In diesem Kapitel wird der empirische Teil des Forschungsvorhabens vorgestellt. Dazu werden im Folgenden zunächst die Forschungsfragen konkretisiert. Anschließend wird die Konzeption der Studie vorgestellt.

5.1 Forschungsfragen

Die in dieser Arbeit entwickelte didaktisch orientierte Sachanalyse knüpft an das genetische Prinzip zum Lehren und Lernen von Mathematik an und führt zu der Formulierung von sechs funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinusbegriff. Das genetische Prinzip zeigt sich in der Unterteilung in logisch-genetische, historisch-genetische und individual-genetische Aspekte der Begriffsbildung. Die ersten beiden Aspekte können in einer theoretischen Untersuchung umfassend bestimmt werden. Der individual-genetische Aspekt lässt sich hingegen sowohl aus theoretischer als auch aus empirischer Perspektive erforschen. Die theoretische Perspektive führt zu der normativ intendierten individuellen Genese und lässt sich beispielsweise anhand von schultypischen Lernwegen charakterisieren, wie man sie in Schulbüchern findet. Diese Facette des individual-genetischen Aspekts wurde bereits in Abschnitt 4.1 besprochen. Eine qualitative empirische Untersuchung individueller Denkprozesse kann hingegen Einblicke in die individuell konstruierte Genese vermitteln. Im Rahmen des Grundvorstellungskonzepts bilden diese beiden Facetten der individuellen Genese den normativen und den deskriptiven Aspekt des didaktischen Modells ab und beschreiben damit, wie Lernende aus mathematischer Sicht Vorstellungen zum Sinus aufbauen sollen beziehungsweise wie sie tatsächlich vom Individuum konstruiert werden. Noch bevor die hier formulierten normativen Grundvorstellungen zum Sinus als präskriptive Kategorie in die empirische Forschung mit einbezogen werden um Denkprozesse zu erklären, stellt sich allerdings die folgende, viel allgemeinere Frage:

Forschungsfrage 1: Welche charakteristischen Denkmuster lassen sich beim Arbeiten an ausgewählten Problemaufgaben zum Sinusbegriff erkennen?

Ohne den Fokus auf die funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinus zu legen, zielt die erste Forschungsfrage darauf ab, zu untersuchen, ob Denkmuster existieren, die mit den vorhandenen Mitteln der didaktischen Forschung rekonstruiert werden können und die übergreifend bei den Teilnehmenden zu finden sind. Die Problemaufgaben, die in dieser Studie genutzt werden, beziehen dabei unterschiedliche Darstellungen der Sinusfunktion mit ein: den Einheitskreis, rechtwinklige Dreiecke und den Funktionsgraphen. Nach der allgemeinen Untersuchung der Denkprozesse Studierender wird versucht, die konkreten Grundvorstellungen zum Sinusbegriff mithilfe qualitativer Methoden sichtbar zu machen. Dieses Vorhaben lässt sich unter der zweiten Forschungsfrage zusammenfassen:

Forschungsfrage 2: Inwieweit lassen sich die normativen Grundvorstellungen zum Sinus in den Denkprozessen von Lehramtsstudierenden wiederfinden?

Die letzte Forschungsfrage bezieht den konstruktiven Aspekt des Grundvorstellungskonzepts mit ein. Dazu werden die in der Theorie entwickelten Grundvorstellungen mit den empirischen Ergebnissen der ersten und zweiten Forschungsfrage abgeglichen, um mögliche Divergenzen zwischen den normativen Grundvorstellungen und den individuell konstruierten Vorstellungen zu identifizieren. Auf diese Weise können potentielle Fehlerquellen erkannt werden. Konkret lautet die Forschungsfrage:

Forschungsfrage 3: Können mit dem Grundvorstellungskonzept Schwierigkeiten im Umgang mit dem Sinus bei Lehramtsstudierenden identifiziert bzw. erklärt werden?

Im Einklang mit den Forschungsdesiderata 2 und 3, die in Abschnitt 2.3 der Arbeit formuliert wurden, werden diese Forschungsfragen durch die Analyse von Fallstudien untersucht, in denen Paare von Lehramtsstudierenden in kooperativen Problemlösesituationen trigonometrische Aufgaben lösen.

