Ausdifferenzierte und komplexe Gesellschaftssysteme haben keine kollektive Handlungsfähigkeit (Gotsch, 1987, S. 28). Die Erhöhung der kollektiven Handlungsfähigkeit stellt ein Kernelement der Initiative Lernen vor Ort dar mit der Annahme, dass »Bildungsstationen und Bildungsangebote wie ein stimmiges, integriertes System aufeinander bezogen und abgestimmt« (BMBF, 2008a, S. 4) sein sollen. Die zweite Annahme besteht darin, dass durch diese Abstimmung »das Lernen im gesamten Lebenslauf erfolgreich sein kann« (BMBF, 2008a, S. 4). Mit Blick auf die Frage, welchen Beitrag ein kommunales Bildungsmanagement zur System- und Sozialintegration im Rahmen des Programms Lernen vor Ort leistet, bedarf es einer Klärung des Integrationsbegriffs. Diese Klärung nehme ich mit zwei unterschiedlichen Ansätzen zum Konzept der Vermittlung vor. Beide Theorieperspektiven berühren das systemintegrative Problem des Zusammenhalts der Gesellschaft und damit der Vermittlung zwischen ausdifferenzierten Handlungs- und Lebenssphären. Beide gesellschaftstheoretischen Perspektiven sehen den Grenzverkehr zwischen den Systemen vor. Die akteurzentrierte Differenzierungstheorie steht für das Emergenz-Paradigma. Sie geht von einem negativen Integrationsverständnis und von einem systematischen Orientierungsdissens aus, der durch spezifischen Interessenkonsens überwunden werden kann. Die Aufmerksamkeit liegt auf ›feindlichen Übernahmen‹. Vermittlung steht hier unter dem Verdacht, die teilsystemische Autonomie durch das Aufdrängen oder Einverleiben von Ressourcen, Programmen und Codes in unzulässiger Weise zu gefährden. Das Konzept der Interpenetration steht für das Dekompositions-Paradigma. Aus dem Zusammentreffen divergenter Systemlogiken erwachsen Konflikte. Vermittlung ist hier ein Erfordernis, Gegensätze in geregelten Verfahren zu bearbeiten. Darin liegt eine positive Lesart gesellschaftlicher Integration begründet. Auch für die sozialintegrative Frage der Vermittlung der individuellen Subjekte mit der Gesellschaft halten beide Paradigmen Erklärungsansätze bereit. Das Emergenz-Paradigma weist Organisationen eine Vermittlungsfunktion durch die Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen zu. Das AGIL-Schema im handlungstheoretischen Ansatz sieht ein eigenes Funktionssystem für das Gemeinschaftshandeln mit der Funktion der Integration vor. Beide Ansätze werde ich bei der theoretischen Interpretation der Analyse-Ergebnisse integrieren. Das Programm Lernen vor Ort lese ich als Zugriff des politischen Systems auf das Konzept der Erziehung, um gesellschaftliche Integration zu ermöglichen. Die untersuchten Gebietskörperschaften greifen die Vorgaben der Initiative eigenwillig auf: der Kreis als Domänenspiel zwischen dem politischen und dem sozial-kulturellen System und die Stadt als Hegemoniespiel des politischen Systems. Darin sind keinesfalls transintentionale Effekte zu sehen (vgl. Abschnitt 13.1 und 13.2).

1 Gesellschaft aus differenzierungs-, ungleichheits- und kulturtheoretischer Sicht

Schimank stellt ein gesellschaftstheoretisches Instrumentarium bereit, das auf einem handlungstheoretischen Bezugsrahmen basiert und drei große Theoriefamilien integriert (2013, S. 30–31). Differenzierungstheorien beleuchten die Gesellschaft als Ensemble von Teilsystemen mit eigenem Leitwert des Handelns, die Leistungen für Gesellschaftsmitglieder und für die gesellschaftliche Reproduktion erbringen. Ungleichheitstheorien lenken die Aufmerksamkeit auf die Gesellschaft als Gefüge besser und schlechter gestellter sozialer Lagen. Kulturtheorien lesen die Gesellschaft als Komplex generalisierter evaluativer, normativer oder kognitiver Orientierungen und Praktiken (Schimank, 2013, S. 34–35). Jede Perspektive geht von einem spezifischen Ordnungsmuster aus, erklärt das Handeln von Akteuren vor dem Hintergrund bestimmter Strukturdynamiken, benennt Integrationsdimensionen und weist auf funktionale Antagonismen hin, die das Handeln der Akteure prägen (Schimank, 2013, S. 18). Differenzierungs-, Ungleichheits- und Kulturtheorien versteht Schimank als klar unterscheidbare Theorieperspektiven, die zugleich offen sind für wechselseitige Bezugnahmen (2013, S. 113). Jede Theorieperspektive stellt einen »Scheinwerfer auf gesellschaftliches Geschehen« (Schimank, 2013, S. 113) dar und trägt – gemeinsam mit anderen zum Einsatz gebracht – zu »wechselseitigen Blick-Vervollständigungen« (Schimank, 2013, S. 159) bei. Ein konkretes gesellschaftliches Phänomen schärft sich demnach gerade durch distinkte Lesarten der modernen Gesellschaft, die sich nicht selbstreferenziell voneinander verschließen, sondern offen bleiben für fremdreferenzielle Elemente. Gesellschaftsmodelle zielen als verallgemeinerungsfähige, theoretische Erklärungsmodelle auf mechanismische Erklärungen, die »Stellschrauben für ein Gestaltungshandeln« (Schimank, 2013, S. 24) aufdecken, ohne deterministische Aussagen im Sinn von Ursache-Wirkungs-Ketten zu treffen. Funktionale Differenzierung, marktvermittelte Ungleichheiten sowie gestalteter Fortschritt bilden als drei abstrakte Modelle den Kern zur analytischen Beschreibung der modernen Gesellschaft.

1.1 Ordnungsmuster der modernen Gesellschaft

Jede Theorieperspektive hat ein charakteristisches Bauprinzip. Differenzierungstheorien akzentuieren die Sachdimension der modernen Gesellschaft und das Nebeneinander von etwa einem Dutzend ungleichartiger, funktional spezialisierter Teilsysteme.Footnote 1 Ungleichheitstheorien betonen die Sozialdimension. Soziale Ungleichheit gilt als prägendes Strukturmerkmal für die Schlechter- und Besserstellung hinsichtlich der Lebenschancen von Menschen. Kulturelle Orientierungen gelten als entscheidende Prägefaktoren der gesellschaftlichen Ordnung. Sie verweisen auf die Zeitdimension der modernen Gesellschaft.

1.1.1 Funktionale Differenzierung und Primat der kapitalistischen Wirtschaft

Jedes Teilsystem leistet je besondere und von keinem anderen Teilsystem wahrgenommene Beiträge für die Reproduktion der Gesellschaft (Schimank & Volkmann, 1999, S. 6). Binäre Codes, selbstreferenzielle Programmstrukturen und Konstellationsstrukturen bilden die drei Komponenten der Teilsysteme in der funktional differenzierten Gesellschaft (Schimank, 2013, S. 45). Der binäre Code in Form einer Unterscheidung zwischen einem Positiv- und einem Negativwert markiert die Sinngrenzen eines Teilsystems. Teilsystemische Kommunikationszusammenhänge kennzeichnen sich durch die Orientierung am jeweiligen teilsystemischen Code durch selbstreferenzielle Geschlossenheit und bilden harte, kommunikativ unüberschreitbare Grenzen aus (Schimank & Volkmann, 1999, S. 11): »Die jeweils absolute – umfassende und unhinterfragte – Deutungshoheit, die einem als binärer Code etablierten Leitwert in seinem ›Hoheitsgebiet‹ zukommt, wird rigoros ›intolerant‹ gehandhabt« (Schimank, 2013, S. 41). Um den Code herum bildet sich ein Ring von Programmstrukturen, der ebenfalls selbstreferenziell geschlossen ist und als Operationalisierung des Codes regelt, wie dieser zu verstehen ist (Schimank, 2013, S. 44). Zwei Arten von Deutungsstrukturen konstituieren einen zentralen, identitätsstiftenden Leitwert eines Teilsystems, der die Handlungslogik des handelnden Zusammenwirkens prägt (Schimank, 2013, S. 38). Evaluative Deutungsstrukturen geben als »unangefochtene oberste evaluative Orientierung« (Schimank, 2013, S. 39) dem Handeln der Akteure eines bestimmten Teilsystems die generelle Richtung des Wollens vor. Kognitive Orientierungen stellen eine zweite Art von Deutungsstrukturen dar. Sie »sagen Akteuren, was in einer Situation der Fall ist und welche der unzähligen in einer Situation existenten Sachverhalte und Wirkungszusammenhänge relevant sind« (Schimank, 2013, S. 44). Als dritte Art gelten institutionalisierte Erwartungsstrukturen, die als normative Vorgaben das Sollen regulieren. Neben Code und Programmstrukturen operationalisieren Konstellationsstrukturen der Akteure einen teilsystemischen Code. Zwei Arten von Akteuren stellen die Leistungsproduzenten eines Teilsystems dar: Inhaber von Leistungsrollen und Leistungsorganisationen (Schimank, 2013, S. 44). Ein dritter Akteurtyp bilden die Leistungsempfänger in der Publikumsrolle. Governance-Regime als weiterer Teil der Konstellationsstrukturen sind Muster der Interdependenzbewältigung zwischen den Akteuren. Sie konstituieren sich durch elementare Governance-Mechanismen wie Märkte, Hierarchien, Gemeinschaften und Netzwerke, die unterschiedliche Kombinationen eingehen (Schimank, 2013, S. 45).

Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft stellt sich als Ansammlung von völlig gegeneinander abgeschotteten Monaden dar. Sie bilden »ein indifferentes Nebeneinander teilsystemischen Eigen-Sinns« und operieren als »Anbieter von Leistungen für ein Publikum, die sich nicht im Geringsten darum kümmern, welche anderen Anbieter und Angebote es neben ihnen noch gibt« (Schimank, 2013, S. 45). Akteure handeln in ihrer Leistungsrolle innerhalb eines teilsystemischen Orientierungshorizonts in monomanischer Fixierung auf den einen teilsystemischen Leitwert (Schimank, 2013, S. 47) und »in ›legitimer Indifferenz‹ gegenüber den Wollens-Richtungen anderer Teilsysteme« (Schimank, 2013, S. 46). Jedes Teilsystem ist durch die selbstreferenzielle Schließung der Sinnhorizonte für einen Aspekt spezialisiert und vernachlässigt alles, was nicht der teilsystemischen Eigenlogik entspricht (Schimank, 2013, S. 46). Der Preis der funktionalen Differenzierung besteht in der Arbeitsteiligkeit der Teilsysteme. Während Leistungsempfänger teilsystemische Handlungslogiken für eigene Zwecke im Sinn haben, handelt es sich bei Leistungsproduzenten um eine Arbeitsteilung, die Schimank so beschreibt: »Am liebsten wäre ihnen, wenn die jeweils von ihnen selbst benötigten Leistungen von den Leistungsproduzenten der anderen Teilsysteme zuverlässig erbracht würde, man selbst aber völlig rücksichtslos gegenüber den Leistungserwartungen sowie generell den Leistungserwartungen des eigenen Publikums dem je eigenen Leitwert folgen könnte« (2013, S. 50).

Anders als Luhmann geht Schimank nicht von horizontal gleichwertigen Teilsystemen aus, sondern von einer herausgehobenen Position der Wirtschaft gegenüber allen anderen Teilsystemen (2013, S. 52). Der enormen Steigerung der Leistungsfähigkeit wirtschaftlichen Handelns stellt er eine hohe Krisenanfälligkeit wirtschaftlichen Geschehens gegenüber. Dies führt zur »Subordination aller anderen Teilsysteme unter wirtschaftliche Zwänge« (Schimank, 2013, S. 51). Der Ökonomisierungsdruck auf alle anderen Teilsysteme gefährdet nicht nur deren Autonomie, sondern die funktionale Differenzierung überhaupt. Dysfunktional ist der Primat der Wirtschaft dadurch, dass der Markt als Governance-Mechanismus eine relativ schwache ordnungsbildende Kraft aufweist (Schimank, 2013, S. 54). Der gesamtgesellschaftliche Primat der kapitalistischen Wirtschaft konstituiert ein spannungsreiches Gegeneinander von wirtschaftlichem Gewinnstreben auf der einen und allen nicht-wirtschaftlichen Belangen auf der anderen Seite (Schimank, 2013, S. 57). Dem kapitalistischen Gewinnstreben stehen die Sozialpolitik und der Wohlfahrtsstaat gegenüber und darauf aufbauend »das Versprechen sich immer weiter verbessernder Lebenschancen Aller in Gestalt dauerhaften Wohlstandes, individueller sozialer Aufstiegsmöglichkeiten und gesicherter Inklusion in die Versorgung insbesondere mit Bildungs- und Gesundheitsleistungen« (Schimank, 2013, S. 55). Staatliches Handeln vollzieht sich somit im funktionalen Antagonismus von Steuerstaat und demokratischem Staat, wobei das theoretische Modell den Blick auf die Frage lenkt, wie die erforderliche Balance mit dem Antagonismus geleistet wird (Schimank, 2013, S. 56–57).

