Die Studienteilnehmenden wurden über die Studie aufgeklärt und aufgefordert, alles was sie denken möglichst ausführlich zu beschreiben und viel miteinander zu kommunizieren. Anschließend wurden sie mit drei Aufgabenblättern, einem Stapel Papier, einem Federpendel und einigen Stiften im Raum allein gelassen und von hinten über die Schulter dabei gefilmt, wie sie die Aufgaben bearbeiten. Insgesamt nahmen acht zufällig zusammengestellte Paare nacheinander an den Fallstudien teil. Dabei handelte es sich stets um Masterstudierende der Mathematik für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität Bielefeld.

6.1 Aufgabe 1: Dynamische Argumentation am rechtwinkligen Dreieck

Aufgabe 1 bezieht die Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck ein:

Aufgabe 1

Das Dreieck \(ABC\) verändert sich, wie im Bild unten angedeutet. Dabei sei der Winkel \(\alpha\) stets am Punkt \(A\) eingezeichnet.

Gib an, ob sich das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse vergrößert, verkleinert oder gleich bleibt.

Begründe deine Antwort. Nutze dazu die Darstellung am rechtwinkligen Dreieck.

Als visuelle Orientierungshilfe war eine Zeichnung eingefügt, in der ein rechtwinkliges Dreieck zu sehen ist, bei dem sich der Winkel \(\alpha\) ändert und die Ankathete dieselbe Größe behält (vgl. Abbildung 6.1).

Abbildung 6.1
figure 1

dynamische Prozesse am rechtwinkligen Dreieck

Die Teilnehmenden sollen mithilfe der Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck begründen, ob das Verhältnis von Gegenkathete zu Ankathete im Intervall \((0^\circ ,90^\circ )\) zunimmt, abnimmt oder gleich bleibt, wenn der entsprechende Winkel größer wird. Die Aufgabe bezieht sich also auf das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion im Intervall \(\left(0^\circ ,90^\circ \right),\) das auf unterschiedliche Weise begründet werden kann. Die Darstellung in Abbildung 6.1 steht im Kontrast zum sich verändernden Referenzdreieck im Einheitskreis, bei dem sich der Winkel verändert und die Länge der Hypotenuse denselben Wert behält. Im Einheitskreis ist es leicht einzusehen, dass der Sinus größer wird, da sich nur die Gegenkathete vergrößert und diese im Zähler der Verhältnisgleichung steht. Die Schwierigkeit in der vorliegenden Aufgabe liegt darin, dass sich beide Größen im gesuchten Verhältnis verändern: Sowohl Gegenkathete als auch Hypotenuse werden größer. Es ist zu erwarten, dass eine derartige dynamische Sichtweise für manche der Studierenden ungewohnt ist, da sie so in der Schule üblicherweise nicht behandelt wird. Erst durch eine genaue Betrachtung kann geschlussfolgert werden, dass diese Größen sich nicht im selben Maß verändern, sondern dass die Gegenkathete schneller wächst als die Hypotenuse.

Eine anschauliche qualitative Argumentation, die das Seitenverhältnis am rechtwinkligen Dreieck nutzt, könnte wie folgt aussehen: Für sehr kleine Winkel entspricht die Länge der Hypotenuse in etwa der Länge der Ankathete. Die Gegenkathete ist im Verhältnis zur Hypotenuse verschwindend klein. Das Verhältnis „Gegenkathete zu Hypotenuse“ ist damit annähernd 0. Für Winkel in der Nähe von 90° werden sowohl Gegenkathete als auch Hypotenuse beliebig groß. Es ist allerdings an geeigneten Beispielen zu erkennen, dass sich die Länge der Ankathete der Länge der Hypotenuse angleicht und sich das Verhältnis von Gegenkathete zur Hypotenuse dem Wert 1 annähert. Diese Feststellung lässt darauf schließen, dass sich das gesuchte Verhältnis bei wachsendem Winkel vergrößert.

Alternativ können die Studierenden den Sachverhalt auf den Einheitskreis oder den Funktionsgraphen der Sinusfunktion übertragen. Im Falle des Einheitskreises spielt die Ähnlichkeit von Dreiecken eine wichtige Rolle: Jedem Dreieck in der Zeichnung kann ein ähnliches Dreieck zugeordnet werden, dessen Hypotenuse \(AC\) die Länge \(1\) besitzt. Der Eckpunkt \(C\) dieser Dreiecke liegt auf dem Einheitskreis. Bei größer werdendem Winkel \(\alpha\) wächst die Gegenkathete \(BC\). Daher wird das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse \(BC:AC\) bei wachsendem \(\alpha\) größer.

Sollten die Studierenden den Graphen der Sinusfunktion nutzen, um den Sachverhalt zu klären, ist zu erwarten, dass in den Argumentationsprozessen funktionale Grundvorstellungen zum Tragen kommen, die sich auf das das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion beziehen. Die Sinusfunktion gibt im Intervall \([0^\circ ,90^\circ ]\) den funktionalen Zusammenhang zwischen dem Winkel \(\alpha\) und dem Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse an. Die Sinusfunktion ist in diesem Intervall streng monoton wachsend, was auch am Graphen der Sinusfunktion erkennbar ist. Das gesuchte Verhältnis wird daher größer.

6.1.1 Janine und Tim – Rechtwinklige Dreiecke und Sinusfunktionen

Tim und Janine sind Studierende im 1. bzw. 2. Mastersemester. Beide studieren Mathematik auf Lehramt für die gymnasiale Oberstufe. Sie wurden aus einem Seminar zu Grundbegriffen der Mathematikdidaktik für diese Studie rekrutiert, kannten sich aber bereits aus anderen Veranstaltungen. Das vorliegende Transkript ist 72 Zeilen lang, wurde in zwei Szenen unterteilt und dauert 3:50 Minuten. Untersuchen wir nun, wie Tim und Janine die Aufgabe bearbeiten.

Tim und Janine – Szene 1 – Aufgabe 1

figure a

Tim beginnt damit, sich die Definition des Sinus ins Gedächtnis zu rufen „Das ist Gegenkathete durch Hypotenuse“ (2–3). Janine stimmt ihm zu, schaut sich das Bild an und stellt die Frage, ob „die Hypotenuse gleich lang“ (4–5) bleibt oder ob „die größer“ (5) wird, denn „das Ding bewegt sich ja nicht im Kreis“ (6–7). Janine und Tim stellen beide fest, dass die Hypotenuse größer wird. Kurz darauf bemerkt Janine, dass die Gegenkathete auch größer wird und Tim erkennt, dass der Winkel sich vergrößert. Diese Feststellung lässt Janine aufhorchen: Sie ruft „Ah, ich weiß was du meinst, okay“ (17). Tim fragt „Weißt du was ich meine?“ (18) und Janine bejaht. Ohne weiter darauf einzugehen was Tim meint, folgert er, dass mit einem wachsenden Winkel \(\alpha\)„das Verhältnis Gegenkathete durch Hypotenuse auch größer wird“ (22–23), „weil Sinus Alpha gleich Gegenkathete durch Hypotenuse definiert ist“ (35–36). Janine greift Tims Überlegung auf und sagt „Achso, weil du über den Sinus argumentierst und sagst, weil du irgendwie bei einem Winkel zwischen 0 und 90 Grad bist“ (27–29). Später ergänzt sie „Also Sinus wächst monoton“ (34). Tim antwortet darauf „Ja, monoton im Verhältnis zu Alpha. Daraus folgt Verhältnis Gegenkathete Hypotenuse muss größer werden“ (35–37). Direkt im Anschluss relativiert er seine Aussage „Oder erstmal ändert sich“ (37) und etwas später „Okay wir wissen schon mal, dass es sich ändert“ (42–43).

Fangen wir nun mit einer Interpretation dieser Szene an. In der Aufgabenstellung kommt das Wort Sinus nicht vor. Stattdessen wird explizit vom Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse gesprochen. Tim stellt zu Anfang einen Zusammenhang zum Sinusbegriff her und definiert diesen über das gesuchte Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck. Es lässt sich vermuten, dass die Nennung des Begriffs Sinus für Tim möglicherweise deswegen relevant ist, da er dadurch an ein ihm bekanntes Konzept anknüpfen kann. Dieses Konzept beinhaltet nicht nur die geometrische Definition, die er nennt, sondern stellt auch Bezüge zu funktionalen Vorstellungen her. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die Kovariationsvorstellung, die sich bei der Sinusfunktion in der folgenden Eigenschaft wiederfindet: Für größer werdende \(\alpha\) im Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) wächst auch \(sin\left( \alpha \right)\).

Dieser funktionale Zusammenhang zeigt sich bei Tim in der Aussage „Ja, monoton im Verhältnis zu \(\alpha\). Daher folgt, das Verhältnis Gegenkathete zu Hypotenuse muss größer werden“ (35–36). Die Monotonie der Sinusfunktion auf dem Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) fasst das oben genannte Kovariationsverhalten in einem Begriff zusammen und scheint in Tims Begründungsprozess die tragende Vorstellung und das entscheidende Argument zu sein.

Janine versucht zu Beginn das rechtwinklige Dreieck in ihre Argumentation miteinzubeziehen. Dazu vergleicht sie die Skizze mit der ihr vertrauten Situation am Einheitskreis. Sie erinnert sich möglicherweise daran, dass die Länge der Hypotenuse des rechtwinkligen Dreiecks am Einheitskreis konstant 1 bleibt. Darum stellt sie die Frage, ob die Hypotenuse sich in dem vorliegenden Fall verändert oder nicht. Nachdem die Frage geklärt ist, nimmt sie Abstand von der Skizze und versucht Tims Gedankengang nachzuvollziehen. Ihre Aussage „Ach so, weil du über den Sinus argumentierst“ (27–28) lässt vermuten, dass sich hier ein Bedeutungswechsel bei Janine vollzieht. Es wird nicht mehr nach einem Argument am rechtwinkligen Dreieck gesucht, sondern ein Argument am Sinus. Damit meint Janine höchstwahrscheinlich die Sinusfunktion, wodurch sie nun in der Lage ist, Eigenschaften der Sinusfunktion in ihre Argumentation miteinzubeziehen. Dies äußerst sich in dem Satz „Also Sinus Alpha wächst monoton“ (34). Janine scheint nicht überzeugt von dem Argument, was sich in ihrer Aussage „Hoffen wir einfach mal das es stimmt“ (39–40) bemerkbar macht. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass sie keine direkte Verbindung zwischen dem Seitenverhältnis in einem rechtwinkligen Dreieck und den funktionalen Eigenschaften der Sinusfunktion herstellen kann. Schauen wir nun, wie sich die Situation weiterentwickelt.

Tim und Janine – Szene 2 – Aufgabe 1

figure b
figure z

Tim nutzt sein Wissen über die Sinusfunktion „Wir wissen offensichtlich, Alpha wird größer, das heißt Sinus Alpha wird größer“ (44–45). Janine fängt einen Satz an, aber unterbricht sich sofort. Daraufhin erklärt Tim, warum „das größer wird“ (47), und zieht dazu zwei Dreiecke mit Winkelgrößen 10° und 45° hinzu: Diese Dreiecke versucht er mit seinen Händen und einem Stift zu visualisieren. Janine gibt sich mit der bisherigen Antwort noch nicht zufrieden und wiederholt die Aufgabenstellung „Versuche, wenn möglich noch weitere Argumente zu finden“ (52–53). Tim sagt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, den Sachverhalt zu erklären und dass sie bisher „quasi am Bild argumentieren“ (56). Tim startet einen neuen Erklärungsversuch und beginnt mit dem, was die beiden wissen, nämlich dass „Gegenkathete durch Hypotenuse größer werden muss“ (61–62). Daraufhin fragt er „Was sagt das über das Verhältnis aus“ (64). Janine ist überrascht und sagt „Häää? Das ist das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse“ (65–66). Tim erwidert darauf „Lol. Ich hab das Verhältnis noch mit 2 zu 3, aber das ist ja…“ (67–68). Janine unterbricht ihn „aber das kannst du auch darstellen als Bruch“ (69). Daraufhin zeigt sich Tim einsichtig. Sie überlegen beide, ob ihnen noch weitere Argumente einfallen, finden aber keine.

Überlegen wir nun wie diese Szene interpretiert werden kann. Tim geht erneut auf das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion ein und wiederholt, dass \({\text{sin}}\left( \alpha \right)\) wächst, wenn \(\alpha\) im Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) wächst. Dabei stellt er keinen direkten Bezug zum rechtwinkligen Dreieck her. Er behauptet zwar am Bild zu argumentieren, liefert aber keine Argumente, die diese Behauptung stützen. Seine Argumentation bleibt daher ergebnislos. Zum Ende der Diskussion startet Tim einen neuen Versuch: Er weiß, dass „Gegenkathete durch Hypotenuse größer werden muss“ (61–62), und stellt direkt im Anschluss die Frage, was das über das Verhältnis aussagt. Nachdem er von Janine darauf hingewiesen wird, dass es dasselbe ist, lenkt er ein und sagt „Ich hab das Verhältnis noch mit 2 zu 3“ (67). Es scheint als gäbe es für Tim an diesem Punkt drei Konzepte, die er nicht miteinander in Verbindung setzen kann:

  1. 1.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Wert einer Funktion

  2. 2.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Ergebnis einer Division: „Gegenkathete durch Hypotenuse“

  3. 3.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Verhältnis: „2 zu 3“ bzw. 2:3

Welche Erklärung lässt sich für diesen kognitiven Konflikt finden? Das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion kann in der Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und am Funktionsgraphen erläutert werden. Der Einheitskreis wird zwar von Janine kurz genannt, spielt aber in dieser Szene eine untergeordnete Rolle. Am Funktionsgraphen lässt sich das Kovariationsverhalten im Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) regelrecht ablesen. Auf dieser Darstellungsebene zeigt sich Tim zuversichtlich, dass das Verhältnis größer werden muss. Am rechtwinkligen Dreieck müssen hingegen passende Begründungen gefunden werden. Tims Argumentation bezieht sich hauptsächlich auf die Darstellung der Sinusfunktion als Funktionsgraph, der Wechsel zum Dreieck gelingt nur begrenzt. Tim versucht zwar mit Gesten und Beispielen den funktionalen Zusammenhang am rechtwinkligen Dreieck zu erläutern, findet aber keine zufriedenstellende Begründung. Dass bei Tim am Ende der Szene unterschiedliche Konzepte des Sinus zu erkennen sind, die in einem scheinbaren Konflikt stehen, hängt möglicherweise mit den unterschiedlichen Darstellungsebenen zusammen, auf denen er nach geeigneten Argumenten sucht. Diese Darstellungsebenen stehen für ihn in keinem direkten Zusammenhang. Diese Zusammenhangslosigkeit überträgt sich für ihn auch auf die drei oben genannten Konzepte. Das Tim darüber keinen Zusammenhang zwischen dem Sinus als Verhältnis und dem Sinus als Ergebnis einer Division erkennen kann, hängt möglicherweise mit einem schwach ausgebildeten Grundverständnis zum Bruchzahlbegriff zusammen.

6.1.2 Max und David – Grenzwertprozesse am rechtwinkligen Dreieck

Max und David sind Mathematik-Lehramtsstudierende der gymnasialen Oberstufe, sie befinden sich im 3. Mastersemester. Sie kennen sich aus dem Kurs Grundbegriffe der Mathematikdidaktik, aus dem sie für diese Fallstudie rekrutiert wurden. Nach einer kurzen Einführung beginnen sie mit Aufgabe 1. Das Transkript umfasst 191 Zeilen, ist in vier Szenen untergliedert und dauert 8:45 Minuten. Nachdem der Aufgabentext vorgelesen wurde, beginnt die folgende Szene.

Max und David – Szene 1 – Aufgabe 1

figure c

Max und David beginnen damit, das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse zu benennen. David vertut sich und nennt das Verhältnis „Kosinus“ (3). Max berichtigt ihn „Naja, Sinus“ (4). David gibt ihm Recht, nutzt anschließend aber trotzdem dem Begriff Kosinus. Diese Verwechslung behält David bei. Max schildert daraufhin den Sachverhalt und dessen Problematik. Beide Seiten in dem gesuchten Verhältnis vergrößern sich. Es ist also nicht unmittelbar ersichtlich, ob sich der Quotient vergrößert, verkleinert oder gleichbleibt. Er schlägt vor, sich dem Problem quantitativ zu nähern „Wir können erstmal überlegen, wie wir uns das ausrechnen können“ (10–11). David fängt an, die Skizze genauer zu betrachten und überlegt, welche Werkzeuge zur Berechnung der Seitenverhältnisse genutzt werden können, und nennt die Additionstheoreme, führt den Gedanken allerdings nicht zu Ende. Er beginnt eine Skizze anzufertigen, bezeichnet die Seiten im Ausgangsdreieck mit a, b und c, den Zuwachs der Gegenkathete mit b‘ und die neue Hypotenuse mit c‘. Am Schluss dieser Szene formuliert er die Gleichung „c Quadrat gleich b plus b‘“ (34).

Wie kann diese Szene interpretiert werden? Sowohl David als auch Max suchen nach einer Antwort auf die Frage, ob sich das Verhältnis vergrößert, verkleinert oder gleichbleibt. Sie äußern keine Vermutung bezüglich der Lösung, also ist davon auszugehen, dass ihnen die Antwort zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt ist. Sie erkennen allerdings die Problematik, dass sich im gesuchten Quotienten sowohl der Nenner als auch der Zähler vergrößern. Um das Änderungsverhalten zu bestimmen, versuchen sie zu rechnen. David exploriert den Sachverhalt zeichnerisch und algebraisch, indem er unbekannte Größen in den Dreiecken mit Variablen bezeichnet und Gleichungen aufstellt. Die Gleichung, die David nennt (34), lässt vermuten, dass er versucht, den Satz des Pythagoras zu Rate zu ziehen. Dieser führt nicht zu einer Antwort auf die Fragestellung. Entscheidend ist in dieser Szene der Wechsel von der geometrischen zur algebraischen Darstellungsebene. David und Max orientieren sich zunächst am rechtwinkligen Dreieck. Dort beschriften sie die Seiten der Dreiecke und versuchen das Problem mathematisch zu modellieren. Dazu wechseln sie ins algebraische Register und untersuchen den Sachverhalt rechnerisch.

