Das Brückenprinzip Organisation lese ich als Form der Dienstleistungsorganisation bei der Wohlfahrtsproduktion. Der Akteur Politik spielt dabei eine herausragende Rolle, der andere Subsysteme zum einen vielfach adressiert und zum anderen von diesen mit Erwartungen angesprochen wird (vgl. Abbildung 5.1).

Abbildung 5.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Dienstleistungsorganisation auf Feldern der Interpenetration.

Insbesondere die Ökonomie der Politik ist vor dem Hintergrund des Primats der kapitalistischen Wirtschaft unabweisbar. Sie öffnet Macht-, Reputations- und Sprachinvestition in dem Maß, wie Ressourcen zur Verfügung stehen, weist aber insbesondere dem politischen System die Aufgabe zu, Investitionen der Subsysteme durch Entscheide zu spezifizieren. Die Organisation einer Politik der Ökonomie stelle ich mit dem dualistischen Aufgabenmodell und der Klärung der Begriffe Regionalisierung, Dezentralisierung, Kommunalisierung und der administrativen Dekonzentration dar. Reformen im Mehrebenensystem der Verwaltung bespielen mehrheitlich das Feld der Wirtschafts- und Technologiepolitik. Das Konzept der Bürgerkommune bedient aber auch die Politik der Solidarität auf dem Feld der Gesellschaftspolitik. Erzählungen im Policy-Diskurs und das Konzept des multirationalen Managements verweisen darauf, dass die Fließrichtung der Kommunikation auch vom Gemeinschaftssystem oder sozial-kulturellen System ausgehen kann, um Machtinvestition durch Vereinigungskraft zu schließen oder durch Verständigungskraft zu generalisieren. Die Regionalisierung von Bildung lässt denn auch vor allem den Diskurs der Politik zum Zug kommen, den ich mit Bildungsregionen als Integrationsraum, der wirkungsorientierten Steuerung im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit und dem kommunalen Bildungsmanagement aufgreife. Steuerungslogiken im Programm Lernen vor Ort lenken den Blick wieder auf die Politik, deren Deutungsstrukturen den Übergang zum empirischen Teil der Arbeit markieren. Bei der theoretischen Interpretation der Analyse-Ergebnisse werde ich diese Spielfelder nochmals aufgreifen und zeigen, dass mit Lernen vor Ort bekannte Felder bespielt, neu aber auch der Diskurs der Solidarität und die Solidarität des Diskurses die Integrationsräume erweitern (vgl. Kapitel 13).

1 Dimensionen grenzüberschreitender Koordination

Lernen vor Ort gerät in die »neue Welle der Dezentralisierung von Staatsaufgaben und der territorialen Reorganisation subnationaler Gebietskörperschaften« (Kuhlmann & Bogumil, 2010, S. 11). Kuhlmann und Bogumil sehen vielschichtige Ursachen für diese Entwicklung. In Europa wird die Regionalisierung zum einen von der EU vorangetrieben. Mit dem Ausschuss der Regionen haben Regionen eigenständige Zugänge zum Politiksystem der EU. Zudem stellt die Regionsbildung eine Bedingung für die Beantragung und Abwicklung von EU-Mitteln (Kuhlmann & Bogumil, 2010, S. 11) dar. Zum anderen ruft die effektive Steuerung öffentlicher Aufgaben nach leistungsfähigen regionalen Steuerungsmechanismen und Verwaltungsstrukturen (Kuhlmann & Bogumil, 2010, S. 11). Auch die Kommunalisierung staatlicher Aufgaben folgt der Erwartung funktionaler Optimierung. Kuhlmann und Bogumil bringen die Aufgabendezentralisierung mit der Absicht politisch-demokratischer Legitimitätsgewinne in Verbindung (2010, S. 12). Der demographische Wandel und die ökonomische Krise stellen weitere Antriebskräfte von Regionalisierung und Kommunalisierung dar (Kuhlmann & Bogumil, 2010, S. 12). Einspar- und Effizienzrenditen werden durch regionale ›Hochzonung‹ von kommunalen Aufgaben einerseits und durch Aufgabenabschichtung andererseits angesteuert (Kuhlmann & Bogumil, 2010, S. 12).

Um den Kontext eines kommunalen Bildungsmanagements als Reformansatz zu verstehen, gehe ich zunächst auf die Kommunalisierung aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht ein. Nach der begrifflichen Klärung des kontinentaleuropäisch-föderalen Verwaltungsprofils und des Kommunalsystems Deutschlands stelle ich Varianten einer externen Institutionenpolitik sowie Formen der regionalen Kooperation dar, um Regional Governance als ›weiche‹ Form der Kooperation und eigenständigen Typ neben ›harten‹ regionalen Organisationsformen herauszuarbeiten. Ein Überblick über Reformen im Mehrebenensystem der Verwaltung soll das Spektrum an föderal-dezentralen Organisationsformen aufzeigen. Erzählungen im Policy-Diskurs bringen ›Spiele‹ zwischen gesellschaftlichen Subsystemen zum Ausdruck, deren Leitideen sich temporär durchsetzen, um dann anderen Platz zu machen, ohne aber je gänzlich abzutreten. Das Konzept des multirationalen Managements schließlich bietet einen (system-)theoretisch fundierten Erklärungsansatz für das Zusammenwirken unterschiedlicher Rationalitäten. Dieser Ansatz eröffnet eine sowohl analytisch als auch programmatisch orientierte Herangehensweise an eine Governance grenzüberschreitender Professionalisierung und gesellschaftlicher Integration.

1.1 Kommunalisierung in Deutschland

Um den Kontext eines kommunalen Bildungsmanagements als Reformansatz zu verstehen, skizziere ich das kontinentaleuropäisch-föderale Verwaltungsprofil. Die intergouvernementale Stellung deutscher Kommunen kennzeichnet sich durch eine föderal-dezentrale Organisationsform und ein dualistisches Aufgabenmodell mit ›echten‹ Aufgaben, die dem Wirkungskreis der Kommunen obliegen, sowie vom Staat ›übertragenen‹ Pflichtaufgaben. Die administrativ-exekutive Verschränkung der Kommunal- mit der Staatsverwaltung beeinflusst Prozesse der Dezentralisierung, Kommunalisierung und Regionalisierung. Die subnationale Länder-Policy Deutschlands kennzeichnet sich durch eine administrative Dezentralisierung und damit ›unechte‹ Kommunalisierung. Eine Systematisierung von Verwaltungsreformen nehme ich zunächst mit der Darstellung von Varianten der externen Institutionenpolitik vor. Anschließend gehe ich auf Formen der Regionsbildung ein.

1.1.1 Das kontinentaleuropäisch-föderale Verwaltungsprofil

Das Besondere des deutschen Verwaltungssystems wird durch ländervergleichende Perspektiven deutlich. Kuhlmann unterscheidet drei Dimensionen: Die institutionelle Dimension betrifft den vertikalen Staatsaufbau und die Makrostruktur der Verwaltung (Kuhlmann, 2019b, S. 40). Föderale, unitaristisch-zentralistische sowie unitaristisch-dezentrale Systeme beschreiben den »Grad der Zentralisierung oder Dezentralisierung und das Verhältnis zwischen zentralstaatlicher und subnational-dezentraler Verwaltung« (Kuhlmann, 2019b, S. 40). Die kontinentaleuropäische Rechtsstaatskultur und die angelsächsische Public-Interest-Kultur stellen zwei Idealtypen von Verwaltungskulturen dar (Kuhlmann, 2019b, S. 41). Die kulturelle Dimension verweist auf die Werte und Handlungsroutinen im Verwaltungshandeln, die durch die Rechtstradition eines Landes geprägt sind (Kuhlmann, 2019b, S. 41). Institutionelle Pfadabhängigkeiten im Sinn vorgeprägter Handlungskorridore bestimmen schließlich die historische Dimension.

Neben den klassisch Weberianischen westlichen Bürokratiemodellen haben sich verschiedene osteuropäische Verwaltungsmodelle herausgebildet (Kuhlmann, 2019b, S. 41). Kuhlmann schlägt fünf Typen von traditionellen Verwaltungssystemen vor, die auf spezifischen Kombinationen dieser drei Dimensionen beruhen. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz gilt das kontinentaleuropäisch-föderale Verwaltungssystem. Die Rechtsstaatskultur basiert auf der römischen Rechtstradition. Die klassische Form administrativen Handelns stellt der Verwaltungsakt dar und »die rechtliche Korrektheit von Verwaltungsentscheidungen gilt nach wie vor als wichtigstes Qualitätskriterium« (Kuhlmann, 2019b, S. 43). Eine wesentliche Bedeutung haben die subnational-dezentralen Ebenen und das SubsidiaritätsprinzipFootnote 1 (Kuhlmann, 2019b, S. 43). Typen von Verwaltungssystemen spielen als abhängige oder unabhängige Variablen eine wichtige Rolle bei Verwaltungsreformen. So konnte die vergleichende Verwaltungsforschung zeigen, dass Verwaltungen angelsächsischer und skandinavischer Länder »deutlich offener und responsiver gegenüber NPM-Maßnahmen waren« (Kuhlmann, 2019b, S. 41) als die klassisch-kontinentaleuropäischen Verwaltungen. Regionalisierungs- und Dezentralisierungsreformen wirken sich ihrerseits unterschiedlich auf bestehende Verwaltungsprofile aus. So stellen sie insbesondere in unitaristisch-zentralistisch geprägten Verwaltungssystemen einen »erheblichen institutionellen Einschnitt dar, der das historisch gewachsene und kulturell verankerte Verwaltungsprofil dieser Länder in Frage stellt« (Kuhlmann, 2019b, S. 42). Daraus leitet Kuhlmann die normative Forderung ab, »dass Reformprojekte in der öffentlichen Verwaltung stets den institutionellen, historischen und kulturellen Kontext, also das gegebene Verwaltungsprofil eines Landes, im Auge behalten müssen, wenn Reformmaßnahmen die erwünschten Wirkungen erzielen sollen« (2019b, S. 47).

1.1.2 Das Kommunalsystem Deutschlands

Die Stellung und Funktion der deutschen kommunalen Selbstverwaltung arbeitet auch Wollmann im europäischen Vergleich heraus. Er stellt »eine gewisse Paradoxie der föderal-dezentralen Organisationsform« (Wollmann, 2010, S. 226) fest. Die 16 Bundesländer nehmen »gegenüber der Bundesebene eine verfassungsrechtlich und -politisch ausgeprägt dezentrale« Rolle ein. Staatsrechtlich ist die kommunale Ebene den Ländern untergeordnet, so dass sie sich deren »zentralisierenden Einflussnahme und Bestimmungsmacht« (Wollmann, 2010, S. 226) gegenübersieht. Das zweistufige Kommunalsystem ist territorial nach Kreisen und kreisfreien Städten organisiert.

Kommunale Territorialreformen haben in den 1960er und 1970er Jahren in den westdeutschen Ländern und nach 1990 in den ostdeutschen Ländern zur gegenwärtigen Gebietsorganisation geführt (Wollmann, 2010, S. 226). Das große funktional-administrative Gewicht der Länder kommt im Anteil der öffentlich Bediensteten zum Ausdruck. Kommunalbedienstete haben mit 35 Prozent zwar einen beträchtlichen Anteil, dieser bleibt aber deutlich hinter dem von Schweden (83 Prozent) und UK/England (56 Prozent) zurück (Wollmann, 2010, S. 228). Diese Zahlen widerspiegeln, dass Schulen im deutschen Föderalismus eine ›staatliche Angelegenheit‹ sind (Wollmann, 2010, S. 228). In einem vergleichenden Ranking der dezentral-kommunalen Aufgabenprofile nimmt Deutschland neben Schweden (erster Rang), Spanien (zweiter Rang), Italien (vierter) Rang, dem Vereinigten Königreich (fünfter Rang) und Frankreich (sechster Rang) eine mittlere Position mit Rang drei ein (Wollmann, 2010, S. 243).

Es gibt zwei Typen kommunaler Aufgabenmodelle. Ein monistisches Aufgabenmodell beinhaltet ›echte‹ kommunale Aufgaben, über die grundsätzlich die Kommunalvertretung entscheidet. Die staatliche Ebene hat lediglich die rechtliche Aufsicht inne (Wollmann, 2010, S. 232). Ein dualistisches Aufgabenmodell integriert mit ›echten‹ und vom Staat ›übertragenen‹ Aufgaben die Kommunalverwaltung vertikal in die Landesverwaltung (Wollmann, 2010, S. 227). ›Übertragene‹ Aufgaben stehen unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates und fallen in die Zuständigkeit der kommunalen Exekutive, während ›echte‹ kommunale Aufgaben in die Entscheidungsmacht der gewählten Kommunalvertretungen fallen (Wollmann, 2010, S. 247). Die ›verstaatlichende‹ Tendenz der administrativ-exekutiven Verschränkung der Kommunal- mit der Staatsverwaltung schätzt Wollmann für die kommunale Ebene und deren Autonomie als ›überkommen‹ und problematisch ein (2010, S. 248). Die in der »autoritär-obrigkeitsstaatlichen Staatsform des 19. Jahrhunderts« wurzelnde ›verstaatlichende‹ Logik sei in »›echte‹ kommunale Aufgaben mit entsprechender Entscheidungszuständigkeit der gewählten Kommunalvertretung« (Wollmann, 2010, S. 249) zu überführen.

1.1.3 Regionalisierung, Dezentralisierung, Kommunalisierung und administrative Dekonzentration

Kuhlmann erklärt »Prozesse der Dezentralisierung, Kommunalisierung und Regionalisierung« zur Hauptstoßrichtung der Staatsmodernisierung fast aller »fortgeschrittenen wie auch jungen Demokratien« (2019a, S. 240). Sie stellen »Varianten einer externen InstitutionenpolitikFootnote 2« dar, bei der durch veränderte Institutionenordnungen institutionelle Grenzen neu bestimmt werden (Kuhlmann, 2019a, S. 240). Eine weitere Unterscheidung nimmt Kuhlmann mit vertikalen und horizontalen Verwaltungsreformen vor. Die (Quasi-)Föderalisierung und die einfache Regionalisierung stellen Formen dar, bei der Zuständigkeiten auf eine regionale Ebene zwischen der zentralstaatlichen und kommunalen Ebene übertragen werden. Eine (Quasi-)Föderalisierung unterscheidet sich von einer ›echten‹ Föderalisierung dadurch, dass die Merkmale einer »politisch eigenverantwortlichen und finanziell relativ selbstständigen (Meso-)Ebene« (Kuhlmann, 2019a, S. 241) nahezu vollständig vorhanden sind.Footnote 3 Sie ist von der Absicht der Zentralregierungen bestimmt, »eine regionale Handlungs- und Planungsebene mit eigenständiger demokratischer Legitimierung zu installieren, um subnationale Politik gebietsbezogen koordinieren zu können und hierfür auch die politische Verantwortlichkeit zu verankern« (Kuhlmann, 2019a, S. 243). Von einer einfachen Regionalisierung spricht Kuhlmann, wenn auf der regionalen Ebene lediglich »einige begrenzte Regelungsbefugnisse« (2019a, S. 243) gegeben sind. Sie trifft für das föderale Deutschland zu. Regionalisierungsprozesse unterhalb der Länderebene finden mit Anläufen zur Vergrößerung der Landkreise hin zu Regionalkreisen statt.Footnote 4

Der Begriff der Dezentralisierung beschreibt den Aufgaben- und Funktionstransfer auf die kommunale Ebene. In unitaristischen Ländern geht dieser von der zentralstaatlichen und in föderalen Ländern wie Deutschland von der landesstaatlichen Verwaltung auf kommunale Gebietskörperschaften aus (Kuhlmann, 2019a, S. 245). Die nationale Policy kennzeichnet sich durch eine politische Dezentralisierung, bei der kommunale Gebietskörperschaften vom (Zentral-)Staat »neben Verwaltungszuständigkeiten auch politische Entscheidungsrechte, insbesondere Beschluss- und Kontrollrechte« (Kuhlmann, 2019a, S. 245), übertragen bekommen. Von dieser ›echten‹ Kommunalisierung unterscheidet sich die administrative Dezentralisierung. Diese ›kupierte‹ oder ›unechte‹ Kommunalisierung gilt für den deutschen Kontext. Sie beinhaltet, dass den Selbstverwaltungsinstanzen staatliche Aufgaben zum Vollzug übertragen werden, »ein politisches Mitspracherecht der gewählten Vertretung im Hinblick auf diese Aufgaben jedoch ausgeschlossen bleibt« (Kuhlmann, 2019a, S. 246). Die subnationale (Länder-)Policy problematisiert Kuhlmann dahingehend, »dass Kommunen in gewissem Sinn zu ›verstaatlichen‹ drohen« (2019a, S. 246). Durch die Länderzuständigkeit gehen dezentralisierende Reformprozesse mit einer »verwaltungsföderalen Varianz« (Kuhlmann, 2019a, S. 247) einher. Der Reduktion der Behördendichte und der Anzahl institutioneller Akteure steht das erweiterte Aufgabenportfolio auf kommunaler Ebene gegenüber (Kuhlmann, 2019a, S. 247). Vollzugsdefizite auf kommunaler Ebene können durch Ressourcenknappheit, fehlende Leistungsstrukturen oder den Aufgabenzuschnitt entstehen. Von administrativer Dekonzentration ist im Unterschied zur administrativen Dezentralisierung die Rede, wenn sich die zentralstaatliche Verwaltung territorial in staatlichen und halbstaatlichen Verwaltungseinheiten ansiedelt (Kuhlmann, 2019a, S. 247).Footnote 5