1.1.2 Ungleichheit sozialer Lagen und Primat marktvermittelter Einkommensungleichheiten

Schimank unterscheidet zwei grundlegende Ungleichheitsdimensionen: Ungleichheiten unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und Ungleichheiten gesellschaftlicher Einflusspotenziale (2013, S. 77). Einflusspotenziale wie Macht, Gewalt, Geld, moralische Appelle, Wahrheit, Liebe, persönliches Charisma und soziale Netzwerke ermöglichen, »den Handlungsspielraum anderer einzuschränken, also auf deren Seite ein bestimmtes Handeln einschließlich Unterlassen mehr oder weniger wahrscheinlich zu machen« (Schimank, 2013, S. 78). Lebenslagen definieren sich somit durch die Möglichkeiten, Einflusspotenziale zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung einsetzen zu können (Schimank, 2013, S. 79).

Aus einer Reihe an gesellschaftlich als wichtig eingeschätzten Ungleichheitsaspekten wie Geldbesitz, Eigentum an Produktionsmitteln, Macht, Selbstbestimmtheit der Arbeit, Bildung, Soziales Kapital, Mentalität, Prestige, Geschlecht, Ethnie, Region, Generation, Lebensalter und soziale Herkunft streicht Schimank die Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten heraus (2013, S. 79–83). Für die Ungleichheitsordnung der modernen Gesellschaft akzentuiert er dezidiert Geldbesitz als den primären unter den aufgeführten Ungleichheitsaspekten (Schimank, 2013, S. 85). Gesellschaftliche Besser- oder Schlechterstellung bestimmt sich für die meisten Gesellschaftsmitglieder demnach durch kontinuierliche Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt, wobei die Höhe des Geldbesitzes die »Scheidelinie sozialer Ungleichheit« markiert (Schimank, 2013, S. 85). Ungleichheiten der sozialen Lagen ergeben sich aus dem Markterfolg der Marktteilnehmer und daraus, wie viel Geld sie aus ihrer Marktposition herausholen können (Schimank, 2013, S. 88). Arbeitsorganisationen als Leistungsorganisationen der Wirtschaft und staatlichen Einrichtungen beruhen auf Lohnarbeit. Sie bestimmen durch die Höhe des Erwerbseinkommens die Lebenslage sowohl von Lohnabhängigen und Unternehmen als auch von jenen Gesellschaftsmitgliedern mit, die in ihrem Lebensunterhalt von der Versorgung durch Erwerbstätige oder von Versicherungen abhängig sind (Schimank, 2013, S. 87). Der Markt als Governance-Mechanismus konstituiert Ungleichheit der sozialen Lagen durch unterschiedliche Positionen der Marktteilnehmer in der Konstellation von Anbietern und Nachfragern (Schimank, 2013, S. 88).

1.1.3 Idee des gestaltbaren Fortschritts und Primat des Wirtschaftswachstums

Drei Arten von Gesellschaftsstrukturen bestimmen das handelnde Zusammenwirken in Akteurkonstellationen. Kulturelle Orientierungen prägen Deutungsstrukturen, institutionelle Erwartungsstrukturen und Konstellationsstrukturen (Schimank, 2013, S. 31). Evaluative kulturelle Orientierungen geben Richtungen des Wollens vor, normative kulturelle Orientierungen Richtungen des Sollens und kognitive kulturelle Orientierungen Richtungen des Könnens (Schimank, 2013, S. 117–118). Die Orientierungsdimensionen reduzieren durch ihre Richtungsweisungen Komplexität. Sie können aber auch in Konflikt miteinander geraten (Schimank, 2013, S. 118).

Für die Kultur der westlichen Moderne skizziert Schimank den Fortschrittsglauben als zentrale kulturelle Leitidee in einer Kombination von sieben Komponenten (2013, S. 122–127): Die Fortschrittsidee beschreibt den Glauben daran, dass es sozialen Wandel gibt, der mit Blick auf eine offene Zukunft genuin Neues bringt (1). Die Zukunft ist besser als die Gegenwart und diese besser, als es die Vergangenheit war (2). Verschiedene Fortschrittsbewegungen bündeln sich zu einer gesellschaftsweiten Gesamtentwicklung(3). Fortschritt ist Menschenwerk und Individuen sind Träger des Fortschritts (4). Drei Adressaten des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens realisieren dabei Fortschritt mit spezifischen Aufgaben: Individuen durch Bildung, Organisationen durch Rationalisierung und Nationalstaaten durch politische Gesellschaftssteuerung (5). Fortschritt ist gestaltbar (6) und muss durch rationale Intervention in die Welt gezielt herbeigeführt werden (7). Der Fortschrittsglaube ist durch eine generelle Fortschrittsskepsis und durch unterschiedliche Lesarten von Fortschritt dauerhaft umkämpft. Unter dem gesamtgesellschaftlichen Primat der kapitalistischen Wirtschaft geht die Fortschrittsidee mit der Leitidee wirtschaftlichen Wachstums einher. Diese setzt andere Wertorientierungen unter Druck (Schimank, 2013, S. 129).

1.2 Strukturdynamiken

Für jede der drei Theorieperspektiven beschreibt Schimank Strukturdynamiken, die dem Ordnungsmuster als Triebkräfte zugrunde liegen. Differenzierungsdynamiken erklären, wie sich Teilsysteme ausdifferenziert haben, sich weiterhin reproduzieren und in ihren Strukturen verändern. Ungleichheitsdynamiken basieren auf marktvermittelten Ungleichheiten. Kulturdynamiken gehen aus vielfachen Spannungsverhältnissen zwischen den Werten der Moderne hervor.

1.2.1 Differenzierungsdynamiken

Die Emergenzvorstellung geht davon aus, dass soziale Ordnungsbildung nicht auf einen generellen Orientierungskonsens angewiesen ist und die moderne Gesellschaft auch keinen teilsystemübergreifenden Konsens bereitstellt (Schimank, 1992, S. 246). Eine »die Differenz der gesellschaftlichen Teilsysteme überhöhende, sinnhaft integrierende Meta-Ebene« (Schimank, 1992, S. 250) gibt es in dieser Lesart von gesellschaftlicher Differenzierung nicht. An diese Vorstellung schließt Schimank mit der Annahme an, dass sich Ausdifferenzierungsdynamiken einzelner Teilsysteme sowie der Gesamtvorgang der Herausbildung funktionaler Differenzierung größtenteils transintentional vollzogen und weiterhin vollziehen (2013, S. 63). Der Leitwert als Kern der teilsystemischen Handlungsorientierung wird zusätzlich zum selbstreferenziellen inneren Ring der Programmstrukturen durch einen fremdreferenziellen äußeren Ring umlagert (Schimank, 2013, S. 48–49). Teilsysteme sind daher offen für fremdreferenzielle Einwirkungen und für Irritationen von außen in ihre Programmstruktur (Schimank & Volkmann, 1999, S. 11). Fremdreferenzielle Gesichtspunkte können sich in den teilsystemischen Programmstrukturen allerdings nur selbstreferenziell vermittelt geltend machen (Schimank, 2001, S. 21). Das bedeutet, dass die Selbstreferenzialität der teilsystemischen Kommunikation durch fremdreferenzielle Programmelemente zwar restriktiv, orientierend oder bestärkend kanalisiert werden kann, der teilsystemische Code dabei allerdings nicht außer Kraft gesetzt wird (Schimank & Volkmann, 1999, S. 12) oder noch schärfer formuliert: »Die teilsystemischen Leistungsproduktionen operieren […] geradezu in einer wechselseitigen Verachtung der Wollens-Richtungen der je anderen…« (Schimank, 2013, S. 49). Zwischen den Teilsystemen bestehen also strukturelle Kopplungen, die Formen von Leistungen, aber auch negative Externalitäten darstellen, und funktionale oder dysfunktionale Effekte haben können. Die Auswirkungen im anderen Teilsystem liegen jedoch nicht im Sinnhorizont des verursachenden Systems (Schimank & Volkmann, 1999, S. 13).

Für die Reproduktion der teilsystemischen Leitwerte sind Akteurfiktionen und der Mechanismus sich selbst erfüllender Prophezeiungen am Werk (Schimank & Volkmann, 1999, S. 64). Das bedeutet, dass konkreten Situationen spezifische Erwartungen als abstrakte Fiktionen übergestülpt werden, die sich als Erwartungserwartungen stabilisieren und die Handlungsvollzüge prägen (Schimank & Volkmann, 1999, S. 64). Eine zunächst deutungsoffene Situation wird durch eine Dynamik der Abweichungsverstärkung von der Mehrdeutigkeit auf einen spezifischen Code hin gelesen, der sich im Zuge weiterer Situationsdeutungen durch Abweichungsdämpfung fortgesetzt bestätigt (Schimank & Volkmann, 1999, S. 65). Fünf Mechanismen erzeugen gesellschaftliche Systemintegration: Erstens kann intersystemische Abstimmung ›hinter dem Rücken‹ der Akteure stattfinden, als weder gezielt angestrebter noch bloß zufälliger Effekt des Handelns, zweitens durch Koordination außerhalb der betreffenden Teilsysteme, drittens durch gegenseitige Handlungsanpassung, viertens durch den Einsatz von Macht oder positiven Anreizen und fünftens durch spezifischen Interessenkonsens (Schimank, 1992, S. 245). Der spezifische Interessenkonsens bezeichnet die Abstimmung interdependenter Interessen, die von den beteiligten Akteuren nicht durch Zwang oder Zwangsandrohung, sondern gezielt und aus freien Stücken erfolgt (Schimank, 1992, S. 245). Eine solche akteurtheoretische Herangehensweise an gesellschaftliche Differenzierung basiert auf einem Verständnis funktionaler Differenzierung, die »in strikter Antithese zur Position ParsonsFootnote 2« steht (Schimank, 1992, S. 246–247).

Intersystemische spezifische Interessenkonsense kommen trotz generellem Orientierungsdissens in modernen Gesellschaften zustande. Reflexive Interessen gelten als wichtige Triebkräfte für Differenzierungsvorgänge: Es sind jene Interessen eines Akteurs, »die sich auf die Wahrung oder Verbesserung der Bedingungen beziehen, unter denen jemand bestimmte substantielle Interessen verfolgen kann« (Schimank & Volkmann, 1999, S. 18). Wechselseitiges Verstehen gilt als unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein intersystemischer spezifischer Interessenkonsens gefunden werden kann:

Denn zu verstehen, welchen generellen Handlungslogiken andere Akteure folgen, ist eine Voraussetzung dafür, strategisch reflektieren zu können, ob und wie sich die eigenen Interessen mit den von den anderen verfolgten Interessen vereinbaren lassen, dieses Wissen versetzt einen Akteur dann in die Lage, die eigenen Interessen so in die Interessenhorizonte der anderen zu projizieren, dass sich die eigenen Ziele den anderen als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele darstellen (Schimank, 1992, S. 258).

Domänenwahrung, Autonomiesicherung, Aufrechterhaltung oder Steigerung von Einfluss- und Kontrollpotenzialen zählen zu den wichtigsten reflexiven Interessen (Schimank & Volkmann, 1999, S. 18): Domänenwahrung bezieht sich auf das Streben nach Dominanz in einer gegebenen substanziellen Interessenssphäre und geht mit einer größtmöglichen Monopolisierung von Kompetenzen in dieser Interessenssphäre einher. Autonomiesicherung betrifft das Streben, die Kontrolle über die eigene Interessenrealisierung zu erweitern und dadurch die Entscheidungsautonomie zu vergrößern (Schimank, 2006, S. 180). Die Aufrechterhaltung und Steigerung von Einfluss- und Kontrollpotenzialen erfolgt dadurch, dass Akteure die Reichweite der eigenen Interessenrealisierung auszudehnen versuchen und geht mit dem Interesse nach dem Wachstum relevanter Ressourcen sowie der Diversifizierung der eigenen Kompetenzen einher (Schimank, 2006, S. 179–180). Das Interesse an basaler Erwartungssicherheit gilt als viertes reflexives Interesse, welches interessengeleitetes Handeln überhaupt erst ermöglicht (Schimank, 2005, S. 153).

