Qualitative Fallstudien bilden einen zentralen Bestandteil der wissenschaftlichen BegleitforschungFootnote 1 zum Programm Lernen vor OrtFootnote 2. Sie wurden als Längsschnitterhebung angelegt. In 14 Lernen-vor-Ort-Kommunen erfolgten Erhebungswellen im Jahr 2011 und 2012, bei denen unterschiedliche Schlüsselakteure in Interviews vor Ort befragt wurden, um Interaktionsprozesse im Verlauf sowie kritische Erfolgsfaktoren und Transferpotenziale zu erfassen (AG Lernen vor Ort, 2016, S. 7). Die Fallstudien wurden in der zweiten Förderphase mit je drei Kommunen zu den thematischen Schwerpunkten des innerkommunalen Transfers sowie der sozialräumlichen Planung und Steuerung fortgesetzt (AG Lernen vor Ort, 2016, S. 8). Für das Promotionsvorhaben durfte ich die transkribierten Interviewdaten von zwei Gebietskörperschaften verwenden und im Jahr 2014 an Erhebungen vor Ort teilnehmen. Mit dem Bildungsmanagement auf kommunaler Ebene (BMK) bezeichne ich die Organisation der Bildungsangebote im territorialen Zuständigkeitsbereich eines Kreises, mit dem kommunalen Bildungsmanagement (KBM) jene einer kreisfreien Stadt. Die (Re-)KonstruktionFootnote 3 einer Grounded Theory zur Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration zeichne ich in zwei Schritten nach. Ausgehend von einem Verständnis der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) als Theorien-Methoden-Paket entfalte ich zunächst mein Verständnis eines Artikulationsprozesses mithilfe von Kategorien der Educational-Governance- und der Soziale-Welt-Perspektive. Analog zu den Perspektiven der Profession orientiere ich mich an einer Struktur-, Prozess- und Handlungsdimension. Die (Re-)Konstruktion von Arenen auf der Grundlage von Konzepten der Sozialwelt-TheorieFootnote 4 bildet den Übergang zur Darstellung der Entwicklung theoretischer Konzepte mit Denkwerkzeugen der GTM. Bei der Darstellung des Forschungsprozesses folge ich den drei Essentials der GTM und führe Überlegungen zur Entwicklung theoretischer Konzepte, zum theoretischen Sampling und zum ständigen Vergleichen aus. Ein Ausblick auf die Darstellung der Ergebnisse als Vor-, Haupt- und Nachgeschichte leitet zum empirischen Teil der Arbeit über.

1 Der Aufbau eines kommunalen Bildungsmanagements als Artikulationsprozess

Die Entwicklung einer Heuristik zur Befragung des Datenmaterials stellt ein wesentliches Element dieser Forschungsarbeit dar. Orientierungsleitend ist in einem ersten Schritt die Fragestellung: Wie stellen ein Bildungsmanagement auf kommunaler Ebene und ein kommunales Bildungsmanagement kollektive Handlungsfähigkeit her? Im Zuge des ständigen Vergleichens der theoretischen Konzepte schärft sich die zweite Fragestellung aus: Welchen Beitrag leistet diese kollektive Handlungsfähigkeit zur gesellschaftlichen Integration? Bevor ich im nächsten Kapitel auf elementare Forschungsschritte entlang der Essentials der Grounded-Theory-Methodologie eingehe, stelle ich die Konzepte dar, die der Strukturierung des Datenmaterials zugrunde liegen. Sie entstammen dem Kategorienvorrat der Educational-Governance- und der Soziale-Welt-Perspektive (vgl. Tabelle 6.1).

Tabelle 6.1 Kategorien der Educational-Governance- und Soziale-Welt-Perspektive (Eigene Darstellung)

Die beiden ›Theoriebrillen‹ bringe ich mit der Struktur-, Prozess- und Handlungsdimension von Professionalisierung (Nittel & Seltrecht, 2016, S. 139) in Verbindung, um sowohl die »Festigkeit« als auch die »Interaktionserzeugung gesellschaftlicher Strukturen« (Schütze, 1987, S. 542) im Blick zu behalten. Die Ausführungen stützen sich in der Struktur weitgehend auf einen bereits publizierten Beitrag (Lüthi, 2019). Ergänzend gebe ich der Sozialwelt-Theorie und dem Arbeitsbogenkonzept mehr Raum. Darüber hinaus führe ich die Entwicklung der Arenen im Rahmen dieser Arbeit aus, die ich bei der theoretischen Verdichtung als Räume gesellschaftlicher Integration lesen werde.

Grenzüberschreitende Professionalisierung hat eine Struktur-, Prozess- und Handlungsdimension. Die Strukturdimension beschreibe ich mit dem Mehrebenensystem sowie mit den sozialen Welten und Arenen. Die Handlungskoordination sowie Prozesse in sozialen Welten und Arenen bilden die Prozessdimension. Akteure und Akteurkonstellationen sowie Arbeitsbögen und Verlaufskurven repräsentieren die Handlungsdimension. Alle drei Dimensionen werde ich in eine ›Suchmaschine‹ für die Entdeckung von Sinnzusammenhängen beim Aufbau eines BMK und KBM einbauen. Eine Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration (re-)konstruiere ich als Artikulationsprozess. Artikulation stellt nicht nur in der Soziale-Welt-Perspektive, sondern auch in der operativen Pädagogik ein zentrales Konzept dar. Es bezeichnet den allgemeinen Organisationsprozess bei der Durchführung von Projekten (Strauss, 1988, S. 174) zum einen und die Suche nach einer Verschränkung von Operationen des Zeigens mit Operationen des Lernens (Prange, 2012a, S. 107–135) zum anderen. Die Integration beider Verständnisse stellt eine gewinnbringende Entdeckung dar, da sie Lernen vor Ort als Leitideen tragen. Kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren organisieren kollektive Handlungsfähigkeit im Projektarbeitsbogen, indem sie das Lernen von Akteuren der Angebots- und Nutzungsseite von Bildungsdienstleistungen mit spezifischen Formen des Zeigens zu treffen suchen. Die Bearbeitung gesellschaftlicher Integration beim Aufbau eines BMK und KBM entwerfe ich als zweistufigen Prozess, in dem die Bereitstellung von Bildungsdienstleistungen das Zeigen und die Nutzung von Angeboten das Lernen repräsentieren. Zeitlich fallen beide Prozesse zusammen. Die analytische Trennung begründet sich nicht nur mit der theoretischen Unterscheidung distinkter Operationen, sondern auch mit der programmatischen Ausrichtung der Initiative Lernen vor Ort. Im Kern stehen Systeminnovationen, die Sozialintegration fördern sollen. Diese doppelte Zielbestimmung schafft eine Grundspannung, die, so die hier professionstheoretisch begründete Annahme, nicht »entparadoxiert« (Emmerich, 2010, S. 374), sondern ohne Anspruch einer einseitigen Auflösung ausbalanciert werden muss. Der Aufbau eines BMK und KBM liest sich vor diesem Hintergrund als Local-Governance-Erzählung, in die zahlreiche antinomische Spannungen eingelagert sind, deren Bearbeitung aber gerade ein »erhebliches Potenzial an Innovationsfähigkeit und Kreativität« (Sack, 2007, S. 258) mit Blick auf gesellschaftliche Integration erwarten lässt.

1.1 Strukturdimension

Ausdifferenzierte und komplexe Gesellschaftssysteme haben keine kollektive Handlungsfähigkeit (Gotsch, 1987, S. 28). Die Educational-Governance-Perspektive unterscheidet zwischen einer normativen und einer analytischen Konzeption von Governance. Die normative fragt, wie kollektive Handlungsfähigkeit erhöht werden soll und kann, die analytische, wie diese hergestellt wird. Ein Mehrebenensystem verweist auf teilsystembedingte, unaufhebbare Grenzen, die aus steuerungs- und modernisierungstheoretischer Sicht zu bearbeiten sind. Grenzüberschreitende Kooperation konzentriert sich auf das Governance-Regime der Meso-Ebene und betrifft intra- und interorganisatorische Abstimmungen, von denen ein Impact auf gesellschaftliche Integration erwartet wird (Brüsemeister, 2007a, S. 39). Die Soziologie geht auf der Basis von Handlungs- und Akteurtheorien davon aus, dass die Beschaffenheit der Handlungskoordination »nicht der einzige, aber doch: ein impact für Fragen der sozialen Integration ist« (Brüsemeister, 2007a, S. 52, Hervorhebung im Original). Regelungsstrukturen kommt damit eine zentrale Bedeutung für den Zuschnitt von Leistungsangeboten zu, die ihrerseits auf die soziale Integration von Bürgerinnen und Bürgern zielen. Die Soziale-Welt-Perspektive geht von der »Interaktionserzeugung« (Schütze, 1987, S. 542) gesellschaftlicher Strukturen aus. Anstelle von Organisationen treten Arenen, in denen Akteure verschiedener sozialer Welten für die Bewältigung einer Aufgabe zusammenkommen. Die Educational-Governance-Perspektive sensibilisiert für Fragen von Grenzüberschreitungen in Anbetracht teilsystemischer Begrenzungen. Demgegenüber geht die Soziale-Welt-Perspektive von Zwischenräumen aus, aus denen heraus sich durch eine gleichzeitige Binnen- und Außenorientierung Begrenzungen auf Kernbestände ausdifferenzieren. Beide Perspektiven setzen Handeln und Strukturen in ein Verhältnis. Akteurtheoretische Kategorien der Educational-Governance-Perspektive blicken von den Strukturen auf das Handeln der Akteure, Kategorien der Soziale-Welt-Perspektive von einer besonders flexiblen Artikulationsarbeit auf die Herausbildung von »neuen Formen der Arbeitsteilung, Arbeitsstile und Organisationselemente der Arbeit, die makrostrukturellen Wandel provozieren« (Schütze, 1987, S. 542). Die Strukturdimension des Mehrebenensystem werde ich in der Heuristik zur Befragung des Datenmaterials in Anlehnung an Brüsemeister (2016b, S. 285–286) mit fünf Arenen aufgreifen, mich dabei aber mehr von Kategorien der Soziale-Welt-Perspektive leiten lassen, weshalb ich diese nachfolgend ausführlicher darstelle.

1.1.1 Mehrebenensystem

Die Educational-Governance-Perspektive stellt einen Analyserahmen für Untersuchungen bereit, die sich mit der Interdependenz, der Interdependenzbewältigung und dem Interdependenzmanagement von Akteuren und Institutionen befassen (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 31–32). Das Mehrebenensystem gilt als analytischer Platzhalter für grenzüberschreitende Koordination, die vertikale Beziehungen von Akteuren eines Handlungssektors und horizontale Beziehungen zwischen Akteuren verschiedener Handlungssektoren umfasst (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 32–33). Governance beschäftigt sich mit dem grenzüberschreitenden Charakter von Problemlagen sowie mit der Frage, wie »Berufe koordiniert werden können, um ein Problem kollektiv zu lösen« (Brüsemeister, 2020, S. 10). Governance-Prozesse beschreiben grenzüberschreitende Koordination mit Kategorien der System- und Sozialintegration. Abstimmungsprozesse zwischen Organisationen betreffen die Systemintegration, während Sozialintegration das Einbeziehen von Individuen in die Gesellschaft meint (Brüsemeister, 2020, S. 10). Sozialintegration erfolgt über Rollen in Organisationen oder wie im Familien- und Intimsystem direkt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft (Brüsemeister, 2020, S. 10). Brüsemeister fragt nach dem Beitrag von Akteuren der Organisation Schule »zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit« (2020, S. 22). Die Frage, wie Akteure dabei Grenzen konstituieren und überwinden, halten auch Altrichter und Heinrich (2007, S. 68) für entscheidend. Interorganisatorische Koordination zwischen Systemebenen ist mit Schnittstellenproblemen verbunden, die sich aus »den unterschiedlichen Handlungslogiken, Werthierarchien, ›Sprachen‹ und Aufmerksamkeitsprioritäten der ›Ebenen‹« (Altrichter, 2015, S. 37–38) ergeben. Altrichter sieht die Transformation von unterbrochener in kooperationsbasierte Interdependenz zum einen und die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken zum anderen als wesentliche Probleme (2014, S. 38). Netzwerkmanagement hat daher mit unaufhebbaren Spannungsverhältnissen zu rechnen, was »sowohl differenzierte Kompetenzen als auch freie Managementkapazitäten bei den beteiligten Individuen und sozialen Akteuren voraussetzt« (Altrichter, 2014, S. 42).

1.1.2 Soziale Welten und Arenen

Die Wurzeln der Sozialwelt-Theorie liegen in der Feldforschungstradition des Symbolischen Interaktionismus der Chicago-Schule (Schütze, 1987, S. 526–530). Soziale Welten bilden sich um spezifische Problemkonstellationen heraus und kommen entweder hinsichtlich der Betroffenen oder der Unterstützungs- und Gestaltungsakteure von Problemlagen in den Blick (Schütze, 2016a, S. 74). Strauss gilt als Vertreter der zweiten Problem- und Aktivitätsebene und als Hauptbegründer der Sozial-Welt-TheorieFootnote 5 (Schütze, 2016b, S. 94). Mit seiner Social World Perspective (Strauss, 2010, S. 212–215) wendet er sich gegen deterministische Strukturmodelle seiner Zeit. Insbesondere der funktionalistischen Auffassung von Professionen und Arbeitsteilung stellt er auf der Basis empirischer Untersuchungen in psychiatrischen Institutionen eine prozessorientierte Perspektive gegenüber (Strübing, 2007, S. 74). Anders als der Funktionalismus, der Professionen als relativ homogene Gemeinschaften sieht, »deren Mitglieder eine gemeinsame Berufsidentität, gleiche Werte, Rollenvorstellungen und Interessen« (Bucher & Strauss, 1972, S. 182) teilen, lenkt diese Sichtweise den Blick auf die Profession als lose Verbindung einzelner Segmente, »die verschiedene Ziele auf unterschiedliche Weise verfolgen« (Bucher & Strauss, 1972, S. 183). Die Umrisse eines Prozessmodells offerieren Bucher und Strauss denn auch als Ergänzung oder Alternative zum vorherrschenden funktionalistischen Ansatz. An der Profession Medizin arbeiten sie wesentliche Begriffe heraus, die Strauss erst zwanzig Jahre später zum Konzept der sozialen Welten als Kernbestand seiner Sozialtheorie generalisiert (Strübing, 2007, S. 75). Wie soziale Welten und Arenen ineinandergreifen, beschreibt Schütze mit zwei grundlegenden Organisationsformen: Soziale Welten stellen Beziehungs-, Interaktions- und Kommunikationsgeflechte dar, in denen Akteure zentrale Problembestände durch die Abwicklung von Kernaktivitäten bearbeiten. Gleichzeitig spannen sie »Auseinandersetzungsarenen um die ›richtige‹ Problembearbeitung und die Authentizität der Kernaktivitäten« (Schütze, 1987, S. 540–541) auf. Soziale Welten und Arenen stehen somit komplementär zueinander: »Soziale Welten stehen für den Zusammenhang des Gleichgerichteten, Arenen für den Austausch zwischen Divergentem« (Strübing, 2007, S. 97).

Strauss bestimmt eine Social World mit vier Dimensionen: Jede soziale Welt formiert sich um zentrale Aktivitäten: »In each social world, at least one primary activity (along with related clusters of activity) is strikingly evident« (Strauss, 1991, S. 236). Mit dieser Begriffsbestimmung betont Strauss die Bedeutung praktischen Handelns und erweitert die Konzeption sozialer Welten von Shibutani (1955), der diese als Kulturraum versteht, »dessen Grenzen weder territorial noch durch formale Mitgliedschaft bestimmt sind, sondern durch die Grenzen wirksamer Kommunikation« (Strübing, 2007, S. 80). Strauss (2010, S. 212) greift auf eine Definition von Clarke zurück, die soziale Welten als »groups with shared commitments to certain activities, sharing resources of many kinds to achieve their goals, and building shared ideologies about how to go about their business« (1991, S. 131) beschreibt. Den Begriff Commitment versteht Strübing als »gemeinsam geteiltes Engagement« (2007, S. 83). Schütze spricht von Orientierungs-, Kommunikations- Wissens-, Ausdrucks- und Arbeitszusammenhängen von »engagierten, sich persönlich verpflichtet fühlenden Akteuren und Akteursgruppen« (2016a, S. 75). An anderer Stelle unterstreicht er, dass sich Anhänger und Akteure einer sozialen Welt zur Teilnahme an Kernaktivitäten »moralisch verpflichtet« (Schütze, 2002, S. 60) fühlen. Die Orientierung an Kernaktivitäten geht mit einer thematischen Ausrichtung auf spezialisierte Wissensbestände einher, die sehr viel fokussierter und spezieller sind als Alltagswissensbestände (Schütze, 2002, S. 60). Akteure sozialer Welten »sind in ihrer Aufmerksamkeit zentripetal ausgerichtet auf zentrale Handlungsverrichtungen und Diskursarenen« (Schütze, 2002, S. 67). Mitgliedschaften kennzeichnen sich durch unterschiedliche Intensitäten des Commitments. Sind es bei Shibutani geteilte Perspektiven, die einen Kulturraum bestimmen (Strübing, 2007, S. 78), geht Strauss von multiplen Mitgliedschaften aus, deren Qualitäten variieren (2010, S. 213). Entsprechend gibt es in sozialen Welten zentrale und periphere Akteure: »Since memberships can vary in intensity of commitment from very intense (virtually total absorption) to very peripheral (barley involved), in many social worlds there is a core of highly involved people but also marginal participants« (Strauss, 2010, S. 213). Multiple Mitgliedschaften gehen daher auch mit mehrfachen Engagements einher, was Becker (1960, S. 35) mit dem Konzept des Side Bet beschreibt. In einem aktuellen Handeln drückt sich »nicht allein das aktuell dominante Engagement aus, sondern immer auch die Perspektive des Handelnden gegenüber seinen anderen Verpflichtungen und Zielsetzungen« (Strübing, 2007, S. 33).

Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt bedarf keiner festen Mitgliedschaftsregelung, sondern erfolgt durch Orientierungen und Aktivitäten (Schütze, 1987, S. 541). Soziale Welten verordnen keine Mitgliedschaftsbeschränkung, sie legen aber nahe, dass Teilnahmeinteressierte sachkundig sein müssen (Schütze, 1999, S. 334). Voraussetzungsvolle Wissensformen und kulturelle Stil- und Kompetenzformen begründen die Tendenz sozialer Welten zu besonders eingeweihten Akteurkreisen (Schütze, 2016a, S. 75). Soziale Bindungen entstehen durch Handlungen um Objekte, die alle »in ähnlicher Weise als wichtig [und] erstrebenswert« (Strübing, 2007, S. 85) erachten. Diese Objekte haben nicht ausschließlich materiellen Charakter, sondern betreffen zentrale Problembestände eines »jeweils thematischen Interaktionsfeldes« (Schütze, 2002, S. 60) sowie »spezifische Gestaltungsprobleme und -aufgaben« (Schütze, 2002, S. 67). An dieser Stelle kommt der Begriff der Arena ins Spiel, insofern »Veränderungspotenziale einer Gesellschaft« (Schütze, 2002, S. 67) in Arenadiskursen immer wieder formuliert werden. Der Diskurscharakter ist somit konstitutiv für soziale Welten. Eine Selbstverpflichtung zur Bearbeitung »von fortlaufenden raschen, multiaspektuellen und z. T. unerwarteten Veränderungsprozessen« (Schütze, 2002, S. 62) begründet die Mitgliedschaft einer sozialen Welt als temporären Prozess (Strübing, 2007, S. 85).

Wenn sich »gleichgesinnte Menschen zu gemeinsamem Tun zusammenfinden« (Schütze, 1999, S. 334), dann benötigen sie »zentrale Verortungen für die Lokalisierung und Fokussierung der Arena-Aktivitäten« (Schütze, 2002, S. 67): »There are sites where activities occur: hence space and a shaped landscape are relevant« (Strauss, 1991, S. 236). Sozialweltaktivitäten sind aber nicht an »Orte, feste angestammte Personengruppen, organisierte Einrichtungen beziehungsweise ›institutionelle Anstalten‹ usw. gebunden« (Schütze, 2002, S. 68). Die zentripetale Aktivitätsorientierung und der Arenadiskus müssen »irgendwo zeitweilig einen definierten und materialisierten Austragungsort haben« (Schütze, 1999, S. 334). Dies kann der Internetauftritt sein oder eine Ausstellung, ein »Nukleus von sozialer Organisation« (Schütze, 2002, S. 68) also, an dem die Aktivitäten der Sozialwelt symbolisch aufgezeigt werden. Soziale Welten sind somit zwar »in lokalisierten Organisationsterritorien verankert«, gleichzeitig überspannen sie »verschiedene Organisationseinrichtungen und geographische Distanzen« (Schütze, 1987, S. 540–541). Orte zentraler Aktivitäten können nicht ohne den prozessualen Charakter sozialer Welten verstanden werden. Schütze verortet diese Prozesse in einer Binnenarena einer sozialen Welt und in deren Außenarenen. Die zentripetale Aufmerksamkeitsausrichtung der Sozialweltakteure führt zu einer zentralen »Bündelung von spezialisierten Aktivitäten« und zur »Herstellung, Wahrung und Prüfung ihrer Reinheit und Authentizität« (Schütze, 1999, S. 333). Diskursarenen legen soziale Welten in ihren Eigenschaften fest. Sie ermöglichen

die Zuspitzung von Aktionsinteressen; die Konzentration auf die Echtheit, Qualität und Stilistik der Aktivitäten; den Wettbewerb zwischen den Aktivitätsvollzügen unterschiedlicher Akteure hinsichtlich der Echtheit, Qualität und stilistischen Eleganz; die Kritik an der Unechtheit und Fehlerhaftigkeit der Aktivitäten bzw. an der Mangelhaftigkeit ihrer Stilistik, Effektivität und/oder Motivation; die metakommunikative Reflexion der Kriterien der Einschätzung und der Ursachen der kritisierten Vorgänge; sowie – last not least – die Ermutigung und experimentelle Erprobung von Aktivitätsinnovationen (Schütze, 1999, S. 333).

Diese Eigenschaften bilden einen integrierten Sinnzusammenhang, der als »Ideenanreger und Resonanzboden für individuelle und kollektive Wandlungsprozesse« (Schütze, 1999, S. 333) wirkt. Das Metawissen jeder Meisterschaft, Professionalität und Wissenschaftlichkeit begründet die zwei Bewegungen sozialer Welten nach innen und nach außen: In einem kommunikativen Binnennetzwerk sozialer Welten finden fortlaufend Bekräftigungen der »eigenen Kernaktivitäten, Orientierungstheorien, Bearbeitungsverfahren und Geschichtsdarstellungen« (Schütze, 2002, S. 60) statt. Innerhalb dieser Binnenarena der sozialen Welt treten sich verschiedene Subwelten argumentativ gegenüber, wobei sich ein Kriterienkatalog »richtigen Verhaltens für die Kernaktivitäten« und mit fortschreitender Institutionalisierung ein »sozialweltimmanentes Kategoriensystem samt Reputationshierarchie« (Schütze, 2002, S. 61) herausbilden. Ein kommunikatives Außennetzwerk ist »in großen, gesamtgesellschaftlich relevanten Auseinandersetzungsarenen organisiert« (Schütze, 2002, S. 61). In diesen Außenarenen stellt sich eine Sozialwelt stilisiert dar, sie grenzt sich durch Repräsentationsmechanismen ab, sie legitimiert und verteidigt »die von ihr erworbenen Vorrechte« (Schütze, 2002, S. 61) gegenüber anderen Sozialwelten.