1.1.4 Formen der regionalen Kooperation

Bogumil und Grohs unterscheiden ›weiche‹ und ›harte‹ Formen der Regionsbildung (2010, S. 89–90). Erstere bezeichnen flexible Ansätze regionaler Kooperation, die auch unter dem Begriff der Regionale Governance zusammengefasst werden, Letztere stehen für Einheiten im Sinn von Regionalverwaltungen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 89–90).Footnote 6 Aufmerksamkeit erfährt die Region als Trägerin administrativer Funktionen aufgrund von zwei Entwicklungen: Die erste geht auf die 1990er Jahre zurück und wird vor dem Hintergrund der Europäisierung und Globalisierung als Standortwettbewerb und Suche nach neuen Innovationspfaden diskutiert (Bogumil & Grohs, 2010, S. 91). Die zweite hat ihren Ausgangspunkt in neuen funktionalen »Herausforderungen ökonomischer und ökologischer Natur« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 92). Die bestehenden Verwaltungszuschnitte mit kleinteiligen Städte- und Gemeindestrukturen werden »als nicht mehr angemessen zur sachgemäßen Erledigung von Aufgaben erachtet« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 92). Auf kommunaler Ebene erfährt die Bereitstellung von Infrastruktur und Einrichtungen der Daseinsvorsorge Grenzen durch die defizitäre Haushaltslage. Formen der interkommunalen Zusammenarbeit vermögen die wachsenden »Diskrepanzen der Lastenverteilung zwischen Kernstädten und ihrem Umland« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 92) nicht mehr auszugleichen. Eine Koordination auf regionaler Ebene erscheint auch durch den Wegfall von Mittelinstanzen geboten (Bogumil & Grohs, 2010, S. 92). Eine Aufgabenbündelung auf regionaler Ebene verspricht eine Lösung angesichts »fragmentierte[r] Verantwortungsstrukturen« und »zersplittert[er] Aufgabenbereiche« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 93). Erwartete Bündelungsvorteile sind Synergieeffekte, Einsparungen, Effektivitätssteigerung, Transparenzgewinne und die Dezentralisierung von Landesaufgaben auf die regionale Ebene (Bogumil & Grohs, 2010, S. 93). Regionale Organisationsformen systematisieren die Autoren mit vier Institutionalisierungs-Dimensionen und fünf Typen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 94):

Regionale Gebietskörperschaften (Regionalstädte und Regionalkreise) haben eine territoriale, multifunktionale Orientierung mit hoher Verbindlichkeit. Sie »sind mit klaren Verwaltungsaufgaben betraut und stellen eine eigene Verwaltungsebene mit klaren territorialen Grenzen dar« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 94). Sie verfügen über formale Durchsetzungsgewalt und eine gewählte Vertretungskörperschaft. Die Stärke eines territorial-multifunktionalen Ansatzes liegt darin, dass ein breites Spektrum an Verwaltungsaufgaben eine hohe horizontale Integration durch Koordinierung, Bündelung und Harmonisierung herausfordert. Dieser Gewinn kann aber auf Kosten der Spezialisierung und damit einer unzureichenden Aufgabenerfüllung gehen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96). Die hohe Verbindlichkeit einer stark institutionalisierten Region sichert stabile und transparente Verantwortungsstrukturen durch demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheide (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96). In diesem Typ sehen Bogumil und Grohs »nach einhelliger Meinung« allerdings »kein überzeugendes Zukunftsmodell« (2010, S. 95). Dieses »Maximalmodell der Schaffung einer gemeinsamen Gebietskörperschaft« bewerten sie auch im Rahmen einer Expertise für eine Region Braunschweig als ambivalent (Bogumil & Grohs, 2010, S. 104). Den »Chancen zur Verbesserung politisch-administrativer Koordination, fachlicher Qualität, wirtschaftlicher Effizienz und externer Sichtbarkeit« stellen sie den hohen zeitlichen Rahmen und eine »Vielzahl zu lösender fachlicher Schwierigkeiten wie zu überzeugender politischer Vetospieler« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 104) gegenüber.

Zweckverbände kennzeichnen sich durch eine hohe Verbindlichkeit mit einem sektoral-monofunktionalen oder territorial-multifunktionalen Zuschnitt. Diese öffentlich-rechtlichen Körperschaften ohne eigene Gebietshoheit können als Ein-Thema-Zweckverband oder Mehr-Themen-Zweckverbände auftreten. Sie haben den Vorteil, dass sie auf den »höchsten Grad institutioneller Verfasstheit der regionalen Ebene verzichten« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 106) und die gebietskörperschaftlich verfasste Ebene des Kreises beibehalten. Dieses Modell bewerten die Autoren in ihrem Gutachten für die Region Braunschweig positiv. Sie sehen Vorteile in Bezug auf die Bürgernähe und Leistungsfähigkeit. Die »Optimierung des Status quo« kann auf etablierte Strukturen zurückgreifen, ist inkrementalistisch angelegt und gewährleistet dadurch eine kontinuierliche Entwicklung ohne »das Risiko großer Brüche« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 106).

Realpolitisch hat diese Lösung die größten Durchsetzungschancen, weil etablierte Akteure institutionell erhalten bleiben und damit Ängste von Vetospielern zerstreut werden können (Bogumil & Grohs, 2010, S. 106). Regionalverbände und Regionalplanungsverbände orientieren sich sektoral-monofunktional und weisen eine hohe Verbindlichkeit auf. Sie beziehen sich auf ein klares Territorium und legitimieren sich auf der Grundlage vereinbarter Zusammenschlüsse oder eines Zwangsverbands auf gesetzlicher Grundlage. Die angehörigen Kommunen sind durch ein oberstes Entscheidungsorgan in einer Regionalversammlung vertreten (Bogumil & Grohs, 2010, S. 95). Vorteile dieser Organisationsform sind der sektoral-aufgabenbezogene Zuschnitt mit einer Spezialisierung und Professionalisierung für eine optimale Erfüllung öffentlicher Teilfunktionen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96). Potenzielle Nachteile liegen in einer »fachlichen Einseitigkeit mit Überspezialisierung«, der »Entwicklung einer eindimensionalen Fachlogik« und damit einhergehend der »Abkopplung von den Vertretungskörperschaften und fachübergreifenden Gesichtspunkten« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96).

Vertraglich geregelte Vereinbarungen beschränken sich auf Einzelaufgaben. Sie weisen damit eine sektoral-monofunktionale Orientierung auf und beziehen ihre Verbindlichkeit aus öffentlich-rechtlichen oder privat-rechtlichen Kooperationsverträgen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96). Aufgabenspezifische Ein-Themen-Zweckverbände zählen auch zu diesem Typ. Vor- und Nachteile können in der Spezialisierung und Professionalisierung gesehen werden. Der mittlere Institutionalisierungsgrad verweist auf die Möglichkeiten und Grenzen konsensorientierter Verhandlungslösungen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96).

Informelle und ›weiche‹ Formen der Kooperation bilden den fünften Typ regionaler Organisationsformen. Als thematische Arbeitskreise und fachliche Netzwerke haben sie einen sektoral-monofunktionalen und in der Gestalt von Regionalkonferenzen und Stadtnetzwerken einen territorial-multifunktionalen Zuschnitt. Multifunktional sind auch Zusammenarbeitsformen mit organisatorischem Kern wie Regionalbüros oder Regionale Entwicklungsagenturen. Gemeinsam ist diesen Kooperationsformen der niedrige Institutionalisierungsgrad und damit die Möglichkeit von Entscheidungsblockaden, die »mit steigender Teilnehmerzahl erheblich ansteigt« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 96). Interkommunale Kooperation halten Bogumil und Grohs für geeignet »als Optimierung, nicht als Ersatz adäquater Strukturen« (2010, S. 107). Freiwillige Kooperationen der Kommunalverwaltung finden bei Bürgerinnen und Bürgern zwar weit größere Zustimmung als hierarchisch durchgesetzte Gebietsreformen (Bogumil & Grohs, 2010, S. 107). Allerdings werden Kooperationen »nur dann eingegangen, wenn höchste finanzielle Not keine realistische Alternative« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 107) zulässt. Zudem führt sie zu »höchst uneinheitlichen Vollzugsorganisationen und -qualitäten« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 107). Der drohende Verlust an Macht und Entscheidungsgewalt, »hohe Transaktionskosten, langfristige Bindungen und enge Gestaltungsspielräume« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 107) schränken nicht nur das Interesse von Bürgermeistern und Landräten, sondern auch von Vertretungskörperschaften und Bürgervertretungen für diese Organisationform ein.

Für Regionalisierung von Verwaltungsaufgaben bilanzieren die Autoren Grenzen durch eine Reihe von zu bearbeitenden Problemlagen. Gegen den ›großen Wurf‹ einer gebietskörperschaftlichen Lösung sprechen die »oft geringe Leistungsfähigkeit der gemeindlichen Ebenen, die Lösung rechtlicher und funktionaler Aspekte einer Territorialreform, die Überwindung gepflegter lokaler Identitäten und Animositäten und der fehlende Wille zu solidarischem Lastenausgleich […] im Zusammenspiel mit Vetopositionen der lokalen politischen Akteure und dem fehlenden Reformwillen der Landesregierungen« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 108). Kritisch beurteilen sie die Entwicklung hin zu einem ›Land der zwei Standards‹, in dem es zu einer Polarisierung zwischen koordinationsfähigen und peripheren Gebieten kommt, »die eine Regionalisierung nicht aus eigener Kraft verwirklichen können« (Bogumil & Grohs, 2010, S. 108).

1.2 Reformen im Mehrebenensystem der Verwaltung

Verwaltungsreformen sind Ausdruck davon, wie über »Staatsaufgaben sowie über die Art und Weise, wie diese Aufgaben zu bewältigen sind« (Bogumil & Jann, 2009, S. 219) nachgedacht wird. Die deutsche Verwaltung gilt generell als reformfreudig (Bogumil & Jann, 2009, S. 219). Veränderungen betreffen »die organisatorischen, rechtlichen, personellen und fiskalischen Strukturen der Verwaltung« (Bogumil & Jann, 2009, S. 219). Bogumil und Jann unterscheiden fünf Themen der Verwaltungsreform, die zum Teil eine lange Geschichte haben und unterschiedliche Zeitphasen durchlaufen (2009, S. 219). Die Phasen der Aktiven Politik, der Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung, des New Public Management sowie der Neuen Verwaltungsstrukturreformen lese ich als Politik der Ökonomie, die Diskussion um Bürgernähe, Bürgerämter und Bürgergesellschaft als Politik der Solidarität.

1.2.1 Die Politik der Ökonomie

Mit der Phase der Aktiven Politik bezeichnen Bogumil und Jann Innovationsversuche von der Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre. Eine modernisierte Verwaltung sollte eine »vorausschauende und integrative staatliche Politik« (2009, S. 220) ermöglichen und unterstützen. Fünf zentrale Reformen werden als verwaltungspolitische Planungsmaßnahmen zur Korrektur von Marktversagen diskutiert. Die Finanzreform von 1969 trägt zur Homogenisierung der infrastrukturellen Leistungsfähigkeit zwischen den Bundesländern bei (Bogumil & Jann, 2009, S. 220). Der fiskalische Ansatz geht aus dem Umstand hervor, dass territoriale Neugliederungen des Bundesgebiets bis in die 1960er Jahre scheitern (Bogumil & Jann, 2009, S. 221). Als weitgehend gescheitert gilt die Ministerialreform zur »Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Bundesregierung und Bundesverwaltung« (Bogumil & Jann, 2009, S. 221) zwischen 1969 und 1975. Gründe liegen im »technokratischen Verständnis von Planung und der Vernachlässigung personeller, kommunikativer und machtpolitischer Faktoren« (Bogumil & Jann, 2009, S. 221). Auch der Reform des öffentlichen Dienstrechts 1973 mit dem Ziel, die Dreiteilung von Beamten, Angestellten und Arbeitern aufzuheben, ist kein Erfolg beschieden. Als geglückt gilt die kommunale Gebietsreform zur Schaffung leistungsfähiger Verwaltungseinheiten. Ab 1968 gelingt es innerhalb eines Jahrzehnts, die Zahl der Regierungspräsidien, Landkreise, kreisfreien Städte und Gemeinden drastisch zu reduzieren. Verwaltungsgemeinschaften, eine zweistufige Gemeindeorganisation mit einer politischen Vertretung auf der Ebene des Orts und der Gesamtgemeinden oder großflächige Gemeinden mit Ortsverfassungen kommen als Organisationsstrukturen zum Einsatz (Bogumil & Jann, 2009, S. 222). Der Rückzug aus der Fläche, die Zentralisierung und Spezialisierung sowie der Verlust von räumlicher Nähe und Allzuständigkeit rufen als Folge der Gebietsreform nach mehr Bürgernähe und nach einer Aufgabenverlagerung auf andere Verwaltungsträger nach dem Subsidiaritätsprinzip (Bogumil & Jann, 2009, S. 223). Die Funktionalreform mit dem Ziel, die Zuständigkeiten staatlicher Sonderbehörden zu kommunalisieren, wird »jedoch insgesamt sehr zögerlich und unvollständig umgesetzt« (Bogumil & Jann, 2009, S. 223). Bogumil und Jann bilanzieren diese Reformen dahingehend, »dass es einfacher ist eine abhängige Organisation zu verändern […] als im eigenen Bereich tätig zu werden, da hier die Verteidigung von Eigeninteressen erfolgreicher ist« (2009, S. 223).

Ab Mitte der 1970er Jahre zeichnet sich mit der neoliberalen Staatskritik eine neue verwaltungspolitische Themenkonjunktur ab. Nicht länger Marktversagen, sondern Staats- und Bürokratieversagen werden als Hinderungsgrund sozio-ökonomischen Fortschritts identifiziert (Bogumil & Jann, 2009, S. 223). Eine zunehmende staatliche Intervention in gesellschaftliche Teilbereiche zum einen und zunehmende bürokratische Strukturen und Funktionsweisen der Verwaltung zum anderen bilden zentrale Kritikpunkte am modernen Wohlfahrtsstaat (Bogumil & Jann, 2009, S. 224). Auf der Ebene des Bundes und der Länder kommt es im Zuge der politischen Diskussion zum Abbau von Vorschriften, hinsichtlich der Verwaltungsvereinfachung jedoch nicht zu grundlegenden strukturellen Veränderungen (Bogumil & Jann, 2009, S. 224). Ursachen für die komplexen Regelungsstrukturen sind vielfältig. Eine Erklärung bietet die Konkurrenz zwischen sektorspezifischen und allgemeinen, generellen Interessen. ›Spezialisten‹ gehen als Interessengruppen auf gesellschaftlicher, als Fachbehörden auf administrativer und als Fachpolitiker auf politischer Ebene Fachkoalitionen ein, um Handlungsdruck für spezifische Anliegen auf das politisch-administrative Entscheidungssystem auszuüben. Bürokratieabbau oder Haushaltskonsolidierung stellen demgegenüber generelle und diffuse Anliegen dar, die sich schwerer organisieren lassen. Veränderungen staatlicher Policies und Regulierungen werden, so Bogumil und Jann, politisch entschieden. Neuere Verfahren zur Messung von Bürokratiekosten wie den Normenkontrollrat und das Standard-Kosten-Modell schätzen sie als vielversprechend ein, weil sie die Interaktion zwischen politischen Akteuren zu informieren und damit zu beeinflussen vermögen (Bogumil & Jann, 2009, S. 228). Anfang der 1990er-Jahre kommt mit dem Konzept des New Public Management (NPM)Footnote 7 die betriebswirtschaftlich inspirierte Binnenmodernisierung der Verwaltung auf die Tagesordnung (Bogumil & Jann, 2009, S. 237). Management meint hier die »Spezifizierung der Steuerungsprobleme von öffentlichen Organisationen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 237). Das NPM stellt einen Gegenentwurf zum Bürokratiemodell dar. In Kritik stehen eklatante und behauptete Mängel einer überkommenen Steuerungspraxis (Bogumil & Jann, 2009, S. 239). Mit dem gleichzeitigen Ansetzen an verschiedenen Führungsfunktionen zielt das NPM auf eine »Verbesserung der Qualität, der Effizienz und der Effektivität der Dienstleistungsproduktion« (Bogumil & Jann, 2009, S. 239).