Reflexive Interessen fungieren als ›Generalschlüssel‹ für den Interessenhorizont des Gegenübers. Das bedeutet, dass in Abstimmungsvorgängen reflexive Interessen wechselseitig unterstellt werden und somit eine gemeinsame Sprache besteht, mit der Orientierungsdissens überwunden werden kann (Schimank, 1992, S. 267). Da jeder Akteur so behandelt wird, als ob er diese Interessen verfolge, werden diese Akteurfiktionen zu selbst erfüllenden Prophezeiungen (Schimank, 2005, S. 153) und reflexive Interessen zu funktionalen Äquivalenten für generellen Orientierungskonsens (Schimank, 1992, S. 268). Systemintegration ist demnach auf hinreichend häufige und intensive Kommunikationsbeziehungen angewiesen, »um die eigenen reflexiven Interessen mehr oder weniger explizit präsentieren, die jeweiligen Gegenüber auf deren reflexive Interessen abtasten und miteinander zu tragfähigen spezifischen Interessenkonsensen gelangen zu können« (Schimank, 1992, S. 267).

Dynamiken im äußeren, fremdreferenziellen Ring um einen teilsystemischen Leitwert vollziehen sich in einem fortwährenden Fünf-Fronten-Kampf der teilsystemischen Leistungsrollenträger und Leistungsorganisationen (Schimank, 2013, S. 65). Fünf interdependente Spiele berühren grundlegende Interessen der teilsystemischen Leistungsanbieter (Schimank, 2013, S. 65–68): Das Inklusionsspiel betrifft Ansprüche der Leistungsempfänger und die Frage, wie Leistungsanbieter verschiedener Teilsysteme diese zu befriedigen vermögen. Angesprochen wird dies im Hinblick auf die Sozialintegration und die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder außerhalb der Berufssphäre. Das Domänenspiel bezieht sich auf Leistungsangebote verschiedener Teilsysteme und somit auf Fragen der Systemintegration. Das Ökonomisierungsspiel als Spezialfall des Domänenspiels fokussiert auf die herausgehobene Rolle der Wirtschaft und den Ökonomisierungsdruck auf andere Teilsysteme. Das Ökologiespiel nimmt Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit zwischen teilsystemischen Leistungsanbietern in den Blick. Das Hegemoniespiel schließlich findet innerhalb von Teilsystemen zwischen verschiedenen Fraktionen von Leistungsanbietern statt und berührt berufsbezogene Lebenschancen.

1.2.2 Ungleichheitsdynamiken

Dynamiken marktvermittelter Ungleichheiten beziehen sich in einem ersten Schritt auf Lohnverhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen. Das Erwerbseinkommen entsteht durch antagonistische Kooperation (Schimank, 2013, S. 95). Kooperation ergibt sich dadurch, dass eine Arbeitskraft auf ein Beschäftigungsverhältnis angewiesen ist, um die Lebensführung zu sichern und ein Unternehmen auf Arbeitskräfte, um Waren zu produzieren, deren Verkauf Gewinn abwirft. Antagonismus stellt sich bei Lohnverhandlungen ein, wenn es darum geht, den Erlös in Löhne und Gewinne aufzuteilen (Schimank, 2013, S. 95). Obwohl das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern grundsätzlich wandelbar ist, besteht insgesamt eine deutliche Asymmetrie zugunsten ersterer (Schimank, 2013, S. 98).

Dynamiken marktvermittelter Ungleichheiten beziehen sich in einem zweiten Schritt auf Möglichkeiten, die soziale Lage zu verbessern. Die analytische Erklärungsheuristik nimmt die Unzufriedenheit der Gesellschaftsmitglieder mit ihrer sozialen Lage zum Ausgangspunkt, die sich aus Vergleichen nährt, wobei aus faktisch gegebener Ungleichheit nicht zwingend Unzufriedenheit folgt (Schimank, 2013, S. 100). In einer Strukturdynamik identischer Reproduktion erfolgen keine Veränderungsbemühungen der Schlechtergestellten und Bessergestellte bemühen sich, »Latenz und Legitimität der Ungleichheit zu wahren« (Schimank, 2013, S. 101). In einer Strukturdynamik der Veränderung bestehen drei Reaktionsmuster: Fügsamkeit trotz Unzufriedenheit gegenüber Schlechterstellung stellt ein passives Muster dar. Das individuelle Streben nach Aufwärtsmobilität und das kollektive Streben nach kollektiver Besserstellung bezeichnen aktive Muster im Umgang mit Schlechterstellung (Schimank, 2013, S. 101).

Individuelle Aufwärtsmobilität wird durch Aspekte wie Kohortenzugehörigkeit, kulturelle Deutungsmuster, offene Bildungszugänge und Konstellationen des Arbeitsmarkts sowie durch Kapital für Unternehmensgründungen begünstigt. Behinderungen ergeben sich durch subtile oder offene Gegenmaßnahmen der Bessergestellten, die ihre Privilegien verteidigen wollen (Schimank, 2013, S. 105). Das kollektive Streben nach kollektiver Besserstellung als zweites aktives Muster im Umgang mit Schlechterstellung zeigt sich im Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Dies betrifft »kollektive Praktiken, die auf eine Nachbesserung der sich auf dem Arbeitsmarkt einstellenden Verteilung von Lebenschancen abzielen« (Schimank, 2013, S. 107).

Neben Individuen und Organisationen tritt ›Vater Staat‹ (Schimank, 2009a) als dritter für die Moderne konstitutiver Akteurtyp auf den Plan. Ihm kommt im Umgang mit kollektivem Protest gegen Schlechterstellung die oberste Verantwortung für Gesellschaftsgestaltung zu (Schimank, 2013, S. 107). Zum einen verbessert er die Lebenschancen der Schlechtergestellten durch die Abfederung von Risikolagen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter, zum anderen ermöglicht er den Zugang zu höherer Bildung und damit individuelle Aufwärtsmobilität (Schimank, 2013, S. 112). Der Dominanz marktvermittelter Ungleichheiten in der Lohnarbeitsgesellschaft und einer umfassenden KommodifizierungFootnote 3 der Lebensführung setzt der Wohlfahrtsstaat damit eine partielle De-Kommodifizierung eines Teils der eigenen Lebenschancen entgegen (Schimank, 2013, S. 112).

Die Rolle des Staats ist dabei durch einen doppelten funktionalen Antagonismus geprägt (Schimank, 2009a, S. 266): Der erste wurde als funktionaler Antagonismus von Demokratie und Steuerstaat in einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft bereits benannt. Der zweite präzisiert den ersten als funktionalen Antagonismus von emergentistischem und reduktionistischem Staatsverständnis (Schimank, 2009a, S. 266). Ein reduktionistisches Staatsverständnis betont das Recht auf Freiheit, verstanden als Freiheit der durch eigene Arbeitsleistung Wohlhabenden. Der Staat gilt als natürlicher Gegner dieses liberalen Freiheitsverständnisses (Schimank, 2009a, S. 253). Gefordert wird ein Staat als Minimal State wobei Ansprüche an gesellschaftliche Ordnung möglichst gering zu halten und möglichst viele Ordnungsleistungen durch selbstorganisierte Leistungen der Individuen zu erbringen sind (Schimank, 2009a, S. 250). Diesem Staatsverständnis steht eine emergentistische Lesart gegenüber, nach der dem Staat die Aufgabe zukommt, gesellschaftliche Integration zu sichern (Schimank, 2009a, S. 253). Wohlfahrt bedeutet »Teilhabe an dem, was die Gesellschaft zu verteilen hat« (Schimank, 2009a, S. 254). Die Staatstätigkeit bewegt sich entsprechend diesem Modell in einem Hin und Her zwischen den beiden Polen dieser funktionalen Antagonismen (Schimank, 2009a, S. 266), wobei das strukturierte Gegeneinander von Handlungsorientierungen und -wirkungen sich trotz aller Konflikthaftigkeit nicht destruktiv, sondern produktiv auswirken soll (Schimank, 2009a, S. 249).

1.2.3 Kulturdynamiken

Vorstellungen, die gesellschaftliche Integration durch einen übergreifenden Wertekonsens gegeben sehen und das Konsenspostulat hochhalten, hält Schimank das Konfliktpotenzial durch die Identifikation mit Werteorientierungen entgegen (2013, S. 135). Mit der kulturtheoretischen Perspektive verweist er auf vielfache Spannungsverhältnisse zwischen den Werten der Moderne und damit auf eine Zerrissenheit der Fortschrittsidee. Integration bleibt dadurch partikular und erwächst oftmals »aus der dezidierten Gegnerschaft gegen andere und anderes« (Schimank, 2013, S. 135). Aus der Ambivalenz zwischen der Explosion an Optionen und ihren Nebenwirkungen gehen spezifische Kulturdynamiken hervor. Deutungskämpfe um die richtige Weltsicht finden zum einen zwischen Vertretern der Moderne und Fortschrittsskeptikern und zum anderen zwischen Vertretern verschiedener Lesarten der Moderne statt (Schimank, 2013, S. 136). Auch wenn sich der Fortschrittsglaube auf eine Kultur der westlichen Moderne bezieht, verortet Schimank Anti-Moderne nicht außerhalb des Westens und Kämpfe um Lesarten der Moderne nicht innerhalb des Westens. Den Begriff der Anti-Modernität will er auch nicht als ein Werturteil verstanden wissen (2013, S. 136).

Ausgangspunkt des handlungstheoretischen Modells bildet ein »Ensemble an kulturellen Deutungsstrukturen in Gestalt von Ideengebilden« (Schimank, 2013, S. 137). Ideengebilde haben Trägergruppen, die das Ideengebilde mit ihrem Handeln reproduzieren. Da jede Person mehreren Trägergruppen und somit auch mehreren Ideengebilden angehört, wird eine Idee von unterschiedlichen Personen getragen: »Trägergruppen sind erst einmal eine mehr oder weniger große Anzahl von Individuen mit in bestimmten Hinsichten ähnlichen kulturellen Orientierungen« (Schimank, 2013, S. 137). Wenn Individuen einer Trägergruppe sich zu kollektiven oder korporativen Akteuren zusammenschließen, können sie einer Idee Nachdruck gegenüber konkurrierenden Ideen verleihen (Schimank, 2013, S. 137). Trägergruppen stellen ihren inneren Zusammenhalt durch wechselseitige Beobachtung oder wechselseitige Beeinflussung her. Soziale Bestätigung oder negative Sanktionen bezüglich des Handelns von Mitgliedern einer Trägergruppe halten eine kulturelle Idee auf Linie (Schimank, 2013, S. 138). Gemeinsam geteilte kulturelle Ideen können so Einflusspotenzial entwickeln und soziale Strukturen, u. a. auch Differenzierungsstrukturen, bewirken (Schimank, 2005, S. 28) sowie über mehr oder weniger lange Zeiträume hinweg eine kulturelle Hegemonie herausbilden (Schimank, 2013, S. 138).

Die Moderne zeichnet sich gegenüber vormodernen Gesellschaften durch Kämpfe um kulturelle Deutungshoheit (Schimank, 2013, S. 138) aus. Variationen bestimmter Ideen speisen sich aus »einer grundsätzlichen Kontingenz der Deutung der Welt« (Schimank, 2013, S. 139). Neue Lesarten entstehen dadurch, »dass zwei oder mehrere bis dahin distinkte Ideen aufeinandertreffen und sich aneinander abarbeiten« (Schimank, 2013, S. 140). Anschlussfähig für Veränderungen sind Ideengebilde durch innere Offenheit und dadurch, dass sie unfertig oder uneindeutig sind. Darüber hinaus können sie fehlerhaft kopiert, modifiziert und revidiert werden (Schimank, 2013, S. 140–141). Mit diesen Quellen von Ideen-Transformationen lassen sich nach Schimank Entstehung, Veränderung und Verschwinden bestimmter Ideengebilde im Zeitverlauf erklären und deren Auswirkungen auf die Konstellation von Trägergruppen bestimmen (2013, S. 142). Da kulturelle Trägergruppen keine passiven Rezipienten, sondern aktive Rekonstrukteure sind, entwickeln sich spezifische Modernisierungs-Pfade zwischen »globaler Isomorphie und lokaler Beharrung« (Schimank, 2013, S. 148).

1.3 Integrationsdimensionen

Aus den drei Ordnungsmustern der Gesellschaft gehen Effekte auf die Lebenschancen der individuellen Gesellschaftsmitglieder und die gesellschaftliche Integration hervor. Funktionale Differenzierung und den Primat der kapitalistischen Wirtschaft diskutiert Schimank im Zusammenhang mit Systemintegration und mit ökologischer Integration. Die Ungleichheit sozialer Lagen und der Primat marktvermittelter Einkommensungleichheiten ist für die Sozialintegration und die Lebenschancen von Individuen relevant. Die Idee des gestalteten Fortschritts und der Primat des Wirtschaftswachstums berührt Fragen des sozialen Wandels sowie der Sozial- und Systemintegration, der ökologischen Integration und der individuellen Lebensführung.