Eng verbunden mit der Flexibilität sozialer Welten und deren Impulsen zum Wandel sind Fragen der Techniken und Technologien: »Technology (inherited or innovative modes of carrying out the social world’s activities) is always involved. Most worlds evolve quite complex technologies« (Strauss, 1991, S. 236). Auch diese Eigenschaft lässt sich nicht losgelöst von Prozessen verstehen, in denen um Legitimität gerungen wird: »Important technological processes such as innovating, manufacturing, and distributing though they seem relatively rationalized are not free of disputes that touch on questions of legitimacy« (Strauss, 2010, S. 218). Technologische Prozesse berühren Wissens- und Kompetenzformen einer komplexen Wissenslandschaft, »die im Zuge der Entwicklung zu modernen und postmodernen Wissensgesellschaften immer spezialisierter, pluralistischer, innovativer, fluider und unübersichtlicher wird« (Schütze, 2016a, S. 76). Jede soziale Welt differenziert ihre Aktivitäten in »spezifische erkenntnisgenerierende Verfahren« (Schütze, 2016a, S. 75) und in spezialisierte »Herstellungsprozesse der Erkenntnisobjekte« (Schütze, 2016b, S. 92–94). Für die Bearbeitung von Anliegen von zentraler Relevanz und die Verfolgung zentraler gesellschaftlicher Werte entwickeln Sozialweltakteure »besondere Such- und Erkundungsstrategien und spezialisierte, voraussetzungsreiche Wissensbestände« (Schütze, 2016b, S. 92). In einem komplexen Erkundungs- und Diskursprozess müssen sie Erkenntnisobjekte erst herstellen, weil diese für die Bearbeitung spezifischer Problemlagen nicht bereits vorhanden sind (Schütze, 2016b, S. 93).

Sozialweltakteure fungieren als Repräsentanten der höhersymbolischen Sinnwelt und gestalten geeignete Arbeitsbögen durch Arbeitskomponenten wie Vertrauensaufbau, Koordinierung, Steuerung, Erkundung, Evaluation und Kritik. Sozialweltakteure sind mit »zentraler biographischer Schicksalhaftigkeit« in die »Fehleranfälligkeit und Gestaltungsgebrechlichkeit« (Schütze, 2016b, S. 93) einer sozialen Welt verstrickt. Das bedeutet, dass sie die Selbstidealisierungstendenz der produzierten Erkenntnisobjekte mit deren Fehlerpotenzialen und Zweifelsgesichtspunkten ausbalancieren müssen. Idealisierungen sind im Prozess der Verallgemeinerung und kognitiven Ordnungsherstellung notwendig, können aber auch zum Ausschluss wichtiger Fragestellungen einer sozialen Welt führen (Schütze, 2016b, S. 94). Darüber hinaus verantworten sie Grenzziehungen zu konkurrierenden Sozialwelten, wodurch wichtige Fragen unbearbeitet bleiben könnten.

Das Phänomen der Selbstidealisierung sozialer Welten ist eng verwoben mit Prozessen der Differenzierung, die zu Arbeitsteilung und Organisationsbildung führen: »In social worlds at their outset, there may be only temporary divisions of labor, but once under, organizations inevitably evolve to further one aspect or another of the worlds activities« (Strauss, 1991, S. 236). Im Zuge von Arenaauseinandersetzungen um legitimierte Kernaktivitäten kommt es zur Herausbildung von Subwelten (Strauss, 2010, S. 216). Den Ursprung von Segmentierungsprozessen beschreibt Strauss so:

The defining of different types of activities and the building of organizations for engaging in them, is often motored by a growing conviction that what ›we are doing‹ is more legitimate than that assumed or promoted by some other, more established and powerful SSW [social sub world, KL] (1984, S. 128).

Die eigenen Kernaktivitäten zu behaupten ist für Mitglieder einer Sozialwelt notwendig, um das Spezielle gegenüber anderen Sozialwelten zu erkennen (Strauss, 1984, S. 129). Da sich Strauss für Prozesse des Organisierens interessierte, lässt er dem Organisationsbegriff selbst »keine sonderlich prominente Rolle« (Strübing, 2007, S. 94–95) zukommen. Organisationen stellen für ihn Arenen dar, »in denen Akteure verschiedener sozialer Welten zur Bewältigung bestimmter Aufgaben zusammenkommen« (Strübing, 2007, S. 95). Das Augenmerk legt er »primär auf potenziell konflikthafte Verläufe« und dementsprechend versteht er Organisationen »als mehr oder eben weniger dauerhafte Lösungen vorangegangener Auseinandersetzungen« (Strübing, 2007, S. 92). Die in und zwischen sozialen Welten hervorgebrachten Institutionen und Organisationen sind in ihrer Stabilität also nicht einfach gegeben, sondern »Resultate beständen Handelns und Aushandelns zwischen Repräsentanten unterschiedlicher sozialer Welten (oder Subwelten)« (Strübing, 2007, S. 92). Nach Schütze bedarf das soziale Arrangement der sozialen Welt »eines Minimums an Organisation und spezialisierter Regelung«, wobei sich auch formalisierte Regelungen und Zulassungsbeschränkungen herausbilden können (1999, S. 334–335). Den Kern sozialer Welten sieht er aber in deren Flexibilität, die »durch überbordende Organisation erstickt werden« (Schütze, 1999, S. 335) kann.

Soziale Welten können – wie mit der Beschreibung der vier zentralen Dimensionen dargestellt – nicht ohne Arenen gedacht werden. Mit einer Definition von Strauss soll der Blick nun noch gezielter auf Arenen gerichtet werden: »The concept of arena will refer here to interaction by social worlds around issues – where actions concerning these are being debated, fought out, negotiated, manipulated, and even coerced within and among the social worlds« (2010, S. 226). Aus dieser Definition ergeben sich vier Dimensionen von Arenen: Eine Arena entsteht dann, wenn schwierige Angelegenheiten zu lösen sind und insbesondere dann, wenn Uneinigkeit über diese besteht (Strauss, 2010, S. 226). Arenen vermitteln in und zwischen sozialen Welten. Strauss geht dabei von kollektivem Handeln aus: »It can be individuals who do the acting, but for sociological purposes we want to locate them in some sort of social unit« (2010, S. 226). Schütze spricht von der Arenafiguration als einem sozial-kommunikativem Arrangement »kollektiver Diskurse über die angemessene Ausrichtung der Sozialweltaktivitäten und über die Kriterien ihrer kritisch-evaluativen Beurteilung« (2016a, S. 76). Als Beispiele benennt er die Wissenschafts- und Professionsfelder mit ihren Disziplinen und Subdisziplinen und eigenen Fachdiskurs-Arenen mittels Zeitschriften, Tagungen, Fach- und Standesorganisationen, die »Praxisfelder aller Arten von Kunst mit ihren sozialen Arrangements des Verlags-, Ausstellungs-, Kritik-, Messe- und Kunstmarktwesens« (Schütze, 2016a, S. 76) sowie soziale Bewegungen, die bisher unbeachtete Probleme in die öffentliche Aufmerksamkeit rücken. Strübing vergleicht soziale Welten und Subwelten mit »Blasen in einem brodelnden Suppentopf«, die im Modus des Diskurses sich »immer wieder neu formieren und vergehen« (2007, S. 92). Probleme kleinerer Arenen können oftmals gelöst und Meinungsverschiedenheiten durch dauerhafte Regelungen in Schach gehalten werden (Strauss, 2010, S. 227). Arenen, die Probleme definitiv bewältigen, lösen sich auf (Strübing, 2007, S. 93). In größeren Arenen ist dies nicht so: »In policy arenas, the issues seem to persist or are succeeded by generations of new ones, and sometimes to the participants seem almost to have a life of their own because they produce so many related issues« (Strauss, 2010, S. 227). Strübing problematisiert die Arena-Metapher, da sie die Vorstellung nahelegt, es handle sich um »tatsächlich existierende Orte von erheblicher Dauer« (2007, S. 93), in die man ein- oder austreten könne. Der prozessuale Charakter von Arenen betont aber, dass diese sich durch und um offene Fragen und die Aktivitäten herum konstituieren. Wie die sozialen Welten stellen auch Arenen ein skalierbares Konzept dar, das sich für die Untersuchung kollektiver Phänomene sowohl der Mikroebene (z. B. Hauskauf) als auch der Makroebene (z. B. Gentechnik-Debatte) eignet (Strübing, 2007, S. 93).

Leidenschaftliche Auseinandersetzungen in Arenen entfachen sich um Werte, Status, Loyalität oder Selbstverpflichtung (Strauss, 2010, S. 226). Generell betreffen die Meinungsverschiedenheiten die Richtung und die strategischen Schritte des Handelns. Fragen und Debatten können innerhalb oder außerhalb der Sozialwelten entstehen (Strauss, 2010, S. 227). Somit bringen Problembestände Subwelten sowie soziale Welten zwangsläufig in Kontakt und Beziehung zueinander (Strauss, 2010, S. 215). Binnenarenen lenken den Blick auf Auseinandersetzungen »um die Authentizität und Legitimität der Sozialwelt-Aktivitäten« sowie auf deren »produktiv-innovative zukünftige Ausrichtung« (Schütze, 2016b, S. 90). Die Einbettung sozialer Welten in Außenarenen verweist auf den Beitrag zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen (Schütze, 2016b, S. 95). Grenzüberschreitende Arenadiskurse zwischen unterschiedlichen Sozialwelten führen zu

Fragen der Legitimität der jeweiligen sozialwelt-spezifischen Betrachtungsweisen, der notwendigen Grenzziehungen oder auch Grenzüberschreitungen zwischen den beteiligten wissenschaftlichen und professionellen Sozialwelten sowie der Erkenntnischancen solcher einseitig oder auch wechselseitig grenzüberschreitenden Diskurse zwischen unterschiedlichen Sozialwelten (Schütze, 2016b, S. 95).

Grenzobjekte (Star & Griesemer, 1989) markieren einen gemeinsamen Referenzpunkt für grenzüberschreitende Fragen. Es handelt sich dabei um Gegenstände, Ideen, Pläne und Konzepte innerhalb einer Arena, die »für die darin vertretenen Repräsentanten verschiedener sozialer Welten von zentralem Interesse sind« (Strübing, 1997, S. 374). Sie dienen dazu, zwischen verschiedenen sozialen Welten zu vermitteln: »Here the basic social process is that the object is ›translated‹ to address the multiple needs or demands placed upon it by the different social worlds that ›meet‹ around the boundary object« (Clarke, 1991, S. 134). Grenzobjekte ermöglichen somit, dass Grenzen zwischen sozialen Welten einerseits aufrechterhalten bleiben und andererseits überschritten werden können. Mit dem Konzept der Grenzobjekte wird erklärbar, »wie die Akteure trotz ihrer Heterogenität zu gemeinsamer Zielfindung und Zielerreichung fähig sind, ohne dass es zwingend eines Zielkonsenses zwischen den Akteuren oder einer konzertierenden, die divergierenden Teile zusammenhaltenden Person bedarf« (Strübing, 1997, S. 375).

Soziale Welten und Subwelten handeln normalerweise durch Organisationen mit anderen sozialen Welten und Subwelten (Strauss, 2010, S. 227). Dies geschieht durch Beziehungen in einer gegebenen Organisation oder zwischen Organisationen. Dadurch entstehen Probleme der Repräsentation: Einerseits repräsentieren Organisationen ihre soziale Welt in äußeren Arenen und kämpfen dort um Einfluss (Strauss, 2010, S. 228). Andererseits setzen sich Organisationen aus Mitgliedern verschiedener sozialer Welten oder Subwelten wie beruflichen Vereinigungen zusammen. Es stellen sich also Fragen der Repräsentation und Repräsentativität: Wen repräsentiert eine komplexe, multiweltliche Organisation? Wie kann die Repräsentativität von wem beurteilt werden? Strauss beantwortet diese Frage mit Blick auf Arenen der Politik und Wissenschaft so:

In arenas there are no neutral parties, no neutral government, no neutral scientists. However strictly objective they may believe themselves, they are embroiled in what is generally called the ›politics’‹ of the arena, and are unlikely to be able to stay out of controversy (2010, S. 228).

Darüber hinaus betont er Repräsentation als grundlegenden Arenaprozess, der in seinen Bedingungen, Strategien und Konsequenzen umfassend zu untersuchen sei:

We would want to know under what conditions they are operative, including which specific broader conditions are relevant to the given process, as well as the actual interaction that takes place, and the specific tactics of the interactants along with some major consequences of the planned and unplanned interaction (Strauss, 2010, S. 228).

An einer Arena beteiligen sich charakteristischerweise eine breite Anzahl verschiedener sozialer Welten und deren Organisationen, die sie repräsentieren (Strauss, 2010, S. 227). Individuen oder Organisationen einer sozialen Welt müssen sich bei einer neu entstehenden Arena entscheiden, ob sie dieser beitreten oder, wenn sie schon an ihr beteiligt sind, daraus austreten. Sie sind nicht in alle Probleme einer weiteren Arena involviert, sondern nur in jene, die ihre eigenen Interessen betreffen. Es können sich auch nur jene Segmente einer sozialen Welt an einer Arena beteiligen, deren Interessen berührt sind: »This means that subworlds are involved in broader arenas where other participants not only represent other subworlds but also sometimes the overall social worlds themselves« (Strauss, 2010, S. 227).

1.2 Prozessdimension

Kollektive Handlungsfähigkeit konzeptioniert die Educational-Governance-Perspektive als intendiertes Interdependenzmanagement mit zumeist transintentionalen Folgen. Konstellationen basaler und komplexer Formen der Handlungskoordination bilden die kleinsten Analyse-Einheiten und zugleich »zu hoch aggregierte Idealtypen, als dass sie zu mehr taugten, als zu einem ersten Einstieg in die Analyse« (Altrichter, Brüsemeister & Wissinger, 2007, S. 73). Die Prozessdimension kann mithilfe von Governance-Equalizern abgebildet werden, deren Regelungsbereiche – größere Zeiträume vergleichend – unterschiedliche Governance-Regime zutage fördern. Die Soziale-Welt-Perspektive teilt das Verständnis von handelnden Akteuren als Konstellation. Strauss begreift soziale Welten als Formen kollektiven Handelns (2010, S. 223). In Bezug auf eine verstetigte Handlungsabstimmung unterscheiden sich die Perspektiven. Während die akteurtheoretische Differenzierungstheorie auf den Einfluss formaler Organisationen fokussiert (Schimank, 2016, S. 330), interessiert sich die Soziale-Welt-Perspektive mehr für Prozesse des Organisierens. Konzepte zu Prozessen in Sozialen Welten und Arenen sind aus der Forschung der Krankenhausorganisation hervorgegangen. Durch ihren hohen, bereichsübergreifenden Abstraktionsgrad eignen sie sich aber gerade auch für die Analyse von Akteurkonstellationen in den Zwischenräumen von Organisationen. Clarke greift das interaktionistische Verständnis mit ihrem Modell sozialer Welten und Arenen auf und konzeptioniert Arenen als Aushandlungen quer zu formalen Organisationen (1991, S. 123). Legt die akteurtheoretische Differenzierungstheorie den Blick auf das Abarbeiten an ausdifferenzierten Strukturen nahe, sensibilisiert die Soziale-Welt-Perspektive für das prozessuale Ordnen und das Ausdifferenzieren von Strukturen. Beide Verständnisse sind für den Zuschnitt der Prozessdimension wichtig.

1.2.1 Handlungskoordination

Die Educational-Governance-Perspektive fragt danach, wie Akteure aus Staat, Markt und Zivilgesellschaft bestehende Abhängigkeiten bearbeiten (Brüsemeister & Kussau, 2007, S. 29). Akteurkonstellationen sind in ein Zusammenspiel mehrerer Governance-Mechanismen eingebettet (Lange & Schimank, 2004, S. 23). Wiesenthal hat die Leistungscharakteristika, Defizite und Funktionsrisiken der drei zentralen Koordinationsmechanismen Markt, Organisation und Gemeinschaft herausgearbeitet. Er entwickelt ein ›Reglermodell‹, mit dem sich empirische Phänomene als Kombination der drei elementaren Koordinationsmechanismen abbilden lassen. Zu jedem Mechanismus kann ein Schieberegler zwischen zwei definierten Extremwerten platziert werden (Wiesenthal, 2000, S. 63). Neben diese statische Darstellung kombinierter Koordinationsweisen treten Überlegungen zu einer dynamischen Betrachtung kollektiven Handelns (Wiesenthal, 2000, S. 66). Ein dauerhafter Interaktionszusammenhang stärke zum Beispiel Elemente »gemeinschaftlicher Koordination zu Lasten der übrigen Mechanismen« (Wiesenthal, 2000, S. 67). Auch begünstigten kontinuierliche Interaktionen »pathologisches Lernen« (Wiesenthal, 2000, S. 67). Damit sind Eigendynamiken des Prozesses gemeint, die dysfunktionale Faktoren reproduzieren oder verstärken (Wiesenthal, 2000, S. 67). Mit Blick auf designbasierte Reformen sei von einer »Abwesenheit einer Universalstrategie der Leistungssteigerung« (Wiesenthal, 2000, S. 67) auszugehen. Die Stärkung des Leistungsvermögens hänge »ausschließlich von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab« und Defiziten sei nicht »durch Erhöhung des ›Reinheitsgrades‹ beizukommen« (Wiesenthal, 2000, S. 68).

Auch die Educational-Governance-Forschung arbeitet mit dem Konzept des Governance-Regimes, womit »Mischformen der Handlungskoordination in einem Gesamtzusammenhang« (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 41) gemeint sind. Trends von Governance-Regimen untersucht die Forschung mit so genannten Governance-Reglern. Für die vergleichende Analyse der Transformation nationaler Hochschulsysteme entwickelt Schimank ein Modell: Jede der fünf Dimensionen »staatliche Regulierung«, »staatliche Steuerung«, »akademische Selbstorganisation«, »Konkurrenzdruck« und »hierarchische Selbststeuerung« versteht er als Schieberegler, der »graduell herauf- und heruntergefahren« (Schimank, 2007, S. 239) werden kann. Das Gesamt der Dimensionen bildet den Governance-Equalizer, mit dem sich das Kräftefeld der Konstellation vergleichend im Wandel der Zeit darstellen lässt (Schimank, 2007, S. 234). Für den kontrastiven Vergleich von Reformen im Bereich der Schulinspektion, Lernen vor Ort und Bildung für nachhaltige Entwicklung entwickelt Brüsemeister einen Governance-Equalizer. Er leitet die Regler-Dimensionen nicht theoretisch ab, sondern gewinnt sie im Zuge der empirischen Rekonstruktionsarbeit. Methodisch greift er auf die Grounded-Theory-Methodologie zurück. Die Regelungsbereiche liest er als Arenen, die den strukturellen Kontext für Aushandlungsprozesse zwischen Akteuren bilden (Brüsemeister, 2016b, S. 283–284). In den untersuchten Reformprojekten bringen die Befragten sehr unterschiedliche Arenen ins Spiel. Brüsemeister sieht »Verschiebungen von Machtbalancen« (2016a, S. 291) am Werk, da die Arenen in den Bildungsprogrammen unterschiedlich intensiv bearbeitet werden. Akteure bespielen die Dimensionen der Politik, der Profession, der Organisation, des Wissens und der Repräsentation in unterschiedlichen Intensitäten. Das analytische Potenzial des Governance-Equalizers sieht Brüsemeister darin, »ganz unterschiedliche empirische Vergleiche von a) ganzen Governance-Regimen zu verschiedenen historischen Zeiten, b) einzelnen Reformvorhaben, und c) einzelnen mikrosozialen Prozessen innerhalb einzelner Reformen« (2016a, S. 282) vornehmen zu können.

1.2.2 Prozesse in sozialen Welten und Arenen

Mit »segmentation, intersection, and legitimation or the issue of authenticity« unterscheidet Strauss drei Veränderungsprozesse, die soziale Welten in Bewegung halten (2010, S. 215): Soziale Welten sind das Ergebnis und Prozesse der Differenzierung. Diese finden als diskursive Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den richtigen Weg bei der Bearbeitung von Problemen sowohl in Gestalt eines Binnen- als auch Außenkommunikationsnetzwerks statt (Schütze, 2002, S. 61). Schütze betont das kreative Moment konflikthafter Auseinandersetzungen, die als »Motor für die ›Zellteilung‹ in der Evolution kultureller Leistungen« (2002, S. 70) wirken. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Kooperationsbereitschaft nicht notwendige Voraussetzung von Abstimmungsprozessen ist, sondern das Ergebnis von Interaktion sein kann (Strübing, 2007, S. 114). Die normative Forderung nach Kooperationsbereitschaft als Gelingensbedingung für die Prozessgestaltung im Rahmen von Programmen muss vor diesem Hintergrund zugunsten einer konfliktsensiblen Perspektive relativiert werden oder, um Strauss das letzte Wort zu geben: »The discovery and study of such subprocesses and of their relationships, including conflictful an ›power‹ relationship, are essential parts of research into social worlds« (1991, S. 237).

Dass Kommunikation und Kooperation im Konzept sozialer Welten und Arenen nicht präskriptiv als ›positiv‹ oder ›wünschenswert‹ gefasst werden, wie es die Begriffe im Alltagsverständnis oder im Kontext von Programmen nahelegen könnten, zeigt sich auch bei der Bestimmung von Überschneidungs- und Überlappungsprozessen. Strauss versteht darunter folgendes: »By intersecting processes I refer to such easily discernable sets of events as invading, defending, allying, cooperation, competing, borrowing, migration from and into, fusing« (1984, S. 137). Ereignisse des Zusammenschließens und Verschmelzens gehen mit solchen des Wetteiferns und Verteidigens einher. Prozesse der Segmentierung sind demnach unweigerlich mit Prozessen der Überschneidung von Sozialwelten verknüpft: »each is the mirror image of the other« (Strauss, 1984, S. 137). Aus Segmentierungen gehen Überlappungen hervor und umgekehrt: »In short, no segmentation without intersection, an vice versa« (Strauss, 1984, S. 138). Strauss verweist an dieser Stelle darauf, dass diese Prozesse mit echter Arbeit von Sozialweltakteuren verbunden sind. Für eine Soziologie der Arbeit und Berufe hält er die Erforschung der scheinbar dahinschwindenden grenzenlosen Sozialwelten und Subwelten für nicht weniger wichtig als die der offensichtlichen strukturellen Eigenschaften (Strauss, 1984, S. 138). Überschneidungs- und Überlappungsprozesse sind nach Schütze ursächlich für interdisziplinäre Sichtweisen. Aus der Amalgamierung unterschiedlicher Traditionen gehen »Explosionen kultureller Innovation« (Schütze, 2002, S. 70) hervor.