Organisationsstrukturen sollen durch Dezentralisierungs- Entflechtungs- und Verselbstständigungsstrategien verändert werden (Bogumil & Jann, 2009, S. 240). Dezentrale Verantwortungszentren versprechen den »Abbau von Komplexität«, die »Zurechenbarkeit von Kosten und Leistungen«, die »Möglichkeit globaler Budgetierung«, die »Herstellung einer Einheit von Entscheidung und Verantwortung« und die »Möglichkeit der Institutionalisierung von wettbewerbsadäquaten Mechanismen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 240). Verfahren »zur Integration und Koordination der dezentralisierten Verantwortungszentren in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang« sollen durch eine »klare Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung« (Bogumil & Jann, 2009, S. 241) und entsprechende Vereinbarungen in einem Kontraktmanagement verändert werden. Das Personal und die Gestaltung des Außenverhältnisses sind weitere Ansatzpunkte der Reform. Organisations- und Personalentwicklungsmaßnahmen zielen auf die »Änderung von Verhaltens- und Kommunikationsformen« mithilfe von »Partizipations-, Kooperations- und Gruppenelementen« in Fort- und Weiterbildungen (Bogumil & Jann, 2009, S. 241). Konzeptionelle Ansätze wie das Total Quality Management (TQM) und das Management by Competition (MbC) stellen Maßnahmen zur Steuerung der Produktqualität und Kundenorientierung dar (Bogumil & Jann, 2009, S. 241). Die Umsetzung des NPM in Deutschland fällt ernüchternd aus. Neben »positiven Wirkungen im Bereich des Ausbaus der Kundenorientierung« konstatiert die Evaluation nach zehn Jahren Praxiserfahrung (Bogumil, Grohs & Kuhlmann, 2006) nicht erreichte »Zielvorgaben im Bereich der Effizienzsteigerung und der Optimierung der politischen Steuerung« (Bogumil & Jann, 2009, S. 245). Die Autoren verzeichnen auch »nicht-intendierte oder sogar kontra-intentionale Wirkungen«, so »Motivationsverluste bei Mitarbeitern, Verschlechterungen im Bereich politisch-strategischer Steuerung, neue Bürokratisierungstendenzen durch Produkte, Kennzahlen und Indikatoren« sowie »steigende Transaktionskosten« (Bogumil & Jann, 2009, S. 245).

Versuche, »den hergebrachten Verwaltungsaufbau zu ändern, zu optimieren und effizienter zu gestalten« (Bogumil & Jann, 2009, S. 252), finden mit einer neuen Reformwelle am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Fortsetzung. Um die Haushalte zu entlasten, bemühen sich alle Länder um eine »Konzentration und Straffung der unmittelbaren staatlichen Verwaltung […]: Ansätze sind der Abbau von Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanz, Kommunalisierungen, Privatisierungen und der Abbau bürokratischer Normen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 252). Neben der demographischen Entwicklung und dem absehbaren Ende der Mittelzuflüsse aus dem Solidarpakt II in den östlichen Bundesländern schlagen insbesondere die Personalkosten zu Buche. Gegenüber früheren Reformprojekten verschiebt sich der Schwerpunkt von funktionalen hin zu fiskalischen Fragen. Bogumil und Jann unterscheiden zwei Reformpfade. Die zweistufige Konzentration verzichtet auf eine Mittelinstanz. Aufgaben der bisherigen Sonderbehörden werden zusammengeführt, in Landesbetriebe integriert oder als Pflichtaufgaben auf Kommunen und Kreise verlagert (Bogumil & Jann, 2009, S. 253). Im dreistufigen Modell gibt es »verschiedenste Formen von staatlichen Mittelinstanzen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 254). Aufgaben werden privatisiert oder auf die kommunale Ebene abgegeben (Bogumil & Jann, 2009, S. 254). Die Umsetzung von Varianten dieser externen Institutionenpolitik erfolgt inkrementalistisch oder mit einer Strategie des ›großen Wurfs‹ (Bogumil & Jann, 2009, S. 254). Letztere bezeichnen Bogumil und Jann als »Verwaltungspolitik mit unechter Aufgabenkritik« (2009, S. 254). Politische Gremien erstellen eine »Blaupause der Reform« mit festen Einsparzielen und setzen diese als »monolithische, nicht zu diskutierende Reformpakte« (Bogumil & Jann, 2009, S. 255) unter hohem Druck durch. Unter Verzicht aufreibender Kompromissversuche auf fachlicher Ebene wird die intuitiv ›richtige‹ Reihenfolge einer Verwaltungsreform auf den Kopf gestellt: »Statt zuerst mit der Verwaltung eine Aufgabenkritik durchzuführen, dann eine entsprechende Funktionalreform, d. h. die Neuverteilung von Zuständigkeiten zu entwickeln und schließlich eine differenzierte und an die neuen Aufgaben optimal angepasste Strukturreform durchzuführen, wird nun das grundlegende Strukturkonzept dogmatisch als Wert an sich durchgesetzt« (Bogumil & Jann, 2009, S. 255).

Kommunalisierungen, die aufgabenspezifische Chancen und Risiken nicht berücksichtigen, gehen nach Bogumil und Jann mit drei Problemlagen einher: Erstens bezeichnen sie mit der Schnittstellenproblematik den Umstand, dass ohne echte Aufgabenkritik vorgenommene Aufgabenverlagerungen neue Schnittstellen und Koordinationsbedarfe und damit einen administrativen Mehraufwand generieren (2009, S. 257). Zweitens können kleinere kommunale Gebietskörperschaften nicht von Skalen- und Verbunderträgen profitieren und kommen mit einem breit gefächerten Aufgabenspektrum an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit (Bogumil & Jann, 2009, S. 257). Drittens problematisieren die Autoren die Politisierung dann als »unbotmäßig«, wenn sie auf fachliche Rechtsanwendung verzichtet (Bogumil & Jann, 2009, S. 258). Den Erfolg von Verwaltungsreformen sehen sie abhängig von der relativen Autonomie der Durchsetzungsinstanzen (Bogumil & Jann, 2009, S. 259). Die kommunale Ebene ist am reformfreudigsten, da sie am stärksten unter Öffentlichkeitsdruck steht und am wenigsten autonom ist (Bogumil & Jann, 2009, S. 259). Die Erfolgschancen für Verwaltungsreformen steigen durch externen Druck und »wenn es gelingt, die wichtigsten Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung auf gemeinsame Ziele zu verpflichten« (Bogumil & Jann, 2009, S. 259).

Für ein inkrementelles Vorgehen mit echter Aufgabenkritik spricht, dass »fest in der Tradition des Landes und der Verwaltung verwurzelte kulturelle Prägungen ebenso wie funktional erfolgreiche Lösungen berücksichtigt werden können« (Bogumil & Jann, 2009, S. 261).

1.2.2 Die Politik der Solidarität

Das Konzept der Bürgernähe erhält im Zuge der Diskussionen um Entbürokratisierung eine stärkere Bedeutung (Bogumil & Jann, 2009, S. 228). Zentralisierung, Spezialisierung und Verfahrensförmigkeit stoßen bei Aufgaben an Grenzen, bei denen »stärker situationsspezifisch zu handeln wäre« (Bogumil & Jann, 2009, S. 229). Die Idee des Bürgeramts kommt Ende der 1970er Jahre auf und erhält Anfang der 1990er Jahre mit dem Modellversuch Bürgerladen Hagen Beachtung (Bogumil & Jann, 2009, S. 230). Kundenorientierte Angebotsstrukturen verbessern nicht nur die Arbeitsqualität, sondern gehen auch mit Produktivitätseffekten einher (Bogumil & Jann, 2009, S. 230). Sie folgen dem Prinzip, bei der Gestaltung von Arbeitszusammenhängen die Sicht der Bürgerinnen und Bürger zu suchen und im Bürgeramt zu integrieren (Bogumil & Jann, 2009, S. 230). Das Profil der Beschäftigten von Bürgerämtern kennzeichnet sich durch eine Allzuständigkeit für die Aufgabenzuschnitte an die Kundenbedürfnisse, durch Beteiligung bei der Planung und Realisierung der Aufgaben sowie durch fachliche und soziale Qualifikationsmaßnahmen (Bogumil & Jann, 2009, S. 230). Neben einem zentralen Bürgeramt gibt es dezentralisierte Außenstellen (Bogumil & Jann, 2009, S. 230). Weitere Gestaltungsmerkmale sind »kurze Wartezeiten, umfassende Öffnungszeiten, ein neues Raumkonzept und ein umfassendes Beratungs- und Informationsangebot« (Bogumil & Jann, 2009, S. 231). Bürgeramtsstrukturen verändern durch die Aufgliederung der Arbeitsaufgaben auf der gleichen Hierarchiestufe die horizontale und durch die Reintegration früherer Assistenztätigkeiten in die Sachbearbeitung auch die vertikale Arbeitsteilung. Neben einer Steigerung der Service- und Arbeitsqualität bringen der dezentrale Technikeinsatz und die Beteiligung der Beschäftigten auch deutliche Produktivitätseffekte (Bogumil & Jann, 2009, S. 231). Kritisch merken Bogumil und Jann an, dass eine verbesserte Servicequalität nicht ausreiche, sondern auch die Qualität der Dienstleistungen im Auge behalten werden sollte (2009, S. 232). Als Beispiele führen sie Anlaufstellen wie die vom Deutschen Städtetag entwickelte »zentrale Fachstelle Wohnungsnot« an und die »Lotsen im Rahmen der Wirtschaftsförderung« (Bogumil & Jann, 2009, S. 233). Investitionen in die Dienstleistungsqualität für spezifische Adressaten liegen im Eigeninteresse der Kommune, da sie zur Reduktion von Sozialausgaben und damit zur Stärkung der kommunalen Einnahmesituation beitragen können. Das Leitbild der Kommune als Dienstleistungsunternehmen bringt die Rolle der Bürgerinnen und Bürger im ›aktivierenden Staat‹ zum Ausdruck. Auf der politischen Agenda steht mit der Etablierung einer Enquete-Kommission die »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« (Bogumil & Jann, 2009, S. 234). Nicht nur dem Staat und der Bürokratie, sondern auch der Gesellschaft selbst wird eine Steuerungsfähigkeit zugewiesen (Bogumil & Jann, 2009, S. 234). Neben der Effizienz und Dienstleistungsorientierung kommt ein neues zentrales Ziel hinzu: »die Überwindung der sozialen ›Exklusion‹ gesellschaftlicher Gruppen oder ganzer Nachbarschaften oder Regionen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 234). Gesellschaftliche Verantwortung soll mit der »Stärkung von sozialer, politischer und administrativer Kohäsion, von politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, von bürgerschaftlichem und politischem Engagement« (Bogumil & Jann, 2009, S. 234) erreicht werden.

Das Konzept der Bürgerkommune beschreibt, wie Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Dienstleistungsproduktion einbezogen werden können. Mit den Rollen des Kunden, politischen Auftraggebers und Mitgestalters soll die traditionelle Innensicht der Verwaltung auf eine Außenorientierung und damit auf die Sicht von Nutzerinnen und Nutzern von Dienstleistungen und eine »Verwendungsperspektive« (Bogumil & Jann, 2009, S. 235) umgestellt werden. Der »Ausbau von Bürgerbeteiligungselementen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 235) betrifft die Mitgestaltung der Qualität öffentlicher Aufgaben, die Beteiligung an Planungsprozessen, die Herstellung von Transparenz, die Übergabe von nicht mehr zu finanzierenden Aufgaben, die Berücksichtigung von ›artikulationsschwachen‹ Bevölkerungsgruppen sowie die Förderung von Kreativität, Eigenverantwortung und Selbsthilfefähigkeit der Bürgerinnen und Bürger (Bogumil & Jann, 2009, S. 236). Neben der Kundenorientierung beinhaltet das Konzept der Bürgerkommune erweiterte Entscheidungsformen durch Elemente direkter und kooperativer Demokratie. Für ein gelingendes Partizipationsmanagement empfehlen Bogumil und Jann, an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger anzusetzen (2009, S. 236). Eine Perspektive ›von unten‹ müsse möglichst viele Bevölkerungsgruppen ansprechen, insbesondere solche, »die sich nur wenig am politischen System beteiligen » (Bogumil & Jann, 2009, S. 236). Ein vorausschauendes Partizipationsmanagement weist kommunalen Entscheidungsträgern eine führende Rolle zu, denn Beteiligungsthemen sind so zuzuschneiden, »dass die Bürger nicht überfordert werden« (Bogumil & Jann, 2009, S. 237). Die Mitwirkung an kleinräumigen Planungen, an konkreten Projekten oder in öffentlichen Einrichtungen halten die Autoren für geeigneter als die Beteiligung zur Lösung grundlegender Konflikte (Bogumil & Jann, 2009, S. 237): »Es sollte um das kurzfristig im Konsens auch mit dem Stadtrat Machbare gehen« (Bogumil & Jann, 2009, S. 237). In Anbetracht deutlich gesunkener Handlungsspielräume der Kommunen werde mitunter allerdings von einer ›Demokratisierung der Machtlosigkeit‹ gesprochen (Bogumil & Jann, 2009, S. 237).

1.3 Erzählungen im Policy-Diskurs

In der fachwissenschaftlichen Debatte um Formen des Regierens auf kommunaler Ebene, bürgerschaftlichen Engagements und der Leistungserbringung im öffentlichen Sektor hat sich der Begriff der Local Governance etabliert (Sack, 2007, S. 251). Der Begriff beinhaltet neben netzwerkartigen Kooperationen auch Public Private Partnerships (PPP) als Varianten öffentlich-privater Kooperationen. Die beteiligten Akteure behalten ihre jeweilige organisatorische Eigenständigkeit, einigen sich aber »auf ein gemeinsames Ziel und eine beidseitig getragene Aufgaben- und Risikoallokation« (Sack, 2007, S. 253).

Sack wählt einen wissenspolitologischen Ansatz und identifiziert drei zeitgenössische Erzählungen lokalen Regierens, die er als ›Spiele‹ des Markts, der Macht und der Kreativität interpretiert (2007, S. 252). Unter einem ›Spiel‹ versteht er die inhaltliche Prägung einer Akteurkonstellation (Sack, 2007, S. 255). Während die NPM-Erzählung als Spiel des Markts und die Anti-Liberalisierungs-Erzählung als Spiel der Macht die neoliberale Vermarktlichung referenzieren, bezieht die Local-Governance-Erzählung als Spiel der Kreativität ihren Eigenwert aus einem multirationalen Ansatz. Lokales Regieren setzt über den Wettbewerb hinaus auch auf »Regelungsmuster der Hierarchie, der Partizipation, der Kooperation und der Gemeinschaftsbildung« (Sack, 2007, S. 258). Die Vermittlung grundsätzlich differenter Handlungslogiken wird zur Quelle nicht nur von Spannungen, sondern von Kreativität und Innovation (Sack, 2007, S. 270). Die Attraktivität dieser »ambivalenten und kreativen Gouvernementalität« erklärt Sack damit, dass »Akteure nicht allein einem Handlungsdruck ausgesetzt sind, sondern eine produktive ›Führung ihrer selbst und anderer‹ als gemeinsames Lernen erleben« (Sack, 2007, S. 270).

Die New Public Management-Erzählung behandelt das Problem des Investitionsbedarfs unter Bedingungen öffentlicher Finanzknappheit (Sack, 2007, S. 255). Die Ausrichtung der lokalen Governance am Paradigma des NMP setzt auf die Binnenmodernisierung der Verwaltung und damit auf die Steigerung von Effizienz durch dezentralisierte Einheiten, Formen neuer Rechnungslegung und Budgetverantwortung, auf Produktbeschreibungen und Zielvorgaben sowie auf formelle und materielle Privatisierung (Sack, 2007, S. 255): »Im Kern der Reformbestrebungen stehen Prozesse der Liberalisierung und der Privatisierung, d. h. der Ausweitung von Marktprinzipien im öffentlichen Sektor« (Sack, 2007, S. 255). Die marktorientierte Strategie weist PPP die Funktion zu, öffentliche Haushalte zu entlasten, die Effizienz der öffentlichen Verwaltung zu steigern und den Marktanteil der beteiligten Unternehmen zu erhöhen (Sack, 2007, S. 259). Die Gründung von PPP ist von ökonomischen Eigeninteressen der Akteure motiviert (Sack, 2007, S. 255). Bürgerschaftliches Engagement ist von Interesse, wenn es Dienstleistungen erbringt und spielt damit eine nachrangige und substituierende Rolle (Sack, 2007, S. 255).