1.3.1 Gesellschaftliche Integration und individuelle Lebenschancen

Fragen der gesellschaftlichen Integration sind eng verknüpft mit der Organisationsgesellschaft als Bedingung der Möglichkeit funktionaler Differenzierung (Schimank, 2001, S. 19). Funktionale Differenzierung wird auf drei Ebenen angesiedelt. Die Teilsysteme stellen die Makroebene dar. Die berufliche Arbeitsteilung und die Differenzierung des gesellschaftlichen Rollenrepertoires zählen zur Mikro-Ebene (Schimank & Volkmann, 1999, S. 7). Zwischen Teilsystemen und Rollen ist mit der Ebene formaler Organisationen die Meso-Ebene funktionaler Differenzierung angesiedelt (Schimank & Volkmann, 1999, S. 8). Dieser Ebene kommt im Hinblick auf Sozial- und Systemintegration eine bedeutsame Rolle zu. Zur gesellschaftlichen Sozialintegration tragen formale Organisationen bei, indem sie das Handeln ihrer Mitglieder im Sinn der teilsystemischen Codes und Programme disziplinieren und diese an die Rollenträger des betreffenden Teilsystems vermitteln (Schimank & Volkmann, 1999, S. 12). Die Vermittlung zwischen Teilsystem und seiner Umwelt und damit ein wichtiger Mechanismus gesellschaftlicher Systemintegration erfolgt über die teilsystemische Programmstruktur, die sowohl selbst- als auch fremdreferenzielle Elemente enthält (Schimank & Volkmann, 1999, S. 12). Organisationen führen ein Zwitterdasein, insofern sie sowohl Akteure als auch Strukturen sind: Als korporative Akteure haben sie Handlungsfähigkeit gegenüber den Mitgliedern und gegenüber ihrer Umwelt und als Sozialsysteme wirken sie handlungsprägend gegenüber ihren Mitgliedern (Schimank, 2001, S. 20).

Gesellschaftstheoretische Analysen haben nach Schimank zwei Bezugspunkte. Der eine Bezugspunkt lässt sich mit der Frage umreißen, was die Gesellschaft als integrales Ordnungsmuster zusammenhält (Schimank, 2013, S. 32). Die Lebenschancen der individuellen Gesellschaftsmitglieder stellen den anderen Bezugspunkt dar (Schimank, 2013, S. 33). In seinem Aufsatz zur Frage, »wie sozialer Wandel endogen in einer Gesellschaft erzeugt wird«, unterscheidet Lockwood (1971, S. 125) zwischen sozialer Integration und Systemintegration. Soziale Integration betrifft »die geordneten oder konflikthaften Beziehungen der Handelnden eines sozialen Systems« und Systemintegration »die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems« (Lockwood, 1971, S. 125). Diese Dimensionen gesellschaftlicher Integration greift Schimank auf und erweitert sie um die ökologische Integration als »Verhältnis der Gesellschaft zu ihrer physikalischen, chemischen und biologischen Umwelt« (2000, S. 452). Die drei Integrationsdimensionen setzt er in Verbindung mit gesellschaftlichen Integrationsproblemen der Des- und Überintegration und verwendet sie als grobes Sortierschema für die Einordnung soziologischer Gegenwartsdiagnosen (vgl. Abbildung 2.1).

Abbildung 2.1
figure 1

(Eigene Darstellung nach Schimank, 2000, S. 453)

Sortierschema für Integrationsprobleme.

In seinem Verständnis von Integration folgt Schimank Luhmann, der darunter keine »Einheitsperspektiven oder sogar Solidaritätserwartungen« (Luhmann, 1997, S. 602) versteht, sondern »die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen« (Luhmann, 1997, S. 603). Anders als Luhmann, der den Integrationsbegriff nicht positiv besetzen will, geht Schimank aber davon aus, dass wechselseitige Möglichkeitsbeschränkungen als funktional für die Selbstreproduktion der Einheiten einzustufen sind (2000, S. 451). Das bedeutet, dass die Fähigkeit der Gesellschaft zur dauerhaften Selbstreproduktion durch wechselseitige Limitationen erhalten oder verbessert wird. Eine Positivumschreibung gesellschaftlicher Integration führt analytisch nicht weiter, da diese erst im Störungsfall sichtbar wird, dies entweder als Desintegration oder als Überintegration. Während mit Desintegration Zerfallstendenzen gesellschaftlicher Ordnung bezeichnet werden, gilt Überintegration als »prinzipiell ebenso problematisch« (Schimank, 2013, S. 32–33), wenn gesellschaftliche Strukturdynamiken zu Entwicklungsblockaden führen und keine Veränderungen mehr möglich sind. Integration hat also graduellen Charakter und stellt als »Balance zwischen Des- und Überintegration« (Schimank, 2000, S. 451) einen mittleren Ordnungszustand dar, »der durch ein Mehr oder Weniger an Ordnung gestört werden kann« (Schimank, 2000, S. 452).

Ob und wie die Verwirklichung von Lebenschancen gelingen kann, ist nicht nur individuell, sondern auch mit Blick auf gesellschaftliche Integration relevant (Schimank, 2013, S. 33). Aus differenzierungstheoretischer Sicht sind Gesellschaftsmitglieder in ihrer Leistungsrolle in ein Teilsystem und durch Publikumsrollen in fast alle Teilsysteme inkludiert. Die multiple Partialinklusion geht mit einer zunehmenden Rollendifferenzierung und mit der Wahlfreiheit für eine Vielzahl unterschiedlicher Rollenkombinationen einher (Schimank, 2013, S. 58): »Individualität wird also der Person durch die moderne Gesellschaft als selbstbestimmte Einzigartigkeit auferlegt« (Schimank, 2013, S. 59). Diese Individualisierung geht nach Schimank nun mit einer Zunahme an Optionen, aber auch mit einem Verlust an LigaturenFootnote 4 einher. Die individuelle Lebensführung ist somit zwischen einem Zuviel an Möglichkeiten und einem Zuwenig an sinnstiftenden Bindungen an Werte und Gemeinschaften auszutarieren (Schimank, 2013, S. 59).

Schimank geht von einem gesellschaftlichen Ökonomisierungsdruck aus, weil sowohl die Leistungsorganisationen der gesellschaftlichen Teilsysteme als auch die Personen als Arbeitnehmer von Geld abhängig sind (Schimank, 2009b, S. 337). Die Position einer Person im gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge schlägt auf deren Lebenschancen (Schimank, 2013, S. 89) durch. Stärker als alle anderen Ungleichheitsaspekte prägt aus dieser Perspektive die Menge des Geldes die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder (Schimank, 2013, S. 89). Im Zusammenwirken von Geldbesitz, dem damit verbundenen sozialen Kapital und der Bildung der Herkunftsfamilie liegen die Reproduktion sozialer Lagen und, damit einhergehend, die Lebenschancen begründet: »Bildung ist der Mechanismus, der den Geldbesitz der Eltern in den Geldbesitz der Kinder transformiert – Ungleichheitsaspekte werden nicht meritokratisch relativiert, sondern weiter befestigt« (Schimank, 2013, S. 92).

Aus kulturtheoretischer Sicht bringt die Fortschrittsidee eine kulturelle Steigerungslogik in Gang und damit das Streben nach »mehr von allem, was als Fortschritt gilt, sowohl als Wachstum in quantitativer und auch als Vervielfältigung und Verbesserung in qualitativer Hinsicht« (Schimank, 2013, S. 131). Entsprechend dem Wachstumszwang der kapitalistischen Wirtschaft kennt die Fortschrittsidee der Moderne keine Stoppregel (Schimank, 2013, S. 131). Neben Chancen für die individuelle Lebensgestaltung erwächst daraus der Druck »möglichst viel aus der begrenzten je eigenen Lebenszeit herauszuholen« (Schimank, 2013, S. 134).

1.3.2 Systemintegration

Die differenzierungstheoretische Perspektive lenkt den Blick vor allem auf die »Integration des sachlich Mannigfaltigen« (Schimank, 2013, S. 153) und auf die Systemintegration als Integrationserfordernis. Intersystemischer Orientierungsdissens hat Desintegrationspotenzial (Schimank, 2013, S. 32). Integrationsprobleme können sich aus Phänomenen gesellschaftlicher Des- oder Überintegration ergeben (vgl. Abbildung 2.1). Desintegration bezeichnet das Verhältnis von Teilsystemen, die »einander durch ihr Operieren schwerwiegende Probleme bereiten« (Schimank, 2013, S. 60). Diesen kann durch politische Steuerung und durch teilsystemübergreifende interorganisatorische Netzwerke begegnet werden: »Solche Netzwerke finden sich in Form von gemeinsamen Ausschüssen, ›konzertierten Aktionen‹, ›runden Tischen‹, neokorporatistischen Arrangements u. a. in der Gesundheits- ebenso wie in der Bildungs-, der Forschungs- oder der Wirtschaftspolitik« (Schimank, 2001, S. 34).

Aber auch Überintegration, z. B. in Gestalt eines aus der kapitalistischen Wirtschaft hervorgehenden Ökonomisierungsdrucks auf die anderen Teilsysteme, ist in Rechnung zu stellen (Schimank, 2013, S. 61). Schimank prägt hierfür den Begriff der ›feindlichen Übernahmen‹ und thematisiert den »Grenzverkehr zwischen Teilsystemen« (2006, S. 71–72) sowie Formen problematischer Grenzüberschreitungen. Angesprochen ist damit, dass Leistungsproduktionen in anderen Teilsystemen und auch die individuelle Lebensführung »auf die eindimensionale Linie wirtschaftlicher Rationalität« (Schimank, 2013, S. 61) gebracht und somit in unzulässiger Weise durch andere Wertsphären überlagert werden, so dass deren Sinngrenzen zusammenbrechen und gesellschaftliche Differenzierung an sich gefährdet ist (Schimank & Volkmann, 2008, S. 383). Denkbar sind aber auch andere Formen ›feindlicher Übernahmen‹ und intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft.

Um das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie als dysfunktionale Verselbstständigung und Autonomieeinbußen durch ›feindliche Übernahmen‹ zu klären, weist Schimank auf eine missverständliche Lesart von funktionaler Differenzierung als Arbeitsteilung hin (2006, S. 71–72). Arbeitsteilung, verstanden als harmonisches Zusammenfügen von Teiltätigkeiten im Sinn von Kooperation zwecks Steigerung von Effizienz und Effektivität, stellt eine absichtsvolle Gestaltungsaufgabe dar, die der Planung und eines Managements bedarf. Diese Vorstellung gerät mit funktionaler Differenzierung in Konflikt, die nicht von Arbeitsteilung, sondern von Emergenz ausgeht (Schimank, 2006, S. 72). Das Verständnis von Emergenz bedeutet, dass sich die moderne Gesellschaft durch »die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme als Kultivierung, Vereinseitigung und schließlich Verabsolutierung von Weltsichten in Gestalt nebeneinander und nicht selten gegeneinander operierender Teilsysteme« (Schimank, 2006, S. 72) vollzieht, in der »kein übergeordneter Planer für die Differenzierungsstruktur verantwortlich« (Schimank, 2006, S. 73) ist. Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft ist gemäß dieser Lesart »kein intendiert und zweckmäßig herbeigeführtes Ergebnis« (Schimank, 2006, S. 73), sondern stellt sich gegen die Absichten der Akteure als transintentionale Polykontexturalität ein. Im Ergebnis zeigt sich die moderne Gesellschaft als »Mehrzahl einander überlappender Gesellschaften« (Schimank, 2006, S. 73). Die »Überlappungen« verweisen auf das Konzept der strukturellen Kopplung und auf deren Offenheit für die Umwelt. Teilsysteme stellen Leistungen bereit und beanspruchen vielfältige Leistungen anderer Teilsysteme (Schimank, 2006, S. 75). Outputs erfolgen durch die Bereitstellung finanzieller Mittel, von Technik, Personal, öffentlicher Aufmerksamkeit und Legitimität, Wissen, Entscheidungen und Gewalt (Schimank, 2006, S. 75). Inputs erfolgen in Form von Ressourcen und Programmen. Beide Formen intersystemischer Leistungen können als fremdreferenzieller Rahmen das selbstreferenzielle teilsystemische Operieren mehr oder weniger drastisch einschränken und die teilsystemische Autonomie reduzieren (Schimank, 2006, S. 76).

Der Hinweis auf ein ›Mehr oder Weniger‹ macht deutlich, dass Schimank von einem graduellen Autonomieverständnis ausgeht, während Luhmann keine graduelle Abstufung vorsieht (2006, S. 76). Mit einem Tableau von sechs Typen ›feindlicher Übernahmen‹ präsentiert er eine Heuristik für die analytische Unterscheidung von Autonomieeinbußen (vgl. Abbildung 2.2).

Abbildung 2.2
figure 2

(Eigene Darstellung nach Schimank, 2006, S. 76–80)

Sechs Typen ›feindlicher Übernahmen‹.