Mit Segmentierungs- und Überlappungsprozessen gehen Authentisierungs- und Legitimationsprozesse einher. Mitglieder einer Subwelt wollen mit ihrer Form der Differenzierung anerkannt werden und beanspruchen eigene Werte. Das Ringen um einen besonderen Status zielt darauf, mehr Ressourcen (Raum, Geld, Ausrüstung, Zugang zu Medien und Klienten) und Legitimität zu generieren (Strauss, 1982, S. 174–175). Subgruppen bilden sich durch Prozesse der Distanzierung heraus, die graduellen Charakter haben. Besonderheiten können durch spezialisierte Interessen und Aktivitäten geltend gemacht, radikal behauptet oder durch die Entwicklung von etwas Neuartigem präsentiert werden. Alle Subgruppen beziehen sich auf ihre angestammte Sozialwelt und profilieren sich, indem sie sich abwenden und neuen Gemeinsamkeiten zuwenden (Strauss, 1982, S. 175–176). Jede Subwelt legitimiert sich gegenüber anderen Sozialwelten durch eigene »ideologische Waffen«, (Strauss, 1982, S. 177). Mit der Herausbildung von Subwelten entwickeln sich Standards über die Art und Weise, wie Verfahren auszuführen und zu beurteilen sind. Dies geschieht zunächst implizit, später formen sich Konsense über »best ways to carry out activities« (Strauss, 1982, S. 181) aus. Standards in Bezug auf Fragen der Authentizität und Legitimation markieren die Grenzen sozialer Welten, die sich durch die Dynamik der Prozesse kaum je klar umreißen lassen. Eine Verschiebung von Grenzen tritt dann ein, wenn es gelingt, gewohnte Praktiken abzulegen. Neue Grenzen etablieren sich eher, wenn ein legitimiertes, vorzugsweise führendes Mitglied die bestehenden Standards herausfordert und neu definiert, so dass diese für andere Teilnehmende der Sozialwelt Sinn machen und übernommen werden können (Strauss, 1982, S. 185–189).

1.3 Handlungsdimension

Die Educational-Governance-Perspektive interessiert sich für die Handlungsorientierung von Akteuren. Sie betrachtet das Interaktionsgefüge von Steuerakteuren und geht davon aus, »dass Steuerung nie nur unidirektional« (Brüsemeister, 2020, S. 5) zu denken ist. Auch das Konzept des Trajectory versteht gesellschaftliche Organisation als Kooperationsgefüge. Soeffner beschreibt es als Zusammenspiel unterschiedlicher sozialer Welten und Arenen, die ein »›koordiniertes‹ Handlungsgefüge mit ›übergeordneten‹ Durchgliederungsprinzipien« (1991, S. 11) bilden. Handelnde bringen in der sozialen Zeit eine »Ordnung der koordinierten Handlungsverläufe« (Soeffner, 1991, S. 12) hervor. Diese Sequential Order entsteht durch sinnhaftes Handeln und durch Arbeiten, als »tätige Ausgestaltung von Handlungsräumen, Handlungszeiten: Lebenszeiten« (Soeffner, 1991, S. 12). Während also soziale Welten und Arenen den Schwerpunkt auf die Handlungsräume legen, betont das Trajectory den Prozess des Handelns. Beide Konzepte beschreiben den Zusammenhang von Raum und Zeit. Social Worlds als »relativ dauerhafte, durch relativ stabile Routinen ›arbeitsteilig‹ abgesicherte, das heißt: ›institutionalisierte‹ Wahrnehmungs- und Handlungsräume« entstehen durch das dauerhafte »Bemühen mehrerer Menschen, ihre jeweiligen Perspektiven zu koordinieren und gemeinschaftlich zu handeln« (Soeffner, 1991, S. 6). Analytische Bausteine des Arbeitsbogenkonzepts sind Phasen, Arbeitstypen, Bündel von Arbeitsaufgaben und deren Artikulation. Artikulationsarbeit als Supra Type umfasst das Verzahnen (›Meshing‹) der Arbeit zahlreicher Akteure (Strauss, 1985, S. 8).

1.3.1 Akteure und Akteurkonstellationen

Die Soziologie geht von der »Fiktion überindividueller Handlungsfähigkeit« (Schimank, 2016, S. 327) aus. Obwohl nur individuelle Akteure handeln können, kommt die Konstellation individueller Akteure als Handlungseinheit in den Blick (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 26). Überindividuelle Akteure sind ›organisierte‹ Akteure, die als kollektive und korporative Akteure kategorisiert werden. Kollektive Akteure kommen ohne bindende Vereinbarungen aus, während sich korporative Akteure »mittels bindender Vereinbarungen intentional« (Schimank, 2016, S. 329) produzieren und reproduzieren. Als »Muster der sozialen Ordnungsbildung« (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 27) beeinflussen Akteurkonstellationen das Handeln der Akteure. Handelnde Akteure bauen diese Muster aber auch auf, erhalten oder verändern sie (Schimank, 2016, S. 204).

Mit der Unterscheidung von Handlungsorientierungen, Teilsystembezügen und Kommunikationsarten orientiert sich die Educational-Governance-Perspektive an Kategorien der akteurtheoretischen Differenzierungstheorie. Akteure kennzeichnen sich durch eine spezielle Haltung »zu sich und zur Welt« (Brüsemeister, 2020, S. 4). Brüsemeister erfasst die Handlungsorientierung von Akteuren des Mehrebenensystems der Organisation Schule analytisch, indem er sich an den zugehörigen Teilsystemen eines Akteurs orientiert. Teilsystemische Leitwerte prägen spezifische Sinnlogiken, denen Handelnde im Bildungssystem verpflichtet sind (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 33). Kommunikationsarten finden demzufolge innerhalb der Administration, Organisation, Profession, Gesellschaft oder Interaktion statt (Brüsemeister, 2007b, S. 70). Altrichter und Heinrich weisen auf mögliche Analysedefizite hin, die sich aus der »Bevorzugung von Phänomenen kollektiver Regelung gegenüber dem Handeln einzelner Akteure« (2007, S. 58) ergeben. Der Blick auf umfassende soziale Akteure könne nahelegen, die kognitive Dimension mit den Problemwahrnehmungen, Weltdeutungen und Deutungsmustern zu vernachlässigen und komplexe und widersprüchliche Prozesse auf eine übergreifende Funktion zu reduzieren (Altrichter & Heinrich, 2007, S. 58). Mittlerweile besteht ein erweitertes Set an Handlungsorientierungen im schulischen Mehrebenensystem, in dem auch der neue Akteur Kommunales Bildungsmanagement mit der Handlungsorientierung am Lernen im Lebenslauf untergebracht ist (Brüsemeister, 2020, S. 2).

1.3.2 Arbeitsbogen und Verlaufskurve

Strauss sieht im Konzept des Trajectory das zentrale Konzept der interaktionistischen Handlungstheorie (2010, S. 53). Ähnlich wie die Governance-Perspektive geht es von Prozessen aus, an denen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind. Es beinhaltet »the interaction of multiple actors and contingencies that may be unanticipated and not entirely manageable« (Strauss, 2010, S. 53). Ein Trajectory hat zwei Bedeutungen: Es kann sich dabei erstens um einen Projekt-Arbeitsbogen und zweitens um einen Verlaufskurven-ArbeitsbogenFootnote 6 handeln (Seltrecht, 2016, S. 63). Der erste Handlungsverlauf kennzeichnet sich durch planbare Projekte, die umsichtig ausgearbeitet werden. Der zweite Handlungsverlauf geht mit einem Satz an Problemen einher, »that are so unanticipated, difficult, and in extreme cases so ›fateful‹ that control of the course of action is threatened and even rendered virtually impossible« (Strauss, 2010, S. 53). Die Koordination der Arbeit in einem Trajectory ist komplex und schwierig, weil jeder Handlungsschritt unerwartete Konsequenzen nach sich zieht, die sich zu Komplikationen aufaddieren. Die Bearbeitung dieser Cumulative Mess als Unordnung der Beziehungen rund um die beteiligten Akteure ist zentral in Strauss‘ Forschung.

In Bezug auf das Verlaufskurvenmanagement hält Strauss fest, dass kein einziger Akteur die gesamte Richtung bestimme: »In trajectory management, there is no deus ex machina. The interactants are all attempting to shape the course or some part of it with respect to constraints within which each is acting« (2010, S. 56). Dieses Verständnis bedeutet allerdings nicht, dass alle Beteiligten gleich viel Macht und Einfluss haben beim Versuch der Verlaufskurvengestaltung. Soeffner stellt einen Zusammenhang mit dem Konzept der sozialen Welten her, das einige Akteure eher im Zentrum und andere eher an der Peripherie eines zentralen Ereignisses verortet (1991, S. 10). Das Trajectory stellt die gesellschaftliche Organisation des Kooperationsgefüges dar. Es analytisch zu fassen, bedeutet, »das Zusammenspiel unterschiedlicher sozialer Welten, hier auch unterschiedlicher Arenen, als ›koordiniertes‹ Handlungsgefüge mit ›übergeordneten‹ Durchgliederungsprinzipien zu beschreiben« (Soeffner, 1991, S. 11). Diese Sequential Order ist als »die von den Handelnden in der sozialen Zeit hervorgebrachte Ordnung der koordinierten Handlungsverläufe« (Soeffner, 1991, S. 12) zu verstehen.

Nach Strübing bilden Arbeitsbogen und Verlaufskurve zwei Seiten einer Medaille ab (2007, S. 123). Erleiden stellt lediglich eine extreme Ausprägung der Erlebensdimension dar. Verlaufskurvenförmig könne auch »eine Glückssträhne beim Pokern« (Strübing, 2007, S. 120) sein. Gemeinsam sei beiden Ausprägungen die Wahrnehmung eines mit »eigener Handlungsfähigkeit« ausgestatteten Phänomens (Strübing, 2007, S. 120). Genau gegenteilig stellt sich für Handelnde die Situation in Arbeitsbögen dar: »Arbeitsbögen haben die Funktion, das Undurchsichtige der menschlichen Existenz mit dem Prinzip der Handlungsorientierung zu versöhnen und Gestaltungsmöglichkeiten für die letztlich stets nur schwer kontrollierbaren Existenzsituationen zu schaffen« (Schütze, 1999, S. 340). Projekt-Arbeitsbögen haben einen emergenten Charakter. Sie basieren »auf Situationsdefinitionen und Aushandlungen der Arbeitsteilung« und erfordern ein fortwährendes Anpassen an die »Welt- und Situationsveränderungen« (Schütze, 1999, S. 340). Dabei können sie durch fehlende Analyse-, Bewertungs- und Reflexionsprozesse »einen illusionären Charakter« annehmen oder »durch Verlust der Gesamtsteuerung« ihren Gesamtarbeitsbogen-Charakter verlieren (Schütze, 1999, S. 341). Ein empirisches Phänomen kann aus analytischer Sicht entweder als Arbeitsbogen oder als Verlaufskurve in den Blick genommen werden: »Prozesse, die wir aus der Perspektive z. B. der beteiligten Professionellen als Arbeitsbogen beschreiben und so ihre Herstellung transparent machen können, mögen anderen Akteuren als unentrinnbare und dinghaft wirkende Prozesseinheiten entgegentreten, die zu kontrollieren ihnen nicht gelingt und gelingen kann« (Strübing, 2007, S. 123). Für die sequenzielle Rekonstruktion von Projekt- beziehungsweise Verlaufskurvenarbeitsbögen gibt es eine Reihe von Subkonzepten, die ich nun vorstelle.

Ein Projekt- oder Verlaufskurvenarbeitsbogen besteht aus der Gesamtheit an Aufgaben, die gleichzeitig oder in sequenzieller Abfolge ausgeführt werden und die Richtung eines Verlaufs bestimmen (Strauss, 2010, S. 4). In diese Gesamtheit gehen mit der Erfahrung als gegenwärtige Vergangenheit, dem Erleben und Wahrnehmen als Vergewisserung der Gegenwart sowie mit der Planung und Erwartung als gegenwärtige Zukunft drei unterschiedliche Zeitlichkeiten ein, die dem Arbeitsbogen eine grundlegende Kontingenz verleihen: »but almost inevitably there are unexpected contingencies which alter the tasks, the clusters of tasks, und much of the overall task organization« (Strauss, 2010, S. 4). Daher kann ein Arbeitsbogen nicht in all seinen Details gewusst werden, sondern in seiner Gesamtheit erst in der Rückschau erfasst werden (Strauss, 2010, S. 4).

Das Arbeitsbogenkonzept beinhaltet Phasen, Arbeitstypen, Bündel von Arbeitsaufgaben und deren Artikulation (Strauss, 1985, S. 4). Eine Systematisierung dieser Konzepte findet sich bei Feindt und Broszio: Arbeitsaufgaben stellen die kleinste analytische Einheit dar, unter der »die Verrichtung einzelner, in sich geschlossener und beobachtbarer Arbeitsvorgänge wie z. B. das Anfertigen eines Sitzungsprotokolls zu verstehen« (2008, Abschnitt 18) ist. Arbeitsaufgaben konstituieren Aufgabenkomplexe, die mehrere Arbeitsschritte integrieren. Als Beispiel führen die Autoren die Nachbearbeitung einer Sitzung auf, die aus mehreren Tasks wie das Anfertigen des Protokolls, aber auch z. B. das Aufräumen des Sitzungszimmers gehören. Während Aufgabenkomplexe einzelne Arbeitsaufgaben in einer sequenziellen Abfolge ordnen, bilden Arbeitsaufgaben, »die einen gemeinsam geteilten arbeitslogischen Nenner aufweisen« (Feindt & Broszio, 2008, Abschnitt 19) so genannte Arbeitstypen, die an mehreren Stellen im Projektverlauf auftreten. Diese Arbeitstypen fassen sie zu Komponenten zusammen, die einen Arbeitsbogen bilden. Sie orientieren sich dabei an Schütze (1999), der Aktivitäten mit vier Komponenten systematisiert. Die Einrichtungskomponente fasst Arbeitstypen zusammen, »welche die Einrichtung und Aufrechterhaltung des Arbeitsprozesses betreffen« (Feindt & Broszio, 2008, Abschnitt 20). Arbeiten der Planung, Information, Artikulation oder Delegation dienen der Organisation des Arbeitsbogens und betreffen »die Steuerung der Abfolge und die Zuteilung der einzelnen Arbeitsaktivitäten« (Schütze, 1999, S. 340). Die Sozialkomponente fasst Arbeitstypen zusammen, »die das soziale Miteinander im Arbeitsprozess strukturieren und unterstützen« (Feindt & Broszio, 2008, Abschnitt 20). Sie beinhaltet »die Vertrauens- und Kontraktarbeit und die Aushandlung der Arbeitsverteilung« (Schütze, 1999, S. 340). Die Inhaltskomponente fasst Arbeitstypen zusammen, die sich auf »den inhaltlichen Kern, das Thema des Arbeitsbogens« beziehen und damit auf »Definitions-, Interpretations-, Entwicklungs- und Vollzugsarbeiten« (Feindt & Broszio, 2008, Abschnitt 20). Die Evaluationskomponente richtet die Aufmerksamkeit auf die Qualität des Arbeitsbogens.

Analyse-, Bewertungs- und Reflexionsprozesse entscheiden darüber, ob die Handlungsstruktur »immer wieder an die tatsächlichen Projekt-, bzw. Verlaufskurvenzustände angepasst werden« (Schütze, 1999, S. 341) oder ob es zu einem Verlust der Gesamtsteuerung mit einer Cumulative Mess kommt. Zur Evaluationskomponente zählen die Supervions-, Feedback-, Bewertungs- und Fehlersucharbeit (Feindt & Broszio, 2008, Abschnitt 20).

1.3.3 Artikulationsarbeit in Projekten

Artikulationsarbeit wird in der Systematisierung Schützes beziehungsweise von Feindt und Broszio der Einrichtungskomponente neben drei weiteren Komponenten zugewiesen. An anderer Stelle kennzeichnet Schütze Artikulationsarbeit als Metaverrichtungen, die einen Arbeitsablauf sequenziell geordnet und häufig in komplizierten Rück- und Vorläufen ›auf Linie‹ bringen (1987, S. 541). Die mit Artikulationsarbeit verbundene Informations- und Fehlerarbeit bezeichnet er als »dasjenige Prinzip des Arbeitsbogens, das immer wieder auf das unerwartet Widerständige und Emergente in interaktiven Handlungsvollzügen […] reagiert und dieses durch Neukalibrierung der je künftigen Arbeitsschritte flexibel bearbeitet« (Schütze, 1987, S. 542). Artikulation kann somit auch als übergreifendes Konzept verstanden werden, welches die vier Komponenten umfasst.

Die Artikulation von Arbeit ist ein konstitutives Element des Artikulationsprozesses (Strauss, 1988, S. 174). Ein Artikulationsprozess setzt sich aus sieben Komponenten zusammen: Arbeitsprozesse bedürfen angemessener Ressourcen. Die Arbeitsteilung erfordert den Abgleich von Aufgaben mit den Motivationen der Arbeitskräfte sowie die Überwachung delegierter Aufgaben (1). Arbeitstypen können als Aufgabenkomplexe und als Arbeitsbogenkomponenten gebündelt werden. Aufgabenkomplexe bündeln Arbeitstypen, die sich aus sequenziell geordneten Arbeitsaufgaben zusammensetzen. Komponenten bündeln sich aus Arbeitstypen, die an mehreren Stellen im Projekt- oder Verlaufskurvenarbeitsbogen auftreten. Ein Arbeitsbogen setzt sich aus einer Inhalts-, Einrichtungs-, Sozial- und einer Evaluationskomponente zusammen (2). Interaktionale Prozesse beinhalten das Aushandeln, Überzeugen, Unterrichten, Manipulieren oder Erzwingen (3). Alle diese Elemente entstehen auf jeder Organisationsstufe (4). Sie bedürfen der interaktionalen Linienführung (5). Artikulationsprozesse variieren in Bezug auf mehr oder weniger Routine und Komplexität (6). Unwägbarkeiten beeinflussen die Funktionsfähigkeit und Artikulation von Routinen (7) (Strauss, 1988, S. 175).

Auch wenn Arbeitsbogen und Arbeitslinien als Konzepte unterschieden werden, findet sich bei Strauss lediglich der Hinweis, dass Arbeitsteilung in Bezug auf Arbeitslinien in verschiedenen Organisationen erforscht werden sollte (1985, S. 16). Arbeitslinien fasst er als Bündel von Projekten, die es zu artikulieren gelte, ohne diese analytisch mit Arbeitsbögen in ein Verhältnis zu setzen (Strauss, 1985, S. 14). Strübing begreift Arbeitsbögen als Arbeitsvorgänge, die zur Bewältigung eines Arbeitsvorhabens geleistet werden. Arbeitslinien sind zu Routinen verstetigte Arbeitsbögen (Strübing, 2007, S. 111). Seltrecht bezeichnet Arbeitslinien als generalisiertes und abstraktes Aufgabenspektrum eines Berufs, während Projekt- oder Verlaufskurvenarbeitsbögen von mehreren Berufsgruppen konkret bearbeitet werden (2016, S. 64).

1.4 (Re-)Konstruktion von Arenen

Die Konzepte der Sozialwelt-Theorie ziehe ich für die Entwicklung der Arenen heran. Sie stehen für die Strukturkategorie einer Heuristik zur Befragung des Datenmaterials. Auf das Verhältnis des theoretischen Vorwissens zum Datenmaterial sowie auf die Prozess- und Handlungskategorie gehe ich weiter unten bei der Darstellung des Forschungsprozesses ein.

1.4.1 Wandel und Beständigkeit

Strauss verortet das Handeln in Arenen und bezeichnet diese als zentral für die Beständigkeit und den Wandel jeder sozialen Welt (2010, S. 231). Soziale Welten können »recht dauerhafte empirische Phänomene sein« (Strübing, 2007, S. 92), nie sind sie jedoch statisch. Wandel und Stabilität sind keine exakt zu bestimmenden Größen, sondern eine Frage unterschiedlicher Perspektiven: »Whether events and institutions seem relatively unchanging or rapidly changing is surely a matter of differential perspectives that affect perceptions of particular actors at particular times and places and in particular situations« (Strauss, 2010, S. 259). Soziologisch zu untersuchen ist demnach nicht die Art und das Ausmaß sozialen Wandels, sondern »wie soziale Welten, Institutionen oder Organisationen Fragen nach Stabilität und Wandel in ihrer jeweiligen Umwelt stellen, beantworten und aktiv darin verwickelt sind« (Strübing, 2007, S. 70). Auch für diesen Fragenkomplex finden sich bei Schütze Hinweise. Wissenslandschaften sind aus seiner Sicht im Zuge des raschen gesellschaftlichen Wandels »außerordentlich kompliziert geworden« (Schütze, 2002, S. 59). Da die Sinnstiftung einer sozialen Welt »stets auf ein spezifisches Problem- und Aktivitätsfeld beschränkt« (Schütze, 2002, S. 73) ist, haben Menschen Anteil an verschiedenen sozialen Welten.

Ebenso sind sie »in ihrer existenziellen Aufmerksamkeitsleistung« (Schütze, 2002, S. 73) temporär eingebunden. Dadurch sind soziale Welten äußerst flexible Gebilde und vorzüglich geeignet, »die Veränderungspotenziale einer Gesellschaft in den Blick zu nehmen und in Arenadiskursen immer wieder zu formulieren« (Schütze, 2002, S. 67). Durch soziale Welten wird soziales Handeln einerseits flexibler und kooperationsfähiger, »in sich wandelbarer und zugleich innovationsstiftender für das soziale Umfeld« (Schütze, 2002, S. 78). Andererseits setzt der »Stückwerkcharter der sozialen Welten« auch völlig neue Chaosmomente, die einzelne, Gruppen und Organisationen »vor ganz neue soziokulturelle Strukturierungsaufgaben« (Schütze, 2002, S. 78) stellt. Nach interaktionistischer Auffassung wird auch Stabilität durch Handlungen und Interaktionen geformt: »Some phenomena do not change for long time, but then we need to know how interactions of concerned actors have contributed to that stability« (Strauss, 2010, S. 54).

1.4.2 Engagement und Nebenengagement

Mitglieder einer sozialen Welt entwickeln ein »hinreichendes Maß an Selbstverpflichtung und Engagement gegenüber den als zentral erachteten Aktivitäten« (Strübing, 2007, S. 85). Erlischt das Engagement für Aktivitäten einer sozialen Welt, um andere Aktivitäten ins Zentrum zu rücken, endet die Mitgliedschaft (Strübing, 2007, S. 85). Gehören Menschen gleichzeitig zwei oder mehr sozialen Welten an, dann müssen sie ihre »wechselseitigen Engagements für die jeweiligen Welten zueinander in ein ›lebbares‹ Verhältnis setzen« (Strübing, 2007, S. 91). Strübing bezeichnet das Eingehen von Nebenengagements als »Nukleus jener Prozesse, die im Interaktionismus als verantwortlich für das Stiften und Erhalten von Sozialbeziehungen betrachtet werden« (2007, S. 91).

1.4.3 Offenheit und Geschlossenheit

Die zentrale Bündelung zu Kernaktivitäten und der Handlungsfokus auf die Innenarena einer sozialen Welt begründen die Tendenz zur Schließung und Abgrenzung gegenüber Kernaktivitäten anderer Sozialwelten. Dieses Phänomen beschreibt Schütze als Selbstidealisierungstendenz die in eine »paradoxe Diskrepanz« (2016b, S. 94) zur Herstellung der Erkenntnisobjekte tritt. Denn gleichzeitig ist jede soziale Welt in diskursive Außenarenen eingebettet, in denen strittig-kommunikative Auseinandersetzungen ganz unterschiedlicher Sozialwelten stattfinden (Schütze, 2002, S. 69). Diese doppelte Orientierung nach innen und nach außen ist kennzeichnend für soziale Welten und begründet eine spezifische Vorstellung von Grenzen. Strauss ist in seinem Denken von Mead und dessen Sichtweise auf sozialen Wandel und Kommunikation beeinflusst. Diese geht von einer enormen, unbegrenzten und endlosen Ausbreitung von Gruppen aus, die keine klaren Grenzen oder feste Organisationen besitzen (Strauss, 2010, S. 210). In einer Social World Perspective sieht er einen hilfreichen Ansatz, um die moderne Gesellschaft in kollektiven Handlungsbegriffen zu studieren sowie deren Komplexität, Vielfalt, Grenzen-Durchlässigkeit, Teilgruppen und raschen Wandel zu erklären (Strauss, 2010, S. 212). Er beschreibt die Erfahrung, dass einige seiner Kollegen dem Konzept der sozialen Welten kritisch gegenüberstünden oder dieses gar ablehnten, »because ›there are no boundaries‹« (Strauss, 2010, S. 214). Die Schwierigkeiten mancher Soziologen seiner Zeit mit der Vorstellung von den für soziale Welten charakteristischen flüchtigen Grenzen begründet er damit, dass diese gewohnt seien, über Organisationen und andere feste Einheiten nachzudenken. Mit diesen sei es für gewöhnlich möglich zu bestimmen, wer dazu gehöre und wer nicht, wer die verantwortlichen und rechenschaftspflichtigen Führer seien, welche Zuständigkeiten, Regeln und Regelungen gälten, welche Ressourcen in etwa zur Verfügung stünden sowie wo und welche Aktivitäten stattfänden (Strauss, 2010, S. 213–214). Soziale Welten müssen nach Strauss in Begriffen der Veränderung gedacht und die Frage der Grenzen empirisch untersucht und nicht vorgängig angenommen werden.