5.2 Konzeption der Studie

Forschungsdesign: Grundlage der Studie bilden drei Problemaufgaben, die den Sinus in der Darstellung am Einheitskreis, am rechtwinkligen Dreieck und als Modellfunktion periodischer Prozesse thematisieren. Die Aufgaben beruhen auf den unterschiedlichen Darstellungsformen des Sinus, welche als Träger bestimmter Grundvorstellungen dienen. Diese Aufgaben wurden in Partnerarbeit von den Teilnehmenden gelöst während sie mit einer Kamera über die Schulter dabei gefilmt werden. Die Studie fand in einem Raum der Universität Bielefeld statt, in dem die Probanden trotz der Videoaufzeichnungen ungestört arbeiten konnten. Die Teilnehmenden hatten insgesamt 30 Minuten Zeit für ihre Bearbeitung. Die Diskussionen, die während der Problemlöseprozesse stattfanden, wurden transkribiert und anschließend mit interpretativen Forschungsmethoden ausgewertet.

Untersuchungsgruppe: Die Untersuchungsgruppe besteht aus insgesamt 16 Mathematik-Lehramtsstudierenden für Gymnasium und Gesamtschule. Die Teilnehmenden befinden sich im 1.−2. Mastersemester. Sie haben das Gymnasium durchlaufen und Trigonometrie in der Sekundarstufe I und II behandelt. Darüber hinaus haben sie Vorlesungen zu Analysis I und II sowie Lineare Algebra I und II erfolgreich absolviert und haben kennengelernt, wie die Trigonometrie in der Hochschule behandelt wird.

Auswahl der Aufgaben für die Videostudie: Bei der Entwicklung der Aufgaben für die Videostudie wurde zunächst berücksichtigt, dass die Darstellungen des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und als Funktionsgraph auftauchen. Diese drei Darstellungsformen wurden ausgewählt, da sie als Träger der in Abschnitt 4.6 formulierten Grundvorstellungen zum Sinus dienen und dadurch bei den Studienteilnehmenden die gewünschten zu untersuchenden Denkprozesse aktivieren können. Weiterhin sollen die Aufgaben eine gewisse Schulnähe aufweisen. Das bedeutet, dass sie den inhaltlichen und prozessbezogenen Kompetenzerwartungen eines Lernenden entsprechen, der die gymnasiale Oberstufe abgeschlossen hat. Zuletzt sollten die Aufgaben ein Anforderungsniveau aufweisen, welches an den Wissenstand von Lehramtsstudierenden im Masterstudiengang angepasst ist. Das bedeutet, dass die Aufgaben weder trivial noch zu schwer sind, so dass Denkprozesse zu erwarten sind, über die sich die Teilnehmenden austauschen. Diese drei Kriterien bilden die Grundlage für eine Reihe von Aufgaben, die in einer Pilotstudie im Jahr 2021 an 28 Lehramtsstudierenden getestet wurde. Nach der Sichtung der Ergebnisse wurden drei Aufgaben ausgewählt. Wie es zu dieser Auswahl kam wird nun erläutert:

Unter den Aufgaben zum rechtwinkligen Dreieck stach eine Aufgabe heraus, in der am rechtwinkligen Dreieck argumentiert werden sollte, ob sich das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse bei größer werdendem Winkel vergrößert, verkleinert oder gleichbleibt. Nur knapp die Hälfte aller Studierenden gab eine korrekte Antwort und die Begründungen ließen darauf schließen, dass die Argumentation am rechtwinkligen Dreieck in diesem Kontext für viele Studierende zu Schwierigkeiten führt. In der Videostudie soll deswegen untersucht werden, wie diese Schwierigkeiten erklärt werden können und welche Rolle Grundvorstellungen beim Argumentationsprozess spielen.

Bei den Aufgaben zum Einheitskreis zeigten sich bei den Studierenden unterschiedliche Erklärungsmodelle bei der Bestimmung des Sinuswertes. Entweder wurde die gerichtete Seitenlänge des Referenzdreiecks bestimmt oder es wurde die Koordinate des Punktes auf dem Einheitskreis abgelesen. Diese beiden Vorgehensweisen entsprechen aus normativer Sicht der Koordinatenvorstellung und der Referenzdreiecksvorstellung (vgl. Abschnitt 4.6.3 und 4.6.4). Um diesen Aspekt genauer herauszuarbeiten, wurde eine Aufgabe ausgewählt, deren Lösung darin besteht, die Bestimmung der Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis mit dem Einzeichnen eines Referenzdreiecks in Zusammenhang zu bringen.