Ressourcen, Programme und Codes können die intersystemische Leistungsbeziehung in Form von Inputs oder Outputs prägen. Die Begriffe Einverleiben und Aufdrängen unterstreichen die gewählte Semantik ›feindlicher Übernahmen‹ und den Übergriffs-Charakter teilsystemischer Beziehungen. Beispiele für Leistungsbeziehungen im Sinn von Einverleiben sind die Konkurrenz um finanzielle und personelle Ressourcen zwischen oder die Übernahme von Programmelementen oder Codes aus anderen Teilsystemen. Umgekehrt können Ressourcen, Programme und Codes anderen Teilsystemen auch aufgedrängt werden. ›Feindliche Übernahmen‹ sind dann gegeben, wenn Teilsysteme durch Inputs oder Outputs anderer Teilsysteme in ihrem Operieren geprägt und dadurch in ihrer Autonomie bedrängt werden.

Mit einer Analyse ›feindlicher Übernahmen‹ in soziologischen Gegenwartsdiagnosen zeigt Schimank auf, dass die Wirtschaft gegenüber den Teilsystemen Politik, Wissenschaft, Massenmedien, Bildung und Intimbeziehungen in fünf von sieben Fällen ›feindliche Übernahmen‹ unternimmt, »ohne selbst Opfer von so etwas zu sein« (2006, S. 82). Er relativiert dieses Ergebnis mit dem Hinweis, dass die Gegenwartsdiagnosen von insgesamt 132 Möglichkeiten problematischer intersystemischer Grenzüberschreitungen nur sehr wenige und nur solche von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung thematisieren und Gegenwartsdiagnosen »hochgradig spekulative Deutungsangebote mit einem Hang zur Dramatisierung« (Schimank, 2006, S. 82) darstellen. Dennoch wird der Wirtschaft »im intersystemischen Interdependenzgeflecht« (Schimank, 2006, S. 82) eine zentrale Stellung zugeschrieben.

1.3.3 Sozialintegration

Sozialintegration der Gesellschaftsmitglieder gewährleisten in einer funktional differenzierten Gesellschaft Organisationen, weil diese die teilsystemischen Handlungslogiken durch Organisationsmitgliedschaften mit Leistungs- und Publikumsrollen operationalisieren (Schimank, 2001, S. 25). Indem binäre Codes Motive und Interessen von Akteuren homogenisieren, reduzieren sie diffuse »Weltkomplexität« auf spezifische und differente Teilsystemkomplexitäten »in einer ›polykontexturalen‹ Gesellschaft« (Schimank, 2001, S. 22). Deutungsstrukturen schaffen so Erwartungssicherheit, die als reflexives Interesse eine wichtige Voraussetzung für die Erfüllung substanzieller Interessen darstellt und gleichzeitig als Triebkraft für spezifischen Interessenkonsens fungiert.

Akteure nehmen Deutungsstrukturen aber auch als Restriktionen der eigenen Bedürfnisbefriedigung wahr (Schimank, 2001, S. 23). Die Durchorganisierung der Teilsysteme sichert nun die Fügsamkeit und verhindert, dass Akteure »solche Zielsetzungen verfolgen, die von den teilsystemischen Ordnungen abweichen und diese untergraben« (Schimank, 2001, S. 23). Dies gelingt nach Schimank durch formale Organisationen, die durch die Mitgliedsrolle eine generalisierte Konformitätsbereitschaft erzeugen: »Eine Person muss sich zur Mitgliedschaft entscheiden, und die Organisation muss sich für die Person als Mitglied entscheiden« (2001, S. 24). Die beiderseitige Mitgliedschaftsentscheidung wird durch Verhaltenszumutungen aktualisiert, die sich im Rahmen der Programmstrukturen eines Teilsystems bewegen: »Die teils zu unbeständige, teils auch zu träge oder zu starrsinnige, immer wieder eigensinnige und launenhafte Subjektivität von Personen wird in formalen Organisationen durch Karrierechancen und Kündigungsdrohungen domestiziert« (Schimank, 2001, S. 24). Während formale Organisationen als teilsystemspezifische Akteure konzipiert sind, ist für individuelle Akteure eine Partialinklusion in viele gesellschaftliche Teilsysteme konstitutiv (Schimank, 2001, S. 27). Die Passung zwischen Teilsystems- und Organisationsstrukturen wird entweder ›von unten‹ durch Interessenorganisationen oder ›von oben‹ durch Arbeitsorganisationen »mit Blick auf eine Aufgabenstellung, die in eine bestimmte teilsystemische Logik eingebettet ist«, hergestellt (Schimank, 2001, S. 27). Formale Organisationen ermöglichen funktionale Differenzierung und Sozialintegration, schaffen aus systemintegrativer Sicht aber das Problem, dass teilsystemische Handlungslogiken auseinanderdriften und »dass das Nebeneinander der verschiedenen Teilsysteme immer wieder auch in ein spannungsreiches Gegeneinander« (Schimank, 2001, S. 31) mündet.

Die ungleichheitstheoretische Perspektive betont insbesondere die Sozialintegration der Gesellschaftsmitglieder. Eine herausgehobene Bedeutung erfahren soziale Ungleichheiten in der modernen Gesellschaft deshalb, weil sich »kulturell die Gleichheit der Lebenschancen als generelles normatives Leitprinzip« (Schimank, 2001, S. 92) institutionalisiert hat. Die moderne Gesellschaft legitimiert marktvermittelte Ungleichheiten mit dem meritokratischen Prinzip, welches Besser- oder Schlechterstellung mit ungleichen Leistungen bei formaler Gleichstellung rechtfertigt. Ein Verständnis von Chancengerechtigkeit, das auf Leistung in der Bildungslaufbahn und im Erwerbsleben schaut, gerät mit der Idee der Menschenwürde und mit Gerechtigkeitsvorstellungen in Konflikt, die dem Prinzip der Bedürfnisgerechtigkeit folgen (Schimank, 2001, S. 93). Ein Konfliktpotenzial liegt daher im permanenten Spannungsverhältnis zwischen »der Faktizität von Ungleichheit auf der einen und dem letztlich unausräumbaren Generalverdacht der Illegitimität dieses Faktums auf der anderen Seite« (Schimank, 2001, S. 92). Kämpfe um Besserstellung sind demnach die Triebkräfte von Ungleichheitsdynamiken, wobei das handelnde Zusammenwirken jener, die ihre Lage verbessern und jener, die den Status quo bewahren wollen, spezifische Ungleichheitsdynamiken bewirken (Schimank, 2001, S. 94).

1.4 Funktionale Antagonismen

Mit einem Überblick zum Gesellschaftsmodell sollen abschließend die Spannungsverhältnisse und Verflechtungen zwischen den Konstruktionselementen aufgezeigt werden (vgl. Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1 Drei Theorieperspektiven – ein Gesellschaftsmodell. (Eigene Darstellung nach Schimank, 2013)

Dies erfolgt mit Blick auf das Potenzial wechselseitiger Bezugnahmen der Theorieperspektiven. Die Gesellschaftstheorie von Schimank geht vom gesamtgesellschaftlichen Primat der kapitalistischen Wirtschaft aus (2013, S. 163). Dieser begründet nicht nur den Primat marktvermittelter Ungleichheiten und des Wirtschaftswachstums, sondern auch einen gegenüber den anderen Teilsystemen unabschaffbaren Ökonomisierungsdruck. In den funktionalen Antagonismen kommt das politische System als Mit- und Gegenspieler zum Ausdruck. Politische Gesellschaftssteuerung vollzieht sich zwischen kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik, zwischen Kommodifizierung und De-Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft sowie zwischen wirtschaftlichen Wachstumszwängen und einer Lebensqualität im Sinn eines ganzheitlichen Fortschrittsverständnisses (Schimank, 2013, S. 163). Verschränkungen zwischen den Theorieperspektiven ermöglichen es, ein gesellschaftliches Phänomen aus verschiedenen Richtungen zu beleuchten: »Der eine Scheinwerfer leuchtet aus, was der andere im Dunkeln lässt; und zwei oder drei beleuchten Manches heller als nur einer« (Schimank, 2001, S. 94). Eine kulturtheoretische Verankerung in der differenzierungstheoretischen Perspektive betont, dass gesellschaftlicher Fortschritt Strukturen funktionaler Differenzierung erzeugt hat, die »unhintergehbar und unüberschreitbar« (Schimank, 2001, S. 160) sind. Fortschritt wird im Sinn sakrosankter teilsystemischer Leitwerte gelesen. Eine kulturtheoretische Verankerung in der ungleichheitstheoretische Perspektive verweist auf das strukturell angelegte Konfliktpotenzial, das aus dem generellen normativen Leitprinzip der Gleichheit von Lebenschancen und der meritokratischen Begründung sozialer Ungleichheiten hervorgeht (Schimank, 2001, S. 160). Eine ungleichheitstheoretische Verankerung in der differenzierungstheoretischen Perspektive kann aufzeigen, inwiefern erfahrene Ungleichheiten in der Moderne die Leistungsproduktion verschiedener Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft widerspiegeln. Angesprochen ist insbesondere das Inklusionsspiel zwischen Leistungsanbietern eines Teilsystems und dem Publikum mit dem Phänomen der Exklusion als Extremform sozialer Ungleichheit (Schimank, 2001, S. 161).

2 Gesellschaft aus handlungstheoretischer Sicht

Anders als Schimank folgt Münch nicht dem Emergenz-Paradigma von Luhmann, sondern dem Integrationsverständnis von Parsons. Parsons (2009) versteht Differenzierung als Vorgang der Dekomposition von Gesellschaft als Einheit in spezialisiertere Einheiten, die durch rollenförmige Arbeitsteilung innerhalb formaler Organisationen erfolgt (Schimank & Volkmann, 1999, S. 8). Gesellschaft gliedert sich demgemäß entsprechend dem AGIL-SchemaFootnote 5 (Schimank, 2007, S. 80–93) in vier Subsysteme, von denen jedes ein grundlegendes funktionales Erfordernis erfüllt (Schimank & Volkmann, 1999, S. 9). Im Handlungssystem wird das funktionale Erfordernis der Adaption von den Verhaltensorganismen der involvierten Handelnden, der Goal Attainment durch die Persönlichkeitssysteme der involvierten Handelnden, der Integration durch das soziale System und der Latent Pattern Maintenance durch das kulturelle System erfüllt (Schimank, 2007, S. 87–88). Gesellschaftliche Integration ist das Ergebnis von Abstimmungen zwischen diesen Teilsystemen, wobei diese auf geteilten Normen und Werten beruht (Schimank, 2007, S. 117). Münch radikalisiert, reformuliert und verändert den gesellschafts- und systemtheoretischen Ansatz von Parsons (2015, S. 317). Differenzierung, Rationalisierung und Interpenetration bilden zentrale Konzepte seiner Handlungstheorie. Die Struktur der modernen Gesellschaft leitet er aus Prozessen der Differenzierung und Rationalisierung ab. Er erklärt deren Dynamik mit der Interpenetration von Subsystemen des Handels. Prozesse der Ausdehnung dieser Subsysteme begründen Konfliktfelder und sozialen Wandel. Er zeigt auf, welche Konsequenzen dies für die soziale Ordnung hat und schließlich, wie soziale Ordnung unter modernen Bedingungen möglich ist (Münch, 2015, S. 309). Differenzierung versteht er im Anschluss an Weber als definierendes Kennzeichen traditionaler Gesellschaften (Münch, 2015, S. 321). Die »Interpenetration differenzierter Sphären des Handelns« begreift er demgegenüber als »zentrale Eigenschaft der modernen westlichen Kultur« (Münch, 2015, S. 309). Konflikte, die aus der sich fortlaufend steigernden Mobilisierung der Gesellschaft erwachsen, sind durch »vermittelnde Institutionen für den Austausch der Leistungen« (Münch, 2015, S. 306) unter Kontrolle zu halten. Gesellschaftliche Integration ist angesichts der »Risiken des gesellschaftlichen Fortschritts« ein »äußerst riskantes Unternehmen« (Münch, 2015, S. 308). Die »dialektische Natur der Moderne« evoziert Widersprüche, die es »ohne Aussicht, sie jemals vollständig aufheben zu können« (Münch, 2015, S. 309), zu bearbeiten gilt.

2.1 Die Struktur der modernen Gesellschaft

Die Ausdifferenzierung von Handlungssystemen erklärt Münch mit Prozessen der Rationalisierung. Nachdem sich der rationale Diskurs vom Gemeinschaftshandeln abgetrennt hat, durchdringt er auch andere Handlungssphären. Differenzierung kommt durch das Hinausschreiten aus den Grenzen des Gemeinschaftssystems zustande. Prozesse der Interpenetration konstituieren die moderne gesellschaftliche Gemeinschaft als differenzierte, integrierte, komplexe und kontingente Ordnung. Sie sind ursächlich für die Differenzierung von Interaktions-Systemen jenseits des Gemeinschaftshandelns und zugleich für die Integration von Sphären der Welt.