Die Anti-Liberalisierungs-Erzählung behandelt spiegelbildlich zum NPM-Paradigma die Nachteile, die Bürgerinnen und Bürgern aus der Vermarktlichung des öffentlichen Sektors erwachsen (Sack, 2007, S. 259). Die Ausrichtung der lokalen Governance an der neoliberalen Dominanz und an Elementen der Kompensation setzt auf bürgerschaftliches Engagement. Die an neoliberaler Gouvernementalität ausgerichtete Strategie weist PPP die Funktion zu, identitätsstiftende Vergemeinschaftungen zu ermöglichen, um »Desintegrationserfahrungen aufgrund von Kommerzialisierung und Deregulierung« (Sack, 2007, S. 256) zu kompensieren. Dieses ›Spiel‹ der Macht hat die Kritik an Privatisierungen sowie an Kontrollproblemen der PPP zu Ungunsten der demokratisch gewählten Parlamente als Charakteristikum.Footnote 8

Die Local Governance-Erzählung schließlich hebt sich von diesen beiden Erzählungen dadurch ab, dass sie den Eigenwert »variabler Kombinationen von Regulierungen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft« (Sack, 2007, S. 257) betont. Sie behandelt Dysfunktionalitäten monopolisierter und kompetitiver Märkte ebenso wie jene der bürokratisch-hierarchischen Staatlichkeit (Sack, 2007, S. 258). Die Ausrichtung der lokalen Governance an hybriden Leistungsformen zwischen Hierarchie, Wettbewerb und Kooperation setzt auf die Nutzung von Differenzen, um die Qualität öffentlicher Dienstleistungen zu steigern (Sack, 2007, S. 259). Die innovationsorientierte Strategie weist PPP die Aufgabe zu, Ressourcen in einem Mix an Regelungsmechanismen zu bündeln, um Probleme angemessen zu bearbeiten. Öffentlich-privaten Kooperationen wird normativ ein »erhebliches Potenzial an Innovationsfähigkeit und Kreativität« zugeschrieben: »Gerade durch die Kombination unterschiedlicher Logiken und Wissenspotenziale einerseits wie materieller Ressourcen andererseits können PPP zu einer qualitativen Verbesserung der Dienstleistungen im öffentlichen Interesse beitragen« (Sack, 2007, S. 258).

1.4 Multirationales Management

Ein Ansatz, der die Dominanz ökonomischen Denkens vermeiden will, stellt das multirationale Management dar. Bogumil (2014, S. 56) verweist im Zuge von Evaluationen zum Neuen Steuerungsmodell (NSM) auf dieses Konzept. Probleme bei der Umsetzung des Neuen Steuerungsmodells erklärt er mit einer Implementations- und einer Theorielücke. Erstere besagt, dass eine richtige Theorie unzulänglich implementiert wurde. Letztere stellt die Theorie an sich in Frage. Insbesondere der Versuch, das Verhältnis von Politik und Verwaltung umzugestalten oder ein strategisches Management zu schaffen, hält er für eine »›falsche‹ Theorie, in der die Rationalität politischer Prozesse vollkommen ausgespart bleibt« (Bogumil, 2014, S. 56). Diese Aussage lässt sich mit Schimank auf eine ›feindliche Übernahme‹ zuspitzen, insofern betriebswirtschaftliches Denken unangemessen auf die politisch-administrative Handlungslogik übergreift. Bereits in der ersten »Bilanz bezüglich des Umsetzungsstands von Maßnahmen des Neuen Steuerungsmodells und deren Wirkungen« kennzeichnet Bogumil die vorgesehene Aufgabentrennung zwischen dem ›Was‹ für die Politik und dem ›Wie‹ für die Verwaltung als Konzeptfehler (2008, S. 347): »Für die Politiker ist die Steuerung von Einzelprojekten und Maßnahmen nach wie vor ebenso ›überlebenswichtig‹ wie die Absicherung von Verwaltungsentscheidungen von Seiten der Fachbeamten im Fachausschuss« (Bogumil, 2008, S. 347).

Mit einem multirationalen Management plädieren Schedler und Rüegg-Stürm für die »Schaffung von Bedingungen, unter denen trotz der Wirksamkeit multipler Rationalitäten in einem Kontext von Ungewissheit, Unsicherheit, Vieldeutigkeit und Zeitdruck gemeinschaftlich entschieden werden kann« (2013, S. 194). Den Ansatz begründen sie systemtheoretisch mit der Herausbildung einer Vielzahl von Organisationen, die sich in der modernen Gesellschaft gleichzeitig in mehreren Funktionssystemen engagieren und »dementsprechend mit einer erheblichen Heterogenität von Sinnkriterien, Erfolgsvorstellungen und Erfolgserwartungen ihrer relevanten Umwelten zurechtkommen müssen« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 15). Mit einem kollektiv-konstruktivistischen Zugang untersuchen sie »Kommunikationsprozesse, die mit dem Management einer Organisation einhergehen, im Verhältnis zu den in der Organisation vorhandenen (multiplen) Rationalitäten« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 35).

Unter Rationalität verstehen die Autoren die »Handlungs-, Begründungs- und Konstruktionslogik einer Sinngemeinschaft« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 33). Nicht das Denken und die Wahrnehmung einzelner Menschen bilden den Bezugspunkt der Beobachtungen, sondern interaktive Prozesse in Gruppen von Akteuren (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 35). Soziale Gruppen bilden interaktiv einen geteilten Sinn bezüglich eines gemeinsam erlebten Phänomens heraus (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 35). Solche »Sinngemeinschaften« sind vergleichbar mit Prozessen der Professionalisierung: »Je spezialisierter und selbstreferenzieller eine Sinngemeinschaft ist, umso eher pflegt sie eine eigene Sprache, eine eigene Symbolik, eigene Argumentations- und Begründungsmuster, bis hin zu einer eigenen Identität und Rationalität« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 36). Rationalität als Handlungslogik meint »eine spezifische Art des Denkens, Sprechens und Handelns, die in sich einen logischen Sinn ergibt« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 37). Das Handeln sucht innerhalb einer Sinngemeinschaft nach Anerkennung, bedarf daher einer logischen und konsequenten Erklärung. Rationalität ist daher auch eine Begründungslogik (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 37). Dieser legitimatorische Aspekt erklärt sowohl die Entstehung einer »Pfadabhängigkeit des täglichen Handelns« als auch die Kontingenz und Prozesshaftigkeit der Rationalität (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 39):

Aus einem solchen Blickwinkel lässt sich Rationalität verstehen als ein spezifisch gewachsener, selbstverständlich gewordener, kulturell verankerter, im ständigen Werden befindlicher, gemeinsam geteilter Sinnhorizont von Begriffen, Gewissheiten, Regeln, Erfolgsvorstellungen, normativ-ethischen Prinzipien, auf den die Akteure in einem bestimmten Lebens- und Handlungskontext bei ihrem Denken, Handeln und Kommunizieren explizit und implizit Bezug nehmen, um das laufende Geschehen sinnhaft verstehen und im entsprechenden Kontext kompetent entscheiden und handeln zu können (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 40).

Für Organisationen bedeutet diese konstruktivistische Sichtweise, dass sie »in einem pluralistischen Kontext agieren und sich dort gleichzeitig auf verschiedene Weise behaupten müssen« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 61). Sie müssen sich gegenüber multiplen Rationalitäten legitimieren. Organisationen kommt in Anbetracht von Multirationalität die Aufgabe zu, »relevante Akteursgruppen mit verschiedenen Rationalitäten auf Dauer unter einem Dach zu beherbergen« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 62). Schedler und Rüegg-Stürm bezeichnen ein »Management, das in einem solchen Setting die Entscheidung- und Handlungsfähigkeit der Organisation sicherstellt und dabei bewusst mit den unterschiedlichen Rationalitäten umgeht«, als »multirationales Management« (2013, S. 62).

Ein multirationales Management versteht es, so die Autoren, »konstruktiv mit zumindest teilweise widersprüchlichen Rationalitäten zurecht zu kommen« sowie »auf der Klaviatur der zur Verfügung stehenden Praktiken« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 194) zu spielen. Eine Matrix ordnet diese Praktiken entlang von zwei Ausprägungen in vier Dimensionen (vgl. Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2
figure 2

(Quelle: Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 194)

Praktiken im Umgang mit multiplen Rationalitäten.

Ein expliziter Umgang spricht die Unterschiedlichkeit offen aus, ein impliziter dethematisiert die Vielfalt von Rationalitäten (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 194). Ein monorationaler Umgang präferiert eine Rationalität, ein multirationaler lässt »zwei oder mehr Rationalitäten in einer Organisation auf Dauer nebeneinander existieren« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 194). In der Kombination dieser Ausprägungen entstehen vier Gruppierungen. Die Vermeidung bezeichnet das unbewusste Ausblenden des pluralistischen Kontexts in Organisationen (Schedler, 2012, S. 369). Die Toleranz beinhaltet die Anerkennung, Duldung und Vermittlung zwischen Unterschieden, ohne dass ein Bewusstsein für »die wahren Ursachen des Konflikts in unterschiedlichen Rationalitäten« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 195) vorhanden ist. Unter der Polarisierung verstehen die Autoren einen expliziten Umgang mit verschiedenen Rationalitäten, der offene Konflikte, Wettbewerb und Machtspiele in Kauf nimmt (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 196). Im letzten Feld der Förderung sehen sie ein großes »Potenzial für zukünftige Entwicklungen im Management«, da hier eine »explizite Entscheidung für eine pluralistische Organisation« mit der »Befähigung zum multirationalen Handeln« (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 196) vorliegt. Das mit empirischen Beispielen plausibilisierte Modell wollen Schedler und Rüegg-Stürm als Anregung für weitere Studien verstanden wissen. Es bietet eine analytische Folie für Praktiken, die gleichzeitig oder sequenziell zur Anwendung kommen können (Schedler & Rüegg-Stürm, 2013, S. 223).

2 Regionalisierung von Bildung

Regionalisierung ist auch im Bildungswesen ein Thema. Nachdem Reformen im Mehrebenensystem der Verwaltung ein Schlaglicht auf die Politik der Ökonomie und die Politik der Solidarität werfen, soll nun der Diskurs der Politik beleuchtet werden. Erzählungen im Policy-Diskurs und das Konzept der Multirationalität verweisen darauf, dass in der Organisation der Wohlfahrtsproduktion Adressierungen nicht nur von der Politik ausgehen, sondern dass die Politik ihrerseits mit unterschiedlichen Rationalitäten angesprochen wird. Eine kritische Sicht auf Bildungsregionen in Bezug auf sozialintegrative Wirkungen stelle ich mit einer weitgehend schulbezogenen Perspektive dar. Die Politik wird hier implizit mit der Erwartung angesprochen, durch Selektionsstrukturen verursachte Exklusionsprozesse besser mit strukturellen Systemreformen zu bearbeiten als mit Bildungsregionen. Danach kommt ein Vertreter des Professionalismus als Form der Dienstleistungsorganisation im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialarbeit zu Wort. Dieser Ansatz kann als Statement im Sinn des ›back to the roots‹ gelesen werden, insofern mithilfe einer realistischen Wirkungsforschung das in manageriellen (NPM-)Ansätzen abgesprochene Vertrauen in reflexive Wohlfahrtsprofessionelle wiederhergestellt werden soll. Ein neuer Steuerungsakteur, der die Folgen eines einseitig-betriebswirtschaftlich orientierten Modells erkennt und der Profession wieder Raum gibt, ist das kommunale Bildungsmanagement. Er führt mit dem Bildungsmonitoring das geforderte Orientierungs-, Reflexions- und Erklärungswissen ein. Im Übergang zum empirischen Teil stelle ich mithilfe der Begrifflichkeiten von Schimanks kulturtheoretischem Ansatz schließlich die Steuerungslogiken dar, die das Programm Lernen vor Ort tragen. Damit werde ich zeigen, dass Strategien und multiple Rationalitäten beim Aufbau eines kommunalen Bildungsmanagements nicht nur durch wirkmächtige interaktionsferne Deutungsstrukturen gerahmt, sondern auch mit der Erwartung konfrontiert sind, Sozialintegration en passant zu Systeminnovationen herzustellen.

2.1 Bildungsregion als Integrationsraum

Regionalisierungsprozesse im Bildungssektor diskutiert Emmerich aus einer kritisch-erziehungswissenschaftlichen Perspektive (2010). Dezentralisierungs- und Kommunalisierungsmaßnahmen, die der Deutsche Bildungsrat »als Elemente einer strukturellen und organisatorischen Reform des Bildungswesens« (Emmerich, 2010, S. 355) empfiehlt, stoßen in den 1970er Jahren auf geringe Resonanz der Kultusadministrationen. Hingegen erweist sich die Denkschrift »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft« (Bildungskommission NRW, 1995) als bahnbrechend für den Aufbau Regionaler Bildungslandschaften. ›Weiche‹ Organisationsformen territorial-multifunktionalen Zuschnitts (vgl. Abschnitt 5.1.1) widerspiegeln die Sonderbedingungen deutscher Regionalisierungsbedingungen. »Zentralstaatliche Steuerungsstrukturen des Bildungssystems und die staatlich-föderale Bildungspolitik« schaffen »spezifische Ausgangslagen und damit kontextabhängige Plausibilitätsbedingungen für die Umsetzung regional orientierter Bildungsreformen« (Emmerich, 2010). Emmerich versteht Regionalisierung als »Epiphänomen des steuerungspolitischen Paradigmenwechsels infolge der wohlfahrtsstaatlichen Steuerungskrise« (2010, S. 357). Reformen im Mehrebenensystem der Verwaltung (vgl. Abschnitt 5.1.2) interpretiert er als »Zurücknahme zentralstaatlicher Interventions- und Steuerungstätigkeit« und als verstärktes Interesse, »nichtstaatliche Akteure in die Politikgestaltung und in die Generierung und Realisierung von Lösungsansätzen für sozial- und wirtschaftspolitisch relevante Problemstellungen einzubeziehen« (Emmerich, 2010, S. 358). Im Kern von Regionalisierungstendenzen im Bildungssektor stehen »räumlich begrenzte Selbststeuerungskontexte« mit einer »problembezogenen, funktionssystemübergreifenden Handlungskoordination lokaler Akteure« (Emmerich, 2010, S. 358).

Regionalisierungsmodelle im Kontext einer dualistischen und ›verstaatlichenden‹ Aufgabenverteilung sind deshalb attraktiv, weil sie »eine temporäre Interdependenzverstärkung zwischen Organisationen unterschiedlicher Funktionssysteme« zulassen, ohne die »formal konstituierten Grenzen infrage zu stellen« (Emmerich, 2010, S. 363). Emmerich erklärt Netzwerke differenzierungstheoretisch als Steuerungsmodus zur interaktionsbasierten Kopplung »zwischen eigenrational operierenden Teilsystemen bzw. Organisationen« (2010, S. 359). Sie bearbeiten die »Unterbrechung gesellschaftlicher Abhängigkeitsverkettungen« (Emmerich, 2010, S. 361) und damit Folgen funktionaler Differenzierung. Regionalisierungsprogrammen kommt damit die Funktion zu, unterbrochene Interdependenz »in kooperationsbasierte Interdependenz zu transformieren« (Emmerich, 2010, S. 361). Sie stellen ein Korrektiv für »Selbstbeobachtungslücken des Bildungssystems in Bezug auf seine operativen Leistungsstrukturen« (Emmerich, 2010, S. 361) dar. Der bildungspolitische und fachwissenschaftliche Diskurs um Defizite im Bildungssystem legitimieren Regionalisierungsansätze mit netzwerkartigen Unterstützungssystemen (Emmerich, 2010, S. 361). Allerdings steigern Regionalisierungsprozesse die Umweltkomplexität für institutionelle Akteure und setzen insbesondere Schulen »differenzierteren Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungsbeziehungen« (Emmerich, 2010, S. 361) aus.

In Bezug auf die empirische Forschung zu schulentwicklungsorientierten Regionalisierungsprozessen konstatiert Emmerich eine »Diskrepanz zwischen Praxis und Reflexion« (2010, S. 363) und ein Desiderat »hinsichtlich der Analyse institutionalisierter Steuerungsstrukturen im regionalen Kontext« (Emmerich, 2010, S. 364). Am Beispiel eines Regionalisierungsprojekts zur Qualitätsentwicklung von Schulen in Baden-Württemberg präsentiert er zentrale Befunde zur Wirkungseinschätzung der schulischen Akteursgruppen. Lehrpersonen, Steuergruppen und Schulleitungen zeigen ein systematisch differenziertes Antwortverhalten (Emmerich, 2010, S. 368). Effekte durch Regionalisierungsmaßnahmen nehmen Schulen »primär in Bezug auf die Ausdifferenzierung schulinterner Steuerungsstrukturen« (Emmerich, 2010, S. 369) wahr. Damit einher gehen voneinander entkoppelte professions- und organisationsbezogene Erfahrungs- und Sinnhorizonte. Während Lehrpersonen ihre Aufmerksamkeit primär auf die operative Unterrichtspraxis richten, bilden Steuergruppen und Schulleitungen verstärkt strategische Aufmerksamkeiten aus (Emmerich, 2010, S. 370). Letztere nehmen auch Wirkungen in Bezug auf die Gestaltung des internen Schulentwicklungsprozesses wahr, kaum jedoch hinsichtlich der programmatisch angestrebten schulübergreifenden Unterstützung und Beratung (Emmerich, 2010, S. 371). Den Aufwand für die Durchführung der schulischen Selbstevaluation mithilfe des von der Bertelsmann Stiftung entwickelten Instruments SEIS schätzen Schulen generell als eher zu groß ein. Positiv auf die Beurteilung wirken sich bereits vorhandene Schulentwicklungserfahrungen sowie geringe Kooperationsaktivitäten aus (Emmerich, 2010, S. 372–373). Kooperationsbeziehungen bestehen zur Bearbeitung der vertikalen Differenzierung des Schulsystems im Übergang von der Elementar- zur Sekundarschule zum einen und zur Bearbeitung intersystemischer Schnittstellenprobleme im Übergang von der Sekundarschule in die berufliche Ausbildung zum anderen (Emmerich, 2010, S. 374). Emmerich bilanziert die Befunde mit zwei kritischen Anmerkungen: Erstens könnten Alternativen zur organisatorischen Binnendifferenzierung des Schulsystems nicht mittels einer Regionale Governance durchgesetzt werden, da eine Neugliederung des Schulsystems schulgesetzlich und damit auf der Makroebene verankert sei (Emmerich, 2010, S. 374). Zweitens ginge mit dem politisch angestoßenen ›Wettbewerb der Regionen‹ das Risiko einher, dass Schulerfolg und soziale Allokation stärker an die regionale Herkunft gekoppelt würden (Emmerich, 2010, S. 375).