Die Aufgaben, in denen der Funktionsgraph in die Argumentation miteinbezogen wurde, thematisieren unterschiedliche Aspekte. Darunter fallen Symmetrieeigenschaften, der Zusammenhang zur Ableitungsfunktion und die Modellierung periodischer Prozesse. In einer der Aufgaben sollten die Studierenden Schülerfehler beim Modellieren einer Schwingungsbewegung diagnostizieren. Zwar konnten die Studierenden die Fehler identifizieren, allerdings gaben nur wenige eine Erklärung und keiner gab eine korrekte Modellfunktion an. Um zu untersuchen welche Schwierigkeiten bei der Modellierung eines periodischen Prozesses auftauchen können und welche Rolle die Oszillationsvorstellung spielt, wurde eine Modellierungsaufgabe entwickelt, in der der Schwingungsvorgang eines Federpendels mathematisch modelliert werden soll.

Auswertung der Videostudie: Im Hinblick auf die Forschungsfragen wurden die erhobenen Daten mit qualitativen Methoden analysiert. Das methodische Vorgehen zur Analyse der videographierten Daten orientiert sich an der Arbeitsweise von vom Hofe (1998). Dort werden Methoden der interpretativen Unterrichtsforschung mit der Analyse von Grundvorstellungen verbunden, um auf diese Weise Denkprozesse der Studierenden zu rekonstruieren. Diese Forschungsmethode bietet sich an, „wenn man sich aus deskriptiver Sicht dafür interessiert, ob Erklärungsmodelle, mit denen man Lern- bzw. Problemlösungsprozesse beschreibt, tatsächlich in den Denkprozessen der Schüler die Rolle spielen, die man aus theoretischer Sicht vermutet“ (vom Hofe 1998, S. 259).

Zur Auswertung der Videos werden die Bearbeitungsprozesse nach einer ersten Sichtung zunächst in einzelne Szenen untergliedert. Dabei wird darauf geachtet, dass in jeder dieser Szenen ein Argumentationsschritt oder ein Erklärungsmuster abgebildet ist. Anschließend werden die einzelnen Szenen transkribiert. Um die Lesbarkeit der Transkripte zu erhöhen, wird bei der Darstellung der videographierten Daten eine linearisierte Darstellung genutzt (vgl. Salle 2015). Ausgehend von den Transkripten beginnt die Interpretation der einzelnen Szenen zuerst auf der Beschreibungsebene und wechselt anschließend zur Erklärungsebene. Zu den Ebenen lassen sich die folgenden methodischen Leitfragen formulieren:

  • Deskriptives Nachzeichnen der subjektiven Schülerlogik. Welche subjektiven Vorstellungen bzw. Deutungsmodelle werden in den Lösungsversuchen der Schülerinnen deutlich? Inwieweit lassen sich dabei individuelle Denkmuster bzw. Lösungsstrategien nachzeichnen?

  • Vergleichende Einbeziehung präskriptiver Kategorien. Inwieweit lassen sich Denkprozesse der Schülerinnen mit vorhandenen didaktischen Begriffen und Modellen erfassen und erklären? (vom Hofe 1998, S. 266)

Diese beiden Ebenen stehen im Einklang mit den in Abschnitt 5.1 formulierten Forschungsfragen. Auf der Beschreibungsebene werden die Denkprozesse losgelöst von den Grundvorstellungen dargestellt und analysiert, um für den Sinus charakteristische Denk- und Handlungsweisen zu identifizieren. Auf der Erklärungsebene werden die Denkprozesse mithilfe von Grundvorstellungen rekonstruiert und untersucht, inwieweit sich diese im Denken der Lernenden wiederfinden. Das Grundvorstellungskonzept tritt außerdem an zwei weiteren Stellen der empirischen Untersuchung auf. Einleitend zu jeder Aufgabe wird in einer normativen Aufgabenanalyse geklärt, welche Lösungswege und Grundvorstellungen bei der Bearbeitung der jeweiligen Probleme zu erwarten sind. Abschließend zu jeder Aufgabe dienen die funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen dazu, Probleme im Umgang mit den unterschiedlichen Darstellungen der Sinusfunktion zu erklären.