2.1.1 Der Prozess der Rationalisierung und Differenzierung als Durchdringung von Handlungssphären

Differenzierung ist in der Handlungstheorie von Münch ein Prozess, »in dem das Handeln zunehmend über die Grenzen der Regulierung innerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft hinausschreitet« (2015, S. 317). Der Prozess der Rationalisierung vollzieht sich in zwei Schritten (Münch, 2015, S. 318). Durch intellektuelles Nachdenken wird zunächst das Interaktionssystem des Gemeinschaftshandelns, »das durch Normen streng geregelt ist und den Spielraum des Handelns schließt« (Münch, 2015, S. 317), überschritten. Es kommt zu einer Abtrennung des rationalen Diskurses als Form der Interaktion. Im zweiten Schritt durchdringt der rationale Diskurs auch »Sphären des Handelns außerhalb des rationalen Diskurses durch das rationale Nachdenken über die Welt« (Münch, 2015, S. 318) und bringt das ökonomische und politische Handeln sowie das Gemeinschaftsleben unter Rationalisierungsdruck. In diesem Prozess differenzieren sich jenseits der Grenzen des Gemeinschaftssystems neue Systeme der Interaktion aus. Im Anschluss an das AGIL-Schema von Parsons entwirft Münch eine Struktur der Gesellschaft als Komplex von vier interdependenten Handlungssphären (vgl. Abbildung 2.3).

Abbildung 2.3
figure 3

(Eigene Darstellung nach Münch, 2015, S. 317–318)

Differenzierung durch Rationalisierung und Interpenetration.

Neben dem Gemeinschaftshandeln mit der Funktion der Integration (I für Integration) entsteht der rationale Diskurs (L für Latent Pattern Maintenance), der den Spielraum des Handelns »durch dessen Subsumption unter allgemeine Ideen generalisiert« (Münch, 2015, S. 318). Der ökonomische Tausch (A für Adaption) öffnet den Spielraum des Handelns nach Maßgabe der rationalen Nutzenerwägungen für Chancen der Bedürfnisbefriedigung. Das politische Machthandeln (G für Goal-Attainment) spezifiziert den Spielraum des Handelns nach Maßgabe rationaler Rechtfertigung von Entscheidungen.

Differenzierung erklärt die Handlungstheorie mit Interaktionen über die Grenzen des Gemeinschaftshandelns hinaus. Diese Interaktionen führen zu neuen Formen der Interaktion, die sich nicht durch Gemeinschaftsnormen wie »Solidarität zwischen Gleichen« und »Pietät zwischen Ungleichen« (Münch, 2015, S. 318) auszeichnen. Durch das Hinausschreiten aus dem Gemeinschaftssystems trifft die Binnenmoral auf Prinzipien der Außenmoral (Münch, 2015, S. 321): auf den rationalen Diskurs, auf ökonomischen Tausch und auf politisches Machthandeln. Münch bezeichnet diese Prinzipien als »nicht-intendierte Effekte der sozialen Interaktion mit Fremden« (2015, S. 321). Die »Überwindung der Trennung von Binnen- und Außenmoral« (Münch, 2015, S. 322) begründet die Struktur der modernen Gesellschaft. Die wechselseitige Durchdringung des Gemeinschaftshandelns und ökonomischen Tauschs führt zur normativen Regulierung des ökonomischen Handelns und zu einer Pluralität freiwillig eingegangener Vergemeinschaftungen (Münch, 2015, S. 323). Mit der wechselseitigen Durchdringung des Gemeinschaftshandelns und des politischen Machthandelns etabliert sich der Verfassungsstaat als normativ regulierter Herrschaftstypus (Münch, 2015, S. 324–325). Zugleich dringen formale Rechte in naturwüchsige Solidaritätsbeziehungen ein (Münch, 2015, S. 325). Die wechselseitige Durchdringung des Gemeinschaftshandelns und des rationalen Diskurses bringt zum einen universelle Normen hervor, die den gemeinschaftlichen Partikularismus durchbrechen (Münch, 2015, S. 327). Zum andern richtet sich der rationale Diskurs »auf die Formulierung grundlegender Moralprinzipien für die Gesellschaft« aus und bewahrt dadurch »vor der Abirrung in die reine Sinnsuche« (Münch, 2015, S. 327).

2.1.2 Die moderne gesellschaftliche Gemeinschaft

Der Prozess der Interpenetration verknüpft die normative Regulierung des Gemeinschaftshandelns mit allen Interaktions-Systemen und verändert deren Charakter (Münch, 2015, S. 328). Umgekehrt speisen der ökonomische Tausch, das politische Machthandeln und der rationale Diskurs ihre Prinzipien in das Gemeinschaftshandeln ein und schaffen so die moderne gesellschaftliche Gemeinschaft. Diese hat »die Normen der Brüderlichkeit und Pietät« (Münch, 2015, S. 328) abgelegt und die Herrschaft über die Individuen mittels repressiver Sanktionen verloren. Anstelle des »naturwüchsigen Partikularismus« (Münch, 2015, S. 328) tritt die Bürgerschaft. Die moderne Solidarität mit universalistischem Charakter beruht auf sozialen Rechten (I) und steht in Verbindung mit Freiheitsrechten (A), mit politischen (G) sowie kulturellen Rechten (L) (Münch, 2015, S. 328). Die Interpenetration bereits differenzierter Sphären begründet nach Münch nicht nur die Ausweitung der normativen Regulierung der Interaktions-Systeme, sondern stellt auch die Lösung des Problems dar, dass normativ unregulierte Handlungssphären »zu einem Zusammenbruch der Ordnung in der differenzierten Gesellschaft« (2015, S. 329) führen könnten. Nicht »die Rückkehr zum Gemeinschaftshandeln«, sondern die Durchdringung der differenzierten Sphären löst das Ordnungsproblem, indem sie »eine differenzierte, aber dennoch integrierte, komplexe und kontingente Ordnung« (Münch, 2015, S. 329) hervorbringt.

Den Prozess der Rationalisierung versteht Münch als religiös-kulturelle »Durchdringung der Welt«, bei dem »das Gemeinschaftshandeln […] dem Druck der Universalisierung […], das ökonomische Handeln dem Druck der ethischen Kontrolle [und] das politische Handeln dem Druck der Verwirklichung universeller Werte« (2015, S. 330) ausgesetzt worden ist. Mit der Annäherung der religiösen Kultur an die Welt hat aber auch »eine gegenläufige Durchdringung der Kultur durch die Sphären der Welt« (Münch, 2015, S. 330) stattgefunden. Aus der wechselseitigen Durchdringung von Diskurs und Politik geht die »kollektive Zweckverfolgung als Wertverwirklichung« sowie die »Selektion von Ideen und Ideeninterpretationen aufgrund gesetzter Zwecke« (Münch, 2015, S. 330) hervor. Die Interpenetration von Diskurs und Ökonomie unterwirft »ökonomische Motive einer rational kalkulierenden Kontrolle« und Ideen »ökonomischen Motiven« (Münch, 2015, S. 331). Die wechselseitige Durchdringung von Diskurs und Solidarität führt zu einer Universalisierung der moralischen Normen der Gemeinschaft und zur moralischen Verbindlichkeit der kulturellen Ideen der Menschen- und Bürgerrechte (Münch, 2015, S. 331). Die gegenseitige Durchdringung von Ökonomie und Politik liegt nach Münch im rationalen Kapitalismus begründet, der auf »Berechenbarkeit des Handelns der Individuen und des Staates angewiesen« (2015, S. 332) ist sowie in einer rational-legalen Herrschaft, die auf der Grundlage von Steueraufkommen in Geld eine berechenbare Ordnung durch Gesetzgebung und Verwaltung sichert (Münch, 2015, S. 332).

2.1.3 Integration von Sphären der Welt durch Interpenetration

Den Ursprung der Rationalisierung des modernen Okzidents sieht Münch weniger in der Intellektualisierung der Religion als vielmehr im »jüdisch-christliche[n] Hinausschreiten über die Kultur in die Welt hinein« (2015, S. 332). Interpenetration ist sowohl ursächlich für die Differenzierung von Interaktions-Systemen jenseits des Gemeinschaftshandelns als auch »Mittel der Integration von Sphären der Welt, die so weit voneinander entfernt sind wie der intellektuelle Diskurs, die gemeinschaftliche Solidarität, das politische Entscheiden und die ökonomische Kalkulation« (Münch, 2015, S. 333). Die Frage, wie soziale Ordnung unter modernen Bedingungen möglich ist, beantwortet Münch, indem er das Konzept der Interpenetration mit den theoretischen Positionen von Luhmann, Schluchter und Habermas abwägt (2015, S. 316). Mit Habermas geht er einig, dass für politisches Handeln auch gelten müsse, was kulturell gültig sei (Münch, 2015, S. 316). Allerdings gründe Konsens nicht in rationaler Diskussion, sondern in Solidarität (Münch, 2015, S. 333). Schluchters Weber-Interpretation stimmt er zu, insofern die Diskussion um Normen von permanentem Dissens begleitet sei (Münch, 2015, S. 333). Luhmanns systemtheoretische Perspektive teilt er dahingehend, dass gültige kulturelle Ideen »verschiedene Wege der Konkretisierung« (Münch, 2015, S. 333) eröffnen würden, die nur politisch entschieden und bearbeitet werden könnten.

Soziale Ordnung sei nur über »zunehmend komplexere« Lösungen herzustellen und beruhe »auf der Kombination faktischer, normativer und voluntaristischer Merkmale« (Münch, 2015, S. 333). Den drei theoretischen Positionen attestiert Münch »reine Entwicklungslogiken« ohne »Zugang zum Prozess der Interpenetration« (2015, S. 334). Die »Logik der wachsenden Komplexität der Welt und ihrer Reduktion durch Systembildung und -differenzierung« (Münch, 2015, S. 334) von Luhmann habe keine Erklärung für Integration. Der »Logik der intellektuellen Rationalisierung« (Münch, 2015, S. 334) von Schluchter bescheinigt er eine einseitige Sicht auf Rationalität ohne konsensuelle Basis. Die Habermassche »Logik der Rationalisierung gesellschaftlicher Subsysteme« (Münch, 2015, S. 334) stelle eine Reduktion auf eine konsensuelle und moralische Ordnung dar. Das Konzept der Interpenetration ist für Münch »die einzig mögliche Lösung des Problems der Ordnung des Handelns unter modernen Bedingungen«, wenngleich diese Lösung »sehr voraussetzungsreich« sei und »viel Konflikt« (2015, S. 335) in sich berge.

2.2 Dynamik durch Interpenetration der Subsysteme des Handelns

Soziale Ordnung unter modernen Bedingungen erklärt Münch auf der Ebene des sozialen Systems. Es besteht aus vier Subsystemen mit spezifischen Systemlogiken, die sich durch Ausdehnung wechselseitig durchdringen. Generalisierte Kommunikationsmedien regeln die Handlungskoordination und tragen zur Leistungssteigerung der Subsysteme bei.

2.2.1 Handeln als ein Komplex interdependenter Subsysteme

Das AGIL-Schema von Parsons aufgreifend, entwirft Münch ein eigenes Ordnungsschema, das menschliches Handeln als »Komplex interdependenter Subsysteme« (2015, S. 337) begreift. Die Conditio Humana bildet die erste, das allgemeine Handlungssystem die zweite und das soziale System die dritte Systemebene (Münch, 2015, S. 338–341). Wie soziale Ordnung unter modernen Bedingungen möglich ist, erklärt die Handlungstheorie auf der dritten Systemebene, deren Subsysteme einerseits je eigenen Prinzipien folgen und andererseits mittels spezifischer Interpenetrationszonen eine Verbindung mit anderen Subsystemen eingehen (vgl. Abbildung 2.4).

Abbildung 2.4
figure 4

(Eigene Darstellung nach Münch, 2015, S. 341–342)

Die Interpenetrationszonen des sozialen Systems.

Die Systemlogiken der vier Subsysteme des sozialen Systems charakterisiert Münch mit einer Reihe von Eigenschaften (2015, S. 340–341):

  • Funktionen: Das ökonomische System erfüllt die Funktion der Anpassung und der Öffnung (A: Adaption), das politische System jene der Zielverwirklichung und der Spezifikation (G: Goal Attainment), das Gemeinschaftssystem jene der Integration und Schließung (I: Integration) und das sozial-kulturelle System jene der Generalisierung (L: Latent Pattern Maintenance) des Handlungsspielraums.

  • Merkmale: Märkte und Tauschhandel und die Kalkulation von Nutzen oder Gewinnen bestimmen das ökonomische System, Herrschaft und Konflikthandeln das politische System, Vereinigung und Vereinigungshandeln das Gemeinschaftssystem sowie Diskurs und Kommunikation das sozial-kulturelle System.

