7.1 Ergebnisse der Arbeit

Das erste Ziel dieser Arbeit war die Durchführung einer didaktisch orientierten Sachanalyse zum Sinus in Hinblick auf die historische, logische und individuelle Genese der Trigonometrie. Dazu wurde zunächst auf die frühere und heutige Rolle der Trigonometrie im mathematischen Schulunterricht eingegangen, die einen Einblick in die intendierte individuelle Genese von Lernenden erlaubt. Anschließend wurde die geschichtliche Entwicklung der Trigonometrie nachgezeichnet und didaktisch reflektiert. Dabei wurde deutlich, dass in den ausgewählten historischen Zusammenhängen bereits Grundprinzipien der Trigonometrie erkennbar sind, die noch heute in Schulbüchern thematisiert werden und damit einen direkten didaktischen Nutzen aufweisen. Dazu gehören die Messmethoden des Thales (vgl. Abschnitt 4.2.3) und die Berechnung spezieller Sinuswerte \(\mathrm{sin}(30^\circ )\), \(\mathrm{sin}(60^\circ )\), \(\mathrm{sin}\left(45^\circ \right)\) mithilfe elementargeometrischer Überlegungen (vgl. Abschnitt 4.2.7). Es wurden darüber hinaus weitere historische Beispiele diskutiert, deren didaktischer Nutzen in der höheren Mathematik zu verorten ist. So konnten die Additionstheoreme in Zusammenhang mit rechnerischen Verfahren zur Bestimmung der halben Sehne am Einheitskreis gebracht werden (vgl. Abschnitt 4.2.8). Weiter wurden rekursive Additionsverfahren aus dem 16. Jahrhundert untersucht, in denen Gedanken der frühen Differentialrechnung erkennbar sind (vgl. Abschnitt 4.2.10). Danach wurde die innere logische Struktur der Trigonometrie analysiert und auf unterschiedliche Definitionen der Sinusfunktion und deren Zusammenhänge eingegangen (vgl. Abschnitt 4.3). Dieses Vorgehen diente vor allem dazu, die impliziten und expliziten mathematischen Konzepte herauszuarbeiten, die notwendig sind, um verständig mit den jeweiligen Darstellungen zu arbeiten und zwischen ihnen zu wechseln. Aus didaktischer Sicht wurde damit das Begriffsnetz zum Sinus präzisiert. Insgesamt wurden neun Definitionen diskutiert, die unter geometrischen, algebraischen, analytischen und funktionalen Gesichtspunkten untersucht wurden. Zuletzt erfolgte eine Zusammenschau von inner- und außermathematischen Anwendungskontexten (vgl. Abschnitt 4.4). Von besonderem Interesse sind in diesem Abschnitt die Anwendungen aus der Physik, durch die neue Aspekte der Sinusfunktion erfahrbar werden. Dabei handelt es sich um den Aspekt der Sinusfunktion als Modellfunktion periodischer Prozesse und als Werkzeug bei der Ermittlung der Größe von projizierten Kräften.

Das zweite Ziel der Arbeit bestand darin, auf Grundlage der didaktisch orientierten Sachanalyse normative Grundvorstellungen herzuleiten. Dazu wurden Klassen ähnlicher Phänomene bzw. Sachzusammenhänge gebildet, durch die Aspekte der Sinusfunktion didaktisch umgesetzt werden können (vgl. Abschnitt 4.6). Diese Klassen bilden das Fundament, von dem ausgehend Grundvorstellungen formuliert wurden. Insgesamt konnten sechs Grundvorstellungen identifiziert werden:

  1. 1.

    Die Seitenverhältnisvorstellung

  2. 2.

    Die Projektionsvorstellung

  3. 3.

    Die Referenzdreiecksvorstellung

  4. 4.

    Die Koordinatenvorstellung

  5. 5.

    Die Oszillationsvorstellung

  6. 6.

    Die Funktionsvorstellung

Diese Grundvorstellungen stellen in ihrer Unterscheidung und in der Formulierung eine Erweiterung der von Salle und Frohn (2017) formulierten Grundvorstellungen dar. Weiterhin bildet die stringente Herleitung ein solides fachdidaktisches Fundament.