Eine der auffälligsten Eigenschaften vieler Sozialwelten ist der interne Disput und die Entscheidungsfindung in Bezug auf die eigenen Grenzen. Mitglieder der sozialen Welt debattieren darüber, ob eine gegebene Aktivität, eine Person oder ein Produkt tatsächlich repräsentativ für diese sind. Grenzen können zum Ausschluss von Standardbrechern führen oder von diesen ausgedehnt werden:

If the boundaries come to perceived as too restrictive by enough members of a social world, this can result in the creation of new worlds (or subworlds) complete with their own standards, boundaries settings, and maintaining mechanism, and subject to the same potential debates and challenges or drifts that lead in turn to their own segmentation (Strauss, 2010, S. 215).

Strauss lehnt die Vorstellung von Grenzen also nicht ab, sondern richtet mit der Social World Perspective den Blick auf den Umgang mit Grenzen. Weder werden Grenzen negiert noch vorgängig angenommen. Dieses doppelbödige und prozessorientierte Verständnis von Grenzen findet sich in den Begriffen der Flüchtigkeit und Fluidität. Die Frage der Offenheit und Geschlossenheit sozialer Welten verlangt eine empirische Sowohl-als-auch-Antwort.

1.4.4 Bewusstheit und Unbewusstheit

Glaser und Strauss entwickelten im Rahmen ihrer Studie »Awareness of Dying« das Konzept der Bewusstheitskontexte (1965). Das Konzept korrespondiert mit dem der Repräsentation und Fehlrepräsentation (Strauss, 2010, S. 169–190), worauf ich im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sozialer Welten eingehe. Die Autoren unterscheiden vier Formen der Bewusstheit, von denen drei mit Fehlrepräsentationen einhergehen. Der geschlossene Bewusstheitskontext tritt dann auf, wenn das Pflegepersonal fälschlicherweise vorgibt (misrepresent), der Patient werde weiterleben und Patienten sowie Angehörige diese Information glauben (Strauss, 2010, S. 183). Die argwöhnische Bewusstheit (suspicion awareness context) kennzeichnet den Kontext, in dem der Patient oder dessen Angehörige über die Falschheit der Repräsentation Verdacht schöpfen (Strauss, 2010, S. 183). Die Bewusstheit der wechselseitigen Täuschung (mutual pretense) beschreibt den Kontext, wenn sowohl der Patient als auch das Pflegepersonal wissen, dass es sich um eine Fiktion handelt und der Patient sich entscheidet, zusammen mit dem Pflegepersonal das Spiel zu spielen, um peinliche Situationen (und möglicherweise andere Emotionen) zu vermeiden (Strauss, 2010, S. 184). Mit der offenen Bewusstheit (open awareness) kennzeichnen die Autoren den Kontext, in dem keine Fehlrepräsentation über den bevorstehenden Tod des Patienten vorliegt und alle Beteiligten darüber Bescheid wissen (Strauss, 2010, S. 184).

Für soziale Welten und Arenen sind Bewusstheitskontexte insofern relevant, als sie nicht nur in Sterbeprozessen, sondern auf jeder Stufe einer Interaktion, »from the most microscopic to the most macroscopic« (Strauss, 2010, S. 184) entstehen. Durch Fehlrepräsentationen und deren mögliche Enthüllung entsteht eine Spannung, die konstitutiv ist für soziale Welten und die in Arenen bearbeitet wird. Schütze unterstreicht die soziale Welt als »bewusstseinsförderndes soziales Arrangement« in zweifacher Hinsicht: Erstens bildet es den Rahmen für die Innovationsaufgabe, »bisher noch nicht bewusst gewordene Probleme der Welt« (2002, S. 68) anzugehen und/oder neue Tätigkeitsformen zu entwickeln. Zweitens kann es dafür sorgen, »dass Problemausschnitte und Tätigkeitsbereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer dauerhaften analytischen Betrachtung, diskursiven Auseinandersetzung und kritischen Reflexion zugeführt werden und zugeführt bleiben« (Schütze, 2002, S. 69). Die zentripetale Ausrichtung der Aufmerksamkeit sorgt dafür, bisher nicht beachtete Probleme als solche zu definieren und veränderte Sichtweisen herauszufordern. Eine analytische Reflexionskultur entsteht durch »die Stabilisierung und universalistische Offenhaltung von Diskursarenen« (Schütze, 2002, S. 69). Die »fortlaufende Kultivierung gesellschaftlich wertvoller Tätigkeiten und des Expertenwissens« begründet die »evolutive Wissensschöpfungs- und Kultivierungsfunktion« (Schütze, 2002, S. 69) sozialer Welten und Arenen.

1.4.5 Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Soziale Welten sind in ihren Eigenschaften vielfältig (Strauss, 2010, S. 210). Dies betrifft auch deren Sichtbarkeit: »Some of these worlds are highly visible both in activity and in their internal affairs, while others are relatively closed to outsiders« (Strauss, 2010, S. 213). Da soziale Welten keine soziodemographische Kategorie darstellen, sondern einen Kulturraum, »in dem sich die Akteure wechselseitig aufeinander beziehen«, werden sie erst »in ihren handlungspraktischen Konsequenzen sichtbar« (Strübing, 2007, S. 84). Dazu gehört auch, wie sie sich darstellen, was mit dem grundlegenden Arenaprozess der Repräsentation und Fehlrepräsentation beschrieben werden kann. Das Konzept der Repräsentation unterscheidet sich von Goffmans (1959) Analyse der Selbstdarstellung dahingehend, dass es sich nicht nur dem Mikromechanismus der Selbstdarstellung zuwendet, sondern auch die strukturellen Bedingungen beachtet: »To understand representing, however, one must focus on both the process and the structural conditions for it« (Strauss, 2010, S. 173). Drei strukturelle Bedingungen rahmen Repräsentationen sozialer Welten, was mit Schwierigkeiten der Interpretation einhergeht. Eine erste Schwierigkeit betrifft die Mehrdeutigkeit einer repräsentativen Handlung, deren Signale oder Zeichen zusätzlich versteckt, verschleiert oder wissentlich gefälscht werden können (Strauss, 2010, S. 170). Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich durch die Bedingung, dass eine Person, die eine Institution repräsentiert, in unterschiedlichen repräsentativen Eigenschaften auftreten kann (Strauss, 2010, S. 171). Dass die repräsentierende soziale Einheit außer sich selbst möglicherweise eine andere vertritt, stellt die dritte Bedingungen für Schwierigkeiten dar (Strauss, 2010, S. 172). Repräsentation ist entsprechend diesen drei Bedingungen ein dreistufiger Prozess einer repräsentativen Handlung (1), für eine soziale Einheit (2), die an ein Publikum gerichtet ist (3).

Strauss spürt den Wechselspielen der Aspekte Repräsentation, Selbstdarstellung und Fehlrepräsentation nach. Er unterscheidet nicht-repräsentierende und repräsentierende Handlungen. Während die Selbstdarstellung eine nicht-repräsentierende Handlung darstellt, in der ein Akteur Aspekte seines Selbst präsentiert, beinhaltet eine repräsentierende Handlung sowohl repräsentierende als auch präsentierende Aspekte (Strauss, 2010, S. 180). Das bewusste Einfließenlassen der individuellen Persönlichkeit stellt eine Selbstdarstellung im Sinne Goffmans dar. Das Wechselspiel zwischen repräsentierender und nicht-repräsentierender Interaktion vollzieht sich nicht nur zwischen zwei Akteuren, sondern schließt immer einen ›unsichtbaren Dritten‹ ein (Strauss, 2010, S. 182). Am Beispiel der Bewusstheitskontexte führt Strauss schließlich Fehlrepräsentationen auf (2010, S. 184). Repräsentierende Handlungen wie Behaupten, Zuordnen, Leugnen, Akzeptieren, Korrigieren und so weiter sind strategische Interaktionen, um Informationen zu verhüllen (Strauss, 2010, S. 187). Repräsentation, Selbstdarstellung und Falschdarstellung zeigen sich in vielen Formen, die es für das Verständnis von Interaktion und Identität genau zu untersuchen gelte (Strauss, 2010, S. 190).

Soziale Welten haben somit das Potenzial zum Sichtbarmachen und Verschleiern. Schütze beschreibt einen Leistungskatalog, der einen Beobachtungskorridor für solche Prozesse schafft. Mit Blick auf die Prozesse der Binnenarena werden »Tätigkeitsstilistiken« durch »vorbildliche Aktivitäten« (Schütze, 2002, S. 68) und im diskursiven kommunikativen Austausch über Kernprobleme beobachtbar und wechselseitig angleichbar. Diese Stilistiken betreffen folgende Leistungsbereiche:

die Symbolisierung und Attraktion von Aktivitätsinteressen; die Schaffung eines Ortes und Freiraumes der Austragung dieser Aktivitäten; die Einschätzung, Kritik und Überprüfung […] der Akteure […]; die Themensetzung […] für die Aktivitäten […]; die Konstitution einer (›theatralischen‹) Beziehung zwischen (vormachendem) Aktor und dem Auditorium; sowie die zugleich lokal gebundene Betreibung der Aktivitätsarena und ihre überlokale Symbolisierung, Sichtbarkeit, Transparenz, Zugänglichkeit, Beteiligungsoffenheit (Schütze, 1999, S. 334).

Mit Blick auf die Außenarena gestattet das soziale Arrangement der sozialen Welt, »zentrale gesellschaftliche Veränderungsthemen zu formulieren und dynamisch-dramatisch auf gesellschaftliche Höhepunktsdebatten hinzuführen« (Schütze, 2002, S. 68). Durch Öffentlichkeitsmobilisierung werden soziale Welten im Kontext sozialer Bewegungen somit »zum aufklärerischen Gegenprinzip gegen systematische Ignorierungs-, Dethematisierungs-, Ausblendungs- und Rationalisierungsmechanismen« (Schütze, 2002, S. 68–69). Unbeachtete oder gar ausgeblendete Probleme vermögen sie in die politisch-gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu rücken und bisher ›stummen‹ Problembetroffenen eine eigene Stimme zu geben (Schütze, 2016a, S. 76). Institutionalisierte Sozialwelten werden durch mehr oder weniger deutliche Konflikte mit den Strukturrahmen und Regelabläufen sichtbar und den Versuch, »die Vermittlung ihrer Traditionen an die jeweils nächste Novizen-Generation […] durch die Einrichtung eigener Ausbildungsorganisationen und Sozialisationsverfahren selber zu kontrollieren« (Schütze, 2002, S. 61).

Die fünf beschriebenen Bereiche leiten erste Fragestellungen an, welche die Aufmerksamkeit beim offenen Kodieren lenken werden: Wie bearbeiten ein BMK und KBM

  • (Un-)Beständigkeit zwischen Beständigkeit und Wandel von Bildungsstrukturen?

  • (Un-)Verantwortlichkeit zwischen Nebenengagement und Engagement der Akteure im Mehrebenensystem?

  • (Un-)Beteiligung zwischen Geschlossenheit und Offenheit von Bildungsgremien gegenüber der Zivilgesellschaft?

  • (Un-)Bewusstheit zwischen der Darstellung des biographischen Kapitals und datengestützter Reflexion?

  • (Un-)Sichtbarkeit zwischen Verfügungsrechten als Normen und Verfügungsrechten als Ressourcen?

2 Forschungsstil und Denkwerkzeuge der Grounded-Theory-Methodologie

Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM)Footnote 7 ist in erster Linie ein Forschungsstil und eine Forschungshaltung und erst in zweiter Linie eine Auswertungsmethode im Sinn eines Verfahrens, »das angewandt werden kann« (Mey & Mruck, 2011, S. 11). Strauss versteht darunter eine Methodologie, um »analytisch über soziale Phänomene nachzudenken« (2011, S. 74). Dass er diesen Stil zusammen mit GlaserFootnote 8 »gewissermaßen unvollständig« (Strauss, 2010, S. 74) entwickelt hat, macht ihn anschlussfähig für Weiterentwicklungen.Footnote 9 Ich beziehe mich weitgehend auf das Standardwerk von Strauss und Corbin (1996), werde die Bedingungsmatrix aber auch als Situationsmatrix lesen, ohne allerdings die Mapping-Strategien von Clarke (2012) einzusetzen. Die Darstellung des Forschungsprozesses folgt den von Strauss im Gespräch mit Legewie und Schervier-Legewie genannten Essentials (2011, S. 74). Ich werde also aufzeigen, wie ich die theoretischen Konzepte entwickelt habe (Abschnitt 6.2.1) und wie ich beim theoretischen Sampling vorgegangen bin (Abschnitt 6.2.2) sowie meine Wege des ständigen Vergleichens nachzeichnen (Abschnitt 6.2.3).

2.1 Entwicklung theoretischer Konzepte

Das erste Essential beschreibt Strauss mit der Art des Kodierens: »Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen« (2011, S. 74). Eine theoretische Rahmung soll erst noch entwickelt werden. Das bedeutet, dass das Kodieren »nicht aus dem Subsumieren qualitativer Daten unter existierende Konzepte« besteht, sondern sich als der »Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material« (Strübing, 2014, S. 16) versteht. Das Dilemma dieser Position besteht nach Brüsemeister nun aber darin, »dass man von Anfang an Theorien benötigt, um überhaupt etwas in den Daten erkennen zu können« (2008, S. 157). Daraus ergeben sich zwei Fragestellungen:

  1. a)

    Wie rechtfertigt sich die in Abschnitt 6.1.4 dargestellte (Re-)Konstruktion von Arenen im Kontext der Sozial-Welt-Theorie?

  2. b)

    Wäre es, wenn schon auf das Konzept der Arenen zurückgegriffen wird, nicht angebracht, an die bereits von Brüsemeister (2016a, S. 286) entwickelten »Regelungsbereiche als struktureller Kontext« beziehungsweise »Arenen des Austauschs« anzuknüpfen?

Überlegungen zu diesen Fragen stelle ich mit Bezug auf das in der GTM bedeutsame Konzept der theoretischen Sensibilität und den Umgang mit theoretischem Vorwissen dar. Anschließend präsentiere ich die Situationsmatrix zum Aufbau eines (kommunalen) Bildungsmanagements (auf kommunaler Ebene), aus der das herangezogene theoretische Vorwissen hervorgeht. Ich zeige auf, wie ich den Staat beziehungsweise den Akteur Politik im Verhältnis zu den Kommunen, der Gesellschaft und gesellschaftlicher Integration konzeptioniere und welche Rolle dem BMK und KBM dabei zukommt. Abschließend greife ich mit einem Schaubild auf das Ergebnis der Verfahren vor, die eigentliche Grounded Theory (GT): Den Weg zur Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration rolle ich danach von hinten auf, indem ich die Entwicklung der Komponenten der GT im Forschungsprozess rekonstruiere.

2.1.1 Theoretische Sensibilität

Strauss und Corbin definieren theoretische Sensibilität als Fähigkeit, »Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, […] zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen« (1996, S. 25). Theoretische Sensibilität ist die Grundlage für die Entwicklung einer gegenstandsverankerten, konzeptuell dichten und gut integrierten Theorie (Strauss & Corbin, 1996, S. 25). Das Studium von Fachliteratur, berufliche und persönliche Erfahrungen sowie die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Daten sind Quellen der theoretischen Sensibilität (Strauss & Corbin, 1996, S. 30). Um ein Gleichgewicht zu halten zwischen dem theoretischen Vorwissen und dem empirischen Datenmaterial, empfehlen Strauss und Corbin a) zu fragen: »Was passiert hier wirklich?«, b) theoretische Konzepte und die damit verbundenen Hypothesen immer wieder an den Daten zu überprüfen und c) die Verfahren der Datenerhebung und -analyse der GTM zu befolgen (1996, S. 30). Kelle und Kluge sprechen von einem »›Zangengriff‹, bei dem der Forscher oder die Forscherin sowohl von dem vorhandenen theoretischen Vorwissen als auch von empirischem Datenmaterial ausgeht« (2010, S. 23). Die Vorstellung, zentrale Kategorien und Konzepte würden »quasi von selber« aus dem Datenmaterial entspringen, kennzeichnen sie als »induktivistisches Selbstmissverständnis der qualitativen Methodenlehre« (Kelle & Kluge, 2010, S. 13. Hervorhebung weggelassen). Anstelle einer »naiv empiristischen Sichtweise« setzen sie das hypothetische Schlussfolgern im Sinn der Abduktion, »bei welchem theoretisches Vorwissen mit empirischem Beobachtungswissen sowohl kreativ als auch methodisch kontrolliert verknüpft werden kann« (Kelle & Kluge, 2010, S. 13).

Strauss und Corbin berufen sich nicht ausdrücklich auf die Logik der abduktiven Entdeckung. Reichertz arbeitet heraus, »dass zu Beginn der GTM die abduktive Logik nur verdeckt im Konzept enthalten war, während sie in späteren Fassungen immer deutlicher und klarer herausgearbeitet wurde – zumindest in den Arbeiten von StraussFootnote 10« (2011, S. 281). Für das Problem, »wie die unüberschaubare Mannigfaltigkeit der Daten mit (vorhandenen oder noch zu erfindenden) Theorien in Verbindung gebracht werden kann« (Reichertz, 2011, S. 283), unterscheidet er drei Verfahren: die Subsumtion, die Generalisierung und die Abduktion. Die Subsumtion geht von einer bekannten Regel aus und ordnet mit der gedanklichen Operation der Deduktion einen Einzelfall unter eine bereits bekannte Regel unter. Neues kann mit diesem Verfahren nicht entdeckt werden (Reichertz, 2011, S. 284). Die quantitative und qualitative Induktion sind gedankliche Operationen der Generalisierung: »Schließt die quantitative Induktion von den quantitativen Eigenschaften einer Stichprobe auf die Gesamtheit, so ergänzt die qualitative Induktion dagegen die wahrgenommenen Merkmale einer Stichprobe mit anderen, nicht wahrgenommenen« (Reichertz, 2011, S. 285). Auf diese Weise können lediglich »neue Formen des bereits Bekannten« (Reichertz, 2011, S. 285) gewonnen werden. Die Abduktion stellt die dritte Logik dar. Sie folgt der bewährten Logik der Dinge nicht mehr und bringt durch einen kreativen Schluss eine neue Idee in die Welt. Die Zusammenstellung von Merkmalskombinationen führt zu einer Entdeckung, »für die sich im bereits existierenden Wissensvorratslager keine entsprechende Erklärung oder Regel findet« (Reichertz, 2011, S. 285). Dies löst Überraschung, mitunter echtes Erschrecken und die Suche nach einer neuen Erklärung aus: »Die Abduktion ist ein mentaler Prozess, ein geistiger Akt, ein gedanklicher Sprung, der das zusammenbringt, von dem man nie dachte, dass es zusammengehört« (Reichertz, 2011, S. 286).

Die abduktive Entdeckung von Neuem gibt der systematischen Erschließung von Erkenntnissen Probleme auf: (Wie) kann ein abduktiver Blitz hervorgerufen werden? Reichertz beruft sich auf Ausführungen von Peirce und empfiehlt zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Maßnahmen, um »Situationen herbeizuführen, in denen sich Abduktionen eher ereignen« (2011, S. 287). Zweifel unter großem Handlungsdruck zum einen und Muße in vom aktuellen Handlungsdruck befreiten Situationen zum anderen manövrieren den bewusst arbeitenden, mit logischen Regeln vertrauten Verstand aus. Günstige Bedingungen für Abduktionen liegen also in der »inneren Bereitschaft, alte Überzeugungen aufzugeben und neue zu suchen« (Reichertz, 2011, S. 288). Reichertz versteht darunter eine besondere Haltung gegenüber den Daten und dem eigenen Wissen: »Daten sind ernst zu nehmen, und die Gültigkeit des bislang erarbeiteten Wissens ist einzuklammern« (2011, S. 288). Peirce integriert die Abduktion, Deduktion und Induktion in eine dreistufige Erkenntnislogik. Abduktiv gefundene Ordnungen sind »brauchbare (Re-)Konstruktionen«, die in eine Hypothese münden (Reichertz, 2011, S. 289). Daran schließen die deduktive Ableitung von Voraussagen aus der Hypothese an und deren induktive Überprüfung durch »die Suche nach Fakten, welche die Vorannahmen ›verifizieren‹« (Reichertz, 2011, S. 289). Die Erkenntnisgewinnung kennzeichnet sich demnach durch zwei unterscheidbare Prozesse: »Ist die Entdeckung weitgehend dem bewussten und systematischen Zugriff entzogen, so vollzieht sich die Überprüfung entlang operationalisierbarer und regelgeleiteter, vernunftkontrollierter Standards« (Reichertz, 2011, S. 289).

Die GTM-Variante nach Strauss und Corbin ruht nach Reichertz klar einer abduktiven Forschungslogik auf (2011, S. 293). Das bedeutet nun aber nicht, dass die GTM allein der abduktiven Vorgehensweise folgt: »Es muss also nicht immer alles neu sein, sondern mithilfe der qualitativen Induktion wird das sichtbar, das so ist, wie wir es kennen« (Reichertz, 2011, S. 293). Diese geistige Operation fügt den Daten etwas hinzu, »von dem man aufgrund des Vorwissens überzeugt ist, dass es dazu gehört, während das abduktive Schlussfolgern ein gedanklicher Sprung darstellt, der den Daten etwas völlig Neues hinzufügt, »etwas, was in den Daten weder als Konzept noch als Theorie enthalten ist« (Reichertz, 2011, S. 293). Der Forschungsstil der GTM lässt neben der qualitativen Induktion auch Raum für die Abduktion, »rechnet mit dem Aufkommen von Neuem, ermöglicht es, garantiert sogar sein Vorkommen« (Reichertz, 2011, S. 293).

2.1.2 Dimensionen des theoretischen Vorwissens

Eine qualitative Studie beginnt »nicht mit präzis operationalisierten Hypothesen, sondern mit unscharfen Begriffen, die im Laufe der Untersuchung sukzessive präzisiert werden« (Kelle & Kluge, 2010, S. 30). Die im Rahmen dieser Studie herangezogenen sensibilisierenden Konzepte expliziere ich entlang der von Kelle und Kluge benannten vier Dimensionen (Kelle & Kluge, 2010, S. 31–38):

Mit dem Grad der Explikation bezeichnen Kelle und Kluge die Fähigkeit, »empirische Sachverhalte in einer theoretischen Sprache zu beschreiben« (2010, S. 32). Die theoretische Sensibilität beinhalt das Theoriewissen, welches den Forscherinnen und Forschern als ›Linse‹ oder ›Brille‹ dient, um die empirische Realität wahrzunehmen und unerwartete Befunde theoretisch einzuordnen (Kelle & Kluge, 2010, S. 32). Mit der ›Entdeckung‹ der sozialen Welten und Arenen betrat ich nicht nur Neuland, sondern fand eine ›Homebase‹ für die Betrachtung von Phänomenen im Zusammenhang mit Lernen vor Ort. Die oben dargestellte (Re-)Konstruktion von Arenen stellt eine erste heuristische Annäherung an den Gegenstand  kommunales Bildungsmanagement dar. Sie ist nicht allein durch die Auseinandersetzung mit der Sozial-Welt-Theorie, sondern bereits durch erste Interviewdaten inspiriert.

