Im Jahr 2004 veröffentlichte Morley im Journal of Gerontology eine Auflistung von Erkrankungen, die im Bereich der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie für Wissenschaft, Forschung und Praxis in den kommenden Jahren eine relevante Rolle spielen sollten. Depressionen nahmen, nach den dementiellen Erkrankungen, Platz 2 ein. Die Relevanz und das Interesse an dem Thema sind berechtigt. Depressionen gehören neben der Demenz mit Prävalenzraten von bis zu 50 % zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Erwachsenenalter (Blazer, 2003; Linden et al., 1998; Naismith et al., 2012; Soeder, 2002; Teresi et al., 2001). Sie beeinflussen die Lebensqualität der Betroffenen und häufig auch die der Angehörigen und stellen für die Behandelnden eine besondere Herausforderung in Diagnostik und Therapie dar (Heser et al., 2013).

Derzeit gibt es nur eine vergleichsweise geringe Anzahl an kontrollierten Studien zur Therapie und Behandlung der Depression im höheren Erwachsenenalter (Areán & Cook, 2002). Von besonderem Interesse sollte die Frage nach der Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung und der Dauer symptomfreier Intervalle sein (Unützer et al., 2001). Denn trotz evaluierter Interventionsprogramme und standardisierter Behandlungsleitlinien sprechen nicht alle Patient:innen auf die derzeitigen therapeutischen Interventionen an. Ein relevanter Anteil, nicht nur der älteren Patient:innen, erlebt kurz- bis mittelfristig einen Rückfall in die depressive Symptomatik (DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, 2017; Härter et al., 2010). Zur Verbesserung der Effektivität der therapeutischen Interventionen sollten daher Determinanten identifiziert werden, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Störung beteiligt sind (Frank et al., 2002; Hollon, Munoz, Barlow & Beardslee, 2002).

In diesem Zusammenhang wurde in den vergangenen Jahren ein wesentlicher Wirkfaktor psychotherapeutischer Interventionen besonders intensiv untersucht: Eine Reihe empirischer Studien konnte zeigen, dass Emotionsregulationsdefizite an der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver und anderer psychischer Störungen über die gesamte Lebensspanne maßgeblich beteiligt waren und dass die Förderung emotionsregulatorischer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Erwachsenen einen relevanten Beitrag zum Therapieerfolg leisten konnte (Aldao et al., 2010; Berking et al., 2013; Berking et al., 2014; Campbell-Sills et al., 2006a; Garnefski et al., 2002a; Goodman, 2007; Klemanski et al., 2017; Radkovsky et al., 2014).

Vergleichsweise wenig ist allerdings über den Zusammenhang von emotionsregulativer Kompetenz und depressiver Psychopathologie im höheren Erwachsenenalter bekannt. Einige wenige Studien, die das höhere Lebensalter fokussiert haben, konnten zeigen, dass die Überzeugung, belastende Emotionen nicht ausreichend regulieren zu können, Auswirkungen auf die Entstehung sowie die Schwere einer bereits bestehenden Depression hatten (Orgeta, 2011; Phillips, Scott, Henry, Mowat & Bell, 2010; Steixner et al., 2015). Bezüglich des Einsatzes spezifischer Emotionsregulationsstrategien konnte zudem gezeigt werden, dass der vermehrte Einsatz maladaptiv klassifizierter Strategien wie Rumination (Grübeln), Vermeidung oder Unterdrückung im mittleren wie auch im höheren Erwachsenenalter mit depressiver Symptomatik assoziiert war (Aldao et al., 2010; Kraaij, Pruymboom & Garnefski, 2002b). Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz adaptiver Strategien wie kognitiver Neubewertung oder aktivem Problemlösen und Depression ist in dieser Altersgruppe noch weitgehend unklar (Nolen-Hoeksema & Aldao, 2011). Aus diesen Erkenntnissen lassen sich bereits erste Implikationen für die Behandlung der Depression im Alter ableiten. Möglicherweise ist die Reduktion maladaptiver Regulationsstrategien ein guter Ansatzpunkt für Interventionen und präventive Maßnahmen. Inwieweit die Förderung adaptiver Strategien auch bei der Behandlung der Depression im Alter eine Rolle spielt, muss noch geklärt werden.