Max und David – Szene 2 – Aufgabe 1

figure d
figure za

David stellt zu Beginn der Szene die Frage, ob sein Vorgehen ihn „weiterbringt“ (41). Er hält sodann fest, dass sich der Winkel \(\alpha\) in dem gegebenen Dreieck vergrößert und damit der Kosinus größer wird, und gibt die folgende Begründung an: „Wenn das Argument des Kosinus größer wird, wird ja auch… der Kosinus an sich größer“ (45–47). Max stellt die Frage, ob „das nicht nur für den Einheitskreis“ (48) gilt. David unterbricht Max, stellt ihm die Frage, in welchem Wertebereich die „Funktion Kosinus“ (50) sich bewegt, und gibt ihm gleichzeitig die Antwort „von 0 bis 1, oder nicht?“ (52). Max stimmt ihm zu. Daran anschließend versucht David mit dem Wertebereich der Kosinusfunktion zu argumentieren, kommt aber zu keinem Schluss. Max wirft erneut ein, dass sich die Werte nur im Bereich „von 0 bis 1 bewegen, wenn wir hier von dem am Einheitskreis bis 90 gehen“ (61–62). Er bemerkt allerdings erneut: „Das hier ist ja nicht der Einheitskreis. Wir gehen ja nicht in einem Kreis entlang, sondern wir gehen hier nach oben.“ (64–66). David schafft es nicht, Max Problem aus dem Weg zu räumen. Am Ende der Szene weist Max David darauf hin, dass er nach wie vor fälschlicherweise den Begriff Kosinus statt Sinus verwendet.

In dieser Szene treffen bei Max und David verschiedene Erklärungsmodelle aufeinander, mit denen sie versuchen, das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion zu erklären. Zu Beginn der Szene argumentiert David noch am rechtwinkligen Dreieck und zeigt auf das ihm vorliegende Bild. Kurz darauf formuliert David allerdings die folgende Begründung: „Wenn das Argument des Kosinus größer wird, wird ja auch … Der Kosinus größer“ (45–46). An dieser Stelle kann davon ausgegangen werden, dass sich David auf den Funktionsgraphen bezieht, da er die Begriffe „Wert des Kosinus“ im Zusammenhang mit „Argumenten“ nutzt. Später spricht er explizit von der „Funktion Kosinus“ (50) und versucht den Wertebereich in seine Argumentation miteinzubeziehen. Seine Vermutung zum Kovariationsverhalten der „Kosinusfunktion“ scheint für David auf dieser Ebene gesichert zu sein. Max scheint mit dieser Argumentation unzufrieden zu sein. Er weigert sich Davids Begründung anzuerkennen, denn „das hier ist ja nicht der Einheitskreis“ (64). Dieser Aussage nach zu urteilen beschreibt die Sinusfunktion für Max zunächst den ganz konkreten funktionalen Zusammenhang zwischen Bogenlänge und \(y\)-Koordinate am Einheitskreis und nicht etwa den funktionalen Zusammenhang zwischen dem Winkel \(\alpha\) und dem Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse in einem beliebigen rechtwinkligen Dreieck.

Nachdem Max und David vier Minuten lang versuchen, den Sachverhalt algebraisch mithilfe des Pythagoras zu erklären, ereignet sich die folgende Szene:

Max und David – Szene 3 – Aufgabe 1

figure e
figure zb

Max beginnt die Szene mit einer neuen Idee „Ist der ganze Witz nicht daran, dass wir das gar nicht brauchen?“ (129–130) und verweist damit auf die zuvor durchgeführten Rechnungen, bei denen der Satz des Pythagoras genutzt wurde. Er versucht sich dem Sachverhalt nun qualitativ zu nähern. Max verschiebt in Gedanken den Punkt \(A\) auf der Gegenkathete immer weiter nach oben und sagt „Und wenn das jetzt hier unendlich groß wird, kommen wir unendlich nah an 90 Grad dran“ (132–135). David unterbricht Max und stellt seine Behauptung in Frage und versucht ein Gegenbeispiel zu liefern „Naja, nee guck mal: wenn ich das jetzt hier bis hierhin…“ (136–137). Nach einer kurzen Überlegung lenkt er ein „Naja gut“ (140). Es zeigt sich allerdings, dass er den Grenzwertprozess trotzdem nicht nachvollziehen kann „Ja, aber es geht doch gerade nach oben.“ (143) und „Wir kommen ja nie bei 90 Grad an“ (153). Max erklärt David, dass der Winkel Alpha 90 Grad nie erreicht, da es „der schöne Grenzwert“ (154–155) ist, und veranschaulicht ihm den Vorgang. David stimmt Max daraufhin vorerst zu.

In dieser Szene wird das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion erstmals mit der Darstellung am rechtwinkligen Dreieck in Verbindung gebracht und von einer vorwiegend quantitativen Argumentationsebene zu einer qualitativen Argumentationsebene gewechselt. Max nutzt dazu die Darstellung am rechtwinkligen Dreieck und versucht diese in Einklang mit seinem Wissen über die Sinusfunktion zu bringen. Er betrachtet dazu was passiert, wenn die Gegenkathete vergrößert wird. Er folgert, dass sich dadurch der Winkel \(\alpha\) dem Wert von 90° annähert. In Verbindung mit dem Wissen über die Sinusfunktion, die auf dem Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) monoton wächst, kommt er zu dem Schluss, dass sich das gesuchte Verhältnis vergrößern muss. David hat Probleme, sich den Sachverhalt vorzustellen. Eine Problematik rührt daher, dass er zwischen zwei Prozessen unterscheidet: 1. Der Winkel \(\alpha\) wird größer und 2. die Gegenkathete wird größer. Im ersten Fall kann David verstehen, dass sich \(\alpha\) dem Wert \(90^\circ\) annähert. Im zweiten Fall kann er nicht erkennen, wie sich das Verhältnis verändert: „Wenn du den Winkel änderst okay. Aber das \(A\) das verläuft ja quasi hier hoch“ (150–151). Ein Grund dafür könnte sein, dass eine gleichmäßige Vergrößerung des Winkels zu einer immer schneller werdenden Vergrößerung der Gegenkathete führt, wohingegen eine gleichmäßige Vergrößerung der Gegenkathete zu einer immer langsameren Vergrößerung des Winkels führt. Das Erreichen des Wertes von 90 Grad erscheint dadurch immer unwahrscheinlicher. Aus der qualitativen Betrachtung des Prozesses am rechtwinkligen Dreieck folgert Max, dass sich der Winkel \(\alpha\) vergrößert und dem Wert 90 Grad annähert. Die Dynamik des Vorgehens erlaubt es Max, das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion am rechtwinkligen Dreieck zu begründen.

Max und David – Szene 4 – Aufgabe 1

figure f
figure zc

Zu Beginn dieser Szene macht Max einen Lösungsvorschlag zur Aufgabe. Er zeigt auf das Wort „vergrößern“ und sagt „Das müssen wir ankreuzen und dann müssen wir den Rest gar nicht ausrechnen“ (167–168). David überkommen erneut Zweifel an der Lösung, er argumentiert „Ja aber es vergrößert sich doch beides“ (170–171). „Das heißt, bleibt es nicht im Endeffekt gleich?“ (174). Max erwidert „Das bleibt nicht gleich, weil wenn es gleichbleiben würde, müsste ja der Winkel Alpha gleichbleiben.“ (177–178). Schließlich schlägt Max vor „komplett über das Alpha“ (181) zu argumentieren. Er erklärt, dass das wonach gesucht ist, „eben unser Sinus“ (183) ist und dieser läuft in dem vorliegenden Beispiel von \(0\) bis \(1\). David stimmt zu und sagt, dass er Max Ansatz nun versteht.

Max verwendet seine in der vorigen Szene etablierte Verbindung zwischen dem rechtwinkligen Dreieck und der Sinusfunktion, um die Aufgabe zu lösen. Dazu nutzt er seine Grundkenntnisse über den Sinus als Funktion (Monotonie auf dem Intervall [0,90°]) und adaptiert diese auf den vorliegenden Fall. Bei David konfligieren erneut die zwei Erklärungsmodelle an der Sinusfunktion und am rechtwinkligen Dreieck: Er kann zwar die Argumentation an der Sinusfunktion verstehen, da er diese bereits in der zweiten Szene selbst angeführt hat, hat aber Probleme sie mit der Darstellung am rechtwinkligen Dreieck abzustimmen. Max bemerkt scheinbar Davids Schwierigkeit das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion am rechtwinkligen Dreieck zu begründen und beschränkt sich darauf, die funktionalen Eigenschaften des Sinus zu wiederholen.

6.1.3 Zusammenfassung – Aufgabe 1

In den beiden untersuchten Bearbeitungsprozessen können zentrale Schwierigkeiten im Umgang mit Prozessen an rechtwinkligen Dreiecken herausgearbeitet werden. Es zeigt sich in beiden Fallstudien zu Beginn bei den Studierenden eine schwache bis fehlende Vernetzung der Interpretation des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und als Funktion. Kernproblematik der vorliegenden Aufgabe liegt darin, das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion auf unterschiedlichen Darstellungsebenen zu begründen. Die Kovariationsvorstellung zählt zu den allgemeinen Grundvorstellungen zu Funktionen und wird von den Studierenden zum Beispiel genutzt, wenn diese darauf verweisen, dass die Sinusfunktion auf dem Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) monoton wächst. Diese Aussage allein würde bei entsprechender Vernetzung der Darstellungsebenen des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und als Funktionsgraph dazu reichen, um eine korrekte Antwort auf die in der Aufgabenstellung formulierten Fragen zu geben. Es zeigt sich allerdings in beiden Fallstudien, dass den Studierenden die Monotonie der Sinusfunktion allein nicht als Begründung ausreicht. Es fehlt die Überzeugungskraft des Arguments, da es nicht eigenständig aus der vorgegebenen Darstellung am rechtwinkligen Dreieck und der damit verbundenen Seitenverhältnisvorstellung hergeleitet wird (vgl. Abschnitt 4.6.1). Vielmehr beziehen sich die Argumentationsprozesse der Studierenden zu Beginn hauptsächlich auf die Funktionsvorstellung des Sinus (vgl. Abschnitt 4.6.6).

Die fehlende Verknüpfung zwischen der Seitenverhältnisvorstellung und der Funktionsvorstellung des Sinus lässt sich wie folgt erklären: Der Lernweg vom rechtwinkligen Dreieck zur Sinusfunktion verläuft über den Einheitskreis. Der Einheitskreis bildet in diesem Sinne das Bindeglied zwischen den zwei unterschiedlichen Darstellungen und Grundvorstellungen. Eigenschaften, die für die Sinusfunktion gelten, können in einem Schritt auf die Darstellung am Einheitskreis übertragen werden. Die Übertragung von Eigenschaften der Sinusfunktion auf die Darstellung am rechtwinkligen Dreieck benötigt bereits zwei Übersetzungsprozesse und erweist sich für die Studierenden als problematisch. Die Studierenden müssen auf die Transitivität der hergestellten Zusammenhänge vertrauen. Besonders eindrücklich zeigt sich diese fehlende Transitivität bei Max. Er ist zunächst unzufrieden mit dem Argument, dass die Sinusfunktion monoton wächst, da mit ihr lediglich die funktionale Abhängigkeit zwischen Bogenmaß und \(y\)-Koordinate am Einheitskreis beschrieben wird. Um wirklich überzeugt zu sein, beginnt er das Kovariationsverhalten am rechtwinkligen Dreieck zu erkunden. Erst danach ist die Aufgabe für ihn gelöst. Im Fall von Janine und Tim gelingt die Deutung des Kovariationsverhaltens am rechtwinkligen Dreieck nur eingeschränkt. Sie bleiben schließlich dabei, Grundwissen im Zusammenhang mit der Funktionsvorstellung zu nutzen. An diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig es ist, die allgemeinen funktionalen Grundvorstellungen zu erweitern und spezielle, auf die Funktionsklassen abgestimmte Grundvorstellungen zu entwickeln.

6.2 Aufgabe 2: Das Referenzdreieck im Einheitskreis

Der Aufgabentext der zweiten Aufgabe lautet:

Erkläre, warum der innere Kreis die \(y\)-Achse bei \(y = sin\left( \alpha \right)\) schneidet (vgl. Abbildung 6.2).

Abbildung 6.2
figure 2

Sinus am Einheitskreis ohne eingezeichnetes Referenzdreieck

In dieser Aufgabe sind die Studierenden mit einem Problem konfrontiert, in dem mit der Definition des Sinus als \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis gearbeitet werden soll, ohne dass das zugehörige Referenzdreieck mit eingezeichnet ist. Ihnen wird eine Zeichnung ausgehändigt, in der ein Punkt \(P\) im dritten Quadranten auf dem Einheitskreis zu sehen ist. Zudem ist der Winkel \(\alpha\) eingezeichnet, den der Punkt auf dem Einheitskreis ausgehend von \(\left( {1,0} \right)\) zurückgelegt hat. Der Punkt \(P\) und der Ursprung des Koordinatensystems bilden die Endpunkte einer Strecke, die wiederum den Durchmesser eines kleineren Kreises bildet. Dieser Kreis schneidet die \(x\)- und \(y\)-Achse im Nullpunkt und an jeweils einer weiteren Stelle. Die Studierenden sind nun damit beauftragt zu erklären, warum der Schnittpunkt des inneren Kreises mit der \(y\)-Achse gleich dem Sinus von \(\alpha\) ist.

Um dies zu zeigen, kann wie folgt argumentiert werden: Nach der Definition des Sinus am Einheitskreis entspricht der Sinus von \(\alpha\) der \(y\)-Koordinate des Punktes P. Es muss also gezeigt werden, dass der Schnittpunkt des kleinen Kreises mit der \(y\)-Achse gleich der \(y\)-Koordinate des Punkt \(P\) ist. Das ist genau dann der Fall, wenn der Schnittpunkt gleich der Projektion von \(P\) auf die \(y\)-Achse ist oder, in anderen Worten, wenn die Verbindungsstrecke zwischen \(P\) und dem Schnittpunkt auf der \(y\)-Achse rechtwinklig auf der \(y\)-Achse steht. Wird diese Strecke ins Koordinatensystem eingezeichnet entsteht ein Dreieck in einem Halbkreis, dessen längste Seite der Durchmesser des Halbkreises ist. Es handelt sich bei dieser Konstellation um den Thaleskreis, womit das Dreieck rechtwinklig ist und damit das Problem gelöst wurde.

Der Satz des Thales gehört wie der Satz des Pythagoras zu den geometrischen Grundwerkzeugen, die in der Schule vermittelt werden, und sollte damit den Studierenden bekannt sein. Doch auch wenn der Satz des Thales nicht zum Repertoire der Studierenden gehören sollte, so lässt sich aus den Problemlöseprozessen und der Art und Weise, wie im Zusammenhang mit dieser Aufgabe über Aspekte des Sinus diskutiert wird, vieles über mögliche Schwierigkeiten der Studierenden erfahren. Das fehlende Referenzdreieck in der Abbildung der Aufgabe drängt den Lernenden dazu, sich von der ursprünglichen Interpretation des Sinus am rechtwinkligen Dreieck zu lösen und die Interpretation als \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis voran zu stellen. Hierdurch soll ein Perspektivwechsel erreicht werden. Das Einzeichnen eines Referenzdreiecks bedarf in diesem Fall einer Rechtfertigung.

Statt die \(y\)-Koordinate des Punktes \(P\) auf dem Einheitskreis zu betrachten, könnten die Studierenden alternativ auch über die gerichtete Länge des eingezeichneten Referenzdreiecks argumentieren. Um die Länge zu bestimmen, müsste die Gerade auf die \(y\)-Achse projiziert werden.

Funktion dieser Aufgabe ist es, das Zusammenspiel der Seitenverhältnisvorstellung, der Referenzdreiecksvorstellung und der Koordinatenvorstellung genauer zu untersuchen. Bei einer aktiven Auseinandersetzung mit den drei Interpretationen können die Hürden deutlich gemacht werden, die sich bei einem solchen Deutungswechsel in den Weg stellen. Von entscheidender Bedeutung beim Lösen dieser Aufgabe ist die funktionale Grundvorstellung der Zuordnung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Welche Wertepaare werden durch die Sinusfunktion gebildet beziehungsweise wie lassen sich das Argument und der Funktionswert inhaltlich deuten? Am rechtwinkligen Dreieck ordnet die Sinusfunktion einem Winkel in Gradmaß ein Seitenverhältnis zu. Am Einheitskreis wird einem Winkel oder die Länge eines Bogenstücks die Länge einer Seite im Referenzdreieck beziehungsweise die \(y\)-Koordinate eines Punktes zugeordnet. In der Darstellung als Funktionsgraph wird einem Wert auf der \(x\)-Achse ein Wert auf der \(y\)-Achse zugeordnet.