  • Orientierungsprinzip: Ökonomisches Handeln orientiert sich an der Optimierung verschiedener Ziele, das politische Handeln an der Realisierung eines Ziels, das Vereinigungshandeln an der Konformität zu gemeinsamen Normen und das kommunikative Handeln an der Konsistenz zu einer Idee.

  • Modus der Akkumulation systemspezifischer Ressourcen: Das ökonomische System operiert im Modus des größtmöglichen Gesamtnutzens, das politische System im Modus der Selektion und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, das Gemeinschaftssystem im Modus der Sicherung von Solidarität, Zusammenhalt, Kooperation und gegenseitiger Unterstützung und das sozial-kulturelle System im Modus der sozialen Konstruktion von Sinnmustern.

  • Wertprinzip: Das ökonomische System orientiert sich an Nützlichkeit, das politische System an Effektivität im Sinn von Entscheidungsfähigkeit, das Gemeinschaftssystem an Solidarität der Gemeinschaftsmitglieder und das sozial-kulturelle System an der Integrität von Sinnmustern.

  • Koordinationsstandards: Koordinationsstandard ist im ökonomischen System die Solvenz von Wirtschaftsunternehmen, im politischen System die Akzeptanz und Befolgung von Entscheidungen, im Gemeinschaftssystem der soziale Konsens und im sozial-kulturellen System die Konsistenz von Symbolsystemen.

  • Symbolkomplexität und Handlungskontingenz: Jedes Subsystem zeichnet sich durch eine hohe beziehungsweise niedrige Symbolkomplexität und Handlungskontingenz aus. Im ökonomischen System stellen viele Quellen eine Ressource bereit, wobei eine Ressource für viele Zwecke verwendet werden kann; im politischen System kann eine Vielzahl von Alternativen gedacht, jedoch nur eine Entscheidung verbindlich durchgesetzt werden; im Gemeinschaftssystem definiert eine gemeinsame Norm verbindliches Handeln; im sozial-kulturellen System fließt ein definiertes Sinnmuster in viele soziale Interpretationen und Handlungen ein.

Die vier Subsysteme versteht Münch als Muttersysteme (2015, S. 341), die sich wechselseitig durchringen, das heißt, jedes Subsystem dehnt seine Logik in die drei anderen Subsysteme aus und integriert deren drei Logiken in die eigene Logik. Ein Muttersystem wird durch diese Ausdehnungsprozesse der Systemlogiken mit ›fremden‹ Systemlogiken in Interpenetrationszonen ›umstellt‹. So entstehen insgesamt zwölf Interpenetrationszonen (Münch, 2015, S. 341–342.; vgl. Abbildung 2.4).

2.2.2 Generalisierte Kommunikationsmedien

Die Interpenetration der Subsysteme vollzieht sich durch generalisierte Kommunikationsmedien: Geld, geregelt in einer Eigentumsordnung, steuert die ökonomische Akkumulation von Kaufkraft; Macht, geregelt in einer Herrschaftsordnung steuert die politische Akkumulation von Durchsetzungskraft; Reputation, geregelt in einer Reputationsordnung, steuert die solidarische Akkumulation von Vereinigungskraft; Sprache, geregelt in einer grammatischen Ordnung, steuert die kulturelle Akkumulation von Verständigungskraft (Münch, 2015, S. 341–342). Generalisierte Medien der Kommunikation ermöglichen die Handlungskoordination über die Grenzen der Muttersysteme hinaus: Geld überschreitet die Grenzen des Naturaltausches, legitime politische Macht die Grenzen sich bekämpfender Gruppen mittels partikularer Macht, Reputation die Grenzen einfacher Solidarität und universelle Sprache die Grenzen der Verständigung mittels einfacherer und konkreter Zeichen (Münch, 2015, S. 342). Generalisierte Kommunikationsmedien steuern diese Austauschprozesse, indem sie Anschlussmöglichkeiten zwischen differenten Systemlogiken schaffen (Münch, 2015, S. 343–345). Die Leistungssteigerung eines gesellschaftlichen Subsystems beruht zunächst auf internen Prozessen. Das ökonomische System akkumuliert die Kaufkraft durch vermehrten Einsatz von Kapital, Arbeit, Organisation und Wissen. Das politische System steigert die Durchsetzungskraft durch vermehrten Einsatz von Macht. Das Gemeinschaftssystem akkumuliert Vereinigungskraft durch vermehrten Einsatz von Reputation und das sozial-kulturelle System steigert die Verständigungskraft durch vermehrten Einsatz von Sprache und kulturellen Diskursen (Münch, 2015, S. 345–346).

2.2.3 Interpenetration gesellschaftlicher Subsysteme

Münch versteht die Interpenetration der gesellschaftlichen Subsysteme als Austausch der Kommunikationsmedien Geld, Macht, Reputation und Sprache. Jedes Medium wird als Faktor den anderen Funktionssystemen zur Verfügung gestellt und als Produkt zur Leistungssteigerung des eigenen Systems wieder zugeführt (2015, S. 371).

Das ökonomische System transformiert wirtschafts- und technologiepolitische Entscheidungen, ökonomische Kooperation und die Legitimation des ökonomischen Handelns in wirtschaftliches Wachstum. Auf dem Feld der Wirtschafts- und Technologiepolitik verschränken sich Nützlichkeit und Macht zur Politik der Ökonomie. Wirtschafts- und technologiepolitische Entscheidungen setzen die Zielvorgabe für die wirtschaftliche und technologische Entwicklung (Münch, 2015, S. 349). Auf dem Feld der wirtschaftlichen Vereinigung verschränken sich Nützlichkeit und Solidarität zur Solidarität der Ökonomie. Wirtschaftliche Kooperation ist auf eine gute Reputation der Vertragspartner, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer angewiesen. Der Einsatz von Geld in Solidaritätsakten stellt Reputation und diese wiederum wirtschaftliche Kooperation sicher (Münch, 2015, S. 346). Auf dem Feld des wirtschaftlichen Diskurses verschränken sich Nützlichkeit und Wahrheit zum Diskurs der Ökonomie. Der kulturelle Diskurs geht über Sprache in das wirtschaftliche Handeln ein (Münch, 2015, S. 350). Wirtschaftliches Handeln legitimiert sich durch »gute Argumente im Licht der geltenden kulturellen Ideen« (Münch, 2015, S. 350). Für den Erwerb der notwendigen sprachlichen Mittel im wirtschaftlichen Legitimationsdiskurs müssen Unternehmen Geld in Öffentlichkeitsarbeit investieren (Münch, 2015, S. 351).

Das politische System transformiert politische Kooperation, die Legitimation des politischen Handelns und wirtschaftliche Dienste in politische Entscheidungen. Auf dem Feld der politischen Vereinigung verschränken sich Macht und Solidarität zur Solidarität der Politik. Politisches Handeln ist auf solidarische Kooperation als ein Faktor des Gemeinschaftshandelns angewiesen. Politische Kooperation kann durch gute Reputation, das heißt, durch solidarisches Handeln oder durch vertrauensbildenden Machteinsatz, gewonnen werden (Münch, 2015, S. 351). Auf dem Feld des politischen Diskurses verschränken sich Macht und Wahrheit zum Diskurs der Politik. Der politische Diskurs bedient sich der Sprache, um Entscheidungen zu begründen. Politik muss sich dabei legitimatorisch anstrengen und auf intellektuelle Kritik einlassen (Münch, 2015, S. 354). Auf dem Feld der Haushalts- und Finanzökonomie verschränken sich Macht und Nützlichkeit zur Ökonomie der Politik. Politische Güter und Dienstleistungen müssen bezahlbar sein. Das bedeutet, dass Regierungen mit ihrem Geld haushalten müssen, um dieses in politische Leistungen umsetzen zu können (Münch, 2015, S. 350).

Das Gemeinschaftssystem transformiert die Legitimation des Gruppenhandelns, gemeinschaftliche Güter und Dienste sowie gesellschaftspolitische Entscheidungen in solidarisches Gemeinschaftshandeln. Auf dem Feld des öffentlichen Diskurses verschränken sich Solidarität und Wahrheit zum Diskurs der Solidarität. Das Gruppenleben und -handeln bedarf der kulturellen Legitimation. Gesellschaftliche Gruppen mit guter Reputation leihen sich zur Legitimation von Solidarität die Sprache von Intellektuellen als kulturell versierte Sprecher: »Ein guter Ruf schafft auch eine gute Presse, die ihrerseits das Gruppenhandeln und die Solidaritätsansprüche bestimmter gesellschaftlicher Gruppen legitimiert – oder aber auch kritisiert« (Münch, 2015, S. 353). Auf dem Feld des Vereinigungsmarkts verschränken sich Solidarität und Nützlichkeit zur Ökonomie der Solidarität. Solidarisches Handeln ist auf Güter und Dienste angewiesen, die mit Geld bezahlt werden (Münch, 2015, S. 347–348). Wohlfahrtsorganisationen erwerben Geld, indem sie auf dem Markt agieren oder setzen ihre Reputation ein, um Wohlfahrtszahlungen von ökonomischen Aktoren zu veranlassen (Münch, 2015, S. 348). Auf dem Feld der Gesellschaftspolitik verschränken sich Solidarität und Macht zur Politik der Solidarität. Gesellschaftliche Gruppen sind auf gesellschaftspolitische Entscheidungen angewiesen (Münch, 2015, S. 355). Politische Macht kann durch gute Reputation erworben werden: »Wem vertraut wird, dem wird auch eher eine machtvolle Position übertragen« (Münch, 2015, S. 355).

Das sozial-kulturelle System transformiert kulturelle Güter und Dienste, kulturpolitische Entscheidungen sowie die Bindung an Ideen und Werte »in kulturelle Sinnstiftung, moralische Normen, ästhetische Objekte oder wissenschaftliches Wissen« (Münch, 2015, S. 351). Auf dem Feld des Kulturmarkts verschränken sich Wahrheit und Nützlichkeit zur Ökonomie des Diskurses. Kulturelle Güter und Dienstleistungen müssen mit Geld bezahlt werden. Die Ökonomie der Kultur kann aber auch ihre Sprache einsetzen, um Geldgeber zu kulturellen Zahlungen zu bewegen (Münch, 2015, S. 351). Auf dem Feld der Kulturpolitik verschränken sich Wahrheit und Macht zur Politik des Diskurses.

Kulturelle Erzeugnisse sind auf kulturpolitische Entscheidungen angewiesen. Politische Macht kann durch den Einsatz von Sprache in politischen Arenen erworben werden (Münch, 2015, S. 353–354). Auf dem Feld der kulturellen Vereinigung verschränken sich Wahrheit und Solidarität zur Solidarität des Diskurses. Die Bindung an die Kultur braucht den Vertrauensvorschuss von Zuhörenden und Zustimmenden auf der Basis einer guten Reputation. Eine gute Reputation muss »durch vertrauenswürdiges Umgehen mit Worten und durch eigenes Zuhören« (Münch, 2015, S. 352) erst verdient werden.

2.3 Konflikte durch Ausdehnung der Subsysteme des Handelns

Die Dynamik der wechselseitigen Durchdringung der Subsysteme führt nach Münch zu einer »neuen Unübersichtlichkeit« und einer »Aufhebung traditioneller Differenzen« (2015, S. 284). In einer komplexen Gemengelage unterschiedlicher Systemlogiken spielt sich das gesellschaftliche Geschehen »immer weniger nach einer eindeutig definierbaren Systemlogik« (Münch, 2015, S. 285) ab. Die Verschachtelung der gesellschaftlichen Subsysteme führt zu immer breiteren Zonen der Interpenetration zwischen Märkten, politischen Entscheidungsverfahren, Vereinigungen und Diskursen und zugleich kommt es zu einer immer engeren »Verflechtung der gesellschaftlichen Subsysteme durch Vernetzung, Kommunikation, Aushandeln und Kompromissbildung« (Münch, 2015, S. 284). Über die Systemgrenzen hinweg bestimmt ein Zuwachs an pluralistisch zusammengesetzten Ausschüssen die Abstimmung der sozialen Beziehungen mittels Diskursen. Durch die Verwischung der Systemgrenzen vermischen sich die »kommunikative Verständigung, Solidaritätsbildung, Interessenausgleich und Kompromissbildung« zu einem »Konglomerat von sich überlagernden Handlungsorientierungen« (Münch, 2015, S. 285). Akteure sind dadurch dem Anspruch unterworfen, unterschiedliche Fähigkeiten zu verbinden: »Kommunikationsfähigkeit und öffentliche Selbstdarstellung, die Fähigkeit zur Vereinigung mit anderen, Aushandlungsgeschick und Aktionsfähigkeit müssen Hand in Hand gehen« (Münch, 2015, S. 285).