Bei der Herkunft des theoretischen Vorwissens unterscheiden Kelle und Kluge zwischen dem Wissen der Forscherinnen und Forscher und jenem der Sprecherinnen und Sprecher. Den Zugang zum Wissen der Akteure zu finden, sehen sie als Ziel und zugleich als Voraussetzung der Forschungsbemühungen (Kelle & Kluge, 2010, S. 33). Einen ersten Zugang zum Wissen von »Zeitzeugen der ersten Stunde« (Seltrecht, 2016, S. 72) konnte ich mir über Interviewdaten verschaffen, die mir die wissenschaftliche Begleitforschung zum Programm Lernen vor Ort zur Verfügung stellte. In je einem Interview von zwei beteiligten Kommunen präsentierten mir die Projektleitenden ihr Wissen zum Projektverlauf, welches ich offen kodierte. Natürliche und konstruierte Codes machte ich zur Grundlage der Arenen und deren Dimensionen. Mit natürlichen Codes bezeichnet Strauss Konzepte, die direkt aus der Terminologie des Forschungsfelds stammen (1998, S. 64). Analytisch wertvoll sind sie durch ihre Bildhaftigkeit. Dadurch, dass sie »eine sehr lebhafte Vorstellungswelt und eine starke eigeninterpretative Bedeutung« entwickeln, können sie leicht in die Formulierung einer Theorie übertragen werden (Strauss, 1998, S. 64). Demgegenüber sind konstruierte Codes von den Forschenden entwickelte soziologische Konstrukte. Sie basieren auf dem Fachwissen und der Kenntnis des zu untersuchenden Forschungsfelds. Diese Codes »können wenig Vorstellung vermitteln«, zeichnen sich aber durch analytische Stärke aus, »weil sie klar und systematisch konstruiert« (Strauss, 1998, S. 65) sind.

Auffallend beim ersten Zugang zum Datenmaterial waren die natürlichen Codes der »Doppelstrukturen«Footnote 11, der »Nachhaltigkeit«, der »Verstetigung« und des »Transfers«. Ich sah darin das Phänomen, Systeminnovationen gestalten zu sollen, ohne an bestehenden Zuständigkeiten zu rütteln. Darin ist eine Spannung eingelagert, die ich zum konstruierten Code der (Un-)BeständigkeitFootnote 12 verdichtete, was eine eigene Arena mit den Polen der Beständigkeit und des Wandels begründet. Überraschend fand ich auch das Commitment der Akteure mit dem »Strukturprojekt«. Anstelle von Zuständigkeiten rückt das klare Bekenntnis, sich trotz enormer »Schwierigkeiten«, »Probleme«, »Kompliziertheiten« und knapper »Ressourcen« »mehr tun« zu wollen oder der Stolz, den »Schatz mitgehoben« zu haben. Ein Protagonist beschreibt die Bereitschaft zum hohen Engagement so, dass er »noch nie bei einem Projekt so viel über das Projekt selbst geflucht« habe, wie er es »auch liebe« (S16.11: 53–54). Erklärungsbedürftig schien mir diese Beobachtung vor dem Hintergrund der eigenen beruflichen Erfahrungen mit Projekten im Rahmen von Reformen, bei denen sich Lehrpersonen schon gar nicht mehr auf eine Reformwelle einlassen wollten, bei denen sie nach Entlastung suchten oder das Engagement so auf Sparflamme hielten, dass es ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden konnte. Den Beobachtungskorridor legte ich daher zwischen den Polen Nebenengagement und Engagement in der Arena (Un-)Verantwortlichkeit fest. Eine weitere Arena sah ich in der Herausforderung, »alle relevanten Akteure zusammenbinden«, »einbinden« oder »mitnehmen« zu können. Dass die »Sinnhaftigkeit« der Übergangsgestaltung von der Kita in die Grundschule im Sinn der Koordination der unterschiedlichen Perspektiven auf das Kind erst bewusst gemacht werden muss oder der Gedanke der Kohärenz viele Reibungspunkte innerhalb des politisch-administrativen Systems erzeugt, erfasste ich mit dem Spektrum zwischen der Geschlossenheit und Offenheit von Bildungsgremien gegenüber der Zivilgesellschaft in der Arena (Un-)Beteiligung. Im Datenmaterial schienen darüber hinaus zwei unterschiedliche Funktionen der Datengewinnung auf. Ein Informationsbedarf zeigte sich in Bezug auf das Darstellen dessen, was eine Kommune im Bildungsbereich bereits zu bieten hat. Davon unterscheidet sich der Anspruch, sich mit Daten etwas »aufzuzeigen«, aufgrund sozioökonomischer Daten Zusammenhänge zu »verstehen«. Mit dem Aktionsfeld Bildungsmonitoring sieht das Programm ausdrücklich vor, politische Entscheide sachlich-rational zu fundieren. Ich spannte daher die beiden Pole des biographischen Kapitals und der datengestützten Reflexion in der Arena (Un-)Bewusstheit auf. Der konstruierte Code ist von der Sozialwelt-Theorie inspiriert (Strauss, 2010, S. 183–184), da beide Dimensionen den Bewusstheitskontext der Kommunen im Sinn einer Selbstvergewisserung öffnen. Im Zusammenhang mit beiden Dimensionen steht die Arena (Un-)Sichtbarkeit. Hier zog ich Kategorien der Educational-Governance-Perspektive heran. In beiden Interviews haben »sichtbare Produkte« eine Bedeutung: als Medium, um den Geist von Lernen vor Ort zu transportieren oder um das Engagement zu legitimieren. Ich wollte daher fragen, inwiefern Repräsentationen zum Programm Verfügungsrechte als Normen oder als Ressourcen zum Ausdruck bringen.

Bereits im Durchgang der ersten Interviews lieferten die Sprecherinnen und Sprecher einen Grad der Theoretisierung, den ich zur Grundlage einer Heuristik zur Befragung weiteren Datenmaterials machte. Kelle und Kluge weisen darauf hin, dass das Wissen der Akteure zwar eine »zentrale Grundlage sozialwissenschaftlicher Theoriebildung darstellt« (2010, S. 35), dieses aber von Forscherinnen und Forscherin nicht unkritisch übernommen werde dürfe. Deutungen des Geschehens erschloss ich mir einerseits über intensive Recherchen außerhalb des Interviewmaterials. Andererseits ›schlüpfte‹ ich nachgerade in die Terminologie der Sprecherinnen und Sprecher, zog mir ihre ›T-Shirts‹Footnote 13 über und hielt ihre natürlichen Codes in Ehren.

Sensibilisierende Konzepte sollten einen geringen Grad an empirischem Gehalt aufweisen. Empirisch gehaltlose soziologische Aussagen sind für eine hypothesengenerierende Forschungsstrategie gut als Heuristiken einsetzbar: »Der harte Kern von allgemeinen soziologischen Theorien fungiert dabei als ›Achse‹ der Kategorienbildung bzw. als ›theoretisches Skelett‹, zu dem das ›Fleisch‹ empirisch gehaltvoller Beobachtungen […] hinzugefügt wird« (Kelle & Kluge, 2010, S. 38). Obwohl die theoretischen Konzepte der sozialen Welten und Arenen Ergebnisse empirischer Forschung darstellen, sind sie aufgrund ihres Abstraktionsgrads empirisch gehaltlos. Die weiter oben getroffene Aussage: »Soziale Welten haben somit das Potenzial zum Sichtbarmachen und Verschleiern« (Schütze, 1999, S. 334) lenkt die Aufmerksamkeit darauf, Fragen an das Datenmaterial zu stellen. Empirisch offen ist, ob dieses Potenzial überhaupt auftritt und wenn ja, in welcher Art und Weise. Die aus der Sozialwelt-Theorie (re-)konstruierten Arenen und ihre Dimensionen eignen sich daher, um das Datenmaterial einer ersten Systematisierung zu unterziehen. Dass die Konzepte darüber hinaus im Einklang mit dem interaktionistischen Verständnis des Verhältnisses von Struktur und Handeln stehen, ermöglicht eine Passung mit der GTM als »Theorie-Methoden-Paket« (Clarke, 2012, S. 46). Sie stellen erste »›Linsen‹ oder theoretische Perspektiven« zur Verfügung und sind zugleich »hinreichend ›offen‹, so dass die Gefahr verringert wird, dass die Relevanzsetzungen der Befragten durch die vorgängigen Forscherhypothesen überblendet werden« (Kelle & Kluge, 2010, S. 37).

Die Formulierung empirisch gehaltvoller soziologischer Kategorien und Aussagen über das Handlungsfeld kommunales Bildungsmanagement ist das Ziel dieses qualitativen Forschungsprozesses. Auf dem Weg dahin sind nach Kelle und Kluge vier Wissensformen zu verknüpfen: empirisch nicht gehaltvolles Theoriewissen (1) und empirisch gehaltvolles Alltagswissen der Forscherin (2) mit empirisch gehaltvollem Alltags- (3) und Theoriewissen (4) der Sprecherinnen und Sprecher (Kelle & Kluge, 2010, S. 39). Die qualitative Untersuchung integriert somit fortlaufend empirische und theoretische Arbeitsschritte: »Nur durch ein theoriegeleitetes qualitatives Vorgehen kann gewährleistet werden, dass die Merkmale und Kategorien, die die empirische Analyse strukturieren, auch für die Forschungsfrage relevant sind« (Kelle & Kluge, 2010, S. 40). Die theoretischen Konzepte müssen hierbei zum Material passen, dürfen den Daten also nicht aufgezwungen werden. Welche weiteren sensibilisierenden Konzepte in die Grounded Theory eingeflossen sind, stelle ich nun mit der Situationsmatrix dar.

2.1.3 Situationsmatrix zum Aufbau eines (kommunalen) Bildungsmanagements (auf kommunaler Ebene)

Mit der Bedingungsmatrix schlagen Strauss und Corbin ein analytisches Werkzeug vor, um die »vielen Bedingungen und Konsequenzen« (1996, S. 147), die auf ein Phänomen einwirken, einzufangen. Herzstück einer Grounded Theory sind Handlungen beziehungsweise Interaktionen. Sie sind in einem transaktionalen System verankert, das Strauss und Corbin mit konzentrischen Kreisen um einen Handlungskern darum herum darstellen (vgl. Abbildung 6.1).

Abbildung 6.1
figure 1

(Eigene Darstellung nach Strauss & Corbin, 1996, S. 136)

Bedingungsmatrix

Mit dem strukturellen Kontext und dem Aushandlungs-Kontext unterscheiden sie zwei Typen von Bedingungen (Strauss & Corbin, 1996, S. 138). Die inneren Ebenen der Matrix sind eng mit der Handlungs- und Interaktionsebene verbunden. Die Ebene von Untereinheiten in Organisationen und Institutionen, die Ebene von Kollektiv, Gruppe und Individuum sowie die interaktionale Ebene bilden den Aushandlungs-Kontext. Der strukturelle Kontext ist weiter entfernt von den Aushandlungen. Er wird mit den äußeren Ebenen dargestellt: der internationalen und nationalen Ebene, der Gemeindeebene sowie der organisatorischen und institutionellen Ebene (Strauss & Corbin, 1996, S. 136).

Den analytischen Gewinn der Bedingungsmatrix sehen Strauss und Corbin darin, dass mit dem Verfolgen so genannter Bedingungspfade Konzepte systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden (1996, S. 139). Da das Ziel der GTM darin besteht, »Theorien zu entwickeln und nicht nur Phänomene zu beschreiben« (Strauss & Corbin, 1996, S. 139), reicht es nicht aus, bestimmte Bedingungen festzustellen »und dann von den Lesern zu erwarten, dass sie selber herausfinden, welche Beziehungen zu den Phänomenen bestehen könnten« (Strauss & Corbin, 1996, S. 140). Analytische Spezifität erhalten Bedingungen, »indem sie als kausal, kontextuell oder intervenierend identifiziert werden, damit sie hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands Bedeutung gewinnen« (Strauss & Corbin, 1996, S. 140). Das systematische Verfolgen von Bedingungspfaden soll dazu beitragen, das hinsichtlich der Forschungsfrage Relevante herauszufinden: »Was immer in den Daten nicht signifikant aufgezeigt wird, wird als Hypothese behandelt, bis es sich in den Daten manifestiert oder nicht« (Strauss & Corbin, 1996, S. 140).

Clarke kritisiert die Bedingungsmatrix: »Meiner Ansicht nach eignen sich die Bedingungsmatrizen nicht für jene konzeptionellen analytischen Aufgaben, welche Strauss im Hinblick auf die Grounded-Theory-Methode erfüllt sehen wollte« (2012, S. 112). Die strukturellen Bedingungen von Situationen verankert sie mit Mapping-StrategienFootnote 14 analytisch neu. Einen Kontext will sie nicht sehen: »Die bedingten Elemente der Situation müssen in der Analyse der Situation selbst spezifiziert werden, da sie für diese konstitutiv sind und sie nicht etwa nur umgeben, umrahmen oder etwas zur Situation beitragen. Sie sind die Situation« (Clarke, 2012, S. 112. Hervorhebung im Original). Elemente der Bedingungsmatrix von Strauss und Corbin, die um eine Handlung herum angeordnet sind, greift Clarke auf und ergänzt sie mit weiteren, insbesondere nichtmenschlichen, zu einer Situationsmatrix (vgl. Abbildung 6.2).

Abbildung 6.2
figure 2

(Quelle: Clarke, 2012, S. 113)

Situationsmatrix

Ich greife nun beide Verständnisse auf. Wichtig erscheint mir das mit einer Bedingungs- oder Situationsmatrix verfolgte Ziel, ein Phänomen mit und in seinen relevanten empirischen und theoretischen Dimensionen zu erfassen. Das unmittelbar in den Daten aufscheinende Handlungsgeflecht und die konstituierenden Strukturen stelle ich mit drei Schaubildern dar. Das Phänomen der grenzüberschreitenden Professionalisierung beim Aufbau eines kommunalen Bildungsmanagements verorte ich zunächst in einer Situationsmatrix (vgl. Abbildung 6.3).

Abbildung 6.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Situationsmatrix zum Aufbau eines BMK und KBM

Im Zentrum der Analyse steht die Annahme, dass der Staat als Erzieher im Rahmen einer Programmpolitik auftritt. Diese Lesart hat sich mir spät im Forschungsprozess aufgedrängt, nachdem ich im Kontext der Berufspraktischen Studien auf die Zeigestruktur von Prange und Strobel-Eisele (2015) gestoßen war. Im politischen Programm, ein ganzheitliches, kohärentes Management für das Lernen im Lebenslauf zu entwickeln (BMBF, 2008a, S. 4), sah ich nun eine Großform der Erziehung und damit eine Gegenfigur zur Annahme einer »Zurücknahme zentralstaatlicher Interventions- und Steuerungstätigkeit« (Emmerich, 2010, S. 358). Diese Perspektive impliziert ein asymmetrisches Verhältnis nicht nur zwischen den Verwaltungsebenen innerhalb des politischen Systems, sondern auch zwischen den im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft zu beteiligenden Funktionssystemen.

Die Beobachtung, dass zentrale Akteure nicht nur die Initiative Lernen vor Ort mit einem herausragenden Engagement mitgestalten, sondern sich ihr biographisches Kapital durch eine ungebrochene Verve für »Programmschachtelungen« (Brüsemeister, 2015a, S. 81–83) aufschichten, geriet zunächst in Widerspruch zur Asymmetrie-Annahme. Mit dem Moment der Freiheit, das Erziehungs-Konstellationen innewohnt, fügte sie sich dann aber wieder stimmig in die entstehende GT und inspirierte die Idee, das BMK und KBM im Projektverlauf als Objekt, Subjekt und Thema der Erziehung zu verstehen. Die pädagogische Differenz als grundlegende Spannung zwischen Operationen des Zeigens und Operationen des Lernens hat in der Systemtheorie mit dem Hiatus zwischen Vermittlung und Aneignung eine Entsprechung (Kade, 1997, S. 32). Einen Abstecher in die pädagogische Systembildung machte ich, nachdem ich bei Schimank auf das Konzept der ›feindlichen Übernahmen‹ (2006, S. 71–72) gestoßen war. Getrieben von der Frage, ob es durch eine Initiative, die das Lernen und Bildung ins Zentrum rückt, zu Autonomiebedrohungen des Erziehungssystems durch das politische System kommen könnte, fragte ich nach systemintegrativen Schnittmengen zwischen beiden Teilsystemen und fand die Brückenprinzipien Organisation und Profession, die bei Kade allerdings wenig ausgearbeitet sind.

Ich vertiefte daher Perspektiven der Profession und Organisation durch intensives Studium einschlägiger Literatur. Mit der Unterscheidung zwischen einer individuellen und institutionellen Dimension von Professionalisierung konnte ich die Professionalisierung der kommunalen Koordinatorinnen und Koordinatoren parallel zum Aufbau eines BMK und KBM in den Blick nehmen. Verhältnisse von Profession als Strukturkategorie, Professionalisierung als Prozesskategorie und Professionalität als Handlungskategorie zur Biographie schärften die Aufmerksamkeit für Leistungs- und Komplementärrollen, für das zentrale Konzept der Gemeinwohlorientierung sowie für den paradoxalen Charakter des professionellen Handelns. Mit der Ausarbeitung von Dimensionen grenzüberschreitender Koordination konnte ich das kommunale Bildungsmanagement im Zusammenhang mit der Geschichte von Verwaltungsreformen und von Bildungsregionen sehen. Außerdem sensibilisierte mich die Diskussion um wirkungsorientierte Steuerung im Bereich der Sozialpädagogik und der sozialen Arbeit für das Konzept der Profession als Modus der Organisation und dafür, wie sich Zuschreibungen an die Profession im Zuge sich wandelnder Diskurse der Politik verändern.

Immer wieder zog es mich zum Konzept der ›feindlichen Übernahmen‹, da sich neben die erste Fragestellung »Wie stellen das BMK und KBM kollektive Handlungsfähigkeit her?« eine zweite abzuzeichnen begann: »Welchen Beitrag leistet diese kollektive Handlungsfähigkeit zur gesellschaftlichen Integration?«. Auf den Zusammenhang zwischen dem Herstellen kollektiver Handlungsfähigkeit und den Dimensionen der System- und Sozialintegration kam ich durch die Studie »Zwischenräume der Veränderung«, in der Bormann mit einer wissenssoziologischen Diskursanalyse einen geltungsorientiert-regulierenden Institutionalisierungsdiskurs und einen bedeutungsorientiert-elaborierenden Innovationsdiskurs rekonstruiert. Der erste Diskurstyp geht mit Praktiken der »instrumentell vermittelten, formalisierenden und zentralisierenden Systemintegration« einher, der zweite mit Praktiken der »konfigurierenden Sozialintegration« (Bormann, 2011, S. 314). Die These, dass »Regionalisierung das Ziel der Sozialintegration durch Bildung verfehlt, weil sie primär auf der Systemintegration ansetzt« (Emmerich et al., 2011, S. 20. Hervorhebung im Original), forderte dazu heraus, nach sozialintegrativen Maßnahmen Ausschau zu halten sowie nach Beziehungen zwischen System- und Sozialintegration.

Schließlich regte sich der Verdacht, theoretische Vorannahmen selbst könnten Ursache für die Lesarten von Beiträgen gesellschaftlicher Integration sein. Nachdem ich Gesellschaft durch die Brille der drei Theorieperspektiven nach Schimank zu sehen gelernt hatte, wollte ich noch dem Dekompositionsparadigma nachspüren, um dessen Beitrag für den »Grenzverkehr zwischen Teilsystemen« (Schimank, 2006, S. 71) auszuloten. Schimank, ein Verfechter des Emergenzparadigmas, hatte mich auf die Idee gebracht, da er in seinem Beitrag »›Feindliche Übernahmen‹: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft« auf das Konzept der Interpenetration hinweist, das er als »Aufdrängen von Programmen« (2006, S. 78) interpretiert. Zum Perspektivenwechsel ermutigte mich schließlich die Frage des Betreuers der Dissertation, ob es nicht so etwas wie ›freundliche Übernahmen‹ geben könnte. Ich begann, Bewegungen des ›Aufdrängens‹ und ›Einverleibens‹ als konflikthafte Leistungsbeziehungen zu verstehen, die funktional für gesellschaftliche Integration sind, und diese mit dem BMK und KBM als Großform der Erziehung in Einklang zu bringen, bei der sich das politische System die operative Pädagogik als Brückenprinzip des pädagogischen Systems zunutze macht. Damit hatte ich die theoretische Sensibilisierung abgeschlossen.

Was sich hier wie ein lineares Vorgehen liest, gestaltete sich im Forschungsprozess als Hin und Her zwischen der Auseinandersetzung mit den Daten und dem theoretischen Vorwissen. Die im Theorieteil dieser Arbeit und im Schaubild (vgl. Abbildung 6.3) außerhalb des Kreises dargestellten theoretischen Konzepte gehen als Beiträge zum Diskurs der Politik in die Situationsanalyse ein. Die theoretischen Konzepte fließen bei der Darstellung der Ergebnisse als heuristische Elemente bereits ein, erhalten dann aber noch eigene Kapitel, in denen ich die Ergebnisse mit den jeweiligen ›Theoriebrillen‹ interpretiere (vgl. Kapitel 13) und deren Möglichkeiten und Grenzen mit Blick auf gesellschaftliche Integration auslote (vgl. Kapitel 14). Ungeklärt ist bisher der Phasenbegriff, der im Schaubild auftaucht, und es fehlt auch noch eine Begründung für die Verwendung des Begriffs der Situationsanalyse. Beide Verständnisse stehen in einem Zusammenhang. Um die Prozessdimension beim Aufbau eines BMK und KBM einzufangen, habe ich mich am Institutionalisierungsmodell orientiert, das im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung entwickelt wurde (Rädler & Niedlich, 2016, S. 139–164). Das induktiv ermittelte Modell greift die von Opper (2016, S. 111–138) rekonstruierten Entwicklungsphasen der Karriere des Bildungsmonitorings auf und erweitert es um zwei weitere Phasen, um das »Zusammenspiel zwischen Bildungsmanagement und Bildungsmonitoring in den Blick« (Opper, 2016, S. 142) zu bekommen. Rädler und Niedlich merken an, »dass das Modell nicht linear zu verstehen«, sondern vielmehr von »Rückkoppelungsschlaufen auszugehen« (2016, S. 144) ist. Ich verwende die Phasen Rahmenbedingungen klären (1), Relevante Akteure und Daten bestimmen (2), Strukturen und Verfahren aufbauen (3), (Datenbasierte) Strategien entwickeln (4) und Strategien umsetzen und verstetigen (5) als heuristische Kategorien. Im Sinn von Kelle und Kluge behandle ich sie als Vorwissen mit geringem empirischem Gehalt.