6.2.1 Janine und Tim – Hürden beim Deutungswechsel vom Dreieck zum Einheitskreis

Das vorliegende Transkript ist 93 Zeilen lang und ist untergliedert in drei Szenen. Die Bearbeitung der Aufgabe dauert insgesamt 19 Minuten. Dabei liefert das Transkript einen detailreichen Einblick in die Denkprozesse, die beim Übergang zwischen Dreieck und Einheitskreis stattfinden. Verfolgen wir nun Janine und Tim beim Bearbeiten dieser Aufgabe.

Janine und Tim – Szene 1– Aufgabe 2

figure g

Direkt nachdem die Studierenden die Aufgabenstellung gelesen haben, startet Janine das Gespräch „Also der Sinus…“ (1) und wird von Tim unterbrochen. Tim versucht die Problemstellung der Aufgabe auf den „einfachsten“ (2) Fall zurückzuführen und überlegt „was ist, wenn Alpha gleich null ist“ (2–3). Janine wirft ein, dass der Sinus „die y-Koordinate des Punktes“ (4–5) im Einheitskreis ist, und bezieht sich auf die Definition des Sinus am Einheitskreis. Janine und Tim stimmen sich gegenseitig zu. Sie geht nicht weiter auf Tims Versuch ein, Alpha gleich null zu setzen, und kehrt zur ursprünglichen Problemstellung zurück. Sie zeigt auf den Punkt im dritten Quadranten und überlegt, was passiert, wenn man „das Dreieck jetzt praktisch da einzeichnen“ (9–10) würde. Dazu deutet sie mit dem Stift eine Line vom Punkt P zur x-Achse an. Sie zieht ihren Vorschlag kurz zurück, „weil der Winkel größer als…“ (12) ist und unterbricht ihren Satz, um dann im selben Atemzug wieder umzuschwenken, „weil du ja trotzdem dann einfach praktisch diesen Teil nehmen kannst“ (13–14). Dabei deutet sie auf den Teil des Winkels \(\alpha - 180^\circ\). Janine versucht nun die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck anzuwenden und sucht vergeblich die Gegenkathete des von ihr vorgestellten Dreiecks bis sie schließlich bemerkt, dass irgendetwas gerade nicht passt. Tim zeigt daraufhin auf den Radius des Einheitskreises: „Du hast hier die Hypotenuse als Länge 1“ (18), auf die imaginierte Verbindungsstrecke zwischen P und der x-Achse: „hier deine Gegenkathete“ (19) und schließlich auf den Referenzwinkel des vorgestellten Dreiecks: „und du hast hier deinen Winkel Alpha“ (19–20). Janine ruft laut „Ach das ist in der mit der y-Achse, nicht mit der x-Achse“ (21) und erkennt, dass sie fälschlicherweise dachte, der Sinus sei gleich dem „Schnittpunkt des Kreises mit der x-Achse“ (20–21).

Tim beginnt die Szene damit, sich anzuschauen welchen konkreten Wert die Sinusfunktion dem Argument \(\alpha = 0\) zuordnet. Janine startet mit einer inhaltlichen Deutung des Sinus als \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis. Im Verlauf ihrer Bearbeitung versucht sie jedoch, den Sinus auf das Seitenverhältnis in einem rechtwinkligen Dreieck zurückzuführen, was zu Problemen führt. Dabei trifft sie in ihrem Deutungsprozess auf Hürden, die bei dem Wechsel vom rechtwinkligen Dreieck zum Einheitskreis typisch sind. Nämlich:

  1. 1.

    die Erweiterung des Definitionsbereiches

  2. 2.

    das Bestimmen der Länge eines Seitenstückes durch die Projektion auf die entsprechende Achse

Wie lassen sich diese Schwierigkeiten erklären? Die Erweiterung des Definitionsbereiches ergibt sich aus der Betrachtung des Einheitskreises. Im Falle des rechtwinkligen Dreiecks ordnet die Sinusfunktion einem Winkel \(\alpha\) das Verhältnis zweier Seiten zu. Da die Innenwinkelsumme in einem Dreieck 180° beträgt, kann dieser Winkel nicht größer als \(90^\circ\) werden. Am Einheitskreis nimmt die Sinusfunktion hingegen Drehwinkel als Argumente, die sowohl positiv als auch negativ und beliebig groß werden können. Je nachdem, welche Zuordnungsvorstellung des Sinus Janine verwendet, erhält sie unterschiedliche Definitionsbereiche.

Im Umgang mit dem Referenzdreieck bemerkt Janine plötzlich, dass irgendetwas da gerade nicht passt (17). Schließlich sagt sie aus, dass sie fälschlicherweise den Schnittpunkt mit der \(x\)-Achse betrachtet hat und nicht den mit der \(y\)-Achse. Wie konnte es dazu kommen? Das Einzeichnen eines Dreiecks in den Einheitskreis kann unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zum einen kann es im ersten Quadranten als Referenzdreieck dienen, das den Zusammenhang zwischen der Definition am rechtwinkligen Dreieck und der Definition des Sinus am Einheitskreis herstellt. In anderen Quadranten ist dieses Referenzdreieck problematisch, da dort die gerichteten Längen betrachtet werden müssen. Zum anderen entsteht ein weiteres Dreieck, wenn man den Punkt \(P\) auf die \(y\)-Achse projiziert um die \(y\)-Koordinate abzulesen (vgl. Abbildung 6.3). In Janines Fall scheint es, als hätte sie die Seite des Referenzdreiecks mit der Projektionslinie verwechselt.

Abbildung 6.3
figure 3

Einheitskreis mit Referenzdreieck und Projektionslinie

Anschließend an diese Szene beginnt Tim einen Winkel in den ersten Quadranten zu zeichnen. Von dort aus will er mit Symmetrieeigenschaften des Kreises und ähnlichen Dreiecken das Problem lösen. Nach ca. fünf Minuten ereignet sich der folgende Austausch:

Janine und Tim – Szene 2 – Aufgabe 2

figure h

Nachdem Tim einige Zeit damit verbracht hat, den Sinus im ersten Quadranten zu erörtern, geht Janine zurück zur Ausgangssituation und sagt, „dass da unten Sinus Alpha ist, ist klar“ (45–46). Woraufhin Tim Janine fragt, „warum du jetzt Sinus Alpha da unten klar hast“ (50–51). Janine gibt ihm eine Antwort, indem sie zunächst das Problem der Erweiterung des Definitionsbereiches anspricht. „Also wenn Alpha größer wird als 90 Grad wird das schwierig über ähm“ (53–55). Anschließend erklärt sie, wie der verallgemeinernde Schritt auf Winkelgrößen über 90° vonstattengeht: „Also du hast irgendwann Alpha zwischen 0 und 90 Grad festgestellt, dass der Sinus immer die y-Koordinate ist und das überträgst du auch auf Alpha die größer sind als 90 Grad“ (57–60).

Janine ist der Lösung zu Beginn der Szene schon sehr nahe (45–49). Sie müsste nur noch den Satz von Thales anwenden und entsprechend geometrisch argumentieren: Der Kreis kann nicht anders aussehen. Es handelt sich um den Thaleskreis, da das Referenzdreieck rechtwinklig ist. Bevor sie ihren Gedanken zu Ende führen kann, stellt Tim ihr die Frage, „warum du jetzt Sinus Alpha da unten hast?“ (50–51). Sie erklärt ihm, wie sich die Zuordnungsvorschrift des Sinus vom rechtwinkligen Dreieck zum Einheitskreis ändert. Zentral ist bei ihr die Feststellung, dass im Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) der Sinus nicht nur dem Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck entspricht, sondern „der Sinus immer die \(y\)-Koordinate ist“ (59) und dieser Zusammenhang schließlich auf Winkel übertragen wird, die größer als 90° sind. Damit knüpft sie an die Problematik der vorherigen Szene an.

Eine Minute später versuchen sie das Problem erneut durch die Betrachtung von Spezialfällen zu lösen.

Janine und Tim – Szene 3 – Aufgabe 2

figure i

Janine und Tim haben bereits ca. 15 Minuten lang vergeblich versucht, das vorliegende Problem zu lösen. Dabei haben sie in dem Koordinatensystem Hilfslinien und ein Dreieck in den ersten Quadranten gezeichnet, um sich den Sachverhalt besser vorstellen zu können. Janine beginnt in diesem Abschnitt erneut mit dem Versuch, sich Spezialfälle anzuschauen. Sie betrachtet den Fall, in dem Alpha gleich Null ist und \(P\) die Koordinaten \(\left( {1,0} \right)\) hat. Janine erkennt, dass in diesem Fall der Durchmesser des kleinen Kreises genau auf der x-Achse liegen würde. Tim zeigt auf den Ursprung und bemerkt, dass dort auch ein „offensichtlicher“ (70) Schnittpunkt läge. Janine ergänzt „der Sinus wäre natürlich 0“ (72) und begründet ihre Aussage damit, dass es in diesem Fall „kein Dreieck mit der Strecke…also mit einer Gegenkathete“ (73–74) gibt. Da es in diesem Fall kein Dreieck gibt, kann Tim nicht viel mit diesem Beispiel anfangen „Es hilft uns also nicht“ (77). Er drängt zum nächsten Spezialfall und schlägt vor, sich anzuschauen was passiert, wenn Alpha gleich 90 Grad ist. Janine macht in diesem Fall für die Gegenkathete folgende Feststellung: „die komplette, diese komplette Strecke eben im kleinen Kreis das wäre genau der Durchmesser“ (83–84). Anschließend fragt sie sich „Wo ist dann eigentlich die Hypotenuse?“ (86–87) und beantwortet die Frage selbst „Achso, ja. Die ist auch 1. Also wir haben eigentlich kein Dreieck, aber gut.“ (89–90) Woraufhin Tim erneut anmerkt, dass es ohne Dreieck nichts nützt sich den Spezialfall anzuschauen.

In dieser Szene wird deutlich, zu welchen Problemen eine nicht tragfähige Zuordnungsvorstellung beim Sinus führen kann. Janine und Tim versuchen das Problem zu lösen, indem sie es auf bekannte Spezialfälle (\(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\)) zurückführen. Während sie die Fälle explorieren, kommt die \(y\)-Koordinate des Punktes \(P\) nicht mehr zur Sprache. Stattdessen fokussieren sich beide auf das Referenzdreieck. Die entsprechende Zuordnungsvorstellung des Sinus – vom Winkel \(\alpha\) zur Länge der Gegenkathete – ist in den Fällen \(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\) allerdings nicht tragfähig, da ein Referenzdreieck existiert. Im Fall \(\alpha = 0^\circ\) argumentiert Janine dementsprechend: „Der Sinus wäre natürlich 0, weil wir auch in diesem Kreis […] kein Dreieck […] mit einer Gegenkathete haben“ (72–74). Im Fall \(\alpha = 90^\circ\) kommt Janine zwar zum richtigen Ergebnis, ist dann aber plötzlich überrascht, dass kein Dreieck mehr vorhanden ist. Ihr Fokus lag auf der Gegenkathete des Referenzdreiecks. Im Grenzfall nähern sich Gegenkathete und Hypotenuse an, bis sie sich schließlich überdecken und gleich werden. Janine scheint bei dieser Überdeckung die Hypotenuse aus dem Blick verloren zu haben. Auch Tim scheint auf das Referenzdreieck angewiesen zu sein, um dem Sinus am Einheitskreis Bedeutung beizumessen. Er kommentiert, dass die Sonderfälle für ihn nutzlos sind. Janine und Tim versuchen im Anschluss an diese Szene noch weitere drei Minuten, eine passende Begründung zu finden, gelangen aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.

Warum finden Janine und Tim keine Lösung? Es zeigt sich im Dialog zwischen Janine und Tim, dass zwei konkurrierende Zuordnungsvorstellungen ausgemacht werden können: Die Interpretation als y-Koordinate auf dem Einheitskreis und als Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck. Obwohl sich beide Studierenden scheinbar darüber im Klaren sind, dass ein Zusammenhang zwischen diesen Interpretationen besteht, stellt sich die Dreiecksvorstellung als dominant heraus und verdrängt die Interpretation am Einheitskreis in ihrer Argumentation immer wieder. Es findet keine Integration der beiden Sichtweisen statt. Die Argumentation bezieht sich stets auf das Referenzdreieck, statt auf den Einheitskreis. Diese Abhängigkeit vom Referenzdreieck führt beide Studierenden dazu, sich die Situation hauptsächlich im ersten Quadranten anzusehen, wo ihre Vorstellung als Verhältnis von Seitenlängen in einem Dreieck noch trägt. In den Spezialfällen (\(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\)) kommen beide zu den richtigen Sinuswerten, aber es fällt ihnen offensichtlich schwer, diese Werte zu begründen, da ihnen das Dreieck für die Seitenverhältnisvorstellung fehlt.

6.2.2 Larissa und Veronika – Umgang mit dem Referenzdreieck

Larissa und Veronika sind Studierende im 2. Mastersemester Mathematik auf Lehramt für die gymnasiale Oberstufe. Sie kannten sich nur aus dem Kurs Grundbegriffe der Mathematikdidaktik. Das vorliegende Transkript ist 128 Zeilen lang und in fünf Szenen gegliedert. Insgesamt dauert der Bearbeitungsprozess 15 Minuten.

Larissa und Veronika – Szene 1 – Aufgabe 2

figure j

Larissa wiederholt zunächst die Fragestellung der Aufgabe „Erkläre, warum der Schnittpunkt des inneren Kreises mit der y-Achse gleich Sinus Alpha ist“ (1–2). Veronika zeigt daraufhin auf den inneren Kreis und den Schnittpunkt und benennt diesen. Anschließend markiert Larissa einen Punkt auf der x-Achse und sagt, dass dies das gesuchte Objekt ist. Veronika zieht als nächstes eine Verbindungslinie vom Punkt P zur \(x\)-Achse und bemerkt: „Dann sieht man das direkt“ (9–10). Sie zeigt auf die gezeichnete Strecke und sagt „Also das hier, das ist der Sinus“ (10–11) und schätzt einen Wert von „minus irgendwas“ (13). Larissa schätzt einen Wert von „−0,6“ (14) und Veronika stimmt ihr zu.

Es folgt eine Interpretation dieser kurzen Szene. Es lassen sich im Ansatz unterschiedliche Zuordnungsvorstellungen von Larissa und Veronika rekonstruieren. Larissa markiert einen Punkt auf der \(x\)-Achse und sagt explizit, dass dieser dem Sinus von Alpha entspricht. Kurz darauf zeichnet Veronika eine Strecke ein, zeigt darauf und sagt „das ist der Sinus“ (11). Für Larissa ordnet der Sinus dem Winkel \(\alpha\) also einen Wert auf der \(x\)-Achse zu, Veronika bezieht sich auf die gerichtete Länge des Referenzdreiecks. Dabei ist es zunächst irrelevant, dass Larissa fälschlicherweise annimmt, dass der Wert \({\text{sin}}\left( \alpha \right)\) auf der \(x\)-Achse statt der \(y\)-Achse abzulesen ist. Obwohl sie von der \(y\)-Achse spricht, zeigt sie mehrmals auf den Schnittpunkt mit der \(x\)-Achse. Es ist möglich, dass es sich hier um eine schlichte Verwechslung handelt. Schauen wir nun, wie sich die Situation weiterentwickelt:

Larissa und Veronika – Szene 2 – Aufgabe 2

figure k

Die nächste Szene beginnt mit Veronika, die sich fragt, warum ihre Vermutung gilt und ob „man da ein bisschen mit der Projektion“ (17) begründen kann. Larissa unterbricht sie und verneint „weil wir hier einfach dieses rechtwinklige Dreieck einzeichnen können“ (18–19). Veronika stimmt ihr zu. Woraufhin Larissa meint, dass man sich den Kreis auch wegdenken könnte. Veronika stimmt erneut zu und begründet dies damit, dass sie ja einfach nur den Sinus am Einheitskreis berechnen. Larissa unterbricht Veronika in ihrem Satz und führt ihn zu Ende mit den Worten: „Ja, zufällig liegt dieser Kreis genau so, dass das passt“ (26–27). Veronika fängt daraufhin mehrere Sätze an, die sie nicht beendet. Sie fängt an darüber zu sprechen, was „wichtig ist“ (28), und dass sie bisher „ja eigentlich nur den Einheitskreis angeguckt“ (30) haben. Sie fragt sich, was es mit dem innenliegenden Kreis auf sich hat und warum „dieser Zufall vorhanden“ (32) ist, dass der Sinus mit dem Schnittpunkt auf der y-Achse übereinstimmt.

In dieser Szene versuchen Larissa und Veronika die Wahl ihrer Zuordnung zu begründen. Veronika beginnt damit über eine Projektion zu sprechen, allerdings gelingt es ihr nicht, Sätze zu formulieren, die einen genaueren Einblick in ihre Vorstellungen gewähren. Es ist möglich, dass sie mit einer Projektion auf die entsprechenden Achsen versucht, die Länge der von ihr eingezeichneten Gegenkathete zu bestimmen. Larissa wählt einen anderen Weg. Sie begründet die Wahl ihres Punktes auf der \(x\)-Achse damit, dass ein Referenzdreieck einzeichnet werden kann. Der innere Kreis spielt für sie zunächst keine Rolle mehr und lässt sich ganz einfach wegdenken. Larissa und Veronika fahren fort:

Larissa und Veronika – Szene 3 – Aufgabe 2

figure l
figure la

Nachdem Veronika und Larissa zunächst davon ausgingen, dass es sich bei der Übereinstimmung zwischen dem Schnittpunkt des kleinen Kreises und der \(x\)-Achse sowie dem Wert von \({\text{sin}}\left( \alpha \right)\) um einen „Zufall“ (32) handelt, der nur im Einzelfall stimmt, versuchen die Beiden nun ein Argument dafür zu liefern, dass diese Gleichheit „halt doch nicht zufälligerweise“ (59) vorliegt. Larissa fährt zunächst mit ihrem Stift den Einheitskreis entlang und macht den Anschein, als würde sie auf mentaler Ebene mit der vorliegenden Figur operieren, indem sie den Punkt P auf dem Einheitskreis verschiebt. Sie sagt, dass es sich um „eine coole Sache hier“ (48–49) handelt. Als Vorstellungshilfe setzt sie den Stift im zweiten Quadranten an, um dort einen Kreis einzuzeichnen und einen weiteren Fall zu betrachten. Sie entscheidet sich letztlich dafür, den Kreis im ersten Quadranten einzuzeichnen.

