Die Herleitung von Grundvorstellungen durch eine didaktisch orientierte Sachanalyse ist ein in vieler Hinsicht offenes Forschungsfeld. Eine der wenigen Arbeiten die sich mit dieser Aufgabe auseinandersetzt, wurde von Salle und Clüver (2021) veröffentlicht und beschäftigt sich mit der Herleitung der Verhältnis- und Projektionsvorstellung des Sinus. Um die Ursprünge möglicher weiterer Grundvorstellungen zur Sinusfunktion auf normativer Ebene zu klären, wird in diesem Kapitel eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchgeführt, wie sie in Abschnitt 3.4 beschrieben wurde. Im ersten Schritt wird die normativ intendierte individuelle Genese der Trigonometrie erkundet, indem die schulische Umsetzung der Inhalte untersucht wird. Dazu wird die Geschichte der Trigonometrie im mathematischen Unterricht mit einer abschließenden Betrachtung der aktuellen schulischen Umsetzung dargestellt. Ziel dieser Darstellung ist die Beantwortung folgender Fragen:

  • Welche Rolle spielt die Trigonometrie in aktuellen und in früheren Lehrplänen?

  • Welche Sachzusammenhänge werden in schulischen Aufgaben verwendet, um trigonometrische Inhalte zu vermitteln?

  • Welche typischen schulischen Lernwege gibt es, um trigonometrische Funktionen einzuführen?

Nach dieser Darstellung wird die didaktisch orientierte Sachanalyse mit der Zusammenstellung inhaltsnaher Phänomene fortgesetzt. Diese inner- und außermathematischen Sachzusammenhänge werden aus der historischen und logischen Genese entnommen und durch relevante Anwendungskontexte angereichert.

4.1 Zur Geschichte der Trigonometrie im mathematischen Unterricht

Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Trigonometrie eine bedeutende Stellung im mathematischen Unterricht höherer Schulen ein. Dem Entwurf eines mathematischen Lehrplans für die Oberrealschulen aus dem Jahr 1911 ist zu entnehmen, dass die Trigonometrie in der Untersekunda (Klasse 10) auftauchte. Dort heißt es in den „Lehraufgaben“:

Gegenseite Abhängigkeit von Seitenverhältnissen und Winkeln im rechtwinkligen Dreieck; Winkelfunktionen zahlenmäßig und zeichnerisch. Trigonometrische Aufgaben: Verbindung von Zeichnen, Messen und Rechnen. (Schimmack 1915, S. 138)

In der Oberprima, der Abschlussklasse der Oberstufe, kommen die folgenden Lehraufgaben hinzu:

Ergänzung der Goniometrie und Trigonometrie. […] Das Wichtigste aus der sphärischen Trigonometrie in Verbindung mit mathematischer Erd- und Himmelskunde und der Lehre von Kartenprojektionen. (Schimmack 1915, S. 139)

Diese Forderung, den mathematischen Unterricht im Gebiet der Erd- und Himmelskunde in der Oberprima als Krönung des Geometrieunterrichts ausklingen zu lassen, standen schon damals mehrere Umstände hinderlich im Wege. Zum einen bedarf es einer umfangreichen Klärung der himmelskundlichen Begriffe, zum anderen muss die Festigung dieser Grundbegriffe im Idealfall durch Beobachtungen unterstützt werden (Hoffmann 1915). Wie genau also die Inhalte zur damaligen Zeit in der Schule umgesetzt wurden, bleibt unklar; zumal die damaligen Lehrpläne aus dem Jahre 1901 mehr Wert auf methodische Bemerkungen als auf konkrete Lehraufgaben gesetzt haben (Hoffmann 1915).