Diese Kritikpunkte schärfen Emmerich, Rahm und Nerowski mit der These, dass Regionalisierung das Ziel der Sozialintegration verfehle, »weil sie primär auf der Ebene der Systemintegration« (Emmerich et al., 2011, S. 20) ansetze. Im Kern ihrer Argumentation stehen drei Bezugsprobleme, für welche die Schaffung von Bildungsregionen eine »Gesamtlösungs-Strategie« (Emmerich et al., 2011, S. 11) darstellt. Erstens sehen sie im Aufbau Regionaler Bildungslandschaften den Versuch, die Schulqualität durch die Etablierung von Innovationsnetzwerken und themenzentrierten Netzwerken zu verbessern (Emmerich et al., 2011, S. 12). Dass die Beratungs- und Unterstützungsstrukturen ihre Aufmerksamkeit auf den Übergang von der Schule in den Beruf sowie auf vertikale Übergänge von der Primar- zur Sekundarstufe innerhalb des Schulsystems richten, lesen sie als staatlich top-down initiierte Reparaturmaßnahme für Durchlässigkeitsprobleme des gegliederten Schulsystems (Emmerich et al., 2011, S. 13). Zweitens verweisen sie auf die steuerungspolitische Funktion von Bildungsregionen, die mit dem Leitbild einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft konsensorientierte Kooperationen zwischen dem Land und den Kommunen ermöglichen, ohne die formal-rechtliche Trennung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten anzutasten (Emmerich et al., 2011, S. 15). Drittens führen sie regionale Disparitäten und damit verbundene »Benachteiligungs- und Segregationsphänomene« (Emmerich et al., 2011, S. 17) ins Feld: »Schulrechtlich und -organisatorisch vorgesehene Selektionsentscheidungen werden von einer (formal-bürokratisch unbeobachteten) regionalen ›invisible hand‹ beeinflusst, die das gesamtstaatliche Schulsystem ›manipuliert‹ und seine meritokratische Selbstlegitimation ersichtlich unterläuft« (Emmerich et al., 2011, S. 18).

Ein »reflexiver Selbstbezug auf die eigene ›Regionalkultur institutionalisierter Bildungsbenachteiligung‹« ist für die Autorenschaft weder in den Regionalen Bildungsnetzwerken noch in den Diskursen um die Ganztagsbildung im Rahmen lokaler Bildungslandschaften erkennbar (Emmerich et al., 2011, S. 19). Weder scheine Regionalisierung »die Ebene der sozial selektiven Unterrichtspraxis noch die Praxis der Schullaufbahnentscheidungen auf der Organisationsebene zu erreichen« (Emmerich et al., 2011, S. 19). Die Plausibilität von Bildungsregionen sei daher im Kontext der Verwaltungsmodernisierung im Wohlfahrtsstaat zu verstehen (Emmerich et al., 2011, S. 20). Zwar würden Bildungsregionen sozialräumlich konturierte Desintegration konstruieren, um sich zu legitimieren, könnten die Ursache von Bildungsdisparitäten allerdings nicht erreichen: »Bildungsbenachteiligung realisiert sich im Interaktionsgeschehen des Klassenunterrichts und manifestiert sich an den Selektionsschranken des Schulsystems« (Emmerich et al., 2011, S. 25). Sozialintegration wird damit der Schule und Systemintegration der Bildungsregion zugewiesen: »Es scheint der Bereich der Systemintegration zu sein, der die Regionalisierungsaktivitäten gegenwärtig orientiert, denn in diesem Bereich – nicht im Bereich der Sozialintegration – zeigen sich die sichtbaren Fortschritte im Rahmen der Regionalisierungsprojekte« (Emmerich et al., 2011, S. 24. Hervorhebung im Original).

Spätere Beiträge von Emmerich zur Regionalisierung von Bildung behalten die Stoßrichtung der Argumentation bei. Kritisch hält er fest, dass empirisch weder belegt noch widerlegt werden könne, »dass, warum und wem Regionalisierung hilft« (Emmerich, 2015, S. 298). Organisationen versteht er mit Schimank zugleich als Systemdesintegratoren, indem sie zur Systemdifferenzierung beitragen, und als Systemintegratoren, indem sie mit Netzwerken die Interdependenz zwischen Funktionssystemen verstärken (Emmerich, 2017, S. 84). Organisationen tragen aber auch zur sozialen Ungleichheit bei, indem sie ungleiche Zugangschancen zu den Leistungen der Funktionssysteme verräumlichen (Emmerich, 2017, S. 84). Emmerich folgt hier Luhmanns Unterscheidung von Inklusion und Exklusion. Organisationen vollziehen demnach beide Adressierungsmodi, was zur Frage führt, wie die moderne Gesellschaft Inklusion und Exklusion auf der Ebene gesellschaftlicher Organisation reguliert (Emmerich, 2017, S. 85). Im Handlungsziel des regionalen Bildungsmanagements sieht er einen neuen Versuch, eine »Passung zwischen wettbewerbsorientierter Qualifikationsnachfrage und institutionellem Qualifikationsangebot« (Emmerich, 2017, S. 91) herzustellen. Die Semantik von Regionalisierungsprogrammen, Sozialintegration durch Systemintegration herstellen zu können, kennzeichnet er als Rationalitätsmythos. Er bezweifelt die Annahme, »es könne Kommunen gelingen, durch sozialraumsensible kompensatorische Erziehungsmaßnahmen die Vorzeichen derjenigen Exklusionsmechanismen im Erziehungssystem umzukehren, die für regionale Bildungsdisparitäten (mit) verantwortlich sind« (Emmerich, 2017, S. 91–92). Den damit implizierten Kausalzusammenhang zwischen System- und Sozialintegration bezeichnet er »als eines der zentralen Reflexionsprobleme des erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Regionalisierungsdiskurses« (Emmerich, 2017, S. 94). Die Strategie der Regionalisierung, Sozialintegration durch Bildung mit Systemintegration auf der Ebene von Bildungsorganisationen zu verbinden, sieht er in die Paradoxie eingelagert, dass das Schul- und Erziehungssystem »zugleich partizipatorische Gleichheit und positionale Ungleichheit zwischen Individuen« (Emmerich, 2017, S. 93. Hervorhebung im Original) herstellt. Sozial desintegrierte Individuen sollen »durch die Integration derjenigen Teilsysteme sozial (re-)integriert werden, […] die auf der Basis ihrer systeminternen In- und Exklusionsregulierungen gerade für die soziale Desintegration dieser Individuen sorgen« (Emmerich, 2015, S. 301–302). Dass sich schulische Selektionseffekte durch »bildungsorganisatorische Systemintegration in soziale Aufwärtsmobilität umkehren« (Emmerich, 2017, S. 91) lasse, hält er daher für »theoretisch kaum begründbar und empirisch kaum überprüfbar« (Emmerich, 2017, S. 93). Bildungsregionen integrieren, so Emmerich, »weder die Operationen der Funktionssysteme, noch nehmen sie Einfluss auf Selektionsstrukturen in Bildungsorganisationen, sodass ein kompensatorischer Eingriff in deren Exklusionsprozesse auf Basis systemintegrativer Steuerungspolitiken als unwahrscheinlich angesehen werden muss« (Emmerich, 2017, S. 94). Regionalisierung setze nicht an einer strukturellen Systemreform an, sondern sei eine steuerungspolitische Strategie der (post-)wohlfahrtsstaatlichen Systemintegration, die auf kommunaler Ebene ansetze und Bildung als sozial- und wirtschaftspolitisches Steuerungsmedium redefiniere (Emmerich, 2015, S. 298).

2.2 Wirkungsorientierte Steuerung im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit

Auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt sich ein Diskurs um wirkungsorientierte Steuerung. Im Rahmen einer Expertise verortet Otto (2007) den Wirkungsdiskurs in Deutschland innerhalb der internationalen Debatte, zeichnet einen radikalen Wandel der Logik sozialer Dienstleistungserbringung mithilfe einer historischen Entwicklungslinie von Professionalität nach und lenkt mit dem Capability-Ansatz den Fokus auf adressatenbezogene Wirkungen. Damit rückt er Organisationsformen sozialer Dienstleistungen mit Blick auf Fragen der Sozialintegration ins Zentrum. Wirkungsorientierung will er als »empirische Fundierung professionellen Reflexions- und Erklärungswissens« (Otto, 2007, S. 17) verstanden wissen. Am Steuerungsmodus der Profession hält er fest und macht deutlich, »dass die zentrale Frage ›was ist im Einzelfall angemessen?‹ nicht allein durch eine noch so stark valide und reliabel geprüfte statistische Wirkungswahrscheinlichkeit« zu erreichen sei (Otto, 2007, S. 17).

Otto identifiziert gravierende Unterschiede bezüglich der Diskurse um Wirkungsorientierung in der Bundesrepublik im Vergleich zu jenen im angloamerikanischen Raum und in skandinavischen Ländern: »In der Bundesrepublik wird die Frage nach Wirkung primär als eine Frage der Gestaltung von organisationsbezogenen Qualitätskriterien und Finanzierungsstrukturen gestellt« (Otto, 2007, S. 22). Eine untergeordnete Rolle spielt der international bedeutsame und systematische Einsatz der Wirkungsforschung für die Organisation der Erbringung sozialer Dienstleistungen (Otto, 2007, S. 22). Der ›halbierte Wirkungsdiskurs‹ in Deutschland kennzeichnet sich dadurch, dass die Verteilung von Geldern an spezifische Qualitätsstandards geknüpft ist, die auch die Praxis lenken (Otto, 2007, S. 23). Im internationalen Diskurs hat demgegenüber die sozialwissenschaftliche Forschung einen viel größeren Einfluss auf sozialpolitische Entscheidungen (Otto, 2007, S. 23). Eine evidenzbasierte Praxis, wie sie sich in England, Skandinavien und den USA etabliert hat, zeichnet sich dadurch aus, dass die methodisch-praktische Gestaltung der Leistungserbringungsprozesse »auf den möglichst aussagekräftigsten empirisch-wissenschaftlichen Wirkungsnachweisen der je einzelnen Maßnahmen und Programmen gegenüber je spezifischen Adressatengruppen bzw. Problemkonstellationen aufbaut« (Otto, 2007, S. 26). Demgegenüber ist Wirkungsorientierung in der Bundesrepublik mehr eine Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis als von Politik und Wissenschaft und erschöpft sich häufig, so Otto, in Konzepten einer wirkungsorientierten Finanzierung (Otto, 2007, S. 24). Die in der deutschen Sozialpädagogik etablierte Evaluationsforschung kann keine empirischen Wirkungsnachweise leisten (Otto, 2007, S. 27).

Gemeinsame Argumentationslinien um Wirkungsorientierung erkennt Otto in Bezug auf die Wirkmacht Neuer Steuerungsmodelle. Den Managerialismus als »weit reichendes politisch-normatives Programm zur Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen« interpretiert er als »Neubeurteilung der Bedeutung und des Inhalts von Professionalität im Prozess der Erbringung von Sozial- und Humandienstleistungen« (Otto, 2007, S. 28). Die Frage nach der Wirksamkeit von Maßnahmen reduziert sich auf Kosten-Nutzen-Abwägungen. Das mit der Verwaltungsmodernisierung weiter oben angesprochen Leitbild des NPM beziehungsweise NSM legt eine Dominanz der ökonomischen Rationalität nahe. Entsprechend diskreditiert es die bislang bestimmende Kombination der »hierarchischen (Wohlfahrts-)Bürokratie und der Professionalität« als zentralen Hemmschuh für die Erhöhung von Effizienz und Effektivität (Otto, 2007, S. 28). In dieser politisch-diskursiven Verschiebung sieht Otto Zuschreibungen und Annahmen über Kompetenzen und Motivationen von Erbringern sozialer Dienste, die er mit vier Idealtypen beschreibt. Diese bilden eine historische Entwicklungslinie von Professionalität, ohne dass sich die damit verbundenen Rationalitäten auflösen: »Vielmehr überlagern sich die Bilder und Zuschreibungen und auch die politischen Diskurse« (Otto, 2007, S. 29). Der ›reflexive Wohlfahrts-Professionelle‹ entspricht dem Bild von Wohlfahrtspraktikerinnen und -praktikern, die sich am Gemeinwohl orientieren und dabei selbstlos, fachlich kompetent, reflexiv und effektiv handeln (Otto, 2007, S. 30). Otto verortet diesen Typ im sozialdemokratischen Diskurs, der bis in die frühen 1980er-Jahre dominierte. Die Zuschreibung des ›Ritters‹ verlangt eine flexible Organisation von Dienstleistungserbringungen mit einem möglichst großen Entscheidungs- und Ermessensspielraum für Wohlfahrtsprofessionelle (Otto, 2007, S. 30). Dieses Bild verschiebt sich im sozialkonservativen Diskurs der 1980er und 1990er Jahre hin zu einer regelgeleiteten Steuerung der Dienstleistungserbringung.

Professionelle sind zwar immer noch ›Ritter‹, deren reflexive Fachlichkeit aber in Frage gestellt wird. Die anmaßende Haltung ›paternalistischer Gutmenschen‹ bedarf eines Korrektivs, damit Adressaten nicht passiv und abhängig werden (Otto, 2007, S. 30–31). Mit dem Diskurs der ›Neuen Rechten‹ auch in den 1980er-Jahren wandelt sich das Bild vom ›Ritter‹ zum ›Schurken‹. Wohlfahrtsprofessionellen wird vorgeworfen, »nicht das Gemeinwohl, sondern ihr eigenes Interesse im Blick haben« (Otto, 2007, S. 31). Die Annahme rational kalkulierender und eigennütziger Nutzenmaximierer verlangt nach Kontrollsystemen wie Audits und einer Manualisierung der Praxis. Wohlfahrtsproduktion erfolgt im Modus des ›hypokritischen Autokraten‹ (Otto, 2007, S. 31). Die Metapher des ›Schurken‹ setzt sich im neoliberalen Diskurs des ›Dritten Wegs‹ in den 1990er Jahren fort. Eine auf Effektivität und Effizienz angelegte Wohlfahrtsproduktion verlangt ein Management, welches das Selbstinteresse der Leistungserbringer stärkt (Otto, 2007, S. 31). Der ›clevere Wohlfahrts-Manager‹ verbindet die eigennützige Motivation »mit einer hohen Aufmerksamkeit gegenüber dem Bedarf der Kundinnen und Kunden« und sucht »möglichst kompetent nach den effizientesten Lösungen« (Otto, 2007, S. 31). Die Organisation der Dienstleistungsproduktion setzt auf Qualitäts- und Wettbewerbsorientierung, um optimale Wirkungen für die breite Öffentlichkeit aufgrund rationaler Eigeninteressen zu erzeugen (Otto, 2007, S. 31).

Mithilfe der Zuschreibung des ›Ritters‹ oder ›Schurken‹ arbeitet Otto die Wirkungsorientierung und die Wettbewerbsorientierung als »zwei grundverschiedene Steuerungslogiken« (2007, S. 31) heraus. Modelle der Wettbewerbsorientierung gründen in der Annahme, dass Konkurrenzmechanismen die effektivsten Leistungen auf dem ›Sozialmarkt‹ hervorbringen, selbst wenn eigennützige ›Schurken‹ am Werk sind. Die Wirkung sozialer Dienste wird dabei gar nicht gemessen (Otto, 2007, S. 33). Auf einem Dienstleistungsmarkt gibt es ein breites Wissen an Angeboten von und Erfahrungen mit Dienstleistungen, welches dezentral erzeugt wird. Keine zentrale Instanz kann über all dieses Wissen verfügen (Otto, 2007, S. 37). Preise generieren und koordinieren das relevante Wissen. Nutzerinnen und Nutzer von Dienstleistungen können ihr Verhalten den gegebenen Umständen anpassen, ohne die Gründe für Preisveränderungen wissen zu müssen (Otto, 2007, S. 37). Demgegenüber basieren Modelle der Wirkungsorientierung auf der Messung von Wirkungen durch Methoden der empirischen Sozialforschung (Otto, 2007, S. 37). ›Schurken‹ werden von einer wissenschaftlichen Instanz in Form von Forschung, Evaluation und Audits an die Hand genommen (Otto, 2007, S. 39). Die neoliberale Kritik besteht darin, dass keine Innovationen entdeckt werden können, weil externe Prüfinstanzen bereits wissen müssen, was als Innovation und wünschenswerte Wirkung zu gelten habe (Otto, 2007, S. 40). Prozesse der Dienstleistungserbringungen würden so nicht mehr von Kunden, sondern von ›hypokritischen Autarken‹ kontrolliert.