Larissa wechselt in dieser Szene von einer statischen zu einer dynamischen Sichtweise. Wo sie zu Anfang noch auf den Einzelfall fixiert war, scheint sie nun zu begreifen, dass es sich bei der Skizze um einen exemplarischen Fall handelt, der sich verallgemeinern lässt. Sie lässt den Punkt gedanklich am Einheitskreis entlang wandern und stellt sich vor, wie der Kreis und die entsprechenden Punkte mitwandern. Erst durch das mentale Operieren am Einheitskreis entwickelt Larissa ein dynamisches Verständnis, das dabei hilft, den Sachverhalt zu verallgemeinern. Dahingegen führte die Betrachtung des Referenzdreiecks im vorherigen Teil stets zu einer sehr statischen, auf den Einzelfall fokussierten Sichtweise. Zum besseren Verständnis führt Larissa ihre Überlegungen im ersten Quadranten genauer aus.

Larissa und Veronika – Szene 4 – Aufgabe 2

figure m
figure ma

Nachdem Larissa ihre Zeichnung angefertigt hat, kommen ihr Zweifel, da ihre Skizze nicht den Eindruck erweckt, sie könnte ihre Annahme stützen (Abbildung 6.4).

Abbildung 6.4
figure 4

Hilfsskizze von Larissa und Veronika zu Aufgabe 2

Veronika teilt ihre Zweifel: Sie ist der Meinung, dass die Skizze etwas konstruiert sein könnte, „weil du weißt wo du hin willst“ (87–88). Larissa gibt sich geschlagen und verweist erneut auf den Zufall. Die abschließenden Worte Veronikas fassen ihr Bemühen wie folgt zusammen: „Wir können sagen, warum wir das können, aber wir können nicht jetzt erklären warum das passt“ (93–94). Die Bearbeitung der Aufgabe endet an dieser Stelle und beide widmen sich der nächsten Aufgabe.

In Larissas Argumentationsweise wird der Gegensatz zwischen dem statischen Charakter der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und dem dynamischen Charakter der Einheitskreisdefinition deutlich. Erst durch das mentale Operieren am Einheitskreis gelangt Larissa kurzzeitig zu der Vermutung, dass die Aufgabe einen allgemeingültigen Fall darstellt. Die Rückbesinnung auf das rechtwinklige Dreieck führt dazu, dass Larissa sich erneut auf den Einzelfall bezieht und den Zufall als Grund angibt. Offenbar fehlen ihnen die technischen Mittel um eine genauere Analyse durchzuführen. An dieser Stelle würden geometrische Hilfsmittel wie ein Zirkel oder dynamische Geometriesoftware die Exploration vereinfachen.

Nach der Bearbeitung der dritten Aufgabe kehren Larissa und Veronika noch einmal für einen Moment zurück zu Aufgabe 2. Es beginnt der folgende Dialog:

Larissa und Veronika – Szene 5 – Aufgabe 2

figure n

Larissa fragt zu Beginn der Szene, ob der Sinuswert auf der \(x\)- oder der \(y\)- Achse abgelesen wird. Veronika antwortet „Hm… auf der y-Achse“ (96) dabei zeichnet sie eine vertikale Linie vom Punkt \(P\) zur \(x\)-Achse. Larissa fragt daraufhin „und warum ist das hier auf der \(x\)-Achse? Wir haben es hier auf der \(x\)-Achse eingezeichnet“ (100–102) dabei zeigt sie auf den Punkt auf der \(x\)-Achse. Veronika verneint die Aussage. Sie sagt sie haben „die hier“ (106) eingezeichnet und fährt zunächst mit ihrem Stift die Verbindungsstrecke von \(P\) zur \(x\)-Achse ab und anschließend die \(y\)-Achse. Larissa entgegnet ihr, dass sie in diesem Fall den falschen Wert abgelesen haben und nicht auf die \(x\)-Achse sondern auf die \(y\)-Achse schauen müssen. Veronika stimmt ihr zu „Den Wert haben wir falsch gesagt. Das stimmt“ (113–114). Larissa korrigiert den Fehler. Sie zeichnet eine Verbindungsstrecke von \(P\) zur \(y\)-Achse ein und liest einen Wert von „0,8“ (117) ab. Veronika versucht den Fehler nachzuvollziehen und sagt „Wir haben da halt das Dreieck eingezeichnet und den Schnittpunkt gebildet“ (118–119) und wenig später „Aber Sinus konnten wir hier ablesen ganz genau“ (121). Am Ende der Szene fasst sie zusammen: „Also das eine ist der Schnittpunkt und das wie wir uns das Dreieck mit der Projektion quasi vorstellen und das andere ist wo wir es ablesen“ (125–127).

Larissas Frage, ob der Sinuswert auf der \(x\)- oder der \(y\)- Achse abgelesen wird, ist rein technischer Natur. Sie geht nicht darauf ein, was bestimmt wird, sondern nur darauf, wie vorgegangen wird, um den gesuchten Wert zu erhalten. Es ist also nicht klar, ob Larissa die Koordinaten des Punktes \(P\) bestimmen will oder ob sie an die Länge der Gegenkathete des Referenzdreiecks denkt. Veronika antwortet korrekt, dass der Wert auf der \(y\)-Achse abgelesen wird. Entscheidend ist an dieser Stelle allerdings nicht, was Veronika sagt, sondern welche Geste sie ausführt. Sie deutet die Strecke von \(P\) zur \(x\)-Achse an. Diese Strecke kann auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden:

  1. 1.

    Es handelt sich um die Gegenkathete des Referenzdreiecks. Der gesuchte Wert ist somit gleich der gerichteten Länge dieser Strecke.

  2. 2.

    Es handelt sich um eine Hilfslinie um die Projektion des Punktes \(P\) auf die \(x\)-Achse anzudeuten. Auf diese Weise erhält man die x-Koordinate des Punktes \(P\).

Es ist möglich, dass die beiden Funktionen dieser Linie von Larissa und Veronika durcheinandergebracht wurden. Hinzu kommt, dass man zur Bestimmung der Länge der Gegenkathete eine Verbindungsstrecke vom Punkt \(P\) zur \(y\)-Achse einzeichnen kann, so wie es Larissa wenig später tut.

6.2.3 Zusammenfassung – Aufgabe 2

In beiden Fallstudien nutzen die Studierenden unterschiedliche Zuordnungsvorstellungen der Sinusfunktion, zwischen denen differenziert werden muss, um die jeweiligen Erklärungsmodelle zu rekonstruieren. Der Sinus kann zum einen als Zuordnung zwischen einem Winkel und dem Seitenverhältnis in einem rechtwinkligen Dreieck verstanden werden, was im Einheitskreis zu der Betrachtung des Referenzdreieck führt, zum anderen ordnet der Sinus einem Winkel \(\alpha\) die \(y\)-Koordinate eines Punktes \(P\) auf dem Einheitskreis zu.

In beiden Fallstudien stellt sich die Referenzdreiecksvorstellung (vgl. Abschnitt 4.6.3) als dominant heraus, führt allerdings auch immer wieder zu Schwierigkeiten. Janine und Tim haben Probleme damit, dem Referenzdreieck in den Grenzfällen \(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\) eine Bedeutung zukommen zu lassen, da das Dreieck in diesen Fällen entartet und die Hypotenuse mit der Gegenkathete bzw. der Ankathete zusammenfällt. Veronika und Larissa fällt es zunächst schwer, Gegenkathete und Hypotenuse des Referenzdreiecks zu identifizieren, da dieses nicht im ersten Quadranten liegt. Anschließend gibt es Komplikationen bei der Bestimmung der Seitenlänge der Gegenkathete: Das Einzeichnen der Gegenkathete führt Larissa zu dem Schnittpunkt mit der \(x\)-Achse, dessen \(x\)-Wert sie im Verlauf des Bearbeitungsprozesses als Sinuswert interpretiert. Eine weitere Gemeinsamkeit in beiden Bearbeitungsprozessen liegt darin, dass beide Paare versuchen, den Sachverhalt in den ersten Quadranten zu legen und dort weiter zu bearbeiten. Dieses Vorgehen hängt damit zusammen, dass im ersten Quadranten die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und die Definition am Einheitskreis übereinstimmen und keine gerichteten Längen vorkommen. Eine Fokussierung auf die Definition des Sinus über die \(y\)-Koordinate und damit verbunden eine Anwendung der Koordinatenvorstellung des Sinus (vgl. Abschnitt 4.6.4), hätte den Studierenden bei der Lösung dieser Aufgabe möglicherweise geholfen.

6.3 Aufgabe 3: Modellierung periodischer Prozesse

In der dritten Aufgabe sollten die Studierenden die Schwingung eines Federpendels mathematisch modellieren. Der Aufgabentext lautet:

Vor dir befindet sich ein Federpendel, an dem ein Gewichtsstück der Masse \(0,5\) kg befestigt ist. Im Ruhezustand befindet sich das untere Ende des Gewichtsstücks \(16,5\) cm über der Tischplatte.

Lenke das Gewicht so aus, dass es sich \(10,5\) cm über der Tischplatte befindet. Lass das Gewicht los und bestimme die Zeit, die es braucht, um wieder zum Tiefpunkt zurückzukehren.

Nutze dazu die Handyapp. Miss die Zeit von fünf aufeinanderfolgenden Durchgängen und bilde den Mittelwert.

Stelle eine Funktionsgleichung auf, die diesen Schwingungsvorgang beschreibt.

In der Videostudie erhielten die Studierenden ein Federpendel, an dem ein Gewichtsstück mit der Masse 0,5 kg aufgehängt war, und ein Lineal mit zwei Markierungen an der Stelle 16,5 cm und 10,5 cm (vgl. Abbildung 6.5). Im Ruhezustand befand sich das untere Ende des Gewichtstücks 16,5 cm über der Tischplatte. Die Studierenden wurden dazu aufgefordert, das Gewichtsstück auf 10,5 cm über die Tischplatte auszulenken, loszulassen und die Schwingungsdauer mit der Stoppuhr ihres Handys zu bestimmen. Insgesamt sollten fünf aufeinanderfolgende Durchgänge gemessen und daraufhin ein Mittelwert gebildet werden. Anschließend sollten die Studierenden ein Funktionsterm bestimmen, der den Schwingungsvorgang beschreibt.

Abbildung 6.5
figure 5

Modellierung am Federpendel

Die Schwingungsdauer des verwendeten Federpendels mit einem Gewichtsstück der Masse \(0,5\) kg beträgt in etwa \(0,78\) Sekunden und ist unabhängig von der Auslenkung, wenn diese nicht zu groß wird. Unter der Annahme, dass es sich um eine ungedämpfte Schwingung handelt, kann dieser Vorgang mithilfe der allgemeinen Sinusfunktion \(g\left( x \right) = a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right) + d\) modelliert werden. Dabei beeinflusst \(a\) die Amplitude, \(b\) die Periodenlänge, \(c\) die Phasenverschiebung und \(d\) die Verschiebung in \(y\) Richtung. Wird das Koordinatensystem in geeigneter Weise gewählt, können \(c\) und \(d\) gleich \(0\) gesetzt werden. Die Aufgabe besteht dann darin, die Faktoren \(a\) und \(b\) zu bestimmen, die jeweils von der Auslenkung und der Frequenz abhängen. Da das Gewichtsstück um \(6\) cm ausgelenkt wurde, ist \(a = 6\). Der Faktor b ergibt sich, indem der Wert \(2 \pi\) durch die Periodendauer von \(0,78\) geteilt wird: \(b = \frac{2 \cdot \pi }{{0,78}}\). Die Modellfunktion hat dann die Form \(h\left( x \right) = 6 \cdot \sin \left( {\frac{2 \cdot \pi }{{0,78}} \cdot x} \right)\) und es gilt \(h\left( {k \cdot 0,78} \right) = 0\) für alle \(k \in N\) (vgl. Abbildung 6.6).

Abbildung 6.6
figure 6

Graph der Modellfunktion \(h\left( x \right) = 6 \cdot sin\left( {\frac{2 \cdot \pi }{{0,78}} \cdot x} \right)\)

Aus mathematischer Sicht sollten die Studierenden mit den folgenden charakteristischen Eigenschaften der Sinusfunktion \(f\left( x \right) = {\text{sin}}\left( x \right)\) vertraut sein:

  • \(\sin \left( 0 \right) = 0\)

  • \(\sin \left( {\frac{\pi }{2}} \right) = 1\)

  • die Funktion \(\sin \left( x \right)\) ist \(2\pi\)-periodisch

  • der Wertebereich der Sinusfunktion ist \(\left[ { - 1,1} \right]\)

Weiterhin sind die Studierenden im Idealfall in der Lage, sicher mit der allgemeinen Sinusfunktion \(g\left( x \right) = a \cdot \sin \left( {b \cdot x + c} \right) + d\) umzugehen, und wissen, wie sich Änderungen der Parameter auf den Graphen der Sinusfunktion auswirken.

Während des Modellierungsprozesses müssen die Studierenden zwischen drei Darstellungsebenen wechseln können. Die entsprechenden Ebenen sind:

  1. 1.

    Die symbolische Ebene, in der die Funktion als Term gegeben ist

    \(f\left( x \right) = a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right) + d\).

  2. 2.

    Die graphische Ebene, in der die Funktion als Funktionsgraph im kartesischen Koordinatensystem gegeben ist.

  3. 3.

    Die inhaltliche Ebene, in der die Funktion als Schwingungsvorgang beschrieben wird.

Während des Bearbeitungsprozesses muss auf diesen Darstellungsebenen mental operiert werden. Dabei untersuchen die Studierenden, wie sich die Veränderung eines Parameters auf die entsprechende Eigenschaft der Funktion auf einer anderen Darstellungsebene auswirkt:

Parameter in

\(a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right) + d\)

Operation am

Funktionsgraphen

Merkmale des

Schwingungsprozesses

d

Verschiebung entlang der \(y\)-Achse

Anpassung der Schwinghöhe

c

Verschiebung entlang der \(x\)-Achse

Anpassung des Startzeitpunkts

b

Stauchung/Streckung entlang der \(x\)-Achse

Anpassung der Periode

a

Stauchung/Streckung entlang der \(y\)-Achse

Anpassung der Amplitude

Die Zusammenhänge zwischen den Parametern der allgemeinen Sinusfunktion und den entsprechenden Operationen am Funktionsgraphen zu erkennen, gehört zu den Grundkenntnissen der Objektvorstellung einer Funktion. Die Vernetzung zu den Merkmalen des Schwingungsprozesses erfordert darüber hinaus Modellierungskompetenzen und lässt sich mit der Oszillationsvorstellung in Verbindung bringen.

6.3.1 Alexander und Lisa – Modellierung periodischer Prozesse

Alexander und Lisa sind Kommilitonen im 1. Mastersemester. Beide sind Mathematik-Lehramtsstudierende für die gymnasiale Oberstufe. Das vorliegende Transkript ist 165 Zeilen lang und ist untergliedert in vier Szenen. Die Bearbeitung der Aufgabe dauert insgesamt 12:36 Minuten.

Alexander und Lisa verbringen zu Beginn des Bearbeitungsprozesses ca. vier Minuten damit, die Schwingungsdauer des Federpendels zu bestimmen. Dazu messen sie mehrere Schwingungsvorgänge und bilden den Mittelwert. Sie erhalten einen Wert von 0,78 Sekunden und beginnen damit eine Funktionsgleichung aufzustellen:

Alexander und Lisa – Aufgabe 3 – Szene 1

figure o
figure oa

Alexander beginnt damit, den Mittelwert von 0,78 bSekunden mit der Pendelschwingung in Verbindung zu bringen. Er sagt „das ist immer nach null Komma sieben acht ist es ja wieder auf dem… ist es ja wieder bei einem Tiefpunkt angekommen“ (4–6). Lisa stimmt ihm zu. Daraufhin fertigt Alexander eine Skizze an. Er zeichnet eine Welle auf ein Stück Papier, die am Tiefpunkt anfängt und drei Perioden durchläuft. Anschließend ordnet er jedem Tiefpunkt der Reihe nach eine Zahl zu und schreibt diese auf „hier null, hier null Komma sieben acht, eins Komma fünf sechs.“ (12–14). Als nächstes möchte er die Auslenkung in die Skizze eintragen. Er stoppt und fragt sich „Ah nee, wir wissen nicht was der höchste Punkt ist, oder?“ (15–16). Lisa antwortet ihm „Ja schon, achso. Doch bei zehn Komma…“ (17). Alexander berichtigt sie und weist daraufhin, dass 10,5 der Wert für den Tiefpunkt ist (19). Lisa zweifelt kurz an seiner Behauptung, gibt ihm dann aber Recht. Nachdem Alexander und Lisa ihre Unstimmigkeit beigelegt haben, weist Alexander daraufhin, dass bei dem Schwingungsvorgang das Pendel über den Ruhezustand hinaus schwingt „Genau, aber das Problem ist ja, wenn es schwingt […] schwingt ja auch etwas höher“ (23–26). Er bestätigt seine Aussage zeitgleich damit, dass er das Pendel in Schwingung versetzt und das Lineal danebenhält. Lisa stimmt ihm zu. Alexander versucht sich zu erinnern, welche Informationen sie brauchen um die Modellfunktion aufzustellen. Er spricht von der Amplitude und der Frequenz und merkt an, dass sie dafür wissen müssen „wie hoch der steigt“ (33).