Ein Blick in die Schulbücher der damaligen Zeit gibt einen Überblick über die intendierten Inhalte und schulischen Aufgaben der sphärischen Trigonometrie. Als typisches Beispiel sei das mathematische Unterrichtswerk von Reinhardt und Zeisberg (1929) genannt. In diesem Werk beschäftigt sich die sphärische Trigonometrie mit der Berechnung von Flächeninhalten und Seitenlängen in sphärischen Zweiecken und rechtwinkligen sowie schiefwinkligen sphärischen Dreiecken. Da in einem sphärischen Dreieck die Innenwinkelsumme stets größer als 180° ist, kann der Flächeninhalt mithilfe des sphärischen Exzesses \(\varepsilon = \alpha + \beta + \gamma - 180^\circ\) berechnet werden. Die Flächeninhaltsformel für ein sphärisches Dreieck auf einer Kugel mit Radius \(r\) lautet dann

$$F = \pi r^{2} \cdot \frac{\varepsilon }{180^\circ }$$

In dem Unterrichtswerk folgen sphärische Formulierungen des Kosinus- und Sinussatzes, die es erlauben, alle Größen eines sphärischen Dreiecks aus drei Seiten, zwei Seiten und einem Winkel, einer Seite und zwei Winkeln und drei Winkeln zu berechnen.

Im Abschnitt zur mathematischen Erd- und Himmelskunde werden zunächst die himmelskundlichen Begriffe geklärt. Dazu gehören beispielsweise geographische Breite und Länge, Himmelsachse, Scheitel- und Vertikallinie, Zenit, Nadir, Median, Azimut und Deklination. Aufgaben aus dem Bereich der Himmelskunde beschäftigen sich mit der Berechnung der genannten Größen oder, etwas konkreter, mit der Berechnung der Sonnenaufgangszeiten aus dem Jahrestag und der geographischen Breite.

Zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin nahm die Bedeutung der sphärischen Trigonometrie auch im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig der Gymnasien zunehmend ab und verschwand schließlich aus den Lehrplänen. In einem ansonsten mathematisch sehr anspruchsvollen Unterrichtswerk aus dem Jahr 1959 (Fladt et al. 1959) gibt es z. B. kein Kapitel zur sphärischen Trigonometrie mehr. Dafür werden auf 13 der 209 Seiten des Buches die Winkelfunktionen behandelt. Daran anschließend folgt ein neunseitiger Abschnitt über die Trigonometrie am rechtwinkligen Dreieck. Dieser Trend – weg von trigonometrischen Inhalten – setzt sich bis in die heutige Zeit fort. Es folgt nun eine Darstellung der aktuellen Umsetzung trigonometrischer Inhalte im mathematischen Unterricht.

Aktuelle Umsetzung trigonometrischer Inhalte im mathematischen Unterricht: Um zu verstehen, wie Lernende im Bereich der Trigonometrie Bedeutung konstruieren, ist es zunächst hilfreich, die Probleme zu untersuchen, die in der Schule als Motivation dienen um den Sinus im Unterricht einzuführen. Dazu wurden unterschiedliche Mathematikbücher der Sekundarstufe I und II hinsichtlich der trigonometrischen Inhalte untersucht (Gersemehl et al. 2013; Dippel et al. 2016; Griesel et al. 2016). In diesen Schulbüchern kann zwischen innermathematischen Problemen und Problemen mit Realitätsbezug unterschieden werden. Diese Probleme stehen außerdem im Zusammenhang mit unterschiedlichen Darstellungen: Im Einzelnen sind das rechtwinklige Dreiecke, der Einheitskreis und der Graph der Sinusfunktion. Die mathematischen und die anwendungsorientierten Probleme, die als Zugang zu den trigonometrischen Verhältnissen am rechtwinkligen Dreieck oder zur Definition am Einheitskreis dienen können, werden in den folgenden Abschnitten besprochen.