Eine dritte Logik stellt der klassische Professionalismus dar, der sich zwischen der Bürokratie und dem Markt positioniert. Wohlfahrtsprofessionelle definieren selbst, was als Wirkung zu verstehen ist und werden direkt finanziert (Otto, 2007, S. 41). Gegen dieses ›alte‹ Modell treten markt- und wirkungsorientierte Modelle aber gerade an, mit der Begründung »die pauschale Finanzierung würde ineffiziente Versorgungsstrukturen befördern, weil die Dienstleistungserbringer weder von den Klienten noch von den Geldgebern Anreize zur Wirkungsorientierung« (Otto, 2007, S. 42) erhielten.

Otto sieht im ›wirkungsorientierten Professionalismus‹ eine neue Logik, die sich der Herausforderung zu stellen hat, die Fallstricke der Wettbewerbsorientierung und technokratischen Wirkungsorientierung zu vermeiden (2007, S. 43). Eine wirkungsorientierte Steuerung, die Wohlfahrtsprofessionelle der Sozialarbeit wieder als ›Ritter‹ adressiert, diskutiert er vor dem Hintergrund weitreichender Veränderungen auf vier Ebenen. Die Kopplung der Idee, den Erfolg von Maßnahmen durch ›harte Fakten‹ nachzuweisen mit der Stoßrichtung, nur noch Maßnahmen zu finanzieren, die gewünschte Wirkungen auch nachweisen können, hält er für eine neue Qualität in der Diskussion um Wirkungen. Die Politik sieht er durch weitreichende Ökonomisierungs-Tendenzen unter Legitimationsdruck (Otto, 2007, S. 45). Für die Profession bedeutet der Diskurs um Wirkungsorientierung, »die Soziale Arbeit auf ein neues wissenschaftliches Fundament zu stellen« (Otto, 2007, S. 47). Damit wird das ›alte‹ Modell der Steuerung durch Professionalität grundlegend in Frage gestellt. Es handelt sich dabei um ein reflexives Professionsmodell, das »nicht von der Anwendung eines wahren, gültigen Wissens, sondern von der Relationierung von Wissen ausgeht« (Otto, 2007, S. 49). Das wissenschaftlich-fundierte Reflexions- und Erklärungswissen ist an die Person des Professionellen gebunden, die nicht nur fähig, sondern auch zuständig und berechtigt ist, die »eigenen fachlichen Kriterien weitgehend selbst bestimmen zu können, wer ihre Klienten sind, warum sie ihre Klienten sind und wie mit ihnen umzugehen sei« (Otto, 2007, S. 49). Auch die Organisation sozialer Dienstleistungen steht unter dem Diktum von Kosten-Nutzen-Abwägungen. Instrumente des New Public Management wie Vereinbarungen, Audits, Richtlinien und Standards liest Otto »als funktionale Äquivalente zum Vertrauen in die Professionellen« (2007, S. 50). Den Professionalismus durch Managerialismus zu ersetzen, bedeutet, nicht mehr den individuellen Fall, sondern ganze Fallgruppen mithilfe von Erfolgswahrscheinlichkeitsberechnungen ins Zentrum zu stellen (Otto, 2007, S. 54). Standardisierte Interventionen stellen ein Gegenmodell zu den Annahmen eines Technologiedefizits und der Nicht-Standardisierbarkeit sozialer Dienstleistungen dar. Schließlich beinhaltet das neue Modell des Risikomanagements auch veränderte Erwartungen an die Bereitstellung von Wissen durch Wissenschaft, Forschung und Evaluation. Ein evidenzbasiertes Verständnis setzt auf die unmittelbar verwertbare Nützlichkeit empirischer Ergebnisse (Otto, 2007, S. 58). Wissenschaft wird weniger als Instanz verstanden, die Erklärungs- und Reflexionswissen bereitstellt, auf das Professionelle situativ und fallsensibel zugreifen, sondern »als Anbieterin pragmatischer Problemlösungen: als neutraler, technologischer Service, dessen Aufgabe nicht im vermeintlich unkonstruktiven Hinterfragen und Kritisieren, sondern in der Effektivierung sozialpolitischer wie -pädagogischer Interventionen liegt« (Otto, 2007, S. 58). Für die Soziale Arbeit zeigt Otto auf, dass es einer realistischen Wirkungsforschung bedarf, die Erklärungs- und Reflexionswissen bereitstellt. Studien sollen die Praxis nicht anleiten, sondern Theorien mittlerer Reichweite bereitstellen, die »Kontext-Mechanismus-Ergebnis- Konfigurationen« (Otto, 2007, S. 65) bereitstellen. Ein Ansatz, der die beschriebenen Handlungserfordernisse für Politik, Profession, Organisation und Wissen aufgreift und um den Bereich der Repräsentation erweitern wird, ist das kommunale Bildungsmanagement.

2.3 Kommunales Bildungsmanagement

Das kommunale Bildungsmanagement als neuartiger Steuerungsakteur hat sich im Rahmen der Programme Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken (LRFN: Laufzeit 2001 bis 2008) und Lernen vor Ort (LvO: Laufzeit 2009 bis 2015) etabliert. Beide Programme wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) lanciert. Im Abschlussbericht »Lebenslanges Lernen in regionalen Netzwerken verwirklichen« beschreiben Emminghaus und Tippelt regionale Netzwerke als ›neuartige‹ Organisationsform, die »›integrierte Bildungsprodukte und Bildungsdienstleistungen‹ für unterschiedlichste Adressatinnen und Adressaten zur Intensivierung Lebenslangen Lernens« (2009, S. 11) entwickeln. Das regionale Bildungsmanagement stellt eine Errungenschaft dieser Förderphase dar, die das Nachfolgeprogramm Lernen vor Ort mit der Perspektive, »ein ganzheitliches, kohärentes Management für das Lernen im Lebenslauf zu entwickeln und umzusetzen« (BMBF, 2008a, S. 4), aufgreift. Das kommunale Bildungsmanagement nimmt in der Programmdarstellung zunächst einen Platz neben den grundlegenden Aktionsfeldern ein, erfährt im Zuge der wissenschaftlichen Begleitforschung dann aber rasch eine herausragende Bedeutung. In Verbindung mit dem Aktionsfeld Bildungsmonitoring stellt es die Wissensbasierung eines Managements ins Zentrum. Eine regelmäßige indikatorengestützte Bildungsberichterstattung auf der Basis regionaler Daten soll zur Basis von Managemententscheidungen werden. Als vorläufiger Kulminationspunkt der Regionalisierungsentwicklung kommt dem neuen Akteur kommunales Bildungsmanagement die Rolle des regionalen Selbstermächtigers zu, da er als integrierter kommunaler Handlungsansatz an vielen Fäden gleichzeitig zieht.

2.3.1 Das regionale Bildungsmanagement im Programm Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken

Ein indikatorengestütztes regionales Bildungsmanagement will regelmäßig über »die Dynamik des Bildungssystems auf regionaler Ebene in allen seinen Bereichen im Kontext des Lebenslangen Lernens« informieren und dabei die kritische »Aufklärung der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit« (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 171) erreichen. Die Bereitstellung von Orientierungswissen »soll letztlich rationales steuerndes Handeln ermöglichen« (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 171). Aufgrund der Erfahrungen in den Lernenden Regionen benennt die Autorengruppe drei Aufgabenfelder eines regionalen Bildungsmanagements: Erstens bedürfe es analog zur nationalen Bildungsberichterstattung einer Klärung und regional übergreifenden Abstimmung von Indikatoren für eine valide Bildungsberichterstattung. Zweitens habe es zur Profilierung und Herausbildung einer regionalen Identität und drittens zur Nutzung des ›sozialen Kapitals‹ der Regionen beizutragen (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 170). Prozesse des Lebenslangen Lernens empirisch zu analysieren, deckt ein breites Spektrum für datengestützte Beobachtungen ab: frühkindliche Bildung, das allgemeinbildende Schulwesen, die berufliche Ausbildung, die Hochschulbildung, die berufliche allgemeine und politische Weiterbildung sowie die außerschulische Jugendhilfe (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 172). Für den Bereich der Weiterbildung identifiziert die Forschungsgruppe ein Informationsdefizit in Bezug auf Teilnahmequoten. Erste Beispiele der Bildungsberichterstattung der Städte Dortmund und Offenbach geben Hinweise darauf, wie aufwändig Daten auf kommunaler Ebene zu organisieren sind. Das Ziel, in Zeitreihen fortschreibbare Datensätze mit regional vergleichbaren Daten zur Verfügung zu stellen, wirft Fragen nach sinnvollen Kernindikatoren auf (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 175). Weitere Fragen stellen sich in Bezug auf die Art der Aufbereitung deskriptiven und indikatorenbasierten Wissens, damit es orientierend herangezogen werden kann (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 176). Schließlich fragt die Begleitforschung grundsätzlich an, ob Steuerung durch das von der Bildungsforschung bereitgestellte pädagogisch-empirische Wissen rational werde (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 176).

Erste Ansätze eines regionalen Monitorings konnten Lernende Regionen im Umgang mit Bedarfsanalysen und einem Selbstmonitoringsystem erproben. Bedarfsanalysen dienen der Ermittlung von Planungsdaten, um Netzwerkprodukte, Lern- und Bildungsangebote zu entwickeln (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 178). Die Autorengruppe benennt die Bearbeitung von vier Fragebereichen, um stabile Handlungsgrundlagen zu schaffen: Erstens gehe es um die Stärkung einer nutzenorientierten Lerninfrastruktur und die damit verbundenen Herausforderungen. Zweitens gelte es, die Zielgruppen von Maßnahmen und drittens, Strukturen der Angebotsseite zu bestimmen. Viertens seien die Ziele und die Art der Umsetzung zu präzisieren (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 177–178). Mit einem Online-Selbstmonitoringsystem stellt die wissenschaftliche Begleitforschung ein Instrument bereit, das den Lernenden Regionen die wiederholte und eigenständige Überprüfung ihrer Arbeit sowie den Vergleich mit anderen Netzwerken und Regionen ermöglicht. Das Wirkungsverständnis beruht auf Indikatoren, welche das Umfeld (Kontext), die Ausstattung (Input), die Leistungen (Output) und die Wirkungen (Outcome) des Netzwerks eindeutig definieren, skalieren und mit einem Text beschreiben (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 179).

Der Abschlussbericht misst nicht nur wissensbasierten, sondern auch sozialen und kooperativen Aspekten eine hohe Bedeutung für das Gelingen eines regionalen Bildungsmanagements bei. Tippelt und Mitarbeitende verstehen Lernende Regionen als Netzwerke, die »eine starke und von den Partnern geteilte Identität benötigen« (2009, S. 181). Sie entwickeln eine Typologie, welche das Selbstverständnis der Netzwerkpartner und die Wahrnehmung des Netzwerks in der Region mit zwei Dimensionen verbinden. Die Organisationsdimension beschreibt die Ausrichtung des Netzwerks zwischen einem zentralen und dezentralen Pol. Zentral organisierte Netzwerke zeichnen sich durch eine formal organisierte Kommunikationsstruktur aus, die eine ganzheitliche Zusammenarbeit und den bereichsübergreifenden Einbezug weiterer Politikfelder ermöglicht (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 186). Dezentral organisierte Netzwerke weisen demgegenüber eine lockere Vernetzung aus, bei der punktuelle Abstimmungen stattfinden (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 186). Die Innovationsdimension beschreibt Neuerungen. Produktinnovationen betreffen Entwicklungen im Bereich der Angebotsstruktur und richten sich an individuelle Adressaten. Prozess- und Strukturinnovationen adressieren demgegenüber institutionelle Akteure, die ihrerseits Strukturen und Prozesse verändern. Die Kombination der Ausprägungen beider Dimensionen ergibt eine Vierfeldertafel, in der die Autorengruppe fünf Idealtypen unterbringt und in Bezug auf die Organisations- und Innovationsdimension charakterisiert: den ›Regionalentwickler‹, den ›Strukturentwickler‹, die ›Produktwerkstatt, den ›Initiator‹ und – im Fadenkreuz der beiden Achsen alle vier Ausprägungen einschließend – den ›Grenzöffner‹ (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 186). Die Typologie dient – so die wissenschaftliche Begleitforschung – zur Unterstützung von Lernenden Regionen »im Prozess der Identitäts- und Strategieformulierung« (Emminghaus & Tippelt, 2009, S. 191). Sie kann aber auch analytisch genutzt werden, beispielsweise, um Zusammenhänge zwischen Netzwerktypen und fachlichen Schwerpunkten zu ermitteln (Tippelt, Reupold, Strobel, Niedlich & Emminghaus, 2008).

2.3.2 Das kommunale Bildungsmanagement als Kulminationspunkt der Regionalisierungsentwicklung

Niedlich gibt einen Überblick der Vielzahl von Akteuren, die seit Mitte der 1990er Jahre einen Beitrag zur Regionalisierungsdebatte in Deutschland leisten (2016, S. 26). Allen gemeinsam ist die Vernetzung auf regionaler Ebene und ein Bildungsverständnis, das ein »erweitertes Bildungsverständnis« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ], 2005, S. 12) zugrunde legt. Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht will damit »alle Lern- und Bildungsprozesse ins Blickfeld […] rücken […], ungeachtet dessen, ob sie als Ergebnis einschlägiger Bildungsinstanzen zustande kommen oder als Elemente offizieller Lehrpläne des Bildungssystems vorgesehen waren« (BMFSFJ, 2005, S. 12–13. Hervorhebung im Original). Nach der Theoriesprache der »Zeigestruktur der Erziehung« (Prange, 2012a) liegt hier der Fokus auf dem Lernen, einem Zeitraum, der sich vom Zeigen durch seine selbstverständliche Vorgegebenheit unterscheidet. Ein Verständnis von Lernen, das auch ohne pädagogische Absicht selbstläufig stattfindet, kommt wie folgt zum Ausdruck: »Kinder lernen das, was sie lernen – und nicht (immer) das, was sie sollen –, Kinder lernen dann, wann, und dort, wo sie wollen – und nicht (immer) dann, wann, und dort, wo ihnen etwas angeboten wird« (BMFSFJ, 2005, S. 13) Der Bericht unterscheidet zwischen organisiertem und lebensweltlichem Lernen und schließt an die im Kontext des lebensbegleitenden Lernens entworfenen Formen des formalen, non-formalen und informellen Lernens an. Mit Blick auf das Lernen von Kindern und Jugendlichen sollen möglichst umfassend alle Orte einbezogen werden, »in denen sich faktisch Bildungs- und Lernprozesse vollziehen« (BMFSFJ, 2005, S. 545). Lebensweltliches Lernen würdigt auch Formen des unregulierten Lernens in der Alltagspraxis, die nicht »zwingend für den Arbeitsmarkt verwertbar« sind und »lebensweltnahes Lernen und Lernen in ›Ernstsituationen‹ zu verknüpfen vermögen« (BMFSFJ, 2005, S. 545–546). Neben dem sozialpädagogischen Begründungszusammenhang nähren Befunde der PISA-Studie die Idee, Chancengleichheit im Bildungssystem durch die Kooperation der Lernorte herzustellen (Niedlich, 2016, S. 27). Bildungs- und sozialpolitisch orientierte Zielsetzungen sehen in der frühzeitigen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen einen Beitrag zur Armutsbekämpfung und nicht zuletzt eine Entlastung kommunaler Haushalte (Niedlich, 2016, S. 27). Wirtschafts- und standortpolitische Erwägungen rücken Fragen des demographischen Wandels und der (attraktiven) Infrastruktur in der Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte ins Zentrum (Niedlich, 2016, S. 28). Die Segmentation des Bildungswesens in voneinander abgeschottete Bereiche stellt ein weiteres Argument für einen erhöhten Abstimmungsbedarf dar (Niedlich, 2016, S. 28). Kommunale Bildungslandschaften vereinen unterschiedliche Akteure, Konzepte und Leitideen unter einem breiten Dach.