Die Erkenntnisse zur Emotionsregulation im höheren Erwachsenenalter basieren fast ausschließlich auf vereinzelten Studien, in denen ausschließlich Selbstbeurteilungsverfahren eingesetzt wurden. Retrospektive Selbstbeurteilungsmaße sind bei der Beurteilung emotionaler Vorgänge nicht grundsätzlich valide (Shiota & Levenson, 2009), da soziale Erwünschtheit und Verzerrungen durch Erinnerungseffekte einen Einfluss auf die Beurteilung haben (Feldman Barrett, 1997; Kluemper, 2008; Matt, Vázquez & Campbell, 1992). Zudem konnten Mabe und West (1982) in einer Metaanalyse die geringe Validität von Selbsteinschätzungen und die Probleme bei der objektiven Selbsteinschätzung persönlicher Kompetenzen zeigen. Der zusätzliche Einsatz von Fremdbeurteilungsverfahren würde einen Beitrag zur Erhöhung der Objektivität bei der Erfassung emotionsregulativer Kompetenzen leisten.

Bei den aktuellen Studien, die den Einfluss der Emotionsregulation auf das Krankheitsbild der Depression im Alter untersucht haben, handelt es sich zudem größtenteils um korrelative Querschnittuntersuchungen. Diese liefern zwar erste Anhaltspunkte über den Zusammenhang von emotionsregulativer Kompetenz und depressiver Symptomatik, sollten aber um Längsschnittuntersuchungen ergänzt werden. Durch Längsschnittstudien können Fragen zur Kausalität beantwortet und Aussagen über Entwicklungsverläufe gemacht werden.

Insgesamt besteht derzeit ein Mangel an kontrollierten Studien, die den Einfluss von emotionsregulativer Kompetenz auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression im höheren Erwachsenenalter untersucht haben. Für das frühe und mittlere Erwachsenenalter konnte dieser Zusammenhang bereits gezeigt werden (Aldao et al., 2010; Berking et al., 2013; Berking et al., 2014; Campbell-Sills et al., 2006a; Garnefski et al., 2002a; Radkovsky et al., 2014). Offen bleibt die Frage, ob dieser Zusammenhang auch im höheren Erwachsenenalter vorliegt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragestellung zu leisten und damit zur Verbesserung der Effektivität therapeutischer Interventionen beizutragen. Dafür werden zunächst die Begriffe Alter und Altern definiert. Verschiedene Theorien des (emotionalen) Alterns werden vorgestellt und das Krankheitsbild der Depression im Alter mit seinen spezifischen Besonderheiten erläutert (siehe Abschnitt 3.1 & 3.2). Des Weiteren erfolgt eine Definition der Begriffe Emotionen und Emotionsregulation und es werden bisherige Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Emotionsregulation und Depression über die gesamte Lebensspanne dargestellt (siehe Abschnitt 3.3). Dabei werden unter dem Oberbegriff Emotionsregulation zum einen Emotionsregulationskompetenzen wie bewusstes Wahrnehmen, Erkennen und Benennen von Emotionen, emotionale Selbstunterstützung, gezielte Regulation, Akzeptanz und Toleranz sowie Konfrontationsbereitschaft unterschieden (siehe Abschnitt 3.3.1.1). Zum anderen werden Emotionsregulationsstrategien wie Selbstbeschuldigung, Akzeptanz, Rumination, positive Refokussierung, Refokussierung auf Planung, positive Neubewertung, Relativieren, Katastrophisieren und Andere Beschuldigen unterschieden (siehe Abschnitt 3.3.2.2).

Um zu untersuchen, ob ein Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Depression bei Menschen höheren Lebensalters besteht, werden drei Teilstudien mit unterschiedlichen Untersuchungsdesigns und Stichproben durchgeführt. Um einen ersten Eindruck über den Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Depression von Menschen höheren Lebensalters zu erhalten, erfolgt zunächst eine Untersuchung in der Allgemeinbevölkerung (siehe Abschnitt 5.1). Des Weiteren werden ältere Patient:innen, die sich in einer klinischen Depressionsbehandlung befinden, mit einer gesunden Kontrollgruppe hinsichtlich ihrer Emotionsregulationskompetenz und der Nutzung verschiedener Emotionsregulationsstrategien verglichen. Dadurch werden Unterschiede in der Emotionsregulation zwischen älteren Menschen mit Depression und älteren Menschen ohne Depression identifiziert (siehe Abschnitt 5.2). Um sich der Frage nach der Kausalität anzunähern, wird bei den älteren Patient:innen, die sich in einer Depressionsbehandlung befinden, ein Längsschnitt anhand von Selbst- und Fremdbeurteilungsmaßen durchgeführt. Dafür werden die Emotionsregulationskompetenz sowie spezifische Emotionsregulationsstrategien und die Schwere der depressiven Symptome zu verschiedenen Zeitpunkten der Behandlung betrachtet (siehe Abschnitt 5.3). Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen werden abschließend diskutiert und theoretische sowie klinisch-praktische Implikationen abgeleitet (siehe Kapitel 6).