Schließlich bestand das dritte Ziel dieser Arbeit darin, Denkprozesse von Studierenden im Umgang mit dem Sinusbegriff zu rekonstruieren und mithilfe des Grundvorstellungskonzepts zu analysieren. Dazu wurde eine Videostudie durchgeführt, in der Studierende in Partnerarbeit Probleme der Trigonometrie lösen. In diesen Problemen tauchten unterschiedliche Darstellungen der Sinusfunktion auf, die als Träger von Grundvorstellungen dienen, das heißt, dass sie spezifische Grundvorstellungen bei den Lernenden aktivieren können. Die Bearbeitungsprozesse der Studierenden wurden transkribiert, in Szenen aufgeteilt und schließlich mithilfe qualitativer Methoden analysiert. In den Analysen konnten, mit Hilfe allgemeiner funktionaler Grundvorstellungen und funktionsklassenspezifischer Grundvorstellungen zum Sinus, mögliche Deutungs- und Erklärungsmodelle der Studierenden rekonstruiert werden. Mit den allgemeinen funktionalen Grundvorstellungen war es unter anderem möglich, unterschiedliche Zuordnungsvorstellungen am Einheitskreis zu identifizieren: Der Sinus als gerichtete Seitenlänge im Referenzdreieck und der Sinus als \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis. Mit der Kovariationsvorstellung konnte die Argumentationen der Studierenden zum Änderungsverhalten zwischen Argument und Funktionswert der Sinusfunktion erklärt werden. Darüber hinaus wurde die Kovariation auf höherer Ebene – zwischen den Parametern einer Funktion und dem Funktionsgraphen – untersucht. Die funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinus erwiesen sich in der Analyse als besonders nützlich, da sie es erlaubten, die Denkprozesse der Studierenden detaillierter und differenzierter zu erfassen. Dadurch konnten explizit vier Schwierigkeiten im Umgang mit dem Sinus festgestellt werden:

  • Schwache bis fehlende Vernetzung der Seitenverhältnisvorstellung und der Funktionsvorstellung des Sinus,

  • unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses in der Seitenverhältnisvorstellung,

  • Verständnisschwierigkeiten bei Grenzprozessen am rechtwinkligen Dreieck,

  • Schwierigkeiten im Umgang mit dem Referenzdreieck und

  • eine schwach ausgebildete Oszillationsvorstellung.

An diesen Ergebnissen wird besonders deutlich, wie die Weiterentwicklung des Grundvorstellungskonzepts auf funktionsklassenspezifische Grundvorstellungen zum Sinus und die Einbindung in mathematikdidaktische Analyseverfahren zur Rekonstruktion von Denkprozessen dabei helfen kann, potentielle Fehlerquellen zu identifizieren, um schließlich daraus Konsequenzen für die Lehrpraxis zu ziehen.

7.2 Perspektiven

In diesem Abschnitt werden Perspektiven für die Forschung sowie für die Unterrichtspraxis entwickelt.

7.2.1 Forschungsperspektiven

Sowohl der theoretische als auch der empirische Teil dieser Arbeit fördern neue didaktische Erkenntnisse im Bereich der Trigonometrie zu Tage. Mit jedem Ergebnis stellen sich dem Forschenden neue Fragen und eröffnen sich neue Anwendungsbereiche. Diese Fragen und Anwendungen werden in den folgenden Abschnitten thematisiert.

Anwendung der didaktisch orientierten Sachanalyse auf weitere Funktionsklassen: In der vorliegenden Arbeit wurde ein vierschrittiges methodisches Vorgehen vorgestellt, mit dem eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchgeführt werden kann, die zu der Formulierung normativer Grundvorstellungen führt. Dieses Vorgehen wurde auf den Bereich der Trigonometrie angewendet, um damit Grundvorstellungen zur Sinusfunktion zu identifizieren. Diese Grundvorstellungen können zum einen dazu genutzt werden, in der empirischen Forschung Denkprozesse von Lernenden zu rekonstruieren und Lernschwierigkeiten zu identifizieren, zum anderen liefern sie eine Orientierung für Lehrende und können dabei helfen, den Unterricht zu strukturieren. Diese Methode lässt sich auch auf andere Bereiche anwenden, so kann eine ausführliche didaktisch orientierte Sachanalyse zu weiteren Funktionsklassen wie z. B. zu linearen Funktionen, quadratischen Funktionen, Exponentialfunktionen oder Logarithmusfunktionen sinnvoll sein und gegebenenfalls zu neuen Grundvorstellungen führen. Diese Grundvorstellungen können wiederum zielführend in der didaktischen Forschung und in der Unterrichtspraxis eingesetzt werden.

Vertiefende Analyse der fachlichen Definitionen der Sinusfunktion: Die logische Genese der Trigonometrie offenbart eine Vielzahl von möglichen Definitionen der Sinusfunktion. Zu vielen dieser Definitionen wurde kein direkter Schulbezug hergestellt, weswegen in dieser Arbeit nur am Rande darauf eingegangen wurde. Diese Definitionen können Ausgangspunkt weiterer Grundvorstellungen sein, die in den Teilbereichen der Mathematik, in denen sie formuliert wurden, von Relevanz sind. Eine vertiefende Analyse dieser Definitionen ist aus fachmathematischer Sicht bedeutend und kann das Begriffsnetz von Studierenden zu trigonometrischen Funktionen erweitern.