Niedlich schlägt eine Systematik der Programme und Initiativen mit sechs Typen vor. Der bereits skizzierten Ansatz des erweiterten Bildungsverständnisses sieht die Kooperation von Jugendhilfe und Schule vor (Typ 1). Er zielt auf eine Öffnung der Schulen für außerschulische Partner und auf die Entwicklung lokaler Bildungslandschaften (Niedlich, 2016, S. 29). Der Ausbau der Ganztagsschule repräsentiert diesen Typ. Die Schule und die Gestaltung von Schulentwicklung (Typ 2) nehmen Programme auf Länderebene ins Visier. Ziel ist die Qualitätsentwicklung von Unterricht und Schule in einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft. Regionale Bildungslandschaften stehen für diesen Typ. Lebenslanges Lernen im Kontext von Weiterbildung und wirtschaftlicher Innovation (Typ 3) ist ein auf Bundesebene initiiertes Thema. Das Programm Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken setzt Bildungsberatung, das Übergangsmanagement sowie die Zusammenarbeit von Kommunen mit Netzwerken auf die Agenda (Niedlich, 2016, S. 30). Den sozialen Raum als Bildungsraum rücken Förderansätze im Kontext von Stadtentwicklung und Städtebau in den Mittelpunkt (Typ 4), deren Schwerpunkt in der Stadtteil- und Quartiersarbeit liegt. Das Programm Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt ist beispielhaft für diesen Typ. Diese bereits von Berse (2011, S. 41–44) vorgeschlagenen Typen erweitert Niedlich um zwei weitere Typen: Typ 5 bearbeitet den Übergang zwischen Schule und Ausbildung und verschreibt sich der Förderung von benachteiligten Jugendlichen und Typ 6 stellt das kommunale Bildungsmanagement mit dem Programm Lernen vor Ort dar (Niedlich, 2016, S. 31). Im letzten Typ sieht Niedlich einen vorläufigen »Kulminationspunkt der Regionalisierungsentwicklung« (2016, S. 31). Die Eigenständigkeit dieses Typs sieht er darin, dass die Kommune als entscheidender bildungspolitischer Akteur adressiert wird (Niedlich, 2016, S. 32). Ihr kommt die Aufgabe zu, eine kommunale Strategie »für ein vor Ort gelingendes Lernen im Lebenslauf« (BMBF, 2008a, S. 6) zu entwickeln.

Die »Förderung eines ganzheitlichen kommunalen Handlungsansatzes« interpretiert Niedlich als Verschiebung hin zu einer territorialen Governance, die Kommunen in die Lage versetzt, »hoheitliche Formen der Steuerung einzusetzen und Regelungsstrukturen mit höherem Verbindlichkeitsgrad […] zu schaffen« (Niedlich, 2016, S. 38). Er weist aber auch darauf hin, dass bei der Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit mit »einer Reihe von Hindernissen« (Niedlich, 2016, S. 38) zu rechnen sei. Neben dem Umstand, dass strukturelle Veränderungen sich nur mittel- und langfristig umsetzen lassen, benennt Niedlich das Problem, dass sich die Wirksamkeit erweiterter Handlungsspielräume »erst im Zusammenspiel mit den individuellen Entscheidungen der Akteure entfalten« (2016, S. 38). Reformprozesse können zu Positionskämpfen genutzt werden und Bürgerbeteiligung setzt ein »aktives Management und das Engagement der kommunalen Spitze« (Niedlich, 2016, S. 38) voraus. Als weiteren kritischen Punkt führt Niedlich die Rolle von Bund und Ländern ins Feld, von denen er eine flankierende Unterstützung im Sinn einer »Koordinierung der Koordinierungsprogramme« (Niedlich, 2016, S. 40) erwartet.

2.4 Steuerungslogiken im Programm Lernen vor Ort

Steuerungslogiken, welche dem Programm Lernen vor Ort zugrunde liegen, dokumentieren sich im »Operationellen Programm des Bundes für den Europäischen Sozialfonds (ESF-Bundes-OPFootnote 9« (Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS], 2007), wie es für die Förderperiode 2007 bis 2013 vorgelegt wurde. Der Aufbau eines kommunalen Bildungsmanagements im Rahmen des Programms Lernen vor Ort ist Teil dieses zielübergreifenden Bundesprogramms. Die darin eingelagerten Deutungsstrukturen der Gesellschaft rekonstruiere ich mithilfe der kulturtheoretischen Perspektive nach Schimank (vgl. Abschnitt 2.1). Ich interpretiere die Konzepte dahingehend, dass Interessenlagen in Konstellationsstrukturen eingebettet sind, diese in institutionelle Erwartungsstrukturen und diese wiederum in Deutungsstrukturen, die auf evaluativen, normativen und kognitiven kulturellen Orientierungen basieren. Diese Orientierungen bestimmen die Richtung des Wollens, des Sollens und des Könnens (vgl. Abbildung 5.3). Die Richtung des Wollens beschreibe ich mit der Lissabon-Strategie, die Richtung des Könnens mit der »Kultur zum Lebenslangen Lernen« und die Richtung des Sollens mit dem Ziel der Verbesserung des Humankapitals. Für die Darstellung der Deutungsstrukturen lege ich Schwerpunkte, in denen aber alle Richtungen zusammenwirken.

Abbildung 5.3
figure 3

(Eigene Darstellung nach Schimank, 2013, S. 118–119)

Kulturtheoretische Perspektive.

2.4.1 Die Richtung des Wollens: Strategische Ausrichtung auf Wachstum und Beschäftigung

Die Richtung des Wollens wird durch evaluative kulturelle Orientierungen bestimmt. Ein kommunales Bildungsmanagement als Gegenstand verortet sich auf supranationaler Ebene in der Lissabon-Strategie, die »das Ziel einer wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung der EU« (BMAS, 2007, S. 127) verfolgt. Den »Weg in die Zukunft« weisen die europäischen Staats- und Regierungschefs der EU anlässlich ihres Gipfeltreffens in Lissabon mit dem strategischen Ziel, »die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen« (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 5. Hervorhebung weggelassen.). Mit Schimank lässt sich diese Formulierung als Ausdruck des funktionalen Antagonismus zwischen kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik lesen. Zwischen den Bereichen Wirtschaft und Soziales gilt es eine Balance herzustellen, womit der Gestaltungsaspekt von Fragen der System- und Sozialintegration angesprochen ist.Footnote 10

Die Offene Methode der Koordinierung (OMK) bezeichnet ein Verfahren, bei dem der Europäische Rat mithilfe von Aktionsplänen eine »stärkere Leitungs- und Koordinierungsfunktion« (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 7) wahrnimmt, während die Mitgliedstaaten sich in einem Benchmarking-Prozess einem Vergleich ihrer nationalen Initiativen unterziehen (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 8). Die Richtung des Sollens folgt dem skizzierten Primat einer wettbewerbsfähigen, dynamischen sowie wissensbasierten Wirtschaft und spezifiziert dieses mit der Aufforderung, der Europäischen Kommission nationale Reformpläne vorzulegen. Die Lissabon-Strategie adressiert die Mitgliedstaaten mit der offenen Koordinierungsmethode in Bezug auf die Schaffung einer Informationsgesellschaft für alle (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 8), eines europäischen Raums der Forschung und Innovation (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 13), eines günstigen Umfelds für die Gründung und Entwicklung innovativer Unternehmen (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 15) sowie in Bezug auf die Förderung der sozialen Integration (Europäisches Parlament, 2000, Punkt 32).

Das ESF-Bundes-OP greift diese Vorgaben auf und beschreibt die Richtung des Könnens mit einem strategischen Zielsystem des Bundes (BMAS, 2007, S. 121). Das übergeordnete Ziel besteht darin, den Arbeitsmarkt auf neue Herausforderungen auszurichten sowie mehr und bessere Arbeitsplätze zu schaffen. Der damit implizierte Primat der kapitalistischen Wirtschaft begründet drei thematische Prioritäten: die Steigerung der Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Beschäftigten, die Verbesserung des Humankapitals sowie die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen und Integration benachteiligter Personen (BMAS, 2007, S. 136). Beschäftigungspolitische Leitlinien zur Verbesserung des Humankapitals setzen im Nationalen Strategischen Rahmenplan (BMAS, 2007, S. 134–136) auf einen lebenszyklusbasierten Ansatz (BMAS, 2007, S. 128), die Steigerung und Optimierung von Investitionen in Humankapital sowie auf eine Neuausrichtung der Qualifikationsanforderungen der Aus- und Weiterbildungssysteme (BMAS, 2007, S. 130). Das ESF-Bundes-OP ordnet Lernen vor Ort der Verbesserung des Humankapitals zu. Die »Förderung einer Kultur des lebensbegleitenden Lernens« (BMAS, 2007, S. 130) bildet das Referenzkonzept für das strategische Leitziel, den Anteil der an Aus- und Weiterbildung teilnehmenden Bevölkerung zu erhöhen.

Die am 30. 06. 2006 durch den Deutschen Bundestag beschlossene Föderalismusreform regelt die Zuständigkeiten von Bund und Ländern im Bildungsbereich. Unverändert bleiben die Verantwortungsbereiche des Bundes für die außerschulische Bildung und Ausbildungsförderung sowie der Länder für die Schulpolitik. Die Reform bestimmt neu Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern. Neben der »Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich« und der »Bildungsberichterstattung« haben Bund und Länder »die Möglichkeit, das Fundament für ergebnisorientierte Vergleichbarkeit [der] Bildungseinrichtungen zu verbessern sowie gemeinsame strategische Ziele für die Weiterentwicklung des Bildungs- und Wissenschaftssystems zu vereinbaren« (BMAS, 2007, S. 130). Der Bund kann daneben auch allein Projekte fördern. Die Strategie für das Lebenslange Lernen bündelt zentrale kognitive Deutungsstrukturen, welche die institutionellen Erwartungsstrukturen und Konstellationsstrukturen der nationalen Bildungspolitik prägen. Als »gemeinsame Plattform« von Bund, Ländern und Sozialpartnern dokumentiert sie »die Bereitschaft und die Fähigkeit, das deutsche Bildungssystem zukunftsfähig zu gestalten und einen Beitrag dazu zu leisten, dass Europa zu einer der wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaften der Welt wird« (BMAS, 2007, S. 130).

Das Ziel, »neue Formen der bildungsbereichsübergreifenden Kooperation zwischen allen Bundesländern zur Förderung des Lebenslangens Lernens zu initiieren« (BMAS, 2007, S. 130), verfolgt bereits das Vorläuferprojekt Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken. Der Versuch, die Leitgedanken mit den Integrationsdimensionen in Beziehung zu setzen, zeigt, dass eine Kultur des Lebenslangens Lernens über eine Beschreibung eines Ordnungszustands hinausgeht. Gesellschaftliche Integration, verstanden als operatives Bearbeiten von Zukunftsfähigkeit, sucht nach Verhältnissen zwischen den lediglich analytisch unterscheidbaren Konzepten der individuellen Lebenschancen, der Sozial- und Systemintegration. Die »Stärkung der Eigenverantwortung sowie Selbststeuerung der Lernenden« zielt einerseits auf individuelle Lebenschancen und soziale Integration, ebenso der »Abbau von Chancenungleichheiten« (BMAS, 2007, S. 130). Die Leitgedanken geben andererseits Hinweise auf den Weg zum Ziel. Eine Kultur des Lebenslangen Lernens vollzieht sich durch »Kooperation der Bildungsanbieter und Nutzerinnen und Nutzer« (BMAS, 2007, S. 130) sowie durch eine »Stärkung der Bezüge zwischen allen Bildungsbereichen« (BMAS, 2007, S. 147). Damit sind systemintegrative Verfahren angesprochen. Darüber hinaus stehen diese Leitgedanken im Dienst einer europäischen Wissensgesellschaft, die es mit anderen Wissensgesellschaften aufnimmt. Das kompetitive Element ist zentral, wenngleich die Formulierung »einer der wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaften« die Unbedingtheit des »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraums in der Welt«, wie sie in der Lissabon-Strategie dokumentiert ist, relativiert.

2.4.2 Die Richtung des Könnens: Systeminnovationen für Lebenslanges Lernen

Die Richtung des Könnens wird durch kognitive kulturelle Orientierungen bestimmt. Mit der »Strategie für Innovation« stellt der ESF Mittel zur Verfügung »für Investitionen in Politiken, Themen und Verfahren, die nicht bereits durch nationale Rechtssetzungen und Förderpraktiken« (BMAS, 2007, S. 153) besetzt sind. Zu den sozialen Innovationen zählt er u. a. »die Entwicklung neuer Synergien auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene« (BMAS, 2007, S. 153). Unter dieser »Systeminnovation« versteht er die »Schaffung neuer Schnittstellen zwischen verschiedenen Organisationen, neue Formen der Koordination und Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und Unterstützungsorganisationen oder die Knüpfung von Netzwerken und Partnerschaften zwischen den Akteuren« (BMAS, 2007, S. 153). Die »Strategie für die Partnerschaft« (BMAS, 2007, S. 154) bezeichnet die Verwaltungszusammenarbeit des Bundes, der Länder und der Kommunen sowie die Beteiligung von Sozialpartnern und Nichtregierungsorganisationen. Diese in Deutschland traditionell ausgeprägte partnerschaftliche Zusammenarbeit beinhaltet die begleitende und beratende Expertise in Lenkungsausschüssen, Fachbeiräten und Auswahlgremien (BMAS, 2007, S. 155). Auch so genannte »strategische Partner« sind für die qualitative Verbesserung von Einzelprojekten vorgesehen. Sie gelten als »wichtige Akteure für das Mainstreaming«, insofern sie die in Kooperationsformaten gewonnenen »Erkenntnisse und Erfahrungen in ihre jeweiligen Organisationen oder auch auf regionaler Ebene zurückkoppeln und verbreiten« (BMAS, 2007, S. 155). Eine direkte Partizipation von Einrichtungen der Sozialpartner und Kammern ist über eine Projektträgerschaft möglich oder über eine gemeinsame Konzeption und Umsetzung von Programmlinien mit Partnern außerhalb der Verwaltungsebenen (BMAS, 2007, S. 156). Neben diesen bildungsbereichsübergreifenden Kooperationsformen stellt die nationale Bildungsberichterstattung ein Instrument dar zur Verbreitung einer Kultur des Lebenslangen Lernens (BMAS, 2007, S. 187). Auf den Glauben an eine gezielte Herbeiführung von (sozialem) Fortschritt durch rationale Intervention verweist die »Entwicklung und Implementierung von politischen Strategien« (BMAS, 2007, S. 154) auf der Grundlage sozioökonomischer Analysen. Eine breite Beteiligung von »Sozialpartnern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Fachleuten und Nichtregierungsorganisationen« soll zudem »eine bessere Steuerung in Bildungssystemen« (BMAS, 2007, S. 154) gewährleisten.

2.4.3 Die Richtung des Sollens: Verbesserung des Humankapitals

Die Richtung des Sollens wird durch normative kulturelle Orientierungen bestimmt. Hinweise auf die Illegitimität sozialer Ungleichheit impliziert das Ziel der Verbesserung des Humankapitals. Aktivitäten dieses Schwerpunkts sollen »Begabungsreserven« erschließen und »das Bildungsniveau der Bevölkerung insgesamt« (BMAS, 2007, S. 178) anheben. Alle ESF-Förderungen dieses Bereichs liegen in der Verantwortung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Geringverdienende und Ältere, Jugendliche und junge Erwachsene ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Analphabetinnen und Analphabeten, arbeitslose Akademikerinnen und Akademiker, insbesondere jene mit Migrationshintergrund und Frauen bilden die Zielgruppen von Förderaktivitäten. Dass deren Lage am Ausbildungsstellenmarkt und die berufliche Integration verbessert sowie die Weiterbildungsbeteiligung erhöht werden sollen, wirft sowohl ein Schlaglicht auf desintegrative Tendenzen in Bezug auf die Sozialintegration als auch auf den Glauben an eine Gesellschaft, in der diesen Ungleichheiten durch »die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen« sowie die »Anpassungsfähigkeit der Beschäftigen« (BMAS, 2007, S. 226) beizukommen ist.

Das ESF-Bundes-OP begründet die Richtung des Sollens mit einer sozioökonomischen Analyse. Befunde zur Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen, zur Leistungsfähigkeit des Bildungssystems und zum Ausbildungsstellenmarkt begründen Fördermaßnahmen der Prioritätsachse Verbesserung des Humankapitals, der das Programm Lernen vor Ort zugeordnet ist. Die Analyse bescheinigt dem deutschen Bildungssystem »eine Reihe von Schwächen« (BMAS, 2007, S. 41). Diese bemessen sich auf supranationaler Ebene vergleichend am Abschluss der Sekundarstufe II und an der Aufnahme eines Studiums, an der Schulabbrecherquote, an einer geschlechterdifferenzierten Betrachtung sowie national am Vergleich zwischen den neuen und alten Bundesländern. Trotz des Trends »zu steigenden Anteilen der Beschäftigten mit höherer Qualifikation« erreichen »zu wenig Jugendliche einen Abschluss der Sekundarstufe II und zu wenige beginnen ein Studium« (BMAS, 2007, S. 40–41). Die Europäische Union gibt die Zielsetzung vor, dass mindestens 85 Prozent der 22-Jährigen die Sekundarstufe II abgeschlossen haben sollen. Der Anteil der Abschlüsse belegt nicht nur ein deutliches Verfehlen dieser Zielsetzung, sondern einen Rückgang von rund 75 Prozent im Jahr 2000 auf 71 Prozent im Jahr 2005. In Bezug auf Schulabbrüche und die Abiturientenquote weisen männliche Schüler deutlich schlechtere Leistungen vor, wobei die Unterschiede in Ostdeutschland deutlicher ausfallen als in Westdeutschland. Junge Frauen können die besseren Schulabschlüsse aber »nicht adäquat im Bildungs- und Beschäftigungssystem umsetzen« (BMAS, 2007, S. 44). Als besonders unbefriedigend fällt die Einschätzung der Situation junger Migrantinnen und Migranten aus (BMAS, 2007, S. 44).