In dieser Szene sind bei Alexander und Lisa bereits Überlegungen zu erkennen, die der Objektvorstellung einer Funktion zugeordnet werden können. Dazu gehören beispielsweise das Bestimmen globaler Eigenschaften einer Funktion, das Verschieben des Funktionsgraphen im Koordinatensystem und das simultane Arbeiten auf unterschiedlichen Darstellungsebenen. Alexander beginnt damit, die Skizze einer Welle auf das Papier zu zeichnen und legt so erste Eigenschaften der Modellfunktion \(h\left( x \right)\) fest, die im weiteren Verlauf des Bearbeitungsprozesses eine Rolle spielen. Alexander trägt 0 beim ersten Tiefpunkt ein und addiert sukzessiv den Wert \(0,78\) bei jedem weiteren Tiefpunkt. Die Modellfunktion hat also eine Periodenlänge von \(0,78\). Außerdem hat \(h\left( x \right)\) bei \(x = 0 + k \cdot 0,78\) jeweils einen Tiefpunkt.

Anschließend beschäftigen sich Alexander und Lisa mit der Auslenkung des Pendels bzw. der Amplitude der Modellfunktion \(h\left( x \right)\). Beide versuchen die Parameter der Modellfunktion aus dem Schwingungsvorgang herzuleiten. Sie kommen zu dem Schluss, dass der tiefste Punkt des Pendels bei \(10,5\) liegt. Sie wissen aber nicht, wo der höchste Punkt liegt. Alexanders letzte Aussage in Bezug auf die Amplitude der Funktion deutet auf eine Fehlvorstellung hin: Er sagt „Wir müssen […] die Amplitude […] wiedergeben […] das heißt, wir müssen ja doch eigentlich auch wissen wie hoch der steigt, oder?“ (29–33). Der Begriff der Amplitude bezieht sich für Alexander scheinbar auf den Hochpunkt der Sinusfunktion. Er denkt, dass es notwendig ist zu wissen, wie hoch die Funktion steigt, um die Amplitude der Sinusfunktion zu bestimmen. Er denkt scheinbar, dass es nicht reich, zu wissen, welchen Wert der Tiefpunkt annimmt. Er lässt außer Acht, dass die Amplitude aus Symmetriegründen auch über den Tiefpunkt bestimmt werden kann.

Wie lässt sich diese Fehlinterpretation erklären? Es ist auffallend, dass Alexander und Lisa große Schwierigkeiten haben, den Schwingungsprozess korrekt zu erfassen. Es scheint, als läge die Problematik nicht allein in der mathematischen Verwendung der Sinusfunktion, sondern zu einem Großteil in den Wissenslücken, die sich im Bereich der Modellierung periodischer Prozesse auftun. Die wesentlichen Eigenschaften dieser Prozesse müssen von ihnen erst erkundet werden. Dazu gehört die Erkenntnis, dass das Pendel in einer harmonischen Schwingung von der Ruheposition den gleichen Weg nach oben wie nach unten zurücklegt. Schauen wir nun, wie Alexander und Lisa weiter vorgehen.

Alexander und Lisa – Aufgabe 3 – Szene 2

figure p
figure pa

Alexander unterscheidet zu Beginn dieser Szene die Kosinusfunktion von der Sinusfunktion mit den Worten „äh null war glaub ich eine Sinus“ (40–41) und zeigt dabei auf die Nullstelle der skizzierten Funktion. Er rekapituliert, dass man zur Bestimmung der Funktion zunächst wissen muss „wie hier der Abstand, ähm, jeweils ist zwischen Tiefpunkt und Tiefpunkt“ (43–44) und dann noch „was es für eine Auslenkung hat“ (46). Lisa stimmt ihm zu. Alexander stellt die Vermutung auf, dass das Pendel während einer Schwingung ausgehend vom Ruhezustand in beide Richtungen gleichweit schwingt. Auch darin stimmt Lisa zu. Alexander bestätigt seine Vermutung indem er das Pendel zum Schwingen bringt und das Lineal danebenhält. Er kommt zu dem Schluss, dass sich das Pendel am höchsten Punkt \(22,5\) cm über der Tischplatte befindet. Er hält sein Ergebnis fest, schreibt den Wert \(22,5\) an den Hochpunkt seiner skizzierten Wellenfunktion und bemerkt „Das heißt, wir haben ja insgesamt zwölf Zentimeter hoch“ (61–62). Er versucht nun stückweise den gesuchten Funktionsterm aufzustellen „Ah, das ist doch dann, das ist doch sowas, Sinus von“ (64–65) und schreibt den Wert „+10,5“ auf. Anschließend sagt er „wir haben ja am Ende denk ich, weil Sinus ja bei null anfängt, haben wir ja auf jeden Fall plus zehn Komma fünf stehen“ (66–68). An dieser Stelle hält Alexander inne und sagt, dass er nun nicht mehr weiterkommt.

In dieser Szene wird die Erkundung des Schwingungsprozesses fortgeführt. Alexander und Lisa vergewissern sich, dass das Pendel genauso hoch schwingt, wie es zuvor nach unten ausgelenkt wurde. Nachdem Alexander herausgefunden hat, dass der niedrigste Punkt der Pendelschwingung bei liegt, bestimmt er den konstanten Wert des gesuchten Funktionsterms und schreibt „\(+10,5\)“ auf das Arbeitsblatt. Tatsächlich hätte Alexander einen Wert von \(16,5\) addieren müssen.

Welche Gründe kann es also haben, dass er den Wert \(10,5\) wählt? Die Sinusfunktion unterscheidet sich durch ihre typischen Eigenschaften von anderen Funktionsklassen. Beispielsweise ist bei linearen und quadratischen Funktionen der Wert des \(y\)-Achsenabschnitts gleich dem Summanden am Ende des Funktionsterms. Es ist denkbar, dass Alexander diese Tatsache fälschlicherweise auf den vorliegenden Fall verallgemeinert und einen Wert von \(10,5\) addiert. Dabei lässt er die Phase und die Amplitude der Funktion unberücksichtigt. Das Problem der Phasenverschiebung lässt sich auf Alexanders Formulierung „weil Sinus ja bei null anfängt“ (66–67) zurückführen. Er setzt den Anfang des Schwingungsvorganges mit \(\sin(0)\) gleich. Dabei achtet er nur auf die Funktionswerte der Sinusfunktion und der Modellfunktion, nicht aber auf die Phase.

Alexander und Lisa – Aufgabe 3 – Szene 3

figure q
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Zu Beginn dieser Szene bemerkt Lisa, dass die Bestimmung des Mittelwerts sie zu einer periodischen Darstellung geführt hat. Alexander stimmt zu und weist darauf hin, dass sie ihr Wissen über die \(2\pi\)-Periodizität der Sinusfunktion nutzen müssen. Er führt den Gedanken weiter und sagt „das zwei Pi […] entspricht ja quasi hier unserer null Komma sieben acht“ (84–85). Lisa bestätigt die Aussage und sagt „Genau wir haben sie halt deutlich gestaucht“ (86). Kurz darauf fragt sie „Ist das gestaucht?“ (88). Alexander bejaht ihre Frage „ja gestaucht. Es ist deutlich schneller.“ (89). Daraufhin fängt er an etwas auszurechnen „Wenn wir […] die beiden Zahlen miteinander teilen, dann kriegen wir glaube ich einen Faktor raus“ (92–94). Er fragt sich „zwei Pi durch… durch was ergibt null Komma sieben acht?“ (96–97) und folgert, dass der zu berechnende Faktor gleich \(\frac{{0,78}}{{2\pi }}\) ist. Lisa und Alexander benutzen ihre Handys und bestimmen für den Quotienten \(\frac{{0,78}}{{2\pi }}\) einen Wert von 0,124. Nachdem sie diesen Wert ermittelt haben, überlegt Alexander wo dieser Faktor in der Funktionsgleichung hingehört „der Faktor steht ja zwischen den Werten“ (125–126). Lisa erwähnt die Funktion des Faktors und konkretisiert Alexanders Aussage „das bezieht sich ja jetzt auf die Frequenz, das heißt, das steht innerhalb von unserem Sinus“ (127–128). Alexander stimmt zu und ergänzt, dass sie den Faktor „irgendwie dareinsetzen, dann haben wir ja die Frequenz“ (131–132).

Alexander und Lisa beschäftigen sich in dieser Szene mit der Periodizität der Modellfunktion \(h\left( x \right)\). Beide stimmen zu, dass die Sinusfunktion eine Periode von \(2\pi\) hat. Mit seiner Bemerkung „zwei Pi […] entspricht ja quasi unserer null Komma sieben acht“ (83–85) stellt Alexander einen Zusammenhang zwischen der Sinusfunktion \(f\left( x \right) = \sin \left( x \right)\) und der Modellfunktion \(h\left( x \right)\) her. Am Ende seiner Überlegung berechnen Alexander und Lisa den Faktor \(\frac{{0,78}}{{2\pi }}\). Korrekt wäre der Faktor \(\frac{{2\pi}}{{0,78 }}\) gewesen.

Wie lässt sich dieser Fehler erklären? Alexander und Lisa verwechseln bei der Parameterbestimmung im Funktionsterm \(\sin \left( {b \cdot x} \right)\) die Rechenoperation \(\cdot\) und \(\div\). Das hängt damit zusammen, dass sie die Funktion in \(x\)-Richtung stauchen wollen. Ähnliche Verwechslungen kommen bei der Parameterbestimmung quadratischer Funktionen vor. Dort wird oft fälschlicherweise die Variable \(x\) mit 2 multipliziert, um den Funktionsgraphen in \(x\)-Richtung zu strecken und durch 2 geteilt, um ihn zu stauchen. Darüber hinaus ergibt sich die Stauchung der Funktion über die Anpassung der Periode, die es zu verkleinern gilt, nämlich von \(2\pi\) auf \(0,78\). Um den Wert zu verkleinern, entscheidet sich Alexander für die Division. Dabei wird außer Acht gelassen, dass der Faktor \(b\) im Funktionsterm \(\sin \left( {b \cdot x} \right)\) die Periodenlänge in antiproportionaler Weise beeinflusst. Das heißt, je kleiner der Faktor, desto größer die Periodenlänge.

Alexander und Lisa – Aufgabe 3 – Szene 4

figure r
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Alexander beginnt die Szene mit der Frage, wie sie die „Höhenausgleichung“ (134) kriegen. Lisa erwidert „also Sinus von null bleibt null […] und Sinus von, äh, Pi […] wäre eins, ne?“ (136–141). Alexander stimmt zu und bemerkt: „in den Werten haben wir eine Verzwölffachung“ (144–145). Daraufhin sagt Lisa „Genau, also ist einfach zwölf Mal Sinus“ (146). Alexander beginnt den Funktionsterm aufzuschreiben und mit Lisa zusammen vorherige Überlegungen miteinzubeziehen. Die Zwölf „bezieht sich auf die Amplitude“ (151), der Faktor im Funktionsterm gibt die „Stauchung“ (152) an und „plus zehn Komma fünf wegen der Höhe auf der wir starten“ (160–161). Insgesamt ergibt sich also der Funktionsterm \(12 \cdot \sin \left( {0,12414 \cdot x} \right) + 10,5\) (vgl. Abbildung 6.7).

Abbildung 6.7
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Endprodukt des Bearbeitungsprozesses von Alexander und Lisa

In dieser Szene beschäftigen sich Alexander und Lisa erneut mit der Amplitude der Modellfunktion \(h\left( x \right)\). Zu Beginn hält Lisa fest, dass Sinus von \(\pi\) null gleich null ist und Sinus von gleich eins. Die Tatsache, dass Alexander ihr zustimmt, deutet daraufhin, dass beide eine falsche Vorstellung entwickelt haben, die sich möglicherweise durch die vorangegangenen Fehler erklären lässt.

Wie kommt Lisa nun also zu der Aussage \(\sin \left( \pi \right) = 1\)? Es ist möglich, dass es sich um eine falsche Übertragung von realen Bewegungen auf einen funktionalen Term handelt. Die Periode des realen Schwingungsvorgangs beginnt an einem Tiefpunkt, erreicht nach der Hälfte seinen Höhepunkt und kehrt dann zurück zu einem Tiefpunkt. In Szene zwei hat Alexander bereits angemerkt, dass der Sinus bei \(0\) beginnt und deshalb der Wert \(10,5\) addiert werden muss. Dieser Denkweise folgend, liegt es nahe zu vermuten, dass der Graph der Sinusfunktion bei 0 startet, im Intervall \(\left[ {0,\pi } \right]\) von 0 bis 1 wächst und im Intervall \(\left[ {\pi ,\;2\pi } \right]\) wieder von 1 auf 0 sinkt.

6.3.2 Jana und Melanie – Manipulationen am Funktionsgraphen

Jana und Melanie sind Kommilitoninnen im zweiten Mastersemester für das Lehramt Mathematik an Gymnasien. Das vorliegende Transkript ist 198 Zeilen lang und in fünf Szenen unterteilt, die gesamte Bearbeitungsdauer beträgt 14:45 Minuten. Jana und Melanie verbringen zunächst 2:30 Minuten damit, die Schwingungsdauer mit ihren Handys zu bestimmen. Sie erhalten einen Mittelwert von 0,718 Sekunden. Schauen wir nun wie sich die erste Szene entwickelt:

Jana und Melanie – Aufgabe 3 – Szene 1

figure s
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Jana versucht zunächst eine neue Einheit für den ermittelten Wert von 0,718 Sekunden zu finden und in „Milli- oder Mikrosekunden“ (1) umzurechnen. Sie fragt anschließend, ob der gesuchte Funktionsterm die Form \(f\left( x \right) = \sin \left( {71,8 \cdot x} \right)\) hat. Melanie verneint und beginnt damit, sich den Schwingungsvorgang zu verdeutlichen. Dazu zeichnet sie – zunächst ohne Koordinatenachsen – eine Welle auf das Papier (vgl. Abbildung 6.8) und erklärt den Schwingvorgang.

Abbildung 6.8
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Skizze von Melanie und Jana

Melanie gibt an, dass das Pendel unten anfängt zu schwingen und dann immer hoch und runtergeht: „Dann schwingt es wieder hoch, dann schwingt es wieder runter, dann schwingt es wieder hoch und so weiter“ (6–8). Jana fügt hinzu „Aber wir messen ja erst ab hier“ (11) und markiert die Tiefpunkte der Welle. Melanie sagt, dass der Vorgang periodisch ist und immer so weitergeht, „auch wenn es sich ja irgendwann dann quasi gegen null äh, annähert“ (16–18). Jana merkt an, dass das Annähern auf jeden Fall mit eingebracht werden muss, und fängt an, in die Skizze von Melanie zwei orthogonale Achsen einzuzeichnen und die horizontale mit \(t\) zu bezeichnen. Melanie wirft daraufhin ein, dass sie „die Achse halt eher da immer in die Mitte legen“ (25–26) würde, und zeichnet eine horizontale Achse durch die Sinusfunktion, damit ihre Modellfunktion wie die Sinusfunktion negative Werte annehmen kann und sie die Sinusfunktion nicht verschieben müssen. Am Ende ihres Satzes sagt sie allerdings, dass sie die Funktion auch einfach verschieben können. Jana beschriftet als nächstes die \(y\)-Achse, sie macht eine Auf- und Abbewegung mit der Hand und sagt, dass dort die „Pendel…“(33) und Melanie ergänzt „Schwünge“ sind (34). Jana beschriftet die Achse mit der Schwinghöhe. Melanie spezifiziert die Ausprägung mit „Entfernung von der Tischplatte“ (37–38). Jana erklärt sich einverstanden „Passt schon“ (39) und fragt sich, wie sie die Dämpfung der Schwingung modellieren sollen. Da der „Standard Sinus“ (40) gleichbleibt, müssten sie den „Sinus verändern, damit das geringer wird“ (41–42). Melanie weist daraufhin, dass sie nur fünf Schwingungen betrachten müssen und beschließt, dass sie die Dämpfung nicht berücksichtigen sollten. Melanie ist der Meinung, sie „sollen vielleicht wirklich nur annehmen, dass es immer weiter hoch und runter geht“ (47–49).

Jana macht zu Beginn der Szene einen Umrechnungsfehler, der im Laufe der Bearbeitung nicht korrigiert wird. Der Mittelwert für die Periodendauer entspricht umgerechnet 718 Millisekunden, Jana verwendet den Wert \(71,8\). Daraufhin stellt Jana eine erste Modellfunktion auf, indem sie den Wert \(71,8\) in die Sinusfunktion einsetzt und so \(h\left( x \right) = \sin \left( {71,8 \cdot x} \right)\) erhält. Was auf einen ersten Blick willkürlich erscheinen mag, folgt einer gewissen Sachlogik, da der Parameter vor der Variable \(x\) in der allgemeinen Funktionsgleichung des Sinus Auswirkung auf die Frequenz und damit auf die Periodendauer hat. Janas Vorgehen legt also die Vermutung nahe, dass sie einen Zusammenhang zwischen dem Parameter und der Frequenz erkennt, aber nicht mehr genau weiß, wie sich eine Änderung auf die Periodendauer der Funktion auswirkt. Anschließend stellen sich Jana und Melanie zwei Fragen in ihrem Modellierungsprozess: Wie sollen die Koordinatenachsen gewählt werden? Und soll die Dämpfung der Schwingung in den Modellierungsprozess miteinbezogen werden? Bei der Wahl der Achsen verfolgen Melanie und Jana unterschiedliche Ziele. Jana möchte den Sachverhalt möglichst realitätsnah abbilden und wählt eine \(x\)-Achse unterhalb des Funktionsgraphen, so dass die Modellfunktion nur positive Werte annimmt. Diese entsprechen dem Abstand vom Gewichtsstück zur Tischplatte. Jana schlägt hingegen vor, die \(x\)-Achse so zu wählen, dass sie den Graphen der Sinusfunktion schneidet. Dadurch wird der Modellierungsprozess mathematisch vereinfacht, da der \(d\) Parameter in der Funktionsgleichung \(g\left( x \right) = a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right)\) gleich 0 wäre.