In deutlicher Abgrenzung von der Systemtheorie Luhmanns geht Münchs Handlungstheorie nicht von einem System-Umwelt-Verständnis aus, wonach Beobachtungen der Umwelt in systeminterne Kommunikationsarten übersetzt werden, sondern von einer Verlagerung der Systemlogiken in die Zonen der Interpenetration (2015, S. 286). In systemübergreifenden Prozessen der Kommunikation, Vernetzung, Aushandlung und Kompromissbildung hat »kein Subsystem weiterhin die Autonomie, nach eigenen Kriterien zu bestimmen, was innerhalb seiner Grenzen« (Münch, 2015, S. 287) geschieht. Vielmehr werden die Akteure »aus den Systemen herausgelockt« und in intersystemischen Prozessen umstrukturiert, so dass deren Handeln nicht mehr den systemeigenen Logiken zugeschrieben werden kann, sondern »durch eine Vielzahl unterschiedlicher, ineinander geschobener Systemlogiken geformt« (Münch, 2015, S. 287) wird. Münch unterstellt der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie von Luhmann einen heimlichen Staatszentrismus »aus der Sicht des Verwaltungsjuristen«, der »von der Realität überholt worden« (2015, S. 288) sei. In einer »Gesellschaft ohne Zentrum« (Münch, 2015, S. 288) fielen Entscheidungen in intersystemischen Interpenetrationszonen und nicht im politisch-administrativen System.

Den Antrieb für die Interpenetration der Subsysteme erklärt Münch mit dem Versuch, den Widerspruch zwischen Ideen und der Wirklichkeit aufzulösen (2015, S. 292). Dieser Interventionismus wirkt als treibender Mechanismus für eine ungebremste Leistungssteigerung von Märkten, Entscheidungsverfahren, Vereinigungen und Diskursen und zwingt dazu, »zu expandieren und sich Elemente der anderen Systeme einzuverleiben« (Münch, 2015, S. 292). Prozesse der Expansion und Einverleibung von Systemelementen schreiten unaufhörlich voran, überschreiten die Grenzen einzelner Gesellschaften und erfassen schließlich die ganze Welt. Gesteigerte Interdependenzen vermehren paradoxale Effekte des Eingreifens in die Welt, erhöhen aber auch die Problemlösungsfähigkeiten (Münch, 2015, S. 294). Zum »Fortschritt verdammt« (Münch, 2015, S. 294), trifft ein äußerer Antrieb mit dem inneren Antrieb zur ökonomischen, politischen, gemeinschaftlichen und kulturellen Expansion zusammen (Münch, 2015, S. 295). Der wachsende »Bedarf an Geld, politischer Macht, Reputation und Sprache, um wirtschaftliche Güter und Dienstleistungen, politische Entscheidungen, Kooperation und kulturelle Symbolisierungen hervorzubringen« (Münch, 2015, S. 295) treibt auch den Einsatz von Kommunikationsmedien an. Das Eindringen in andere Systeme bewirkt eine »vielschichtige Gemengelage mit vielfältigen Konflikten. Es fördert aber auch Chancen der Stabilisierung eines komplexeren Gefüges gesellschaftlicher Subsysteme auf einem neuen Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung« (Münch, 2015, S. 297). Ein solcherart komplexes Gefüge gesellschaftlichen Handelns ist – so Münch – störungsanfällig für Krisen und Zusammenbrüche und erfordert Vermittlungsorgane, welche die Leistungen der gesellschaftlichen Subsysteme koordinieren, kontrollieren und stabilisieren (2015, S. 297–298).

2.4 Sozialer Wandel durch Mobilisierung der Gesellschaft

Da durch das Hineinverschieben, Überlagern, Durchdringen und Verschachteln von Elementen der Subsysteme »zwangsläufig Gegensätze aufeinanderprallen« (Münch, 2015, S. 298), stellt das Konzept der Interpenetration auch eine Konflikttheorie dar. Die Subsysteme des sozialen Systems überlagern sich mit unterschiedlichen Systemlogiken. Handeln in Interpenetrationszonen treibt die Mobilisierung der Gesellschaft und somit sozialen Wandel nicht reibungslos voran (Münch, 2015, S. 298). Münch spricht von einer »Entfesselung der gesellschaftlichen Subsysteme« und der Gefahr einer ungleichgewichtigen Mobilisierung, bei der es ohne »gleichzeitige und gleichgewichtige Mobilisierung aller gesellschaftlichen Subsysteme« zu einer einseitigen »Ökonomisierung, Politisierung, Moralisierung und Ästhetisierung oder Verwissenschaftlichung« (2015, S. 303) der Gesellschaft kommen könnte.

Den Modernisierungspfad Deutschlands kennzeichnet er durch die Dominanz einer »staatlich gelenkten politischen Mobilisierung« (Münch, 2015, S. 305). Nach dem zweiten Weltkrieg habe diese einer »weiterreichenden eigenständigen ökonomischen, kulturellen und solidarischen Mobilisierung« (Münch, 2015, S. 306) Platz gemacht. Mehr als bisher rückten »Konfliktaustragung, freie Vereinigung, Wettbewerb und Diskurs in den Mittelpunt der Vermittlung zwischen Subsystemen und Gruppen« (Münch, 2015, S. 306). Für die Entwicklung der modernen Weltgesellschaft unter den Bedingungen expandierender Subsysteme vermutet Münch Wege des Scheiterns durch »ausufernde Spannungen und Konflikte« oder durch eine unkontrollierte »Expansion einzelner Subsysteme ohne Gegenkontrolle durch die anderen« (2015, S. 307). Desintegratives Potenzial könne daher »nur durch den Aufbau von Institutionen bewältigt werden, die auf die Vermittlung zwischen den gegensätzlichen Systemlogiken und auf die geregelte Abarbeitung der dabei auftretenden Konflikte spezialisiert« (Münch, 2015, S. 306) seien. Wege des Gelingens stellten wie die Moderne selbst »ein äußerst riskantes Unternehmen« (Münch, 2015, S. 308) dar. Angesichts der komplexen Konstruktion der modernen Gesellschaft könne »die dialektische Natur« (Münch, 2015, S. 309) mit ihren Widersprüchen nicht aufgehoben, wohl aber stets bearbeitet werden.

3 Zwischenfazit: Gesellschaftliche Integration aus gesellschaftstheoretischer Sicht

Die gesellschaftstheoretischen Perspektiven von Schimank lenken den Blick auf gesellschaftliche Integration als mittleren Ordnungszustand zwischen Des- und Überintegration, der sich mehrheitlich transintentional einstellt. Funktionale Differenzierung, Ungleichheit sozialer Lagen und die Idee des gestalteten Fortschritts begründen Ordnungsmuster der modernen Gesellschaft, die sich durch je eigene Strukturdynamiken erhalten und aus denen Effekte auf die individuellen Lebenschancen und die gesellschaftliche Integration hervorgehen. Die differenzierungstheoretische Perspektive betont den Primat der kapitalistischen Wirtschaft, Kämpfe um teilsystemische Autonomie und Fragen der Systemintegration. Die ungleichheitstheoretische Perspektive beleuchtet den Primat marktvermittelter Einkommensungleichheiten, Kämpfe um Besserstellung und Fragen der Sozialintegration. Die kulturtheoretische Perspektive legt den Schwerpunkt auf den Primat des Wirtschaftswachstums, Kämpfe um das Welt- und Fortschrittsverständnis und Fragen der individuellen Lebensführung sowie aller Dimensionen gesellschaftlicher Integration. Dem Staat kommt in den drei Theorieperspektiven die Rolle des Vermittlers zwischen zwei Polen funktionaler Antagonismen zu: zwischen kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik, zwischen Kommodifizierung und De-Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft und zwischen einem ganzheitlichen Fortschrittsverständnis und wirtschaftlichen Wachstumszwängen.

Die gesellschaftstheoretischen Perspektiven von Münch lenken den Blick auf die Bearbeitbarkeit gesellschaftlicher Integration durch Vermittlungsorgane, die das Aufeinandertreffen von Gegensätzen in einer mobilisierten Gesellschaft mithilfe geregelter Verfahren in Schach halten. Die Struktur der modernen Gesellschaft geht aus Prozessen der Rationalisierung, Differenzierung und Durchdringung von Handlungssphären hervor. Das Hineinverschieben, Überlagern, Durchdringen und Verschachteln von Systemlogiken der Subsysteme evozieren Konfliktfelder und -fronten. Der Austausch von systemspezifischen Faktoren und Produkten begründet zwölf Interdependenzzonen. Jeweils drei Subsysteme dehnen die Logik des Muttersystems – Nutzenmaximierung, politische Zielverwirklichung, gesellschaftliche Solidarität und kulturelle Identitätsbildung – in die anderen Funktionssysteme aus, so dass Letztere von je drei systemfremden Logiken umlagert sind. Die Kommunikationsmedien Geld, Macht, Reputation und Sprache steuern die Prozesse der Durchdringung und damit die Integration differenter Systemlogiken. Integration vollzieht sich im Theoriegebäude von Münch durch konflikthafte Prozesse der Interpenetration, zugleich erfüllt das Gemeinschaftssystem die Funktion der Integration.

Ein Vergleich der gesellschaftstheoretischen Perspektiven nach Schimank und Münch drängt die Frage auf, welchen Gewinn eine Verschränkung einer akteurtheoretischen Differenzierungstheorie mit einer Handlungs- und Konflikttheorie verspricht. Das Emergenzkonzept von Luhmann, dem auch Schimank folgt, steht in Widerspruch zum Dekompositionskonzept von Parsons, dem Münch folgt. Hier soll der Versuch unternommen werden, beide Gesellschaftstheorien für eine Governance grenzüberschreitender Professionalisierung zu integrieren. Um Strategien und multiple Rationalitäten beim Aufbau eines kommunalen Bildungsmanagements analytisch in den Blick zu nehmen, erscheint eine breite Sensibilisierung mit Konzepten der Grenzziehung und Grenzüberschreitung als aussichtsreich. Die Ausbeute aus dem theoretischen Fundus von Schimank und Münch sei dazu nochmals vergleichend aufgeführt (vgl. Tabelle 2.2).

Tabelle 2.2 Konzepte gesellschaftlicher Integration bei Schimank und Münch. (Eigene Darstellung nach Schimank, 2013 und Münch, 2015)

Schimanks theoretische Konzepte sensibilisieren für den Rückzug auf teilsystemische Handlungslogiken und für Orientierungsdissens, aber auch für die Überwindung des Orientierungsdissens durch spezifischen Interessenkonsens. Der Primat der kapitalistischen Wirtschaft prägt auch die ungleichheits- und kulturtheoretische Perspektive. Münch versteht Differenzierung als Hinausschreiten über die Grenzen der Regulierung innerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft hinaus. Zwar gibt es länderspezifische Modernisierungspfade mit der Dominanz eines Funktionssystems, diese unterliegen aber dem Wandel und sind nicht ein- für allemal festgesetzt. Differenzierungs-, Ungleichheits- und Kulturdynamiken sind als Kämpfe konzeptioniert, Dynamiken im sozialen System als Austauschprozesse in Interpenetrationszonen. Dynamiken haben hinsichtlich gesellschaftlicher Integration in beiden Gesellschaftstheorien einen offenen Ausgang. Sozialintegration, Systemintegration und ökologische Integration bezeichnen einen Ordnungszustand zwischen Des- und Überintegration, wohingegen die konflikthafte Ausdehnung der Subsysteme des Handelns den Prozesscharakter betont. Zentral bei Schimank ist die Aufrechterhaltung teilsystemischer Autonomie, die graduellen Charakter hat. Der Grenzverkehr zwischen Teilsystemen ist potenziell durch ›feindliche Übernahmen‹ gefährdet. Demgegenüber stehen Konfliktfelder und Konfliktfronten bei Münch, die durch Vermittlungsinstanzen bearbeitbar sind. Gesellschaftliche Integration ist bei Schimank erst im Störungsfall sichtbar und erschwert damit eine Prozess-Analyse. Zwar geht er von absichtsvoller Gestaltbarkeit durch politische Steuerung und davon aus, dass wechselseitige Möglichkeitsbeschränkungen funktional für die Selbstreproduktion der Teilsysteme sind. Die Emergenzvorstellung und Transintentionalität blockieren aber Positivbeschreibungen, wie funktionale Reduktionen von Freiheitsgraden im Prozess rekonstruiert werden könnten. Demgegenüber gibt Münch ein elaboriertes Theoriegebäude für die Beschreibung der Austauschprozesse an die Hand. Beide Theorieansätze sehen die Gesellschaft in Spannungslagen verstrickt, Schimank beschreibt diese mit dem Konzept der funktionalen Antagonismen, Münch mit der Dialektik einer mobilisierten Gesellschaft. Die von Münch beschriebene politische Mobilisierung der Gesellschaft zwischen einer programmatischen Umgestaltung der Gesellschaft und den Grenzen der Gestaltbarkeit weist Parallelen auf zu Schimanks kulturtheoretischer Perspektive, die den Fortschrittsglauben als zentrale kulturelle Leitidee bestimmt.