Quantitative Untersuchungen: Bei den durchgeführten Videostudien handelt es sich um ein qualitatives Forschungsunterfangen mit einem explorativen Charakter. Aufgrund der kleinen Stichprobe von insgesamt 16 Mathematik Lehramtsstudierenden wurden bisher nur erste qualitative Einblicke in die Denk- und Handlungsweisen von Lernenden im Bereich der Trigonometrie gegeben. Auf der Basis der dadurch gewonnenen Erkenntnisse wäre die Entwicklung eines Testinstrumentes sinnvoll, das quantitative Ergebnisse über inhaltliche und prozessbezogene Kompetenzen zur Trigonometrie von Lehramtsstudierenden liefert. Mit diesem Testinstrument können mögliche Divergenzen zwischen den Anforderungen des Lehramtsstudiums und der Qualifikation der Studierenden ermittelt werden. Denkbar wäre weiterhin ein Testinstrument, welches das Professionswissen von Lehrenden im Bereich der Trigonometrie überprüft und didaktische sowie fachdidaktische Kompetenzen untersucht.

7.2.2 Perspektiven für die Unterrichtspraxis

Der Wert einer didaktischen Studie bemisst sich unter anderem an der Relevanz für die Unterrichtspraxis. In diesem Abschnitt werden Perspektiven vorgestellt, wie die Ergebnisse dieser Arbeit in der Lehrer- und Schülerbildung genutzt werden können.

Entwicklung diagnostischer Kompetenzen bei Lehrenden: In den untersuchten Fallstudien wurden Schwierigkeiten im Umgang mit unterschiedlichen Darstellungen der Sinusfunktion aufgezeigt, die typische Fehler nach sich ziehen. Dazu gehören beispielsweise ein problematischer Umgang mit dem Referenzdreieck im Einheitskreis oder Schwierigkeiten bei der Interpretation dynamischer Prozesse am rechtwinkligen Dreieck. Diese Fehler sollten von Lehrenden erkannt und in Zusammenhang mit den entsprechenden Grundvorstellungen bzw. Erklärungsmodellen gebracht werden, um geeignet darauf zu reagieren. Im Lehramtsstudium sollten die Studierenden dementsprechend mit den benötigten diagnostischen Kompetenzen ausgebildet werden, um die Möglichkeit zu haben, solchen Problemen entgegenzuwirken.

Stärkere Berücksichtigung der Trigonometrie und ihrer Anwendung in der Schule: Die trigonometrischen Funktionen sind das prototypische Werkzeug zur Modellierung periodischer Prozesse und damit unerlässlich für Anwendungen in der Physik, Biologie, Ökonomie und vielen weiteren Bereichen. Wie die didaktisch orientierte Sachanalyse in Kapitel 4 zeigte, haben sich die Anwendungsbereiche des Sinusbegriffs in den letzten Jahrhunderten stark verlagert: weg von der Astronomie und der Navigation auf hoher See, hin zu Anwendungen in der Elektrotechnik und der Informationstechnologie. Dieser grundlegende Bedeutungswechsel, der bezeichnend für die heutige Zeit ist, sollte auch im Schulkurrikulum berücksichtigt werden, um den Schülerinnen und Schülern ein aktuelles Bild der Mathematik und ihren Einsatzbereichen zu vermitteln.

Entwicklung von grundvorstellungsgestützten Unterrichtskonzepten: Um Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, Grundvorstellungen zum Sinus aufzubauen, sind geeignete Unterrichtskonzepte notwendig, in denen die sinngebenden Sachzusammenhänge entsprechend eingebunden werden. Dabei bildet die aktive Auseinandersetzung mit diesen inner- und außermathematischen Sachzusammenhängen und deren Integration in die individuellen Erklärungsmodelle der Lernenden den ersten Schritt zur individuellen Begriffsbildung. Konkret bedeutet das beispielsweise für die Seitenverhältnisvorstellung am rechtwinkligen Dreieck, dass Messverfahren im Unterricht thematisiert oder Vermessungen im Gelände durchgeführt werden sollten. Um die Oszillationsvorstellung auszubilden, bietet es sich an, eine Reihe von periodischen Prozessen zu modellieren, wie beispielsweise die Schwingung eines Federpendels oder eines Metronoms. Wichtig ist dabei, dass die zu den Grundvorstellungen passenden Grundkenntnisse thematisiert werden und in den Arbeitsaufträgen wiederzufinden sind.