Janas Manipulation des Funktionsterms kann auf mindestens zwei unterschiedliche Arten interpretiert werden. Sie verändert den Funktionsterm der Sinusfunktion, indem sie den Parameter \(b\) gleich 71,8 setzt. Diese Handlung lässt sich zum einen mit der Objektvorstellung erklären – Jana operiert am symbolischen Objekt – zum anderen kann die Kovariationsvorstellung miteinbezogen werden – Jana untersucht wie sich die Änderung des Parameters auf den Funktionsgraphen auswirkt. In diesem Kontext wird die Kovariationsvorstellung allerdings nicht im klassischen Sinne verwendet, um zu erklären, wie sich der Funktionswert im Wertebereich einer Funktion in Abhängigkeit des Argumentes verändert, sondern, um zu erklären, wie sich die Funktion innerhalb einer Funktionsklasse in Abhängigkeit eines Parameters ändert. Man kann in diesem Sinne von einer Kovariationsvorstellung zweiten Grades sprechen. Es zeigt sich allerdings, dass ohne geeignetes Grundwissen über trigonometrische Funktionen das Aufstellen einer geeigneten Modellfunktion nicht gelingen kann. Jana fehlt die Einsicht, wie sich der Faktor auf die Periode der Sinusfunktion auswirkt.

Jana und Melanie – Aufgabe 3 – Szene 2

figure u
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Jana beginnt die Szene mit der Frage wie sie „in den Sinus diese Zeit einbauen“ (50–51) können. Sie überlegt zunächst, wo in der Skizze der Startpunkt der Sinuskurve sein könnte, und zeigt auf eine Nullstelle. Kurz darauf entscheidet sie sich um: „Nee, lass uns das nach unten verschieben“ (53) und zeigt auf den Tiefpunkt der Sinuskurve. Sie zeigt auf den Abstand zwischen zwei Tiefpunkten und fragt „das ist ein Pi, ne?“ (55) und ergänzt „ein Pi soll dann sieben eins Komma acht Millisekunden brauchen“ (56–57). Melanie greift die Argumentation auf, deutet auf dem Zettel auf den Wert und sagt „also hat sie die Periode zwei Mal das hier“ (58). Sie begründet ihre Aussage mit den Worten „eine Periode wäre ja quasi einmal das“ (60–61), während sie mit ihrem Stift eine Periode der Sinuskurve in die Luft zeichnet. Sie fängt an zu überlegen und bemerkt „nee, das passt hier gerade nicht“ (62–63). Es folgen sieben Sekunden der Stille, in denen Melanie mehrfach eine Periode der Sinuskurve in die Luft zeichnet. Jana bricht das Schweigen und sagt „jetzt müssen wir mal den Sinus direkt angucken“ (64) und fängt an, eine neue Sinuskurve zu zeichnen. Jana beginnt mit einem Koordinatensystem und zeichnet eine Sinuskurve, die am Ursprung des Koordinatensystems beginnt: „Der beginnt hier unten“ (65). Das Stück des Graphen links vom Ursprung wird erst nachträglich eingezeichnet. Sie zeigt auf die Nullstelle im Ursprung und auf die Nullstelle bei und sagt „So, von hier bis da ist eine“ (66). Melanie ergänzt: „Das sind zwei Pi“ (68). Melanie kommentiert ihre Zeichnung „So wir starten jetzt von da bis da“ (69) und zeigt auf den Tiefpunkt \(\frac{3}{2}\pi\) bei und \(\frac{7}{2}\pi\). Melanie und Jana sind sich einig, dass diese auch voneinander entfernt sind. Jana schließt damit, dass dieser Abstand dem Wert 71,8 entsprechen muss.

Um den Wert 71,8 formal in die Sinusfunktion einzubauen, widmen sich Jana und Melanie zunächst der Frage, wie dieser Wert anschaulich am Funktionsgraphen gedeutet werden kann. Dabei vergleichen sie den Wert mit der Periode der Sinusfunktion. In ihrer Erklärung folgert Jana fälschlicherweise, dass der Abstand von einem Tiefpunkt der Sinusfunktion zur nächsten genau \(\pi\) beträgt; Richtig wären \({2\pi }\) gewesen. Wie lässt sich dieser Fehler erklären? In der Zeit von einer Nullstelle zur Nächsten durchläuft die Sinusfunktion eine halbe Periode. Der Verlauf des Funktionsgraphen wiederholt sich erst ab der zweiten Nullstelle. Jana könnte diese Argumentation auf Tiefpunkte übertragen haben. Dementsprechend würde folgen, dass die Sinusfunktion von einem Tiefpunkt zum nächsten eine halbe Periode durchlaufen hat. Es handelt sich also in gewisser Weise um eine Übergeneralisierung des Arguments.

Melanie fällt dieser Fehler zunächst nicht auf. Janas Logik folgend, schlussfolgert sie, dass die Periode der Modellfunktion insgesamt \(2 \cdot 71,8\) betragen muss. Was könnte Melanie nun durch den Kopf gehen? Wenn Janas Aussage stimmt und der Abstand von einem Tiefpunkt zum nächsten gleich \(\pi\) ist, dann muss \(\pi\) in der Modellfunktion 71,8 entsprechen. Da die Sinusfunktion eine Periode \(2 \cdot \pi\) von hat, hat die Modellfunktion dementsprechend eine Periode von \(2 \cdot 71,8\). Erst dadurch, dass Melanie eine Periode der Sinusfunktion in die Luft zeichnet, erkennt sie, dass etwas nicht stimmt. Um sich Klarheit zu verschaffen, zeichnet Jana eine Sinusfunktion auf und vergleicht den Abschnitt von einer Nullstelle bis zur Übernächsten mit dem Abschnitt von einem Tiefpunkt bis zum Nächsten. Indem sie scheinbar gedanklich die Abschnitte ineinander überführt, merkt sie, dass diese die gleiche Länge haben.

Jana und Melanie – Aufgabe 3 – Szene 3

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Nachdem Melanie und Jana geklärt haben, wie der Wert anschaulich am Funktionsgraphen gedeutet werden kann, zeichnet Melanie eine neue Sinuskurve. Sie beschäftigen sich nun damit, wie dieser Wert formal in den Funktionsterm eingebaut wird. Melanie fragt Jana, ob die „eigentliche Periode“ (81) durch die „jetzt neue Periode“ (82) geteilt werden soll – wodurch der Faktor \(\frac{2\pi}{71,8}\) entstehen würde – oder ob sie die Werte „malnehmen“ (83) sollen, was zu dem Faktor \(2\pi \cdot 71,8\) führen würde. Jana tendiert dazu, die Werte zu multiplizieren, woraufhin Melanie einwirft, dass sie die „neue Periode eigentlich runterskalieren“ (87–88) wollen. Melanie fragt daraufhin „Wenn wir jetzt … zwei Pi mal einundsiebzig Komma acht Millisekunden rechnen, dann hätten wir ja eine Periode die größer wäre eigentlich, oder?“ (88–91).

In dieser Szene äußert Melanie die Vermutung, dass eine Multiplikation von \({2\pi}\) mit dem Faktor 71,8 die Periode der Funktion vergrößern würden. Wie lässt sich diese Vermutung erklären? Die Bestimmung des Parameters \(b\), der sich in einem Funktionsterm \(f\left( {b \cdot x} \right)\) vor der Variable \(x\) befindet, gehört zu dem Kanon schulischer Modellierungsaufgaben und hängt mit der Objektvorstellung einer Funktion zusammen. Oft geht dabei die Frage einher, ob der Funktionsgraph in \(x\)-Richtung gestaucht oder gestreckt werden soll. Dabei tauchen bei den Schülerinnen und Schülern oft Verwechslungen zwischen \(\cdot\) und \(\div\) auf. Dahinter könnte die Vermutung stecken, dass Multiplizieren vergrößert und damit der Graph in die Breite gestreckt wird, wohingegen die Division verkleinert und der Graph dadurch zusammengestaucht wird. Im Fall von Jana und Melanie steht in dieser Szene zunächst nicht die Frage im Vordergrund, wie der Funktionsgraph gestaucht wird, sondern, wie die Periode verkleinert werden kann. Auch hier entscheidet sich Melanie zunächst dafür, die Division zu nutzen, und knüpft damit möglicherweise an die Vorstellung an, dass die Division verkleinert.

Jana und Melanie – Aufgabe 3 – Szene 4

figure w
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In dieser Szene überlegt Jana, wie der Faktor vor der Variable \(x\) zu wählen ist, damit die Modellfunktion eine Periode von 71,8 Millisekunden hat. Dazu wertet sie die Modellfunktion an den Stellen t = 71,8 und t = 0 aus und setzt beide Male den Funktionswert auf (vgl. Abbildung 6.9). Sie begründet diese Funktionswerte mit dem Kommentar „wir skalieren es ja runter“ (107).

Abbildung 6.9
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Notizen von Jana

Jana stellt anschließend die Frage „Wie müssten wir hier überhaupt Minus rechnen, damit wir da unten starten“ (107–109) und zeigt auf die Nullstelle im Ursprungs des Koordinatensystems (vgl. Abbildung 6.10). Melanie beginnt nun damit, den Abstand zwischen der Höhe des Gewichtsstückes am Hochpunkt und der Höhe im Ruhezustand zu bestimmen. Sie erhält einen Wert von cm und halbiert diesen anschließend: „Das heißt, der Unterschied ist sechs und die Hälfte davon wäre drei weil normalerweise starten wir ja da“ (116–118) und zeigt auf den Tiefpunkt der Funktion. Sie schließt, dass sie „einfach drei weiter unten starten“ (120–121). Jana zeichnet daraufhin eine Funktion parallel zur Ursprungsfunktion, die ein Stück entlang der \(y\)-Achse nach oben verschoben ist (vgl. Abbildung 6.10).

Abbildung 6.10
figure 10

Skizze von Jana

Jana erklärt Melanie, dass die von ihr vorgeschlagene Verschiebung nicht ausreicht: „Wir müssen es ja auch noch ein Stück nach rechts verschieben, damit wir in null null sind.“ (124–126). Um zu verdeutlichen was Jana meint, zeichnet sie einen Pfeil vom Tiefpunkt zum Ursprung des Koordinatensystems (vgl. Abbildung 6.10). Diese Verschiebung nach rechts erreicht Jana, indem sie von der Variable \(x\) den Wert \(\frac{\pi}{2}\) abzieht: „Das heißt hier muss auch noch minus rein. Minus ähm… das Stück hier wieviel Pi sind das ein halb Pi, ne?“ (131–133). Sie gelangt so zu der vorläufigen Gleichung

$$\sin \left( {a \cdot t - \frac{1}{2}\pi } \right) + 3$$

Insgesamt vermischen sich in dieser Szene drei Operationen am Funktionsgraphen, die von den Gesprächspartnern unterschiedlich interpretiert und verstanden werden:

  1. 1.

    Stauchung/Streckung des Funktionsgraphen entlang der \(x\)-Achse

  2. 2.

    Verschiebung in \(y\)-Richtung

  3. 3.

    Verschiebung in \(x\)-Richtung

Jana versucht zunächst die Periodenlänge der Modellfunktion anzupassen, was einer Stauchung des Funktionsgraphen entspricht. Dazu stellt sie Gleichungen auf und versucht das Problem im algebraischen Register zu lösen (vgl. Abbildung 6.9). Als sie nicht weiterkommt, orientiert sie sich am Funktionsgraphen der Sinusfunktion. Ihr Kommentar „wir skalieren es ja runter“ (107) lässt vermuten, dass sie eine Verschiebung entlang der \(y\)-Achse meint. Jana bezieht sich damit auf die Diskussion aus Szene 1, ob die \(x\)-Achse unterhalb des Funktionsgraphen verläuft oder durch ihn hindurch. Zur Erinnerung: Jana wollte, dass der Funktionsgraph oberhalb der \(x\)-Achse verläuft, hat sich nun aber darauf eingelassen, ihn nach unten zu verschieben. Im Anschluss darauf fragt Jana, wie sie den Graphen verschieben müssen um unten zu starten. An dieser Stelle kann angenommen werden, dass sie sowohl eine Verschiebung in \(y\)-Richtung als auch eine Verschiebung in \(x\)-Richtung meint, sodass der Tiefpunkt der Sinusfunktion genau im Ursprung des Koordinatensystems liegt. Melanie versteht darunter vermutlich eher die Frage, wie der Funktionsgraph entlang der \(y\)-Achse verschoben werden muss. Dabei bestimmt sie den Wert der Amplitude und halbiert diesen. Zuletzt lenkt Jana ein und versucht Melanie zu erklären, dass sie eine Verschiebung in \(y\)-Richtung beabsichtigt hat. Zwar wurde der Wert der Amplitude von Melanie falsch bestimmt – sie erhält 3, es müssten aber 6 sein – dennoch schaffen es beide, die Werte entsprechend ihrer Überlegung in den Funktionsterm einzubauen. Um den Graphen nach oben zu verschieben, addieren sie den Wert 3 und um den Graphen nach rechts zu verschieben, subtrahieren sie den Wert \(\frac{1}{2}\pi\) von der Variable \(x\).

Jana und Melanie – Aufgabe 3 – Szene 5

figure x
figure y

In der letzten Szene widmen sich Jana und Melanie erneut der Bestimmung des Parameters \(a\), in der von ihnen aufgestellten Gleichung \(f\left( t \right) = \sin \left( {a \cdot t - \frac{1}{2}\pi } \right) + 3\). Jana schlägt vor: „So und das könnten wir doch jetzt hiermit machen oder nicht?“ (151–152) und zieht ihre vorher aufgestellten Gleichungen zur Rate (vgl. Abbildung 6.9). Ihr Versuch scheitert „weil Sinus von minus einhalb Pi ist definitiv nicht drei“ (154–155). Jana und Melanie überlegen eine Weile, ehe Melanie vorschlägt doch auf der \(x\)-Achse zu starten. Die Zeit von einem Hochpunkt zum nächsten sei dieselbe wie von einer Nullstelle zur übernächsten. So müssten sich die beiden „zumindest um das drei um die Verschiebung keine Gedanken machen“ (164–165). Jana streicht die alte Skizze durch (vgl. Abbildung 6.8) und fertigt eine neue an (vgl. Abbildung 6.11), in dem sie „jetzt einfach den normalen Sinus“ (168) nehmen.

Abbildung 6.11
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Modellfunktion ohne Verschiebung

Indem Jana und Melanie „die Verschiebung komplett lassen“ (173–174), ist es Jana nun möglich, ihre Gleichungen wieder zu benutzen. Sie formt die Gleichungen um, um an zu gelangen (vgl. Abbildung 6.12). Zur Lösung fehlt ihr nur noch der „Arcussinus von null“ (181–182).

Abbildung 6.12
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Janas Umformung der Gleichung

Melanie weiß den Wert des Arcussinus nicht und bittet um ein bisschen Bedenkzeit „bevor ich irgendwelche Ideen auftische“ (185). Nach acht Sekunden schreibt sie die Formel \(f\left( t \right) = \sin \left( {\frac{{2\pi }}{{71,8}} \cdot t} \right)\) auf. Als Begründung liefert sie: „weil wenn wir hier jetzt einundsiebzig Komma acht einsetzen, dann kürzt sich das hier wieder raus und wir wären bei zwei Pi das wäre null, also dass wir die Periode skalieren“ (189–192).