Rädler und Niedlich präsentieren die einzelnen Phasen des Institutionalisierungsmodells in Verbindung mit den ebenfalls im Zuge der wissenschaftlichen Begleitforschung identifizierten fünf Regelungsbereichen Politik, Profession, Organisation, Wissen und Öffentlichkeit (2016, S. 145). Sie gehen von der These aus, »dass diese Regelungsbereiche in den fünf Phasen der Institutionalisierung« eines datenbasierten kommunalen Bildungsmanagements (DKBM) »jeweils in unterschiedlichem Maße zum Tragen kommen« (Rädler & Niedlich, 2016, S. 144–145). Sie verbinden damit zwei Verständnisse. Aus empirischer Sicht stellen die Regelungsbereiche das Ergebnis des DKBM dar. Dieses Ergebnis wenden sie nun normativ, indem sie die Regelungsbereiche als Voraussetzung für das DKBM betrachten: »In dieser Perspektive ist für den Erfolg des DKBM wichtig, die Regelungsbereiche aktiv zu gestalten, die ›Regler hochzufahren‹ und so erst die Grundlage dafür zu schaffen, dass das DKBM funktionieren kann« (Rädler & Niedlich, 2016, S. 145). Bei der Darstellung der einzelnen Phasen greifen sie auf beide Verständnisse zurück. Zunächst charakterisieren sie die Phasen auf der Basis der empirischen Befunde, um danach Gelingensbedingungen bezüglich der fünf Regelungsbereiche zu erörtern.

Dieses Vorgehen lese ich als Ausdruck von Praktiken auf zwei Feldern der Interpenetration. Die empirische Perspektive ist der Politik des Diskurses geschuldet und der Praxis, dass politische Programme wissenschaftlich begleitet werden. Die normativ-gestaltungsorientierte Perspektive wendet sich an die Politik zurück. Indem sie ein Modell offeriert, das nach Gelingensbedingungen fragt, sucht sie den Diskurs der Politik. Gegen dieses Vorgehen ist im Sinn eines funktionalen Grenzverkehrs zwischen dem politischen und dem sozial-kulturellen System nichts einzuwenden. Für die Analyse des Datenmaterials wäre es aber problematisch, beide Perspektiven zu vermischen. Die Phasen dürfen lediglich als Suchfolie dienen. Wenn die Situationsmatrix die lineare Abfolge aufnimmt, dann hat dies eine heuristische Funktion. Für die Phase 4 habe ich daher die Annahme, dass die Entwicklung von Strategien »datenbasiert« erfolgt, in Klammer gesetzt. Es ist wünschbar, dass die Kommunalpolitik ihre Entscheide aufgrund echter Aufgabenkritik vornimmt und dazu auf belastbare Daten zurückgreift. Ob sich dies allerdings in den Daten finden lässt, steht auf einem anderen Blatt.

Die Phasenabfolge als Artikulations-Schema und der damit absichtsvolle Verlaufsplan mit dem Ziel, »Regler-Bereiche hochzufahren«, folgt der Logik der Politikgestaltung. Im Forschungsprozess dient diese Logik dazu, das Datenmaterial zu ordnen, zugleich muss sie mental eingeklammert werden, um die Offenheit für Entdeckungen zu wahren. Die ersten Interviews der untersuchten Gebietskörperschaften zeigen denn auch, dass die Ansprüche aller Phasen von Beginn an das Handeln der Akteure prägen. Das durch das Programm gesetzte Erfordernis der Verstetigung dringt machtvoll bereits in die Klärung der Rahmenbedingungen ein. Die ins Zentrum gerichteten Pfeile im Schaubild drücken die Anforderungsmassierung mit dem Potenzial der Cumulative Mess aus. Das Durcheinander der Beziehungen begründet auch die Verwendung des Begriffs der Situationsmatrix. Die Phasen und deren Anforderungen sind eine Ordnungsleistung der wissenschaftlichen Begleitforschung. Unabhängig davon, wie die Akteure diese Ordnung vornehmen, sind sie von Anfang an in der Situation als Zugleich und nicht als Nacheinander enthalten. Die theoretische Verknüpfung einer gestaltungsorientierten mit einer analytisch-rekonstruktiven Orientierung findet sich im Zeigekonzept der Erziehung. Die der Großform der Erziehung zugrunde gelegte pädagogische Differenz unterscheidet zwischen dem Zeigen und dem Lernen. Das sozial verfasste und sichtbare Zeigen ist datenzeitlicher Natur und mit dem Artikulations-Schema der Phasen in einen Ablauf zu bringen. Das individuell verfasste unsichtbare Lernen ist modalzeitlich strukturiert. Es verhält sich quer dazu, ist immer schon da und hat in diesem Sinn keinen Anfang und auch kein Ende.

2.1.4 Das BMK und KBM als Großform der Erziehung

Systeminnovationen im Rahmen von Lernen vor Ort erfolgen programmatisch hinsichtlich »einer ganzheitlichen Betrachtung individueller Bildungsbiographien« (BMBF, 2008a, S. 5). Fluchtpunkt systemintegrativer Abstimmungsarbeit ist somit die Sozialintegration. Die »Vermittlung der individuellen Subjekte mit dieser Welt« (Kade, 1997, S. 34) ist die Domäne der (pädagogischen) Profession. Diese Lesart entsprach meinem empirisch gehaltvollen Alltagswissen und wurde durch die Suchbewegungen in Perspektiven der Profession zum empirisch gehaltvollen Theoriewissen. Sozialintegration jenseits der Beschreibung eines Zustands ist mit der unmittelbaren Arbeit in einer Professionellen-Klienten-Beziehung beschreibbar. Wie aber sollte theoretisch erfasst werden, dass das Handeln der Lernen-vor-Ort-Akteure zwar für, aber nicht mit den eigentlichen Adressaten erfolgte? Ich konzeptioniere dieses Handeln als zweistufigen Prozess, in dem die Bereitstellung von Bildungsdienstleistungen dem Modus der Organisation und die Nutzung von Angeboten über Vermittlungsdienstleistungen dem Modus der Profession entspricht. Dazu übertrage ich das didaktische Dreieck der Kommunikation auf die Großform der Erziehung (vgl. Abbildung 6.4).

Abbildung 6.4
figure 4

Die Gesellschaft als Objekt der Erziehung (Eigene Darstellung)

Subjekt der Erziehung (Causa Efficiens) sind Kommunen. Ihnen kommt die Rolle der Erziehenden zu. Sie geben dem Lernen das ethische Thema (Causa Finalis) der gesellschaftlichen Integration vor: System- und Sozialintegration. Diese Aufgabe kommt ihnen im Rahmen eines Programms auf nationaler und subnationaler Ebene zu, wobei sie den Ländern, dem Staat, in einem dualistischen Aufgabenmodell subordiniert sind. Objekt der Erziehung (Causa Materialis) ist die Gesellschaft. Da die Gesellschaft keine kollektive Handlungsfähigkeit hat, treten analytisch soziale Welten und Arenen an ihre Stelle. Sie stellen das Material dar, das in der Erziehung bearbeitet wird. Das Objekt des Erziehens kennzeichnet sich durch den »Tatbestand des Lernens« (Prange, 2012a, S. 44–45). Soziale Welten und Arenen bilden das Appelldatum, auf das sich Maßnahmen der Pflege und Fürsorge richten. Die drei Seiten der Kommunikation werden durch die Form (Causa Formalis), das datenbasierte kommunale Bildungsmanagement, in eine Beziehung gebracht. Im Projektverlauf stellen das BMK und KBM empirische Ausdrucksgestalten des DKBM dar. Im Kreis dominiert das sozial-kulturelle System, in der Stadt das politische. In unterschiedlichen Konstellationen mit anderen Funktionssystemen ist das BMKL zunächst Objekt (Bedingungen), dann Subjekt (Strategien) und schließlich Thema (Konsequenzen) der Erziehung. In der Stadt tritt das KBMG als Objekt und Subjekt (Bedingungen und Strategien) und am Ende als Thema (Konsequenzen) der Erziehung auf.

2.1.5 Bedingungsmatrix des BMK und KBM

Die Grounded Theory einer Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration werde ich am Ende der Arbeit mit einer Bedingungsmatrix darstellen. Das Schaubild (vgl. Abbildung 6.5) repräsentiert die Integrationsräume der untersuchten Gebietskörperschaften BMK und KBM mit den bereits fünf skizzierten Arenen. Deren Dimensionen lese ich als binäre Codes, wobei der negative Codewert ›nicht-vermittelbar‹ die pädagogische Systembildung in Gang hält, während der positive Codewert ›vermittelbar‹ die Aneignung als erfolgreich vollzogene Vermittlung repräsentiert. Die Arenen sind wechselseitig durchlässig, was mit den durchbrochenen Pfeilen angedeutet ist. Die Pfeilrichtung nach außen steht für die Unabschließbarkeit der Prozesse, die Pfeilrichtung nach innen dafür, dass die damit verbundene Unordnung auf die Bedingungen einwirkt. Die grau hinterlegten Ringe stehen für die drei GTM-Phasen der Bedingungen, Strategien und Konsequenzen. Der innere Ring stellt mit der Klärung der Rahmenbedingungen die Vorgeschichte dar. Der mittlere Ring fasst die drei weiteren Phasen des Institutionalisierungsmodells zur Hauptgeschichte zusammen. Die Nachgeschichte orientiert sich an der Umsetzung und Verstetigung der Strategien und damit an der letzten Projektphase.

Abbildung 6.5
figure 5

Bedingungsmatrix des BMK und KBM (Eigene Darstellung)

Das Schaubild integriert Kategorien der Gesellschaftstheorien von Schimank und Münch. Das bedeutet, dass ich beim selektiven Kodieren mit jeder Arena einen rekonstruierten Aufgabenkomplex einer Deutungsstruktur zuordne, welche die Richtung des Handelns vorgibt. Ich werde beispielsweise Systeminnovationen zwischen Beständigkeit und Wandel der Arena (Un-)Beständigkeit mit Codes zum Aufgabenkomplex Spannungslagen ausbalancieren darstellen. Diese lese ich vor dem Hintergrund normativer Deutungsstrukturen des Programms, welche die Richtung des Sollens vorgeben. Das BMK und das KBM institutionalisieren sich auf unterschiedlichen Feldern der Interpenetration, die mit den Kürzeln des AGIL-Schemas – links das BMK und rechts das KBM – bezeichnet sind. Jedes Feld kennzeichnet sich darüber hinaus durch spezifische Praktiken gesellschaftlicher Integration. Praktiken der Vermeidung, Toleranz, Polarisierung und Förderung folgen unterschiedlichen Rationalitäten. Diese empirisch gehaltvollen Kategorien des Multirationalitäts-Konzept von Schedler und Rüegg-Stürm (2013) führte ich ein, nachdem ich auf der Basis der Daten eine eigene Typologie zur gesellschaftlichen Rekonstruktion entwickelt hatte. Zur Entwicklung der Typologie komme ich weiter unten. Räume der Integration werde ich als Paradoxienfiguration zwischen Sozial- und Systemintegration beschreiben. Ich werde zeigen, a) welche Felder der Interpenetration das BMK und KBM in den fünf Phasen und Arenen bespielen, b) welche Praktiken im Umgang mit multiplen Anforderungen der Gesellschaft dabei zum Einsatz kommen und c) welche Antinomien kommunale Koordinatoren und Koordinatoren bearbeiten.

Es bleibt noch zu klären, welchen Stellenwert ich den Regelungsbereichen Politik, Profession, Organisation, Wissen und Öffentlichkeit einräume. Es hätte sich angeboten, sie als heuristische Such-Kategorien zu verwenden. Ich habe den Einsatz der Dimensionen nicht unversucht gelassen. Allerdings erschien mir nicht plausibel, eine langfristig politische Struktur lediglich dem Regelungsbereich Politik zuzuschreiben, fanden sich im Datenmaterial doch auch Hinweise auf andere Bereiche und Verfahren, um das Engagement auf Dauer zu stellen. Auch geriet die multiprofessionelle Beteiligung mit der übergreifenden Vernetzung ins Gehege, so dass sich hier die gebotene Trennschärfe nicht vornehmen ließ. Schließlich störte der normative Gehalt der Regelungsbereiche eine analytische Herangehensweise an den Gestand kommunales Bildungsmanagement. Die Dimensionen, wiewohl induktiv aus dem Datenmaterial gewonnen, beschreiben eine Bewegung hin zu einem erwünschten Zustand. Im Rahmen einer Interventionstheorie ist diese Entwicklungslogik plausibel. Die GTM kontrolliert theoretische Vorannahmen, indem sie diese beim offenen Kodieren mental einklammert (Brüsemeister, 2008, S. 157). Dieses Ausblenden wurde durch die implizite Bewertungslogik der Regelungs-Dimensionen erschwert. Eine solche ist einer wissenschaftlichen Begleitforschung auf dem Feld des politischen Diskurses eingeschrieben.Footnote 15 Sie ist legitim, behindert aber die analytische Haltung, etwas Neues zu entdecken. Ich entschied mich daher, die empirisch gehaltvollen Regelungsbereiche erst am Schluss beizuziehen, um die Ergebnisse an den Stand der Forschung anzuschließen. Die Pole der Arena-Dimensionen sind nahe am Datenmaterial von zwei Kommunen formuliert und, da dasselbe Datenmaterial auch Teil des übergreifenden Datenkorpus aus 35 Kommunen ist, nicht völlig entfernt von den fünf Regelungsbereichen. Die anfänglichen Kategorien Engagement und Nebenengagement habe ich im Zuge der Analyse in temporäres und permanentes Engagement umgewandelt. Kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren verstehe ich mit Soeffner als ›Grenzgänger‹, die sich als ›Pendler‹ zwischen den Arenen bewegen (1991, S. 7).

2.2 Theoretisches Sampling

Ich wende mich nun dem zweiten Essential der GTM zu, dem theoretischen Sampling. Strauss versteht darunter das Vorgehen, »schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviews nahelegen« (2011, S. 74). Es sollte also vermieden werden, »Berge von Interviews und Felddaten« zu erheben, und erst hinterher darüber nachzudenken, »was man mit den Daten machen sollte« (Strauss et al., 2011, S. 74). Genau diese Situation traf ich aber vor, da ich auf einen bestehenden Datensatz, der im Zuge der wissenschaftlichen Begleitforschung erhoben worden war, zurückgreifen durfte. Wie konnte also diesem zweiten Essential Genüge getan werden? Strauss und Corbin sehen das theoretische Sampling auch innerhalb eines bestehenden Datensatzes vor:

Wir meinen, dass Forscher intensives theoretisches Sampling innerhalb ihren tatsächlichen Daten [sic] durchführen können und sollten. Indem sie das tun, stellen sie Vergleiche auf theoretischer Basis an, um dann wie üblich ihre Konzepte zu entwickeln. Diese Verfahren arbeiten gewissermaßen so, als ob ein Interview-Pool sich immer weiter entwickelt oder als ob Interviewpartner entweder überlegt ausgewählt oder als bedeutsam für die Untersuchung erkannt worden wären (1996, S. 164. Hervorhebung im Original).

Das Sampling bezeichnet die Auswahl von Ereignissen und Vorfällen, »die Indikatoren für theoretisch relevante Konzepte sind« (Strauss & Corbin, 1996, S. 164). Interviews zu den zwei Gebietskörperschaften Kreis und Stadt stellen den Datensatz bereit, innerhalb dessen ich das offene, axiale und selektive Kodieren vorgenommen habe. Im Wechsel zwischen den drei Kodierverfahren verändern sich auch die Sampling-Verfahren. Das offene Sampling erfolgt im Zuge des offenen Kodierens, das Sampling von Beziehungen und Variationen gehört zum axialen Kodieren und das diskriminierende Sampling begleitet das selektive Kodieren (Strauss & Corbin, 1996, S. 165). Das konkrete Vorgehen beim Sampeln stelle ich bei der Darstellung des dritten Essentials dar. An dieser Stelle gehe ich auf die Sprecherinnen und Sprecher ein, die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung im Verlauf von fünf Jahren befragt wurden. Die Akteure repräsentieren die theoretische Breite der öffentlich-privaten Partnerschaft. Zu Wort kommen Personen der politischen Spitze und der Projektleitung, Verantwortliche der grundlegenden und erweiterten Aktionsfelder sowie Vertreterinnen und Vertreter von Stiftungen. Eingeflossen sind auch Sichtweisen von Akteuren, die Bildungsarbeit mit jungen Menschen auf der operativen Ebene gestalten: Mitarbeitende von Leuchtturmprojekten im Kreis und der Fachhochschule in der Stadt.

Die Interviews verteilen sich gleichmäßig auf die beiden untersuchten Standorte. Bewegungen im Datenkorpus von insgesamt 46 Interviews lassen sich grob in fünf Phasen einteilen (vgl. Tabelle 6.2).

Tabelle 6.2 Datenkorpus der Gebietskörperschaften Kreis und Stadt

Vier Interviews mit Personen der Projektleitung beziehungsweise mit Bereichsverantwortlichen aus dem Jahr 2011 bilden den Ausgangspunkt des offenen Kodierens (vgl. Tabelle 6.2, Spalte 1). Die Sprecherinnen und Sprecher zählen zu den zentralen Akteuren. Im Konzept der sozialen Welten und Arenen kommt zentralen Akteuren ein maßgeblicher Einfluss in Bezug auf die Bestimmung und Gestaltung von Kernaktivitäten zu. An vier weiteren Gesprächen, die zwischen Forschenden und Projektleitenden im Jahr 2013 stattgefunden hatten, setzte ich das offene Kodieren fort (vgl. Tabelle 6.2, Spalte 2). In den Jahren 2014 und 2015 vertiefte ich die Perspektiven dieser Sprecherinnen und Sprecher, indem ich an Erhebungen der wissenschaftlichen Begleitforschung teilnahm und eigene narrative Gespräche führte (vgl. Tabelle 6.2, Spalten 4 und 5). Zu den Sichtweisen von Projektleitenden kamen dadurch jene aus den grundlegenden Aktionsfeldern der Bildungsübergänge und der Bildungsberatung sowie des Stiftungsverbunds hinzu. Nach Abschluss des Programms stellte mir die wissenschaftliche Begleitforschung sämtliches Interviewmaterial, welches in den beiden Gebietskörperschaften Kreis und Stadt erhoben worden war, zur Verfügung. Damit hatte ich Einblick in den Datensatz von 2012 und konnte meine Beobachtungen auch auf Darstellungen peripherer Akteure ausdehnen (vgl. Tabelle 6.2, Spalte 5). Die drei Sampling-Verfahren im Zuge des offenen, axialen und selektiven Kodierens zeichne ich nachfolgend mit dem dritten Essential, dem ständigen Vergleichen nach.

2.3 Ständiges Vergleichen

Vergleiche, »die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen« (Strauss et al., 2011, S. 74), stellen das dritte Essential dar. Strauss beschreibt die Forschungsphasen als Wechselspiel zwischen Datenerhebungen, dem Kodieren und der Theoriebildung mithilfe des Memoschreibens (1998, S. 46). Der nun folgende Versuch, diese Prozesse nachzuzeichnen, darf nicht als lineares Vorgehen verstanden werden. Die GTM folgt keinem idealtypischen Ablauf, sondern betont »die zeitliche Parallelität und wechselseitige funktionale Abhängigkeit« (Strübing, 2014, S. 11. Hervorhebung weggelassen) der drei Arbeitsschritte.

2.3.1 Offenes Kodieren und Fragen stellen

Beim offenen Kodieren sind nach Strauss und Corbin zwei Verfahren grundlegend: »Das erste Verfahren bezieht sich auf das Anstellen von Vergleichen, das zweite auf das Stellen von Fragen« (1996, S. 44. Hervorhebung im Original). Eine erste Annäherung an den Gegenstand kommunales Bildungsmanagement erfolgte vor dem Hintergrund, dass ich mir das empirisch gehaltvolle Alltags- und Theoriewissen der Sprecherinnen und Sprecher zu erschließen versuchte. Als Forscherin war ich durch das Studium von Konzepten der Educational-Governance-Forschung für das Mehrebenensystem als analytischen Platzhalter für grenzüberschreitende Koordination theoretisch sensibilisiert. Neben diesem nicht gehaltvollen Theoriewissen beruhte mein Alltagswissen zum Phänomen von Mehrebenenspielen auf Erfahrungen im Kontext der Schule.

Hier waren mir der Modus der Profession als Lehrerin und der Modus der Organisation als Schulleiterin mit Schnittmengen zu Akteuren der Schulaufsicht auf Gemeindeebene und der kantonalen Schulaufsicht vertraut. Sprecherinnen und Sprecher der Projektleitung beider Gebietskörperschaften und des Aktionsfelds Bildungsübergänge im Kreis breiteten ihre Expertise im Interviewmaterial vor mir aus. Vier Transkripte, die mir mit mittlerer Genauigkeit (Brüsemeister, 2008, S. 131) vorlagen, bereitete ich so auf, dass sie die offenen Fragestellungen und die dazugehörigen Erzählungen inhaltlich verdichtet darstellen. Zu jedem Interview entstanden so zwei Dokumente: das Transkript und das »in einzelne Teile« (Strauss & Corbin, 1996, S. 44) aufgebrochene Konzept-Dokument. Ich achtete darauf, die Segmente in ihrer Abfolge zu erhalten. Von Strauss und Corbin ausdrücklich dazu ermutigt, beim Schreiben von Memos den eigenen Stil und die eigenen Techniken zu finden und sich dabei nicht streng auf Form und Korrektheit zu fixieren (1996, S. 175), habe ich analytische Überlegungen festgehalten. Das Beispiel des Memos zum natürlichen Code »Eingeweihte Kreise« dokumentiert diese ersten Suchbewegungen (vgl. Tabelle 6.3).

Tabelle 6.3 Beispiel eines Memos zum offenen Kodieren

Es zeigt auch, dass ich mich früh am Paradigma des axialen Kodierens orientierte, insofern ich den Code »Eingeweihte Kreise« als Bedingung betrachtete. Die Fragestellungen (Brüsemeister, 2008, S. 162) leiten die Suche im Datenmaterial an, ohne empirisch gehaltvolle Konzepte an das Datenmaterial heranzutragen. Die Abkürzung K14.11:53–77 gibt Auskunft über die Gebietskörperschaft Kreis, das Konzept-Dokument 14 im Jahr 2011 und die Zeilennummern 53 bis 77 im Transkript. Die Memos legte ich immer mit den entsprechenden Textstellen im Transkript ab. Eckige Klammern bedeuten, dass ich Angaben gestrichen oder pseudonymisiert habe, um die Anonymität zu gewährleisten.

2.3.2 Thematisches Indizieren und synoptische Analyse

Das offene Kodieren habe ich an jedem Interview in gleicher Weise fortgeführt. Es diente dazu, Textsegmente den entwickelten Kategorien zuzuordnen, um Vergleiche anzustellen. Kelle und Kluge sehen den gemeinsamen Kern qualitativer Kodierverfahren darin, dass:

  1. 1.

    Textpassagen indiziert bzw. kodiert werden, indem ihnen bestimmte Kategorien zugeordnet werden,

  2. 2.

    Textpassagen, die bestimmte Kategorien ggf. weitere Merkmale gemeinsam haben, synoptisch verglichen und analysiert werden,

  3. 3.

    und dass angestrebt wird, auf der Grundlage dieses Vergleichs Strukturen und Muster im Datenmaterial zu identifizieren, die dann etwa zur Bildung neuer Kategorien bzw. Subkategorien führen können (2010, S. 59).

Im Datenmaterial beider Gebietskörperschaften fanden sich die natürlichen Codes der »Doppelspitze« (K16.11:17) oder der »Hausspitze« (S10.11:358) mit einer »nach außen und einer nach innen« (S14.11:574) gerichteten Projektleitung. Die Educational-Governance-Perspe sensibilisiert dafür, dass allen Akteuren eines Mehrebenensystems eine Steuerungsfunktion zukommt. Den Begriff der Spitze fand ich daher irritierend, und ich stieß auf die kommunale Verwaltung als bedeutsamen Organisationskern des BMK und KBM. Erklärungsbedürftig erschien mir die Form der Arbeitsteilung. In der Stadt fand ich den Hinweis auf eine veränderte Rollengestaltung im Projektverlauf. Warum brauchte es eine »Projektleitung« und eine »Stellvertretende Projektleitung«? (vgl. Tabelle 6.4).

