem spielen die Erkenntnisse eine wichtige Rolle bei der Behandlung einer bereits bestehenden Depression. Hier liefern Längsschnittstudien Informationen über den zeitlichen Verlauf und Zusammenhang von Regulationsdefiziten und depressiver Symptomatik. Diese Informationen werden genutzt, um bestehende Interventionsprogramme zu ergänzen oder um ein spezifisches Programm zu entwickeln. Dieses Programm sollte an die Bedürfnisse der älteren Patient:innen angepasst sein und altersspezifische auslösende und aufrechterhaltende Faktoren einbeziehen.

3.6 Fragestellungen und Hypothesen

Die in den vorherigen Abschnittn 3.4 und 3.5 dargestellten Forschungsbefunde führen zur Ableitung der folgenden Fragestellungen und Hypothesen.

3.6.1 Fragestellung 1 – Emotionsregulation und Wohlbefinden

Bestehen Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz, den Kompetenzen der adaptiven Emotionsregulation, Emotionsregulationsstrategien und Affektvariablen bei Menschen im höheren Erwachsenenalter aus der Allgemeinbevölkerung?

Die Studienlage zum Zusammenhang von Affekt und Emotionsregulationskompetenz im höheren Erwachsenenalter ist heterogen. Ein Großteil der Studien geht allerdings von einem Anstieg der emotionsregulativen Kompetenz und von einem häufigeren Einsatz adaptiver Regulationsstrategien bei Menschen im höheren Lebenalter, die nicht unter einer psychischen Störung leiden aus (siehe Abschnitt 3.3.2.4). Aufgrund vorheriger Studien wird daher davon ausgegangen, dass positive Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz und adaptiven Emotionsregulationsstrategien mit positivem Affekt sowie Wohlbefinden bestehen. Zudem werden negative Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz und der Nutzung von maladaptiven Emotionsregulationsstrategien mit Depression sowie negativem Affekt erwartet.

Hypothese 1.1::

Es bestehen positive Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz und positivem Affekt, Stimmungsniveau sowie allgemeiner Lebenszufriedenheit.

Hypothese 1.2::

Es bestehen negative Zusammenhänge zwischen Emotionsregulationskompetenz und Depression sowie negativem Affekt.

Hypothese 1.3::

Es bestehen positive Zusammenhänge zwischen den Emotionsregulationskompetenzen Aufmerksamkeit, Körperwahrnehmung, Klarheit, Verstehen, Akzeptanz, Resilienz, Konfrontationsbereitschaft, Selbstunterstützung, Regulation von Emotionen und positivem Affekt, Stimmungsniveau sowie allgemeiner Lebenszufriedenheit.

Hypothese 1.4::

Es bestehen negative Zusammenhänge zwischen den Emotionsregulationskompetenzen Aufmerksamkeit, Körperwahrnehmung, Klarheit, Verstehen, Akzeptanz, Resilienz, Konfrontationsbereitschaft, Selbstunterstützung, Regulation von Emotionen und Depression sowie negativem Affekt.

Hypothese 1.5::

Es bestehen positive Zusammenhänge zwischen den Strategien Akzeptanz, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, positive Neubewertung und Relativieren, positivem Affekt und Stimmungsniveau sowie allgemeiner Lebenszufriedenheit.

Hypothese 1.6::

Es bestehen positive Zusammenhänge zwischen den Strategien Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren, Rumination, Andere beschuldigen und Depression sowie negativem Affekt.

Statistik: Zur Überprüfung der Hypothesen 1.1–1.6 werden Korrelationskoeffizienten nach Pearson berechnet.

3.6.2 Fragestellung 2 – Unterschiede in der Emotionsregulation zwischen Menschen mit und ohne Depression

Bestehen Unterschiede in der Emotionsregulationskompetenz, in den Kompetenzen der adaptiven Emotionsregulation und in der Nutzung spezifischer Emotionsregulationsstrategien zwischen Menschen im höheren Erwachsenenalter mit und ohne Depression?

Wie in Abschnitt 3.3.3 beschrieben besteht im jungen und mittleren Erwachsenenalter ein positiver Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiver Symptomatik (Aldao et al., 2010; Berking et al., 2013; Berking et al., 2014; Goodman, 2007; Klemanski et al., 2017; Radkovsky et al., 2014). Zudem ist der Zusammenhang zwischen Depression und der häufigeren Nutzung maladaptiver Regulationsstrategien mit mittleren bis großen Effekten in anderen Altersgruppen gut belegt (Barnow, 2012; Backenstrass et al., 2006; Campbell-Sills et al., 2006a; Campbell-Sills et al., 2006b; Ehring et al., 2010; Garnefski et al., 2002a; Liverant et al., 2008). Aufgrund der beschrieben Studien aus anderen Altersgruppen und der wenigen Studien, die das höhere Erwachsenenalter fokussieren (siehe Abschnitt 3.3.4), wird angenommen, dass auch im höheren Erwachsenenalter ein positiver Zusammenhang zwischen Emotionsregulationsdefiziten und depressiven Symptomen vorliegt. Zudem wird angenommen, dass depressive Menschen im Vergleich zu gesunden Menschen im höheren Erwachsenenalter über eine geringe Emotionsregulationskompetenz verfügen. Außerdem wird aufgrund der vorher beschriebenen Befunde davon ausgegangen, dass depressive Menschen häufiger maladaptive und seltener adaptive Regulationsstrategien einsetzen als gesunde Menschen im höheren Lebensalter.