In dieser Szene einigen sich Melanie und Jana darauf, den Modellierungsprozess zu vereinfachen, indem sie die Verschiebung des Funktionsgraphen entlang der \(x\)-Achse und entlang der \(y\)-Achse außer Acht lassen. Dies geschieht wahrscheinlich aufgrund des Widerspruchs, der sich aus der aufgestellten Gleichung \(f\left( t \right) = \sin \left( {a \cdot t + \frac{\pi }{2}} \right) + 3\) und den Bedingungen \(f(0)=0\) und \(f(71,8)=0\) ergibt. Dieser Widerspruch hätte aufgelöst werden können, indem Melanie und Jana die Amplitude der Sinusfunktion in ihre Überlegung mit einbezogen hätten. Bei korrekter Klammersetzung und dem Faktor 3 vor dem Term \(\sin \left( {a \cdot \left( {t + \frac{\pi }{2}} \right)} \right)\) wäre kein Widerspruch erzeugt worden. Stattdessen einigen sich Jana und Melanie darauf, die Verschiebung in \(x\)– und \(y\)-Achse zu ignorieren, wodurch der Modellierungsprozess mathematisch vereinfacht wird. Abschließend bleibt für Jana und Melanie nur noch zu klären, wie sie auf den Faktor \(\frac{{2\pi }}{{71,8}}\) kommen. Jana argumentiert im Sinne der Zuordnungsvorstellung: Sie macht die Probe, setzt den für \(x\) den Wert \(71,8\) ein und erhält \(f\left( {71,8} \right) = 0\). Dieser Funktionswert stimmt mit ihren Vermutungen überein, weshalb sie zu dem Schluss kommt, dass der Faktor korrekt ist. Diese Argumentation ist in gewisser Weise sehr statisch, da sie sich auf einen bestimmten Wert fokussiert. Alternativ wäre es möglich gewesen im Sinne der Kovariationsvorstellung zu argumentieren. In diesem Fall müsste jedoch nicht das klassische Änderungsverhalten zwischen Argument und Funktionswert einer Funktion untersucht werden, sondern das Änderungsverhalten zwischen Parameter und Funktionsgraphen innerhalb einer Funktionsklasse. So gesehen stellt diese Sichtweise ein Kovariationsverhalten höherer Ordnung dar. Gemäß dieser Perspektive könnte die Argumentation wie folgt lauten: Die Sinusfunktion hat eine Periode von \(2\pi\), multipliziert man die Variable \(x\)mit dem Faktor \(2\pi\) wird die Funktion in \(x\)-Richtung gestaucht. Durchläuft \(x\) die Werte von 0 bis 1, wertet die Sinusfunktion alle Werte 0 von bis \(2\pi\) aus. Die neue Funktion hat also eine Periode von 1. Wird nun ein weiterer Faktor \(\frac{1}{{71,8}}\)von an die Variable multipliziert, wird die Funktion in \(x\)-Richtung gestreckt. Durchläuft \(x\) die Werte von 0 bis 71,8 wertet die Sinusfunktion alle Werte von 0 bis \(2\pi\) aus. Die neue Funktion hat also eine Periode von 71,8.

6.3.3 Zusammenfassung – Aufgabe 3

Die Handlungen und Denkprozesse der Studierenden lassen sich in beiden Fallstudien zum Teil mit Hilfe allgemeiner funktionaler Grundvorstellungen erklären beziehungsweise rekonstruieren. Zieht man die Objektvorstellung einer Funktion zur Rate, kann zum Beispiel in der Variation der Parameter eines Funktionsterms eine mathematische Operation mit symbolischen Objekten erkannt werden. Auch das Verschieben, Strecken oder Stauchen des Funktionsgraphen kann auf diese Weise gedeutet werden. Bezieht man sich hingegen auf die Kovariationsvorstellung, kann man in dieser Handlung eine Kovariation auf höherer Ebene erkennen, nämlich ein Änderungsverhalten zwischen einem Parameter und dem Funktionsgraphen innerhalb einer Funktionsklasse. Es ist im Bearbeitungsprozess von Lisa und Alexander weiterhin zu sehen, dass diese funktionalen Vorstellungen des Sinus nur vernünftig zum Tragen kommen können, wenn entsprechendes Grundwissen über trigonometrische Funktionen vorhanden ist. Dieses Grundwissen entspricht dem spezifischen technischen Wissen, das der Funktionsvorstellung des Sinus zugeordnet werden kann (vgl. Abschnitt 4.6.6), und ist notwendig, um auf formaler Ebene sinnvoll mit der Sinusfunktion umgehen zu können. Die Funktionsvorstellung des Sinus ist eine innermathematische Grundvorstellung, bei der die Sinusfunktion Bedeutung durch ihre analytischen Eigenschaften erlangt.

Daneben spielt in dieser Aufgabe die Oszillationsvorstellung eine Rolle, welche sich bei den Zuordnungsprozessen zwischen Realsituation und Funktionsterm zeigt. Diese Zuordnungsprozesse haben bei Kontexten, in denen die Sinusfunktion verwendet wird, – im Gegensatz zur Parabel – neue und deutlich komplexere Anforderungen. In Hinblick auf den Modellierungsprozess zeigen sich bei Lisa und Alexander deutliche Wissensdefizite im Verständnis des Schwingungsprozesses. Diese Defizite führen dazu, dass ihre Modellierungsversuche scheitern. Bevor sie die Aufgabe lösen können, müssen sie sich beispielsweise allmählich erarbeiten, dass die Schwingung des Federpendels in beide Richtungen gleich weit schwingt. Dies zeigt, dass die Kenntnis wesentlicher Begriffe und Eigenschaften periodischer Prozesse erforderlich sind, um diese in geeigneter Weise zu modellieren. Es sind genau diese Kenntnisse, welche die Basis zum Aufbau der Oszillationsvorstellung des Sinus bilden (vgl. Abschnitt 4.6.5) und dabei helfen, die korrekten Entscheidungen im Modellierungsprozess zu treffen. Welche Annahmen getroffen werden müssen und wie dieses Wissen in den Modellierungsprozess eingebunden wird, zeigt sich bei Jana und Melanie. Sie sind in einem stetigen Aushandlungsprozess über geeignete Annahmen, dabei geht es zum Beispiel um die Wahl des Koordinatensystems, die Dämpfung der Schwingung und die Wahl des Startzeitpunktes. Diese Überlegungen sind charakteristisch für oszillierende Vorgänge und unterscheiden sich dadurch von anderen Funktionsklassen.

6.4 Beantwortung der Forschungsfragen

Es werden nun die zu Beginn von Kapitel 6 gestellten Forschungsfragen beantwortet. Die Antworten darauf ergeben sich aus den Auswertungen der Videoanalysen.

Forschungsfrage 1: Welche charakteristischen Denkmuster lassen sich beim Arbeiten an ausgewählten Problemaufgaben zum Sinusbegriff erkennen?

In der Analyse der Transkripte lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher mathematischer Konzepte und Vorstellungen ausmachen, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem Sinusbegriff stehen und zur Lösung der gegebenen Aufgaben von den Studierenden genutzt werden. So spielen beispielsweise bei der Bearbeitung der ersten Aufgabe am rechtwinkligen Dreieck Aspekte des Bruchzahlbegriffs eine Rolle. In Aufgabe 2 wird deutlich, welche Signifikanz der erste Quadrant als Standardposition für die Lage des Referenzdreiecks hat und wie wichtig die Symmetrieeigenschaften des Einheitskreises bei der Lösung des Problems sind. Bei der Modellierung periodischer Prozesse nutzen die Studierenden außerdem Grundkenntnisse über Funktionen, die im Zusammenhang zur Objektvorstellung und zur Kovariationsvorstellung stehen. Auf diese Zusammenhänge wird im Folgenden detailliert eingegangen:

Aspekte des Verhältnisbegriffs: In Aufgabe 1 soll das Änderungsverhalten der Sinusfunktion im Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) am rechtwinkligen Dreieck erläutert werden. Bei der Darstellung der Sinusfunktion am rechtwinkligen Dreieck bezeichnet \(\sin(\alpha)\) das Seitenverhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse, das meist durch einen Bruch der Form \(\frac{a}{c}\) dargestellt wird. Der Bruchzahlbegriff selbst ist Gegenstand weitreichender empirischer und theoretischer Forschung (Schulz & Wartha 2011; Padberg & Wartha 2017; Kollhoff 2021) und stellt aus didaktischer Sicht ein äußerst umfangreiches Konzept dar. Durch die Menge an unterschiedlichen Sachzusammenhängen, in denen der Bruchzahlbegriff Anwendung findet, lassen sich eine Reihe normativer Grundvorstellungen formulieren, die im Umgang mit der Sinusfunktion relevant sind. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass ein ausgeprägtes Grundverständnis zum Sinusbegriff auch Aspekte des Bruchzahlbegriffs miteinbezieht.

Im Bearbeitungsprozess von Janine und Tim zu Aufgabe 1 zeigt sich eindrücklich wie wichtig entsprechende Deutungen des Bruchzahlbegriffs bei der Arbeit mit dem Sinus sind: Tim stolpert in seinem Denkprozess über unterschiedliche Vorstellungen zum Bruchzahlbegriff. Er spricht über den Sinus als Ergebnis einer Division „Gegenkathete zu Hypotenuse“ und fragt sich anschließend, was das über das „Verhältnis“ aussagt. Es ist an dieser Stelle zu erkennen, dass diese beiden Deutungen des Bruchzahlbegriffs für Tim scheinbar entkoppelt voneinander sind und er somit nicht den nötigen Schritt zur Lösung des Problems gehen kann. Mit der Hilfe seiner Partnerin begreift er schließlich, dass es sich bei dem Verhältnis und der Division um den gleichen mathematischen Gegenstand handelt.

Problemlösekompetenzen am Einheitskreis: In den Bearbeitungsprozessen zu Aufgabe 2 lassen sich bei den Studierenden allgemeine Problemlösekompetenzen erkennen. Diese zeigen sich zum Beispiel im Vereinfachen des Problems. In beiden Fallstudien findet diese Vereinfachung statt, indem Symmetrieeigenschaften des Einheitskreises genutzt werden: Statt das Problem für den gegebenen Winkel \(\alpha\) zu lösen, der zu dem Punkt \(p\) auf dem Einheitskreis im dritten Quadranten gehört, transferieren beide Paare den Sachverhalt in den ersten Quadranten und schauen sich das Problem für den Winkel \(\alpha - 180^\circ\) an. Dieses Vorgehen hängt vermutlich damit zusammen, dass das Referenzdreieck in der Schule im ersten Quadranten eingeführt wird und dort keine gerichteten Längen auftauchen. Außerdem ist es für einen Winkel \(\alpha \in \left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) eindeutig, was mit der Gegenkathete und der Ankathete des Referenzdreiecks gemeint ist. Sobald die Winkelgröße jedoch den Wert 90° übersteigt, ist es nicht mehr derart offensichtlich. Eine weitere Problemlösekompetenz zeigt sich in der Betrachtung von Spezialfällen, dazu untersuchen Janine und Tim die Fälle \(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\). Leider führt dieser Ansatz nicht zu dem gewünschten Ergebnis, da in diesen Spezialfällen das Referenzdreieck verschwindet.

Allgemeine funktionale Grundvorstellungen: Im Umgang mit der Sinusfunktion nutzen Lernende allgemeine funktionale Grundvorstellungen, die auf viele Funktionsklassen gleichermaßen angewendet werden können. Dazu zählen die Zuordnungsvorstellung, die Kovariationsvorstellung und die Objektvorstellung (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Grundvorstellungen klassifizieren aus normativer Perspektive allgemeine Denk- und Handlungsweisen mit funktionalen Objekten. In den Videoanalysen lassen sich diese normativen Kategorien dazu nutzen, die Denkprozesse der Studierenden zu rekonstruieren, die für die Sinusfunktion charakteristisch sind.

In Aufgabe 2 lassen sich im Denken der Studierenden Aspekte der Zuordnungsvorstellung wiederfinden. Am rechtwinkligen Dreieck findet die Zuordnung des Sinus zwischen einem Winkel und dem entsprechenden Seitenverhältnis statt. Diese sinusspezifische Zuordnungsvorstellung findet sich sowohl an beliebigen rechtwinkligen Dreiecken als auch am Einheitskreis wieder, dort nimmt sie Form an, indem ein Referenzdreieck in den Einheitskreis eingezeichnet wird. Im Bearbeitungsprozess von Janine und Tim wird deutlich, dass dieses Referenzdreieck und das entsprechende Verhältnis für Tim notwendig sind, um dem Sinus eine Bedeutung beizumessen. Bei Larissa und Veronika ist die Zuordnungsvorstellung am Referenzdreieck etwas anders gelagert: Sie thematisieren das Verhältnis nicht mehr, sondern ordnen dem Winkel direkt die gerichtete Seitenlänge der Gegenkathete zu. Eine weitere Erscheinungsform der Zuordnungsvorstellung ist bei Janine und Tim in Szene 1 zu sehen. Dort spricht Janine davon, dass der Sinus der \(y\)-Koordinate des Punktes \(p\) auf dem Einheitskreis entspricht, was mit der Definition des Sinus am Einheitskreis übereinstimmt. Damit zeigt sich die Zuordnungsvorstellung am Einheitskreis in zwei unterschiedlichen Weisen: als Seite im Referenzdreieck und als \(y\)-Koordinate eines Punktes. Das dominante Erklärungsmodell bezieht sich in beiden Fällen auf das Referenzdreieck. Dabei entstehen Schwierigkeiten, die in der Beantwortung der dritten Forschungsfrage erläutert werden.

In Aufgabe 1 liegt der Schwerpunkt auf der Kovariationsvorstellung: Es soll gezeigt werden, dass \(f\left( \alpha \right) = \sin \left( \alpha \right)\) auf dem Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) monoton wächst. In der Aufgabenstellung wird direkt auf die Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck verwiesen und dazu aufgefordert, den Sachverhalt dort zu begründen. Das Kovariationsverhalten kann allerdings an allen drei Darstellungen – Funktionsgraph, Einheitskreis und rechtwinkliges Dreieck – erläutert werden. Als dominantes Erklärungsmodell zeigt sich in diesem Kontext die Darstellung am Funktionsgraphen. Dazu reicht den Studierenden ein Verweis auf die Sinusfunktion aus, um die Vermutung zu bestätigen, dass die Funktion tatsächlich monoton wächst. Es handelt sich auf dieser Darstellungsebene für die Studierenden um gesichertes Wissen. Als Begründung wird dieser Verweis jedoch in den beiden untersuchten Fallstudien nicht akzeptiert, schließlich soll die Aussage am rechtwinkligen Dreieck hergeleitet werden. Max formuliert Bedenken, da sich die Sinusfunktion auf den Einheitskreis bezieht und nicht auf das rechtwinklige Dreieck. Auch Janine nennt kurz den Einheitskreis, distanziert sich dann aber wieder davon. Eine Argumentation am Einheitskreis wäre in dieser Aufgabenstellung gut geeignet, wird aber von keinem der Studienteilnehmenden formuliert. Dabei würde es reichen zu erklären, dass sich die \(y\)-Koordinate im ersten Quadranten bei wachsendem \(\alpha\) vergrößert. Wendet man sich den rechtwinkligen Dreiecken zu, so sind drei Prozesse denkbar, in denen sich das Dreieck dynamisch verändert: Soll der rechte Winkel beibehalten werden, können entweder die Hypotenuse, die Ankathete oder die Gegenkathete ihre Länge beibehalten (vgl. Abbildung 6.13)

Abbildung 6.13
figure 13

Winkeländerung im rechtwinkligen Dreieck (konstante Hypotenuse, Ankathete, Gegenkathete)

Im Fall der gleichbleibenden Hypotenuse ist leicht zu erkennen, dass das gesuchte Verhältnis größer wird, da sich nur der Zähler des Quotienten verändert (siehe Abbildung 6.13, erstes Beispiel). Wählt man eine Hypotenuse der Länge 1, so führt dieser Prozess zu der Definition des Sinus am Einheitskreis. Bei einer gleichbleibenden Gegenkathete verändert sich der Nenner des Quotienten (siehe Abbildung 6.13, drittes Beispiel). Im Fall der konstanten Ankathete verändern sich beide Werte des Verhältnisses, was den Sachverhalt komplizierter macht. Thompson (2008) spricht davon, dass sich Lernende die Änderung einer Winkelgröße im rechtwinkligen Dreieck üblicherweise mit einer konstanten Ankathete vorstellen. In dieser Denkweise zeigen sich bei David und Max neue Herausforderungen, die sich auf den Grenzfall \(a \to \infty\) beziehen und in der Beantwortung der dritten Forschungsfrage thematisiert werden.

Aspekte der Objektvorstellung sind in den Denkprozessen der Studierenden bei der Lösung von Aufgabe 3 zu erkennen. In dieser Aufgabe soll eine geeignete Modellfunktion aufgestellt werden, um den Schwingungsprozess eines Federpendels zu beschreiben. Dabei operieren die Studierenden auf formaler Ebene mit dem Funktionsterm und auf graphischer Ebene mit dem Funktionsgraphen. Sie verschieben und strecken den Graphen durch die Veränderung des passenden Parameters in \(x\)- und \(y\)-Richtung. Diese mathematischen Operationen können an unterschiedlichen Funktionsklassen durchgeführt werden. Charakteristisch für die Sinusfunktion und damit wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den anderen aus der Schule bekannten Funktionen ist der Bezug zu Periodenlänge, Phase und Amplitude der Funktion. Dieser Zusammenhang wird zwar von den Studierenden hergestellt, allerdings zeigen die Fallstudien, dass besonders die Anpassung der Periodenlänge und die Phasenverschiebung Schwierigkeiten mit sich bringen. Diese Aktionen entsprechen auf formaler Ebene der Anpassung der Faktoren \(b\) und \(c\) in der allgemeinen Funktionsgleichung \(f\left( x \right) = a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right) + d\). Wie diese Probleme zu erklären sind, wird in der Beantwortung der dritten Forschungsfrage thematisiert. Ein erwähnenswerter Modellierungsaspekt, der in dieser Aufgabe eine Rolle spielt, bezieht sich auf zentrale Eigenschaften des realen Schwingungsprozesses. So kann einerseits die Amplitude, Periodenlänge und Phasenverschiebung auf den Funktionsgraphen einer Funktion bezogen werden andererseits können diese Begriffe im Realkontext gedeutet oder verstanden werden. Beispielsweise wird die Periodenlänge einer Sinusfunktion von den Studierenden meist an drei aufeinanderfolgenden Nullstellen des Funktionsgraphen festgemacht. Im Schwingungsprozess sind es zwei aufeinanderfolgende Tiefpunkte. Besonders im Bearbeitungsprozess von Alexander und Lisa zeigt sich, dass diese Unterschiede zu Problemen führen können und ein grundlegendes Wissen über periodische Prozesse notwendig ist, um sinnvoll mit der Sinusfunktion umzugehen.

Forschungsfrage 2: Inwieweit lassen sich die normativen Grundvorstellungen zum Sinus in den Denkprozessen von Lehramtsstudierenden wiederfinden?