Tabelle 6.4 Thematisches Indizieren und synoptische Analyse

Der Vergleich von zwei Textstellen mit zwei unterschiedlichen Sprechern fördert nicht nur »eine neue Qualität in der Bewusstmachung« (S02.13:286) bezüglich der Wahrnehmung von Lernen vor Ort zutage, sondern auch den Bedarf, die »Kommunikation« innerhalb der Stadtverwaltung »stärken« (S04.13:33) zu wollen. Wie sich später zeigen sollte, liegt in diesem Kommunikationsbedarf ein Indiz für die Institutionalisierung des KBM als ressortübergreifendes Format. Die Kohärenzidee ließ sich nicht aussitzen, sondern musste mit »Verständigungskraft« (Münch, 2015, S. 345) legitimiert werden.

2.3.3 Promotionskolleg

Mit Beginn der Promotionsvorhabens bildete die »Projektegruppe: Promotionskolleg« eine eigene soziale Welt, in der sich eine Handvoll Menschen in einer onlinegestützten Plattform versammelte. Thomas Brüsemeister hatte sie im August 2012 ins Leben gerufen, damit sich Doktorandinnen und Doktoranden zusätzlich zu den Präsenztreffen, die regelmäßig an der Universität Gießen stattfanden, rund um Fragen ihres Forschungsvorhabens austauschen konnten. Parallel zur Berufsarbeit als Primarlehrerin konnte ich auf diese Weise forschen. Eine wichtige Weichenstellung war die ›Entdeckung‹ des Konzepts der sozialen Welten (vgl. Tabelle 6.5).

Tabelle 6.5 ›Entdeckung‹ der Soziale-Welt-Theorie

Daran schloss sich eine lange und intensive Auseinandersetzung mit Texten von Strauss, Clarke, Schütze und Soeffner in Verbindung mit Konzepten der Educational-Governance-Forschung an. Die von Brüsemeister angesprochene Vorstellung von Professionalisierung jenseits eines »Super-Profi-Dachhimmels« führte mich zur vergleichenden Erkundung der Dimensionen von Profession, Professionalisierung, Professionalität und Professionsentwicklung. Ich konnte dadurch erkennen, dass der Aufbau eines BMK und KBM auf verschiedenen Aggregatebenen des Sozialen betrachtet werden kann und insbesondere deren Verknüpfung für das Verständnis gesellschaftlicher Integration gewinnbringend sein könnte.

2.3.4 Arbeitsgruppe Lernen vor Ort

Eine weitere wichtige Quelle für die Auseinandersetzung mit gehaltvollem Theoriewissen stellte die Möglichkeit dar, Einblick in die Arbeit der wissenschaftlichen Begleitforschung zu erhalten. Im Jahr 2014 konnte ich Thomas Brüsemeister bei der Erhebung von Daten in die Lernen-vor-Ort-Kommunen Kreis und Stadt begleiten. Hier hatte ich Gelegenheit, mit je zwei Projektleitenden beider Gebietskörperschaften ein narratives Interview zu führen. Dieses Vorgehen war der Entwicklung der Fragestellung geschuldet. Der erste in STUD.IP dokumentierte Entwurf lautet: »Kampf um Autonomie – Eine konflikttheoretische Analyse von Bildungsmanagement«. Nachdem ich das Promotionsvorhaben anlässlich der Gießener Methodenwerkstatt im März 2013 vorgestellt und Rückmeldungen dazu erhalten hatte, passte ich die Fragestellung an: »Mit welchen Chancen und Gefährdungen geht Professionalisierung im Bildungsnetzwerk für Lernen-vor-Ort-Mitarbeitende einher?«. Diese Verschiebungen zeugen von den Suchbewegungen beim qualitativen Forschen. Rückblickend betrachtet, bilden die Fragestellungen ab, dass ich von Beginn an sowohl die institutionelle als auch individuelle Dimension von Professionalisierung im Blick hatte. Mit dem narrativen Interview lag der Fokus auf der individuellen Dimension. Mich trieb die Frage um, wie sich das Engagement der Protagonistinnen und Protagonisten, welches aus den ersten Interviews herausstach, erklären ließ. Das empirisch gehaltvolle Alltags- und Theoriewissen der Sprecherinnen und Sprecher sollte später als Biographisches Kapital in die Vorgeschichte der analytischen Erzählung einfließen.

Die Matrix für Vergleiche unterscheidet Bedingungen, Strategien und Konsequenzen. Im Bereich der Bedingungen leiten zwei Fragestellungen die Vergleiche an:

  • Von welchen Strukturen, Konstellationen, Aggregationen wird das interessierte Handeln beeinflusst?

  • Welche Situation nimmt der Handelnde selbst wahr? (Brüsemeister, 2008, S. 162).

Die Aspekte »Kampf um Autonomie« in Verbindung mit »Chancen und Gefährdungen« entspringen den Eindrücken, die sich mir nach dem offenen Kodieren der ersten Interviews aufdrängten. Das hohe Commitment, sich auf Unwägbarkeiten eines Projektarbeitsbogens einzulassen, interpretiere ich heute als spannungsgeladenes Wollen in Anbetracht unabweisbarer Constraints. Damals nahm ich diese Spannung vor dem Hintergrund meines professionellen Engagements in einer ›Komfortzone‹ wahr. Geklärt haben wollte ich die Frage: Woher kommt es, sich im Rahmen von Projekten fortgesetzt und freiwillig einer kumulativen Unordnung auszusetzen?

Parallel zur Entdeckung der Kategorien Biographisches Kapital und Commitment konnte ich den Fortgang der wissenschaftlichen Begleitforschung beobachten und mit dem Konzept der sozialen Welten und Arenen auch einen ersten theoretischen Beitrag leisten (Lindner, Niedlich, Klausing & Brüsemesister, 2016, S. 47–73). Die im Band »Kommunales Bildungsmanagement als sozialer Prozess« versammelten »Studien zu ›Lernen vor Ort‹« (AG Lernen vor Ort, 2016) bilden einen wichtigen Fundus, aus dem ich auf dem Weg der Schaffung empirisch gehaltvollen Theoriewissens im Rahmen meines Forschungsvorhabens schöpfen konnte. Insbesondere die »Karriere des Bildungsmonitorings« (Opper, 2016, S. 138), das Modell der Institutionalisierung (Rädler & Niedlich, 2016, S. 139–164) und die Regelungsbereiche des erneuerten Governance-Equalizers (Brüsemeister, 2016a, 2016c; Lindner et al., 2016, S. 99–110) zog ich als analytische Denk- und Vergleichswerkzeuge heran, um eine Heuristik zur Befragung des Datenmaterials zu entwickeln.

2.3.5 Entwicklung einer Heuristik zur Befragung des Datenmaterials

Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Sozialwelt-Theorie stieß ich nicht nur auf die theoretische Modellierung sozialer Welten und Arenen von Clarke (1991, S. 158), sondern auch auf die Situationsanalyse, die sie als Weiterentwicklung der GTM und als eigenen Ansatz präsentiert. Die Mapping-Strategien verbindet sie mit drei Zielsetzungen. Erstens versteht sie diese als analytische Übungen, die das Forschungsprojekt begleiten (Clarke, 2012, S. 121). Zweitens können diese bei »schon leicht ›vorverdauten‹ Daten«, (Clarke, 2012, S. 121), also bereits kodierten Daten, zum Einsatz kommen. Drittens dienen sie dem »Schwelgen in den Daten«, (Clarke, 2012, S. 122), das in Verbindung mit dem Memoschreiben dazu führen soll, neue Aspekte in den Daten zu erkennen. Das von Clarke stark gemachte Konstruieren und Machen eines postmodern-konstruktivistischen gegenüber dem Entdecken und Finden des traditionell-positivistischen GTM-Verständnisses hat mich dazu ermutigt, eine eigene Suchfolie zu entwickeln. Das Ende der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Programm Lernen vor Ort markierte für mich somit den Anfang für das eigene Forschungsprojekt, für dessen analytische Begleitung ich ein systematisches Verfahren suchte. Dass mir dazu ein ›vorverdauter‹ Datensatz zu Verfügung stand, bestärkte mich für den Turn vom Entdecken zum Konstruieren und auch die Einladung zum »Schwelgen in den Daten« mithilfe des Memoschreibens war mir willkommen. Nachdem ich an ausgewählten Codes und Kategorien Situations-Maps, Maps von Sozialen Welten und Arenen sowie Positions-Maps erstellt hatte, konstruierte ich mir eine ›Suchmaschine‹, mit der ich alle analytischen Schritte steuern konnte. Die Kategorien der Heuristik sind auf drei Ebenen angeordnet, die als Quader zu denken sind, hier aber flach dargestellt werden (vgl. Tabelle 6.6).

Tabelle 6.6 Heuristik zur Befragung des Datenmaterials

Ebene A beinhaltet die Arbeitsphasen des Institutionalisierungsmodells von Rädler und Niedlich (2016, S. 144). Diese Kategorien behandle ich als empirisch gehaltlose Kategorien (Kelle & Kluge, 2010, S. 62). Ebene B beschreibt die Arenen. Diese Kategorien sind zum Teil aus sozialwissenschaftlichen Theorien mittlerer Reichweite abgeleitet wie die Arena (Un-)Bewusstheit, bei der ich mich an den von Glaser und Strauss entwickelten offenen oder geschlossenen Bewusstheitskontexten orientiere. Die Arena-Dimensionen verstehe ich vor dem Hintergrund des systemtheoretischen Vermittlungs-Konzeptes als positive und negative Codewerte (Kade, 1997). Hier kommen ein nicht gehaltvolles abstraktes theoretisches Konzept und Alltagskonzepte sowie empirisch gehaltvolle Kategorien zusammen. Die Dimensionen Lernen vor Ort als Projekt und Lernen vor Ort als Programm entstammen dem Transferhandbuch einer der 35 beteiligten Kommunen. Sie beschreiben die Verstetigung von Systeminnovationen durch den Transfer: »Es geht bildlich gesprochen darum, die im Projekt entwickelten Innovationen, die zunächst ›Prototypen‹ sind, so zu verändern, dass sie auch woanders funktionieren, also ›Serienreife‹ bekommen« (Rullmann & Uske, 2014a, S. 7). Das temporäre und permanente Engagement steckt die Eigenschaften der Arena (Un-)Verantwortlichkeit ab. Diese Dimensionen umklammern das aus den narrativen Interviews gewonnenen Phänomen des »Programmschachtelns« (Brüsemeister, 2015a, S. 81) als spezifische Form der Beruflichkeit mit dem Wunsch, nicht »immer nur mit einer Sorte Professionalität zu tun« (K04.14:991) haben zu wollen. Das Konzept der (Un-)Verantwortlichkeit ist darüber hinaus von der Auseinandersetzung mit dem Neuen Steuerungsmodell inspiriert. In der Schrift »Von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen – Die Kommunen brauchen ein neues Steuerungsmodell« bezeichnet Banner das bürokratische System als »ein System organisierter Unverantwortlichkeit« (1991, S. 6–11). Die Arena (Un-)Beteiligung legte anfänglich Suchbewegungen zur Frage nach der Offenheit und Geschlossenheit gegenüber Akteuren der Zivilgesellschaft nahe. Diese am Interviewleitfaden und somit an Alltagskonzepten orientierte Vorgehensweise verschob sich durch das Literaturstudium zu den empirisch gehaltvollen Kategorien der Mono- und Multirationalität. Die Arena (Un-)Sichtbarkeit habe ich nach einem Regelungsbereich des erneuerten Governance-Equalizers benannt (Brüsemeister, 2015b). Früh zeigte sich in den Daten ein Wechselspiel zwischen Verfügungsrechten als Normen und Verfügungsrechten als Ressourcen. Pionierkommunen sahen vor allem Möglichkeiten, um weitere kreisangehörige Städte für die Idee eines kohärenten Bildungswesens zu gewinnen, aber auch Grenzen in Bezug auf das mit dem Programm transportierte Erfordernis der wettbewerbsorientierten Darstellung von Standortvorzügen. Ein Zusammenhang zeichnete sich zwischen den Arenen (Un-)Bewusstheit und (Un-)Sichtbarkeit dahingehend ab, dass eine Orientierung am biographischen Kapital andere Herausforderungen für das Sichtbarmachen des Engagements aufwirft als eine Orientierung an datengestützter Reflexion.

Ebene C1bezeichnet die Arbeitstypen nach Schütze, die Feindt und Broszio (2008) mit einer Inhalts-, Planungs-, Sozial- und Evaluationskomponente aufgreifen. Ich habe diese zu den Aufgabenkomplexen (C2) Kernaktivitäten bestimmen, Handlungslogiken antizipieren, Leistungsbeziehungen herstellen und Spannungslagen ausbalancieren gebündelt. Die Arbeitstypen bilden die kleinsten Handlungseinheiten. Sie stehen für das Verhältnis von Raum und Zeit des Trajectory. Nach Soeffner sind beide Dimensionen »Ausdrucks- und Anschauungsformen der Bewegung«, wobei der Raum das zu Verändernde und die Zeit das sich Verändernde darstellt (1991, S. 5. Hervorhebung im Original). Die Interpretation von Handlungsdokumenten bedeutet daher die Rekonstruktion einer Handlungssituation sowie deren Vergangenheit und Zukunft (Soeffner, 1991, S. 5). Die Aufgabenkomplexe enthalten diese drei Zeitlichkeiten: Das Antizipieren von Handlungslogiken hebt auf die Zukunft, das Herstellen von Leistungsbeziehungen auf die Gegenwart und das Ausbalancieren von Spannungslagen auf die Vergangenheit ab. Kernaktivitäten verstehe ich mit dem didaktischen Dreieck der Kommunikation als Thema der Erziehung und damit als Subkategorien gesellschaftlicher Integration. Arbeitstypen und Aufgabenkomplexe gehen zwar auf Strauss‘ Forschung zurück, sind von Schütze dann aber zu abstrakten Komponenten generalisiert worden. Ich behandle sie als empirisch gehaltlose theoretische Konzepte.

Alle drei Ebenen stehen im Dienst des »Theorie-Methoden-Pakets« (Clarke, 2012, S. 48) und gehen von einer »Kohärenz zwischen Sozialtheorie und sozialwissenschaftlichen epistemologischen Erkenntnispraktiken« (Diaz-Bone, 2013, S. 191) aus. Ebene A kombiniert das GTM-Kodierparadigma mit der zeitlichen Durchgliederung von Bedingungen, Strategien und Konsequenzen mit Kategorien, die aus der wissenschaftlichen Begleitforschung hervorgegangen sind und daher nahe am Gegenstand sind. Die Ebenen B und C entstammen dem Kategorienvorrat der Sozialwelt-Theorie. Bei der Bestimmung der Aufgabenkomplexe habe ich mich auch an empirisch gehaltlosen Kategorien der Educational-Governance-Perspektive orientiert. Textsegmente, die ich durch offenes Kodieren an nun allen mir vorliegenden Interviews gewonnen hatte, konnte ich auf diese Weise den Arbeitsphasen, Arenen und Aufgabenkomplexen zuordnen. Den Aufbau eines BMK und KBM verstehe ich als Artikulationsprozess, der mit dem Ende des Projekts Lernen vor Ort zu einer spezifischen Form der Institutionalisierung eines kommunalen Bildungsmanagements führt. Das Programm Lernen vor Ort setzt sich mit der anschließenden Transferinitiative fort, die als Übergang noch Gegenstand dieser Arbeit ist. Die verschiedenen Kategorien bilden in ihrem Zusammenwirken eine Arbeitslinie, die ich mit Seltrecht (2016, S. 164) als generalisiertes und abstraktes Aufgabenspektrum des Berufs der kommunalen Koordinatorin beziehungsweise des kommunalen Koordinators lese, an dessen Etablierung aber mehrere Berufsgruppen in Projektarbeitsbögen mitgearbeitet haben. Die Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration ist eine Verflechtung der institutionellen mit der individuellen Dimension von Professionalisierung. Die Parallelführung der Institutionalisierung eines BMK und KBM und der Professionalisierung der kommunalen Koordinatorinnen und Koordinatoren findet mit der Heuristik in jeder Gebietskörperschaft auf je 100 Feldern statt. In jeder Arbeitsphase kommen in fünf Arenen die vier Aufgabenkomplexe zum Tragen.

2.3.6 Integration der Heuristik in das Kodierparadigma

Die analytische Geschichte einer Governance grenzüberschreitender Professionalisierung stelle ich mit einer Vor-, Haupt- und Nachgeschichte dar. Diese Begrifflichkeiten verwende ich im Sinn einer prozessbezogenen Organisationsforschung analog zu den Bedingungen, Strategien und Konsequenzen (Brüsemeister, 2020, S. 20). Ich folge der Vorstellung von Brüsemeister, dass die am Aufbau eines BMK und KBM beteiligten Akteure in unterschiedlichen Prozessen aktiv sind. Akteure begreife ich als Repräsentanten des ökonomischen, politischen, gemeinschaftlichen und sozial-kulturellen Systems. Es interagieren somit auch Funktionssysteme. Daten breche ich aber über die Sprecherinnen und Sprecher auf. Offene Codes der Vorgeschichte bilden theoretische Konzepte der Bedingungen zum sozialen Phänomen der grenzüberschreitenden Professionalisierung und gesellschaftlichen Integration. Das Phänomen ist die »zentrale Idee, das Ereignis, Geschehnis« (Strauss & Corbin, 1996, S. 79), auf das die Handlungen und Interaktionen gerichtet sind. Die Schlüsselkategorie ist umlagert von ursächlichen, kontextuellen und intervenierenden Bedingungen. Ich orientiere mich hier an der klassischen GTM-Version von Strauss und Corbin und halte Ausschau nach Ereignissen und Vorfällen, die zum Auftreten oder zur Entwicklung eines Phänomens führen (1996, S. 79). Kontextuelle Bedingungen stellen einen spezifischen Satz von Eigenschaften dar, bei denen das Phänomen auftritt (Strauss & Corbin, 1996, S. 80–81). Intervenierende Bedingungen stellen den strukturellen Kontext des Phänomens dar. Sie wirken fördernd oder hemmend auf die Handlungen und Interaktionen ein (Strauss & Corbin, 1996, S. 83–84). Die Vorgeschichte mit den eigentlichen Ideen des Programms stelle ich mit den Konzepten Biographisches Kapital und Commitment für beide Gebietskörperschaften in jeder Arena mit ihren ursächlichen, kontextuellen und intervenierenden Bedingungen dar. Diese Bedingungen münden in die Hauptgeschichte. Hier kommt nun die Heuristik mit den drei Ebenen zur Anwendung. Sie bilden mit Handlungs- und Interaktionsstrategien die Verfahren, die ihrerseits in die Nachgeschichte mit den Ergebnissen übergehen. Ideen der Vorgeschichte begründen die Handlungsrationalität, Verfahren der Hauptgeschichte die Verfahrensrationalität und Ergebnisse der Nachgeschichte die Ergebnisrationalität (Brüsemeister, 2020, S. 20).

2.3.7 (Re-)Konstruktion einer Kategorie an einem Beispiel

Am Beispiel der Kategorie Leuchttürme als Weichensteller für ein Bildungsmanagement auf kommunaler Ebene stelle ich das Vorgehen bei der (Re-)Konstruktion der Subkategorien in Bezug auf das biographische Kapital dar. Textstellen habe ich zunächst nahe an den Aussagen der Sprecherinnen und Sprecher mit natürlichen Codes den ursächlichen, kontextuellen und intervenierenden Bedingungen zugeordnet. Diese subsumtive Indizierung (Kelle & Kluge, 2010, S. 61) habe ich für die Ebene des Kreises, der Städte und des Programms an mehreren Interviews der Gebietskörperschaft Kreis (K06.11; K14.11; K16.11; K18.11; K08.12) vorgenommen (vgl. Tabelle 6.7). Vergleiche finden hier zwischen Akteuren der Projektleitung, der politischen Spitze und Aktionsfeldern statt und beziehen sich inhaltlich auf einen frühen Zeitpunkt im Projektverlauf.

Tabelle 6.7 Subsumtive Indizierung des Datenmaterials

Das hypothetische Schlussfolgern orientiert sich an der Frage: »Wie bearbeitet der Kreis (Un-)Beständigkeit zwischen Wandel und Stabilität von Bildungsstrukturen?« (vgl. Tabelle 6.8).

Tabelle 6.8 Natürliche und konstruierte Codes zum biographischen Kapital des Landes

Das biographische Kapital des Landes habe ich als konstruierten Code festgelegt. Es definiert sich durch kontextuelle und intervenierende Bedingungen, die das Können der Akteure mit spezifischen Ressourcen ausstatten. Regionale Bildungsnetzwerke als Dauereinrichtung beeinflussen das Können hinsichtlich der Beständigkeit von Systeminnovationen ermöglichend. Da das Regionale Bildungsbüro und die Regionalen Bildungsnetzwerke auf Dauer angelegt sind, stellt dies aus Sicht des Sprechers »sehr gute Voraussetzungen für eine gute Umsetzung der Lernen-vor-Ort-Themen« (K16.11) dar. Diese Beobachtung regt zur vergleichenden Fragestellung an, ob es auch Ressourcen als Sollen gibt, die mit Restriktionen durch das RBN einhergehen. Ein Zusammenzug des biographischen Kapitals auf den Ebenen der Zivilgesellschaft, des Programms, des Landes und des Kreises ergibt einen Satz von Eigenschaften des biographischen Kapitals der Leuchttürme, die ich als Programmerbe, RBN als Dauereinrichtung, »verschiedene Töpfe auf dem Herd« und Leuchttürme mit begrenzter Strahlkraft kodiert habe.Footnote 16

Im Übergang zur Hauptgeschichte stellen Leuchttürme die Weichen für ein Bildungsmanagement auf kommunaler Ebene im Kreis mit vier Aufgabenkomplexen (vgl. Tabelle 6.9).

Tabelle 6.9 Aufgabenkomplexe zur Kategorie »Leuchttürme als Weichensteller für ein BMK«

Links in der Tabelle 6.9 sind die Aufgabenkomplexe (C2) und die Komponenten der Arbeitstypen nach Schütze sowie Feindt und Broszio (C1) dargestellt. Rechts dazu habe ich die aus dem Datenmaterial (re-)konstruierten Codes aufgeführt. Diese Kodierung hatte zunächst vorläufigen Charakter. Den Aufgabenkomplex Kreis und Land in der Kommune verbinden veränderte ich zum Code Eine staatlich-kommunale Verantwortungsgemeinschaft initiieren, als ich nach der entsprechenden Kernaktivität der Stadt suchte. In den Daten zeigt sich, dass die Stadt (nachhaltige) Strukturen für das Bildungsressort in der Stadtverwaltung von Beginn an auf Dauer stellen will. Auch die Aufgabenkomplexe Leistungsbeziehungen herstellen und Spannungslagen ausbalancieren differenzierten sich durch den synoptischen Vergleich von Textstellen noch weiter aus.