Den ernüchternden Ergebnissen im internationalen PISA-Vergleich stellt die Analyse das duale Ausbildungssystem als Stärke gegenüber. Die »Nachfrage der Wirtschaft nach gut ausgebildeten Personen« mache, so das Fazit, vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und dem Umstand, »dass fast jeder 7. Jugendliche in der Schule scheitert«, Korrekturmaßnahmen nötig. Es sei »dringend erforderlich, dass die Schulabbrecherquote gesenkt […], die schulischen Leistungen sowie die Ausbildungsbeteiligung von jungen Personen mit Migrationshintergrund erhöht […], bereits gescheiterte Jugendliche nachqualifiziert […] und auch die Ganztagsbetreuung ausgebaut« (BMAS, 2007, S. 44) würden. Neben einer Qualitätsverbesserung der schulischen Bildung bedarf es gemäß der Analyse auch einer qualitativen Verbesserung des dualen Ausbildungssystems (BMAS, 2007, S. 50). Insbesondere für Jugendliche mit schlechten schulischen Voraussetzungen, für Migrantenkinder sowie für junge Frauen fordert das Programm die »Schaffung neuer auch modular und verkürzter Ausbildungswege«, die »Entwicklung von Konzepten zur Förderung benachteiligter Auszubildenden«, Maßnahmen im Übergang von der Schule in den Beruf sowie »bessere Matching-Strategien« zur »Reduzierung der Ausbildungsabbrüche« (BMAS, 2007, S. 50).

Befunde zur Armut, städtischen Problemgebieten, Migrantinnen und Migranten sowie zu Menschen mit Behinderung begründen Fördermaßnahmen der Prioritätenachse »Beschäftigung und soziale Integration«. Gerade weil das Programm Lernen vor Ort nicht ausdrücklich zur Bearbeitung dieser Problemlagen vorgesehen ist, lohnt sich ein Blick auf sozioökonomische Befunde mit Blick auf individuelle Lebenslagen und Sozialintegration. Gleich drei Ressorts verantworten diese Prioritätenachse, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMBS). Die Analyse kommt zum Schluss, dass »das Armutsrisiko in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen« hat (BMAS, 2007, S. 74). Als Armutsrisiken benennt sie den »Migrationshintergrund, geringe Qualifikation, Arbeitslosigkeit und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit« (BMAS, 2007, S. 74). Die mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt gilt aus Hauptursache für die Armutsgefährdung, weshalb Alleinerziehende besonders davon betroffen sind. Als Maßnahmen zur Überwindung von Armut sieht das Programm den Erwerb ausreichender Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen vor sowie die Verbesserung der Kinderbetreuungssituation, die Akzeptanz der Gleichstellungspolitik seitens der Unternehmen, neue flexible Arbeitszeitmodelle und »die Mobilisierung lokaler Potenziale zur sozialen Eingliederung« (BMAS, 2007, S. 74). Da sich Armut in erster Linie in städtischen Problemregionen manifestiert, gelte es attraktive Wohngebiete zu erhalten oder neu aufzubauen und »einen integrativen und lernoffenen Sozialraum zu gestalten« (BMAS, 2007, S. 83).

Neben Personen mit Migrationshintergrund zählen Menschen mit Behinderung zur Gruppe, die von Arbeitslosigkeit und damit von Armut besonders stark betroffen sind. Während für erstere Defizite im Bereich der Sprachkenntnisse als zentrales Integrationshemmnis gelten, haben letztere »sehr spezifische Integrationshemmnisse zu überwinden«, wofür »innovative Maßnahmen entwickelt und umgesetzt« werden müssten (BMAS, 2007, S. 91). Obwohl junge Frauen vielfach besser qualifiziert sind als Männer, sind sie am Arbeitsmarkt von vielfältigen Benachteiligungen betroffen in Bezug auf das Einkommen, die Beteiligung an Weiterbildungsmaßnahmen und die Aufstiegschancen (BMAS, 2007, S. 98). Die Förderung der Chancengleichheit sieht das Programm darin, das Berufswahlspektrum, die Gender-Kompetenz zentraler Akteure und die Akzeptanz der Gleichstellungspolitik zu verbessern. Aktivitäten sollen sich auf den Abbau der geschlechterspezifischer Entgeltdifferenz richten, auf eine frauengerechte »Gestaltung von Inhalten und Rahmenbedingungen beruflicher Aus- und Weiterbildung« sowie auf »gemeinsame Aktivitäten der Sozialpartner« (BMAS, 2007, S. 98). Die Analyse prognostiziert eine Verbesserung der Beschäftigungslage und einen Rückgang der Arbeitslosigkeit (BMAS, 2007, S. 102). Zugleich diagnostiziert sie das Fortbestehen regionaler Disparitäten und eine erhöhte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften angesichts eines Wirtschafts- und Tätigkeitsstrukturwandels und des demographischen Wandels mit einer zunehmenden Alterung der Belegschaften (BMAS, 2007, S. 102). Daraus leitet sie Handlungsnotwendigkeiten im Bereich der Aus- und Weiterbildungssysteme ab und erklärt das Lebenslange Lernen als Konzept, um »den demographischen Wandel und die Herausforderungen der Globalisierung bewältigen« (BMAS, 2007, S. 102) zu können. Stärker zu nutzen gelte es das Erwerbspotenzial von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Frauen, auch seien »generell die Aus- und Weiterbildungssysteme zukunftsfähig zu gestalten« (BMAS, 2007, S. 102).

Der Europäische Sozialfonds für Deutschland beschreibt die ESF-Programmstruktur mit fünf Schwerpunkten und zehn PrioritätenachsenFootnote 11. Die indikative Gewichtung der Prioritätenachsen bezogen auf die ESF-Mittel ist erklärungsbedürftig, fällt der Anteil von 10 Prozent der gesamten Fördermittel zur Verbesserung des Humankapitals vergleichsweise gering aus. Angesichts der »Befunde der sozioökonomischen Analyse und des für Deutschland konstatierten Bedarfs zur Stärkung der Humanressourcen« (BMAS, 2007, S. 157) ist dies überraschend. In der Mittelverteilung spiegelt sich die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Die für die Schulpolitik zuständigen Länder führen eigene ESF-Programme, während sich der Bund auf »seine Kernkompetenzen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung und auf Programme zum Lebensbegleitenden Lernen« (BMAS, 2007, S. 157) konzentriert. Die Förderung setzt denn auch weniger auf »die direkte Subventionierung zusätzlicher Arbeitsplätze« als vielmehr auf »Projekte zur Strukturverbesserung der Aus- und Weiterbildung« sowie auf »die Stärkung der Vernetzung der Akteure im Bildungsbereich« (BMAS, 2007, S. 157). Das Programm Lernen vor Ort schließt in diesem Sinn nahtlos an das auslaufende Programm Lernende Regionen an. Vernetzungsaktivitäten zur Verbesserung des Humankapitals bilden den Bezugspunkt für Systeminnovationen. Daneben gelten die Querschnittsziele Chancengleichheit und Nachhaltigkeit.

Das Ziel der Chancengleichheit beinhaltet die chancengerechte Teilhabe am Erwerbsleben. Damit ist allgemein die Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund, Älteren oder Menschen mit Behinderung angesprochen sowie speziell die Geschlechtergerechtigkeit (BMAS, 2007, S. 217). Als wesentliche Ursache für viele Ungleichheiten gilt die geschlechterspezifische Arbeitsteilung in der Familie und im Erwerbsleben (BMAS, 2007, S. 218). Neben der Förderung der betrieblichen Kinderbetreuung dienen die ESF-Mittel auch der Verbesserung der Betreuungssituation der unter Dreijährigen und der Aufwertung der Tagespflege (BMAS, 2007, S. 218). Die große Bedeutung des Querschnittziels spiegelt sich auch in der Mittelverteilung, insofern für die Prioritätenachse »Beschäftigung und soziale Integration« 43 Prozent der Mittel vorgesehen sind. Das Ziel der Nachhaltigkeit betrifft »in erster Linie die soziale Dimension der Nachhaltigkeit« (BMAS, 2007, S. 218). Damit ist die »soziale Integration« nicht nur als integrales Querschnittsziel verankert, sondern ein begriffliches Äquivalent zur Nachhaltigkeit. Zwar ist die ökologische Integrationsdimension seit dem Gipfeltreffen in Göteborg als Erweiterung der Lissabon-Strategie verankert, im Spektrum der EU-Förderungen hat der ESF aber »die vergleichsweise geringste Affinität zu Umweltthemen« (BMAS, 2007, S. 220). Im Zentrum stehen Investitionen zur Unterstützung der beruflichen Integration, was die gleichberechtigte Teilhabe, den sozialen Zusammenhalt und die Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft umfasst (BMAS, 2007, S. 220).

3 Zwischenfazit: Gesellschaftliche Integration aus Sicht von Organisation

Formen der Dienstleistungsorganisation bei der Wohlstandsproduktion beschreiben das Brückenprinzip Organisation. Das dualistische Aufgabenmodell des kontinentaleuropäisch-föderalen Verwaltungsprofils stellt den zentralen Kontext für die Art und Weise der Bewältigung von Staatsaufgaben sowie der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen dar. Varianten einer externen und internen Institutionenpolitik folgen einer subnationalen Länder-Policy. Für den deutschen Kontext gehen die einfache Regionalisierung, die administrative Dezentralisierung oder die administrative Dekonzentration mit einer kupierten oder unechten Kommunalisierung einher. Kommunen bearbeiten sowohl Aufgaben im eigenen Wirkungskreis als auch vom Staat übertragene Pflichtaufgaben. Die vertikale Integration der Kommunalverwaltung in die Landesverwaltung wird als ›Verstaatlichung‹ der Kommunen (Kuhlmann, 2019a; Wollmann, 2010) problematisiert.

Die Vor- und Nachteile regionaler Organisationsformen diskutieren Bogumil und Grohs (2010, S. 93–96) in Bezug auf den Grad der Institutionalisierung zwischen den Polen hoher und niedriger Verbindlichkeit und in Bezug auf eine sektorale oder territoriale Orientierung zwischen den Polen einer monofunktionalen oder multifunktionalen Ausrichtung. Für die Staatsmodernisierung stehen neben der ›harten‹ Form der Regionalverwaltung auch ›weiche‹ Formen der Regional Governance zur Wahl. Im Maximalmodell mit territorial-multifunktionalem Zuschnitt und hohem Institutionalisierungsgrad sehen die Autoren kein Zukunftsmodell. Neben einer unzureichenden Aufgabenerfüllung durch eine fehlende Spezialisierung fallen der hohe zeitliche Rahmen und politische Vetospiele negativ ins Gewicht. Auch dem Minimalmodell mit sektoral-monofunktionalem Zuschnitt und niedrigem Institutionalisierungsgrad attestieren sie eine Reihe von Schwächen wie die Möglichkeit von Entscheidungsblockaden, uneinheitlichen Vollzugsqualitäten, hohe Transaktionskosten und ein eingeschränktes Interesse politischer Akteure durch den Verlust an Macht und Entscheidungsgewalt. Formen, die auf den höchsten Grad institutioneller Verfasstheit verzichten, vermeiden große Brüche, erhalten bestehende Gebietskörperschaften, etablierte Strukturen und Akteure und haben damit realpolitisch die größten Durchsetzungschancen. Abzuwägen bleiben darüber hinaus die Vor- und Nachteile von Organisationsformen mit sektoral-monofunktionalem Zuschnitt, die durch Spezialisierung und Professionalisierung eine optimale Aufgabenerfüllung gewährleisten, aber auch fachliche Einseitigkeiten und Überspezialisierung mitführen.

Die deutsche Verwaltung kann auf eine lange Tradition an Reformen zurückblicken, die Bogumil und Jann (2009) mit fünf Themenkonjunkturen beschreiben. Als Politik der Ökonomie können die Aktive Politik, die Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung, das New Public Management und Neue Verwaltungsstrukturreformen bezeichnet werden. Parallel dazu verweist die Diskussion um Bürgernahe, Bürgerämter und Bürgergesellschaft auf eine Politik der Solidarität, die der Gesellschaft eine Steuerungsfähigkeit zuspricht. Erzählungen im Policy-Diskurs brechen die Dominanz des ökonomischen und politischen Systems, da sie mit dem Ansatz der Local Governance nicht nur das Gemeinschaftssystem hervorheben, sondern die Fließrichtung der Adressierung umstellen. Regulierungen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft erhalten einen Eigenwert und die Ausrichtung an hybriden Leistungsformen der Hierarchie, des Wettbewerbs und der Kooperation treten gegen Markt- und Staatsversagen an. Das normativ zugeschriebene Potenzial öffentlich-privater Partnerschaften mit der Kombination unterschiedlicher Logiken und Wissenspotenziale zur qualitativen Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen greift auch das Konzept des multirationalen Managements auf. Es lenkt den Blick einerseits programmatisch auf das Erfordernis der Sicherstellung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Organisationen durch einen bewussten Umgang mit unterschiedlichen Rationalitäten. Andererseits bietet es ein Instrument zur Analyse von Praktiken im Umgang mit multiplen Rationalitäten. Die Regionalisierung von Bildung bedient nun auch den Diskurs der Politik. Bildungsregionen stehen aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive in Kritik, einen Kausalzusammenhang zwischen System- und Sozialintegration zu konstruieren, für den es empirisch keinen Nachweis gebe. Der Diskurs um wirkungsorientierte Steuerung im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit zeichnet die historische Entwicklungslinie von Professionalität als Steuerungsansatz mit vier Idealtypen nach und zeigt dabei auf, dass unter dem Diktum von Kosten-Nutzen-Abwägungen in der Sozialen Arbeit Vereinbarungen, Audits, Richtlinien und Standards anstelle von Vertrauen in Wohlfahrtsprofessionelle treten. Ein Zusammenhang zwischen System- und Sozialintegration diskutiert Otto (2007) mit Blick auf die neue Logik eines wirkungsorientierten Professionalismus, der die Fallstricke der Wettbewerbsorientierung und der technokratischen Wirkungsorientierung vermeiden kann. Eine wirkungsorientierte Steuerung adressiert Wohlfahrtsprofessionelle nach einer Arä der ›Schurken-Zuschreibung‹ wieder als ›Ritter‹, sieht sich aber Herausforderungen auf den Ebenen der Politik, der Profession, der Organisation und des Wissens gegenüber. Die Wissenskomponente spricht das Wissenschaftssystem an mit dem Erfordernis, Erklärungs- und Reflexionswissen mit Studien bereitzustellen, die Kontext-Mechanismus-Ergebnis-Konfigurationen berücksichtigen. Auch der neue Steuerungsakteur kommunales Bildungsmanagement als Kulminationspunkt der Regionalisierungsentwicklung berücksichtigt diese Ebenen. Er knüpft an die im Programm Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken gewonnenen Erfahrungen mit dem regionalen Bildungsmanagement an. Eine Errungenschaft dieses Programms ist die Idee, Kommunen mit einer regelmäßigen, indikatorengestützten Bildungsberichterstattung auf der Basis regionaler Daten zu ermächtigen. Die Bereitstellung von Orientierungswissen flankiert der Abschlussbericht mit einer Netzwerktopologie, welche die Analyse von Zusammenhängen mit fachlichen Schwerpunkten gestattet. Wissen wird damit zur moderierenden Größe einer modernen Dienstleistungsorganisation mit dem Potenzial zur Politikberatung mit echter Aufgabenkritik. Im Übergang zum methodischen Teil der Arbeit bringe ich es in Zusammenhang mit den Steuerungslogiken, die das Programm Lernen vor Ort tragen, und rekonstruiere die Deutungsstrukturen der Gesellschaft mithilfe der kulturtheoretischen Perspektive von Schimank. Die strategische Ausrichtung auf Wachstum und Beschäftigung markiert die Richtung des Wollens, Systeminnovationen für Lebenslanges Lernen weisen die Richtung des Könnens und Verbesserungen des Humankapitals die Richtung des Sollens. Das ESF-Bundes-OP ordnet Lernen vor Ort der Verbesserung des Humankapitals zu. Normativ geht es davon aus, dass Sozialintegration durch Systemintegration zu erreichen ist.