Hypothese 2.1::

Menschen im höheren Erwachsenenalter mit Depression weisen einen statistisch signifikant geringeren Wert in der Emotionsregulationskompetenz auf als Menschen ohne Depression.

Hypothese 2.2::

Menschen im höheren Erwachsenenalter mit Depression weisen einen statistisch signifikant geringeren Werte in den Emotionsregulationskompetenzen Aufmerksamkeit, Körperwahrnehmung, Klarheit, Verstehen, Akzeptanz, Resilienz, Konfrontationsbereitschaft, Selbstunterstützung und Regulation von Emotionen auf als Menschen ohne Depression.

Hypothese 2.3::

Menschen im höheren Erwachsenenalter mit Depression weisen einen statistisch signifikant höheren Wert in den Emotionsregulationsstrategien Selbstbeschuldigung, Katastrophisieren, Andere beschuldigen und Rumination auf als Menschen ohne Depression.

Hypothese 2.4::

Menschen im höheren Erwachsenenalter mit Depression weisen einen statistisch signifikant geringeren Wert in den Emotionsregulationsstrategien Akzeptanz, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, positive Neubewertung und Relativieren auf als Menschen ohne Depression.

Statistik: Zur Untersuchung von Mittelwertunterschieden und zur Überprüfung der Hypothesen 2.1–2.4 werden t-Tests für abhängige Stichproben durchgeführt.

3.6.3 Fragestellung 3 – Emotionsregulation und Depression

Hat Emotionsregulationskompetenz einen Einfluss auf die Schwere depressiver Symptome und damit auf den Effekt einer Depressionsbehandlung bei Menschen im höheren Erwachsenenalter?

In bisherigen Quer- und Längsschnittstudien aus anderen Altersgruppen (Aldao et. al., 2010; Berking et al., 2014; Greenberg, 2000, 2004; Honkalampi et al., 1999; Kahn & Garrison, 2009; Radkovsky et al., 2014; Rude & McCarthy, 2003; Wirtz et al., 2014) und in einigen wenigen experimentellen Studien (Ehring et al., 2010; Campbell-Sills et al., 2006b Liverant et al., 2008) konnte gezeigt werden, dass Emotionsregulation die Schwere der depressiven Symptomatik während einer Behandlung beeinflusst (siehe Abschnitt 3.3.4). Es wird deshalb davon ausgegangen, dass Emotionsregulationskompetenz auch bei Menschen im höheren Lebensalter mit der Schwere der Depression assoziiert ist und einen positiven Einfluss auf den Therapieeffekt hat.

Hypothese 3.1::

Es besteht ein negativer Zusammenhang zwischen Emotionsregulationskompetenz und der Schwere der depressiven Symptomatik zu Beginn einer Depressionsbehandlung.

Hypothese 3.2::

Patient:innen mit höherer Emotionsregulationskompetenz profitieren stärker von einer Depressionsbehandlung und zeigen am Ende der Behandlung statistisch signifikant geringere Depressionswerte als Patient:innen mit geringerer Emotionsregulationskompetenz.

Statistik: Zur Überprüfung der Hypothesen 3.1 und 3.2 werden Korrelationskoeffizienten nach Pearson und ein varianzanalytisches Analysemodell für Messwiederholungen (ANOVA) eingesetzt.

3.6.3.1 Explorative Untersuchung zur Selbst- und Fremdbeurteilung von Emotionsregulation

Aufgrund fehlender Studien, die zur Erfassung von Emotionsregulationskompetenz neben Selbst- auch Fremdbeurteilungsverfahren eingesetzt haben, werden Unterschiede in der Selbst- und Fremdbeurteilung von Emotionsregulationskompetenzen explorativ untersucht und vorab keine Hypothesen formuliert (siehe Abschnitt 3.3.2.5). Es wird der Fragestellung nachgegangen, wie hoch die Beurteilungsübereinstimmung bezüglich der emotionalen Kompetenz zwischen den Einschätzungen der Patient:innen und denen ihrer Behandelnden zu Beginn und am Ende einer Depressionsbehandlung ist (zur umfassenden Beschreibung der forschungsmethodischen Herleitung siehe Abschnitt 3.4).

Statistik: Zur Beantwortung der Fragestellung werden zweifaktorielle Intraklassenkorrelation durchgeführt.