2.3.8 Memoing und Erweiterung der Fragestellung

Das Datenmaterial mit 46 Interviews habe ich entlang von je 100 Feldern der Gebietskörperschaften Kreis und Stadt aufgebrochen und zu insgesamt 200 Memos verarbeitet. Memos sind »schriftliche Analyseprotokolle, die sich auf das Ausarbeiten der Theorie beziehen« (Strauss & Corbin, 1996, S. 169). Jedes Memo habe ich zunächst mit einer dreispaltigen Tabelle erfasst, die Beobachtungsnotizen, theoretische Notizen und methodische Notizen unterscheidet. Beobachtungsnotizen »dienen dazu, die Situation der Beobachteten (wie sieht sie für die Akteure aus?) möglichst deskriptiv, ›naturalistisch‹, ›wortgetreu‹, festzuhalten« (Brüsemeister, 2008, S. 82). Theoretische Notizen erfassen die theoretische Situation aus der Sicht der Forscherinnen und Forscher (Brüsemeister, 2008, S. 82). Methodische Notizen dienen dazu, das Vorgehen zu reflektieren und die Gegenstandsangemessenheit zu demonstrieren. Forscherinnen und Forscher »müssen festhalten, was sie wann, warum beobachtet haben, mit welchen Erfolgen/Nachteilen; es muss dokumentiert sein, was bei nachfolgenden Beobachtungen verändert wurde und warum« (Brüsemeister, 2008, S. 82–83).

Da ich weniger ethnographische Erkundungen im Feld, sondern vor allem Beobachtungen innerhalb des Datenmaterials gemacht habe, definiere ich die Beobachtungsnotizen mit natürlichen Codes und theoretische Notizen mit konstruierten Codes (vgl. Tabelle 6.10).

Tabelle 6.10 Tabellen-Memo zur Phase  Rahmenbedingungen klären der Stadt in der Arena (Un-)Verantwortlichkeit

Code S01.02.03 bezieht sich auf das offene Sampling innerhalb des Datenmaterials der Stadt zur Phase Rahmenbedingungen klären (S01) der Arena (Un-)Verantwortlichkeit (02) zum Aufgabenkomplex Leistungsbeziehungen herstellen (03). Diesen Aufgabenkomplex vergleiche ich mit Code S01.02.04, den ich als Spannungslagen ausbalancieren bezeichnet hatte. Der Vergleich rund um die Achse (Un-)Verantwortlichkeit beinhaltet zwei Zeitlichkeiten. Während die Erfassung und Systematisierung von Angeboten für die Bildungskette von Bürgerinnen und Bürgern der Stadtgesellschaft gegenwärtig geleistet wird, verweist die Erzählung, in der Verwaltung mit Macht operiert und harte Argumentationsrunden geführt zu haben, auf eine evaluative Rückschau. Der von mir konstruierte Code Interessenvielfalt als Weichensteller für die Entwicklung von Zeigeformaten umklammert beide Aufgabenkomplexe. Die methodischen Notizen beziehen sich auf die Schlüsselkategorie grenzüberschreitende Professionalität. Der Vergleich beider Aufgabenkomplexe zeigt unterschiedliche Modi beim Herstellen kollektiver Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Art und Weise, wie das Publikum an Leistungsempfängern (vgl. Abschnitt 2.1) in den Blick kommt. Im Zuge dieses axialen Kodierens habe ich die erste Fragestellung erweitert:

  • Wie stellen ein BMK und KBM kollektive Handlungsfähigkeit her?

  • Welchen Beitrag leistet diese kollektive Handlungsfähigkeit zur gesellschaftlichen Integration?

Grenzüberschreitende Professionalität operationalisiere ich mit bereichsübergreifender Zusammenarbeit, gesellschaftliche Integration mit der Aufmerksamkeit für das unmittelbare People-Processing. Die Art und Weise, wie die Personveränderung (Stichweh, 2013, S. 326) in den Blick kommt, stellt eine zentrale Beobachtung im Datenmaterial dar. Sie wird zum Kern einer Typologie zum Konzept der gesellschaftlichen Integration: Unmittelbares People-Processing kommt in den Blick oder nicht. Das KBM entwickelt damit zwei unterschiedliche Aufmerksamkeiten. Die Herstellung von Transparenz adressiert Bürgerinnen und Bürger, harte Argumentationsrunden innerhalb der Stadtverwaltung lassen Belange von Leistungsempfängern verblassen, die Organisation befasst sich mit sich selbst. Für jeden Code habe ich unterhalb des Tabellen-Memos ein Fließtext-Memo erstellt. Die methodischen Notizen zu diesen Memos kreisen um die erweiterte Fragestellung zur gesellschaftlichen Integration. Die Kategorie Interessenvielfalt als Weichensteller für die Entwicklung von Zeigeformaten hat mit den beiden natürlichen Codes S01.02.03 und S01.02.04 zwei Ausprägungen. Leistungsbeziehungen, welche die Publikumsrolle antizipieren, beschreibe ich mit dem Typus Systemintegration entwickelt sozialintegratives Potenzial. Das aufgeführte Memo dazu (vgl. Tabelle 6.11) dokumentiert, wie ich diesen Typus mit Datenmaterial belege.

Tabelle 6.11 Fließtext-Memo zum natürlichen Code »Angebote für die Bildungskette von Bürgerinnen und Bürgern der Stadtgesellschaft erfassen, systematisieren und transparent machen«

Die Partnerschaft mit zwei Bildungsinstitutionen nutzt das KBM mit der Zielperspektive, »normale Biographien zu durchbrechen« (S14.11:458–466). Es rahmt dieses Wollen mit der Bereitstellung eines kohärenten Angebots, um den Fachkräftebedarf zu sichern und den Standort attraktiv zu halten. Leistungsbeziehungen adressieren mittelbar junge Menschen als Bürgerinnen und Bürger der Stadtgesellschaft und unmittelbar jene Akteure, die sich für das Bereitstellen eines kohärenten Bildungsangebots der Stadt zusammenschließen. Im Memo werden auch die Zitierformen ersichtlich. Einen natürlichen Code kürze ich immer mit dem Standort (K oder S), der Phase, der Arena und dem Aufgabenkomplex ab. Der konstruierte Code ist die alle jeweils vier Aufgabenkomplexe umfassende Kategorie. Zitate zum Datenmaterial sind innerhalb eines Memos mit dem Standort (K oder S), der Nummer des Transkripts, dem Jahr der Erhebung und den Zeilennummern im Transkript angegeben.

Die zweite Ausprägung beschreibe ich mit dem Typus Systemintegration (vgl. Tabelle 6.12).

Tabelle 6.12 Fließtext-Memo zum natürlichen Code »In der Verwaltung mit Macht operieren und harte Argumentationsrunden führen«

Er basiert auf der Beobachtung, dass sich Strategien an bereichsübergreifender Zusammenarbeit orientieren, ohne dass Fragen des unmittelbaren People-Processing in den Blick kommen. Code S01.02.04 dokumentiert den Aufgabenkomplex Spannungslagen ausbalancieren mit dem Ringen um eine grundlegende Arbeitsfähigkeit für das Projekt Lernen vor Ort innerhalb der Stadtverwaltung. Dem Wollen des KBM steht jenes von Repräsentanten des politisch-administrativen Systems innerhalb der Stadtverwaltung gegenüber. Die Weisungsmacht des Hauptverwaltungsbeamten regiert schließlich durch.

2.3.9 (Re-)Konstruktion einer Typologie gesellschaftlicher Integration

Die Kritik von Emmerich und Mitarbeitenden im Hinterkopf, dass Regionalisierung das Ziel der Sozialintegration verfehle, »weil sie primär auf der Ebene der Systemintegration« (2011, S. 20) ansetze, suchte ich im Datenmaterial nach Hinweisen zur unmittelbaren Personveränderung. Ein Vergleich mit demselben Aufgabenkomplex zur Gebietskörperschaft des Kreises förderte einen neuen Typus zutage (vgl. Tabelle 6.13).

Tabelle 6.13 Tabellen-Memo zum Aufgabenkomplex Spannungslagen ausbalancieren von Stadt und Kreis in der Arena (Un-)Verantwortlichkeit

Zum natürlichen Code K01.02.04 habe ich die Kategorie Die Not zu handeln als Weichensteller für die Koordination von Zeigen und Lernen entwickelt. Anders als in der Stadt können kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren hier nicht mit Weisungsmacht operieren, sondern Kraft ihres biographischen Kapitals des Unruhestiftens und pädagogischen Programmschachtelns. Sie betreiben ein proaktives Konfliktmanagement, um das politisch-administrative System für ihr Anliegen zu gewinnen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit dezidiert auf Publikumsrollen und adressieren Kinder und deren Eltern mit einem erweiterten Bildungsverständnis. Sie übernehmen eine Anwaltschaft für unbearbeitete Schnittstellen, indem sie Übergänge von der Kita in die Grundschule beleuchten wollen: Strategien vermitteln in Hegemonie- und Domänenspielen, bei denen unmittelbares People-Processing beeinträchtigt werden könnte. Dieser dritte Typus korrespondiert mit der Zielperspektive, Operationen des Zeigens und Lernens zu koordinieren, während das KBM lediglich auf die Entwicklung von Zeigeformaten abhebt und die Nutzungsseite unbearbeitet lässt. Auch den Typus Systemintegration entwickelt sozialintegratives Gefährdungspotenzial belege ich mit einem Fließtext-Memo (vgl. Tabelle 6.14).

Tabelle 6.14 Fließtext-Memo zum natürlichen Code »Das Föderalismusproblem durch Unruhestiften und pädagogisches Programmschachteln bearbeiten«

Der Vergleich mit der Stadt macht deutlich, dass die Modi der Integration unterschiedlich auf das individuelle biographische Kapital zurückgreifen. Auch das BMK arbeitet sich am politisch-administrativen System ab. Während kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren des KBM durch Organisationsmacht geschützt sind, gibt es im Kreis eine solche noch nicht. Lernen-vor-Ort-Verantwortliche erleben die Arbeit mitunter als »unheimlich« anstrengend und kräftezehrend (K92.14:546–548). Koordinationsarbeit im Schutz der Organisation oder unter Rückgriff auf individuelles biographisches Kapital habe ich mit der Intensität grenzüberschreitender Professionalität kodiert. Ausgehend von den drei Typen gesellschaftlicher Integration habe ich zunächst eine entgegengesetzte Lesart extrapoliert, ohne zunächst zu wissen, ob diese Typen im Datenmaterial auch auftauchen. So hatte ich eine weitere ›Suchmaschine‹, mit der ich die (re-)konstruierten Aufgabenkomplexe daraufhin befragen konnte, wie sie gesellschaftliche Integration bearbeiten (vgl. Tabelle 6.15). Die Typologie bestand zunächst aus sechs TypenFootnote 17.

Tabelle 6.15 Typen gesellschaftlicher Integration

Für die Zuordnung der Aufgabenkomplexe auf die Typen gesellschaftlicher Integration schien mir die externe Heterogenität mit dieser Systematisierung hinreichend gegeben (Kelle & Kluge, 2010, S. 85). Die Typen unterscheiden sich auf der Ebene der Typologie durch die vorgenommene Operationalisierung deutlich. Zudem musste ich die interne Homogenität berücksichtigen und darauf achten, dass die den Typen gesellschaftlicher Integration zugeordneten Aufgabenkomplexe möglichst ähnlich sind. Die Suchbewegungen und Entdeckung weiterer Typen nahm ich durch ständiges Vergleichen mit Hilfe eines Code-Buchs vor.

2.3.10 Entwicklung und Einsatz eines Code-Buchs

Ein Code-BuchFootnote 18 diente dazu, Vergleiche vorzunehmen. Es ist nach Arenen aufgebaut. Jede Arena ist in fünf Arbeitsphasen unterteilt und jede Arbeitsphase in vier Aufgabenkomplexe. Die natürlichen Codes einer Arbeitsphase und die diese umfassenden Kategorien sind vergleichend für beide Gebietskörperschaften Kreis und Stadt aufgeführt. Jeden Aufgabenkomplex glich ich mithilfe der Typologie ab und wies ihn einem Typ gesellschaftlicher Integration zu. Lediglich ein natürlicher Code ließ sich zum Typ 1 gesellschaftlicher Integration, für die Sozialintegration, finden: Kraft und Zeit für Analyseprozesse verwenden (vgl. Abschnitt 9.3.1). Kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren im Kreis arbeiten der Beständigkeit eines BMK zu, indem sie eine Vernetzungskultur transfieren. Das KBM schafft Transparenz, um das, was ist, zusammenzubringen. Der natürliche Code des Aufgabenkomplexes Leistungsbeziehungen herstellen repräsentiert eine ausgeprägte Aufmerksamkeit für das unmittelbare People-Processing und geht mit einem Unverständnis für Analyseprozesse einher, die in bereichsübergreifender Zusammenarbeit geleistet werden.

Am Aufgabenkomplex Kommunikation ins Lernen-vor-Ort-Team hinein und in die Kommunen hinaus aufrechterhalten konnte ich sehen, wie das BMK unterschiedliche Sinnhorizonte und damit verbundene Interessenlagen zusammenführt. Dieser Code der Arbeitsphase Relevante Akteure und Daten bestimmen der Arena (Un-)Beteiligung (K02.03.02) steht für eine weitere Aufmerksamkeit, die ich als Misch-Typ 3/4 konzeptioniert habe. System- und sozialintegratives Potenzial werden ins Gespräch gebracht. Ohne den je anderen Modus ›überschreiben‹ zu wollen, machen Entwicklungswerkstätten als Format bereichsübergreifender Zusammenarbeit organisations- und professionsbezogene Kommunikationsarten der Bildungslandschaft bewusst.

Im Unterschied zum Misch-Typ 3/4, der proaktive Räume der Vermittlung schafft, habe ich einen weiteren Typ gefunden, der sich reaktiv offen zu Tage tretenden Konflikten stellt. Ich bezeichne ihn als Misch-Typ 5/6, da er system- und sozialintegratives Gefährdungspotenzial ins Gespräch bringt. Dieser Typus findet sich fast ausschließlich im Kreis und unter natürlichen Codes, die ich unter den Aufgabenkomplex Spannungslagen ausbalancieren subsumiert hatte. Darüber hinaus habe ich die Spannungslagen der letzten Arbeitsphase aller Arenen im Übergang zur Transferinitiative auf den Misch-Typ 5/6 im Kreis und auf den Misch-Typ 3/4 in der Stadt zugespitzt. Die Erklärung liegt darin, dass das BMK mit der Verstetigung des Programms Lernen vor Ort im Regionalen Bildungsnetzwerk Zuständigkeiten zwischen den drei Hauptverwaltungsebenen des Bundes, des Landes und der Kommunen vermittelt. Diese Vermittlungsarbeit manifestiert sich konfliktreich bei der Moderation der Zusammenarbeit zwischen dem pädagogischen Personal der Kindertagesstätten und der Grundschulen. Am Fließtext-Memo zum Code Kommunen und Kreis ins Gespräch bringen (K04.02.04) zeige ich diesen Zusammenhang auf (vgl. Abschnitt 10.2.1). Die Zusammenarbeit zwischen Kitas und Grundschulen kennzeichnet sich durch ein Hegemoniespiel innerhalb des pädagogischen Systems um die ›richtige‹ Sicht auf das Kind. Die Zusammenarbeit ist darüber hinaus in ein Domänenspiel zwischen dem pädagogischen und dem politischen System verstrickt. Kommunale Koordinatorinnen und Koordinatoren des BMK bearbeiten auch den strukturkonservativen Dualismus zwischen Elementar- und Primarbereich, der auf unterschiedlichen Trägerschaften beruht (Reyer, 2006). Indem sie das pädagogische Personal von Kitas und Grundschulen an einen Tisch bringen, wirken sie dem Rückzug auf Frontstellungen entgegen (Typ 5), ohne den Blick auf das Kind zu vernachlässigen (Typ 6). Typ 5 konnte ich nur in Verbindung mit Typ 6 im Datenmaterial finden.

2.4 Darstellung der Ergebnisse

Mit der Entwicklung der Heuristik zur Befragung des Datenmaterials konnte ich die erste Fragestellung bearbeiten und rekonstruieren, wie das BMK und KBM kollektive Handlungsfähigkeit herstellen. Die Vergleichsdimensionen zur gesellschaftlichen Integration ermöglichten die Beleuchtung der zweiten Fragestellung, welchen Beitrag diese kollektive Handlungsfähigkeit zur gesellschaftlichen Integration leistet. Das Code-Buch mit insgesamt 200 offenen Codes und entsprechenden Tabellen-Memos boten mir Vergleichsmöglichkeiten, die ich im Zuge der Ergebnisdarstellung mit Fließtest-Memos in den Kapiteln 7, 8, 9, 10, 11 und 12 systematisch ausschöpfe. In Kapitel 13 stelle ich Anschlüsse an die im Literaturteil der Arbeit aufgeworfenen Konzepte her. Die unterschiedlichen Perspektiven verbinde ich zu einer Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration. Fluchtpunkt der Zusammenführung bildet die Bedingungsmatrix zur grenzüberschreienden Professionalität der kommunalen Koordinatorinnen und Koordinatoren in Integrationsräumen des BMK und KBM. Sie steht als Ergebnis des selektiven Kodierens und markiert die theoretische Sättigung der Grounded Theory.

2.4.1 Integration empirisch gehaltvoller Kategorien

Abbildung 6.6
figure 6

Arenen der (Un-)Beständigkeit im Kreis und in der Stadt (Eigene Darstellung)

In der Vorgeschichte entfalte ich die Arbeitskomponenten einer gesellschaftstheoretisch, pädagogisch, professions- und organisationstheoretisch aufgerüsteten GovernanceForschung. Zur Arbeitsphase Rahmenbedingungen klären stelle ich die Kategorien entlang der Arenen beider Gebietskörperschaften dar. Jedes Kapitel beginnt mit einem vergleichenden Schaubild (vgl. Abbildung 6.6) zum BMK (links) und KBM (rechts), aus dem die Konstellation der beteiligten Funktionssysteme in Verbindung mit dem Thema und der Form der Erziehung hervorgeht. Tabellen zum biographischen Kapital und Commitment mit Codes zu ursächlichen, kontextuellen und intervenierenden Bedingungen sowie den Weichenstellungen mit je vier Aufgabenkomplexen fundieren die Darstellung der ersten Arbeitsphase (vgl. Tabelle 6.16).Footnote 19

Tabelle 6.16 Biographisches Kapital und Commitment des BMK der Arena (Un-)Beständigkeit

Die analytische Beschreibung der Arenen überführe ich in die vergleichende Darstellung der Handlungsrationalität des BMK und KBM. Ein datengestütztes kommunales Bildungsmanagement (DKBM) operationalisiere ich mit dem Konstrukt der grenzüberschreitenden Professionalität, das ich als Konstellation der Typen gesellschaftlicher Integration verstehe (vgl. Abbildung 6.7).

Abbildung 6.7
figure 7

Konstellation der Typen gesellschaftlicher Integration (Eigene Darstellung)

Gesellschaftliche Integration als Thema der Erziehung zum Beginn des Projektarbeitsbogens beleuchte ich mit den Aufgabenkomplexen Kernaktivitäten herstellen und Handlungslogiken antizipieren. Die Intensität gesellschaftlicher Integration stelle ich mit drei Levels dar – in Abbildung 6.7 gekennzeichnet durch den inneren Ring für schwache, den mittleren Ring für mittlere und den äußersten Ring für starke Intensität –, auf denen ich die Typen zu jeder Arena eintrage.

Die Handlungsrationalität des BMK und KBM stelle ich abschließend dar, indem ich die Zielperspektiven jeder Arena als Weichenstellungen, die Intensität grenzüberschreitender Professionalität und den Grenzverkehr zwischen den Funktionssystemen als Großformen der Erziehung zusammenführe. Die Hauptgeschichte erzählt die Verfahrensrationalität mit der Frage, wie das BMK und KBM gesellschaftliche Integration bearbeiten. Jede Gebietskörperschaft erhält nun zunächst einen eigenen Auftritt und kommt anschließend vergleichend in den Blick. Das BMK als Prozess- und Strukturinnovator (Kapitel 8) und das KBM als Produktinnovator (Kapitel 9) stelle ich entlang der Arbeitsphasen Relevante Akteure und Daten bestimmen, Strukturen und Verfahren aufbauen sowie (Datenbasierte) Strategien entwickeln mit dem Aufgabenkomplex Leistungsbeziehungen herstellen dar. Die fallübergreifende Betrachtung (Kapitel10) nehme ich entlang der Arenen der ersten vier Arbeitsphasen vor, indem ich mithilfe des Aufgabenkomplexes Spannungslagen ausbalancieren Paradoxien grenzüberschreitender Professionalität beleuchte. Auch in diesen Kapiteln verwebe ich analytische Überlegungen mit Auszügen aus dem Datenmaterial. Ein Überblick zur Investition von Kommunikationsmedien in Verbindung mit der Intensität grenzüberschreitender Professionalität schließt die Hauptgeschichte ab. Die Nachgeschichte erzählt die Ergebnisrationalität mit der letzten Arbeitsphase Strategien umsetzen und verstetigen im Übergang zur Transferinitiative. Analog zur Vorgeschichte orientiere ich mich an den Arenen, wende mich aber erneut den Spannungslagen zu (Kapitel 11). Für den Vergleich der Geld-, Macht- Reputations- und Sprachinvestition über alle Arbeitsphasen hinweg ziehe ich den Aufgabenkomplex Handlungslogiken antizipieren heran (Kapitel 12). Mit der Arbeitslinie der Kommunikationsarten stelle ich den Aufbau des BMK und KBM als je spezifische Konstellationen interagierender Funktionssysteme im Projektverlauf dar und kann zeigen, auf welchen Feldern der Interpenetration die Standorte unter Einsatz welcher Kommunikationsmedien ihren Einfluss erhalten und ausbauen.

2.4.2 Selektives Kodieren und theoretische Sättigung

Mit Kapitel 13 schließe ich das theoretische Sampling ab, indem ich Anschlüsse zu den im Literaturteil entfalteten Perspektiven herstelle. Grundlage für Vergleiche bilden die oben bereits erläuterten Schaubilder zur Situationsmatrix (vgl. Abbildung 6.3), zum DKBM als Großform der Erziehung (vgl. Abbildung 6.4) sowie zur Bedingungsmatrix des BMK und KBM mit Räumen der gesellschaftlichen Integration (vgl. Abbildung 6.5). Die Situationsmatrix integriert mit dem Literaturteil dieser Arbeit den Diskurs der Politik. Das Dreieck der Kommunikation zur Großform der Erziehung beschreibt das Verhältnis zwischen dem politischen und dem pädagogischen System sowie die Interaktion mit weiteren Funktionssystemen. Die Bedingungsmatrix stellt die abschließende Integrationsleistung dar, welche die vorhergehenden Schaubilder mitdenkt. Die Theorieperspektiven nach Schimank finden mit dem selektiven Kodieren Eingang in die GT, indem ich normative, evaluative und kognitive Deutungsstrukturen des Programms den Arenen zuordne und hier mit spezifischen Aufgabenkomplexen verbinde. Den konflikthaften, aber leistungssteigernden Grenzverkehr zwischen Funktionssystemen baue ich mit den Feldern der Interpenetration nach Münch ein. Indem ich die Typen gesellschaftlicher Integration mit dem Konzept der Multirationalität von Schedler und Rüegg-Stürm sowie mit dem erneuerten Governance-Equalizer nach Brüsemeister und Mitarbeitenden verknüpfe, findet eine letzte Zuspitzung auf vier Modi grenzüberschreitender Professionalität in Verbindung mit Regelungsbereichen im Projektverlauf statt, die ich mit den Helsperschen Antinomien diskutiere. Die Zusammenfassung pointiert das BMK als an Wissenspraktiken orientierten, im Modus der Förderung operierenden Integrationstyp, und das KBM als an Sichtbarkeitspraktiken, im Modus der Polarisierung operierenden Integrationstyp.