Bei der Beantwortung der ersten Forschungsfrage zeigte sich bereits, wie die allgemeinen funktionalen Grundvorstellungen genutzt werden können um die Denkprozesse der Studierenden in Teilen zu beschreiben und wie diese mit den Darstellungen und den sinusspezifischen Vorstellungen zusammenhängen. Um die Denkprozesse in einer feineren Unterteilung darzustellen, wird in diesem Abschnitt beschrieben, in welcher Weise die funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinus im Denken der Studierenden zu Tage treten.

Die Seitenverhältnisvorstellung zeigt sich im Umgang mit rechtwinkligen Dreiecken in Aufgabe 1 und lässt sich in der Argumentation am Einheitskreis in Aufgabe 2 wiederfinden. In Aufgabe 1 wird in beiden Fallstudien von den Studierenden das Verhältnis von Gegenkathete zur Hypotenuse als Sinus erkannt, benannt und verwendet. Im Bearbeitungsprozess von Janine und Tim zeigt sich bei Tim eine mögliche Verbindung zu Grundvorstellungen von Bruchzahlen. Er unterscheidet zwischen dem Ergebnis einer Division und dem Verhältnis zweier Zahlen, was bei ihm vorübergehend dazu führt, dass er der Gleichung \(\sin \left( \alpha \right) = \frac{a}{b}\) nicht die Bedeutung eines Seitenverhältnisses beimisst. Max und David nutzen im Zusammenhang mit der Seitenverhältnisvorstellung den Satz des Pythagoras und versuchen mit diesem Werkzeug die Aufgabe zu lösen. Die Deutung dynamischer Prozesse fällt ihnen hingegen schwer und eine Verbindung zur Sinusfunktion kann auch nur bedingt hergestellt werden.

Die Projektionsvorstellung kann in den Bearbeitungsprozessen nicht direkt nachgewiesen werden. Den einzigen Anhaltspunkt gibt Veronika die in Szene 2 von Aufgabe 2 kurz von der Projektion spricht. Hierbei handelt es sich aber eher um einen Aspekt der Koordinatenvorstellung als um die Projektionsvorstellung. Der Grund dafür, dass die Projektionsvorstellung in den Denkprozessen nicht belegt werden kann, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es sich um eine sehr spezifische Vorstellung handelt, die überwiegend in physikalischen Kontexten zum Tragen kommt. Darüber hinaus wäre es von Lehrendenseite her notwendig, den Aufbau einer solchen Vorstellung aktiv zu unterstützen.

Die Referenzdreiecksvorstellung wird in Aufgabe 2 sichtbar. In beiden Fallstudien stellt sie sich als dominantes Erklärungsmodell heraus und verdrängt dabei die Vorstellung des Sinus als \(y\)-Koordinate eines Punktes. Die Studierenden zeichnen rechtwinklige Dreiecke in die Skizze ein und nutzen die Symmetrieeigenschaften des Kreises um den Sachverhalt im ersten Quadranten zu untersuchen. Die Verlegung in den ersten Quadranten hängt vermutlich mit der schultypischen Herleitung von der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck zur Definition am Einheitskreis zusammen, bei der das Referenzdreieck als Verbindungsstück auftritt. Problematisch wird diese Vorstellung, wenn Grenzfälle betrachtet werden, in denen das Referenzdreieck verschwindet \(\alpha = 0^\circ ,90^\circ ,180^\circ , \ldots\) oder wenn Projektionslinien eingezeichnet werden, um die \(y\)-Koordinaten des Punktes abzulesen.

Die Koordinatenvorstellung ist aus normativer Sicht eine geeignete Vorstellung um Aufgabe 2 zu lösen. Im Bearbeitungsprozess von Janine und Tim wird sie explizit genannt und Janine gibt eine Erläuterung, wie sie zu der Definition des Sinus als \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis kommt. Sie erklärt, dass man zunächst im ersten Quadranten feststellen kann, dass die Definition am rechtwinkligen Dreieck und die Definition als \(y\)-Koordinate gleich sind. Anschließend kann der Sinus auf den gesamten Einheitskreis erweitert werden, was einer Erweiterung des Definitionsbereichs entspricht. Im Laufe der Diskussion wird die Koordinatenvorstellung allerdings von der Referenzdreiecksvorstellung verdrängt. Bei Larissa und Veronika wird nicht explizit von der \(y\)-Koordinate gesprochen, dennoch scheint sie an manchen Stellen durchzuschimmern. Larissa spricht beispielsweise von der Projektion, womit die Projektion des Punktes \(p\) auf die \(y\)-Achse gemeint sein könnte. Später sprechen Larissa und Veronika darüber, ob der Sinus auf der \(x\)- oder \(y\)-Achse abgelesen wird. Auch diese Überlegung deutet auf die Koordinatenvorstellung hin, wobei ihnen unklar scheint, ob es sich beim Sinus um die \(x\)- oder die \(y\)-Koordinate handelt.

Die Oszillationsvorstellung ist in beiden Bearbeitungsprozessen zu Aufgabe 3 zu erkennen und zeigt sich dort beim Abgleich der Modellfunktion mit dem zu beschreibenden Schwingungsvorgang. Die Oszillationsvorstellung stellt einen Bezug zu realen periodischen Vorgängen her: Die Schwingungsdauer eines Durchgangs beeinflusst im Funktionsterm den Parameter vor der Variable \(x\) und damit Periodenlänge, die Auslenkung des Federpendels wird der Amplitude der Modellfunktion zugeordnet und der Startpunkt bestimmt die Phasenverschiebung. Ein Mangel an entsprechenden Grundkenntnissen kann – wie im Fall von Alexander und Lisa – zu Schwierigkeiten im Modellierungsprozess führen. Sie müssen die wesentlichen Eigenschaften des Schwingungsprozesses erst entdecken: So ist ihnen beispielsweise zunächst nicht klar, ob das Federpendel im gleichen Maße nach oben schwingt, wie es zuvor ausgelenkt wurde. Letzten Endes können die Denkprozesse der Studierenden mit der Oszillationsvorstellung besser und spezifischer beschrieben werden als mit der allgemeinen Objektvorstellung nach Vollrath.

Die Funktionsvorstellung zum Sinus kann in Aufgabe 1 und 3 identifiziert werden. Es handelt sich bei dieser Vorstellung um eine rein innermathematische sekundäre Grundvorstellung: Die Sinusfunktion erhält Bedeutung durch das Anknüpfen an mathematische Operationen mit symbolischen Objekten. Bei den Überlegungen zum Kovariationsverhalten der Sinusfunktion in Aufgabe 1 greifen die Studierenden auf die Funktionsvorstellung zum Sinus und der damit verbundenen Grundkenntnis zur Monotonieeigenschaft auf dem Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) zurück. Dabei können die Studierenden zwar einen Zusammenhang zwischen der Sinusfunktion und dem Einheitskreis etablieren, der Zusammenhang zur Seitenverhältnisvorstellung bleibt allerdings ungeklärt. In Aufgabe 3 zeigt sich die Funktionsvorstellung konkret bei den mathematischen Operationen am allgemeinen Term Sinusfunktion \(a \cdot \sin \left( {b \cdot \left( {x + c} \right)} \right) + d\). Außerdem nutzen die Studierenden weitere Grundkenntnisse die der Funktionsvorstellung zum Sinus zugeordnet werden können. Zu diesen Grundkenntnissen gehört das Wissen darüber, dass die Periode der Sinusfunktion \(2\pi\) beträgt und dass die Sinusfunktion bei 0 beginnt.

Forschungsfrage 3: Können mit dem Grundvorstellungskonzept Schwierigkeiten im Umgang mit dem Sinus bei Lehramtsstudierenden identifiziert bzw. erklärt werden?

In den Videostudien wurden mehrere Probleme und Schwierigkeiten bei den Studierenden ausgemacht, die im Folgenden zusammengefasst werden.

Schwache bis fehlende Vernetzung der Seitenverhältnisvorstellung und der Funktionsvorstellung: In den Bearbeitungsprozessen zu Aufgabe 1, die in Abschnitt 6.1 analysiert wurden, zeigte sich, dass die Studierenden Schwierigkeiten haben, dynamische Prozesse am rechtwinkligen Dreieck in geeigneter Weise in ihre Argumentationen einzubinden. Der intendierte Lösungsweg, bei dem die Seitenverhältnisvorstellung genutzt werden sollte um das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion im Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) zu bestimmen, wurde hier bei keinem der Teilnehmenden gegangen. Stattdessen wurde versucht, das Problem mithilfe der Funktionsvorstellung zu lösen. Die Studierenden nutzten Grundkenntnisse über das Monotonieverhalten der Sinusfunktion auf dem Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) und lösten die Aufgabe damit. Da in der Aufgabenstellung explizit auf die Darstellung am rechtwinkligen Dreieck verwiesen wird, wurde in beiden Fallstudien von den Studierenden versucht, eine Verbindung zwischen der Sinusfunktion und der Darstellung am rechtwinkligen Dreieck herzustellen. Dies gelang nur bedingt und deutet darauf hin, dass die Vernetzung zwischen der Funktionsvorstellung und der Seitenverhältnisvorstellung lediglich eingeschränkt vorhanden ist. Eine Erklärung dafür kann im schultypischen Lernweg vom rechtwinkligen Dreieck zur Sinusfunktion gefunden werden, bei dem der Einheitskreis als vermittelndes Element auftritt. Bei dem Transfer von Eigenschaften der Sinusfunktion auf rechtwinklige Dreiecke muss also der Weg über den Einheitskreis gegangen werden. Einen direkten Zusammenhang zwischen der Sinusfunktion und der Darstellung am rechtwinkligen Dreieck herzustellen, könnte bei Lernenden die Ausbildung eines Grundverständnisses unterstützen.

Unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses in der Seitenverhältnisvorstellung: Das Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck wird sowohl bei Aufgaben der Dreiecksberechnung benötigt als auch bei der Nutzung des Referenzdreiecks im Einheitskreis. Eine Schwierigkeit im Zusammenhang mit Verhältnissen liegt darin, dass sie schwer direkt zu visualisieren sind, sondern in die geometrische Figur reingedacht werden müssen (Malle 2001). Darüber hinaus können Verhältnisse in unterschiedlichen Sachzusammenhängen auftauchen: z. B. als Anwendung beim Messen von Größen, formal als Division von Brüchen oder um Mischverhältnisse anzugeben. Dadurch kann es passieren, dass im Umgang mit der Sinusfunktion unterschiedliche Verhältnisvorstellungen kollidieren und dem Denkprozess hinderlich im Wege stehen. Dies zeigt sich eindrücklich im Bearbeitungsprozess von Janine und Tim zu Aufgabe 1 in Szene 2. Tim unterscheidet dort drei Konzepte, die dem Wert des Seitenverhältnisses zugeordnet werden können, und die er \(\sin \left( \alpha \right)\) zunächst nicht in Verbindung setzt:

  1. 1.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Wert einer Funktion

  2. 2.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Ergebnis einer Division: „Gegenkathete durch Hypotenuse“

  3. 3.

    \(\sin \left( \alpha \right)\) als Verhältnis: „2 zu 3“ bzw. 2:3

Dadurch wird deutlich, wie eng die Seitenverhältnisvorstellung mit Grundvorstellungen zum Verhältnisbegriff bzw. zum Bruchzahlbegriff steht und wie eine Vernetzung dieser Grundvorstellungen zu einem Grundverständnis des Sinusbegriffs beitragen kann.

Verständnisschwierigkeiten bei Grenzprozessen am rechtwinkligen Dreieck: Bei der Betrachtung dynamischer Prozesse am rechtwinkligen Dreieck in Aufgabe 1 stellt besonders der Grenzprozess eine Herausforderung dar, bei dem sich der Winkel \(\alpha\) dem Wert von 90° annähert. In der Bearbeitung von Tim und David zeigte sich, dass dieser Grenzprozess auf zwei unterschiedliche Weisen erfasst werden kann:

  • Vergrößerung des Winkels unter Beibehaltung der Länge der Ankathete

    $${\text{lim}}\;\alpha \to 90^\circ$$
  • Verlängerung der Gegenkathete unter Beibehaltung der Länge der Ankathete

    $${\text{lim}}\;BC \to \infty$$

Obwohl beide Prozesse aus mathematischer Sicht zum gleichen Ergebnis hinsichtlich des gesuchten Seitenverhältnisses führen, unterscheiden sie sich auf einer anschaulichen Ebene. So scheint es Tim klar zu sein, dass bei einer Annäherung des Winkels \(\alpha\) an den Wert 90° die Gegenkathete beliebig groß wird. Dass man durch eine Verlängerung der Gegenkathete beliebig nahe an den Wert \(\alpha=90^\circ\) herankommt, scheint ihm zunächst nicht plausibel zu sein. Eine Erklärung dieser Ungewissheit kann im Kovariationsverhalten zwischen Winkel und Gegenkathete gefunden werden. Eine gleichmäßige Vergrößerung des Winkels \(\alpha\) beschleunigt die Verlängerung der Gegenkathete. Bei einer gleichmäßigen Verlängerung der Gegenkathete wird die Vergrößerung des Winkels \(\alpha\) hingegen verlangsamt. An diesem Beispiel zeigt sich die Relevanz tragfähiger funktionaler Vorstellungen bei der Untersuchung geometrischer Eigenschaften. Erst das Zusammenspiel von Seitenverhältnisvorstellung und Kovariationsvorstellung ermöglichen es den Lernenden, zuverlässige Argumente zur Lösung des Problems anzuführen.

Schwierigkeiten im Umgang mit dem Referenzdreieck: Der Darstellung des Sinus am Einheitskreis wurde in der didaktisch orientierten Sachanalyse zwei Grundvorstellungen zugeordnet: die Koordinatenvorstellung und die Referenzdreiecksvorstellung. In der Analyse der Videostudien konnten beide Grundvorstellungen genutzt werden, um die Erklärungsmodelle der Teilnehmenden zu rekonstruieren und halfen dabei, mögliche Probleme zu erkennen. Die Koordinatenvorstellung erwies sich in den untersuchten Kontexten als tragfähig, wohingegen die Referenzdreiecksvorstellung zu Schwierigkeiten führte. Diese wurden in der Analyse der Videodaten ausführlich diskutiert. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Referenzdreieck lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. 1.

    Bedeutung von Grenzfällen: Im ersten Quadranten existiert für die Werte \(\alpha = 0^\circ\) und \(\alpha = 90^\circ\) im Einheitskreis kein Referenzdreieck. In diesen Fällen verschwindet die Gegenkathete bzw. die Ankathete und die übrige Kathete legt sich mit der Hypotenuse übereinander. Es bleibt lediglich eine Strecke der Länge über. Das kann dazu führen, dass Lernende, die auf Referenzdreiecksvorstellung fixiert sind, nicht in der Lage sind den Ausdrücken \(\sin \left( {0^\circ } \right)\) und \(\sin \left( {90^\circ } \right)\) eine Bedeutung zuzuschreiben.

  2. 2.

    Referenzdreieck außerhalb der Standardposition: Das Referenzdreieck wird in der Schule im ersten Quadranten eingeführt, um den Sinus anschließend auf dem gesamten Einheitskreis zu definieren. Liegt das Referenzdreieck in einem anderen Quadranten, fällt es einigen Studierenden schwer, Gegenkathete und Hypotenuse des Referenzdreiecks zu bestimmen. In diesen Fällen wird versucht, das Referenzdreieck in den ersten Quadranten zu verschieben, um die Symmetrieeigenschaften des Einheitskreises zu nutzen.

  3. 3.

    Längenbestimmung der Katheten des Referenzdreiecks: Beim Bestimmen der gerichteten Länge der Gegenkathete im Referenzdreieck wird fälschlicherweise die Projektion auf die \(x\)-Achse und nicht auf die \(y\)-Achse betrachtet. Dies lässt sich im Einzelfall auf die Verwechslung des Referenzdreiecks mit der Projektionslinie zurückführen (vgl. Abschnitt 6.2).

Die Referenzdreiecksvorstellung fungiert als Bindeglied zwischen der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und der Definition am Einheitskreis. Sie kann als solche genutzt werden, um Zusammenhänge zu erläutern und die Übereinstimmung der beiden Definitionen auf dem Intervall \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) zu erklären. Bei der Erweiterung des Definitionsbereichs auf die reellen Zahlen ist es jedoch vorteilhaft, sich von der Referenzdreiecksvorstellung zu lösen und die Koordinatenvorstellung auszubilden, um die oben genannten Problemquellen zu umgehen.

Schwach ausgebildete Oszillationsvorstellung: In Aufgabe 3 konnten bei den Studierenden erhebliche Schwierigkeiten im Modellierungsprozess periodischer Prozesse ausgemacht werden. Diese Probleme zeugten von einer Unkenntnis elementarer Eigenschaften eines Schwingungsprozesses und deuten auf eine schwach ausgebildete Oszillationsvorstellung hin. Alexander und Lisa mussten sich beispielsweise erst durch Beobachtungen vergewissern, dass das Federpendel in gleichem Maße nach oben schwingt, wie es zuvor nach unten ausgelenkt wurde. Diese Idealisierung des Schwingungsvorganges wurde von Melanie und Jana zunächst hinterfragt. Sie machten sich Gedanken darüber, ob sie die Dämpfung des Schwingungsvorganges in der Modellierung mitberücksichtigen sollen. Es zeigt sich an diesen Beispielen, wie wichtig eine intensive Auseinandersetzung mit Oszillationsvorgängen unterschiedlicher Art ist, um ein Verständnis für periodische Prozesse aufzubauen und damit die Modellierungsfähigkeit bei Schülerinnen und Schülern zu unterstützen.