Die Einführung trigonometrischer Verhältnisse am rechtwinkligen Dreieck: Die Einführung trigonometrischer Verhältnisse in rechtwinkligen Dreiecken lässt sich im Schulunterricht auf zwei Weisen motivieren: anhand von Problemen mit Realitätsbezug oder anhand innermathematischer Probleme. Als Lösung zu Problemen mit Realitätsbezug findet sich die Trigonometrie oftmals in eingekleideten Aufgabenstellungen wieder. Typische Themengebiete sind das Messen und Berechnen im Gelände, aber auch Anwendungen in der Technik und der Physik. Aufgabenformate aus dem Bereich „Messen und Berechnen im Gelände“ weisen mitunter historische Bezüge auf. So wird die Höhe von Pyramiden berechnet, wie es einst Thales von Milet tat (vgl. Abschnitt 4.2.3), oder es werden antike Messinstrumente, wie der Sextant oder der Jakobsstab, untersucht. Mithilfe dieser Messinstrumente können handlungsorientierte Unterrichtseinheiten durchgeführt werden, mit deren Hilfe den Lernenden ein verständnis- und motivationsfördernder Zugang zur Trigonometrie angeboten wird. Dazu wird in einigen Lehrwerken vorgeschlagen, mit den Schülerinnen und Schülern Ausflüge ins Freie zu unternehmen und trigonometrische Werkzeuge eigenständig zur Bestimmung der Höhe von Gebäuden zu nutzen (Griesel et al. 2016; vom Hofe et al. 2019). Darüber hinaus gibt es eine Fülle an Aufgaben in denen Bauwerke der unterschiedlichsten Art vermessen und berechnet werden, allen voran der schiefe Turm von Pisa, der aufgrund seiner markanten Schieflage ein naheliegendes Objekt für die Verwendung rechtwinkliger Dreiecke liefert. Weitere typische Aufgaben beschäftigen sich mit der Berechnung der Breite eines Flusses, der Steigung einer Straße oder der Länge des Landeanflugs eines Flugzeuges. Anwendungen aus der Technik und der Physik beziehen sich meist auf die Projektion von Kräften (vgl. Abschnitt 4.4.4).

Nachdem die Nützlichkeit der Trigonometrie am rechtwinkligen Dreieck durch anwendungsorientierte Aufgaben gerechtfertigt wurde, findet in den meisten Schulbüchern eine Mathematisierung der Zusammenhänge statt und innermathematische Probleme werden vermehrt thematisiert. Zu diesen innermathematischen Problemen gehört in erster Linie die Berechnung von unbekannten Größen in rechtwinkligen Dreiecken. Allerdings können darüber hinaus auch unbekannte Größen in dreidimensionalen geometrischen Objekten wie Quader, Würfel oder Pyramide mithilfe der trigonometrischen Verhältnisse berechnet werden. Das innermathematische Kernproblem, welches dahintersteht und den notwendigen Weg von der Satzgruppe des Pythagoras zum Sinus- und Kosinussatz verdeutlicht, lässt sich wie folgt formulieren:

An Körpern und Flächen lassen sich einerseits mittels des Satzes von Pythagoras viele genaue Berechnungen durchführen, andererseits kann man jedoch eine Reihe einfacher Dreiecke nicht berechnen, obgleich z.B. über Kongruenzsätze die Konstruktion eindeutig ist. (Graumann 1987, S. 148)

Ein innermathematisch motivierter Lernweg, der in der Berechnung von unbekannten Größen in beliebigen Dreiecken endet, beginnt mit der Berechnung von Flächeninhalten einfacher geometrischer Figuren und soll an dieser Stelle skizziert werden.

In der Primarstufe lernen Schülerinnen und Schüler, Flächeninhalte von Rechtecken zu bestimmen und zu deuten. An diesem Punkt wird durch das Aufstellen von Formeln zur Flächenberechnung der Grundstein zum Umgang mit formalen Aspekten der rechnerischen Geometrie gelegt. Sobald in der Sekundarstufe I Schülerinnen und Schüler in der Lage sind Winkel zu konstruieren und zu messen, stellt sich die Frage, wie ausgewählte Winkel bei sich schneidenden Geraden bestimmt werden können. So gelangt man zu den Scheitelwinkeln, Nebenwinkeln, Stufenwinkeln und Wechselwinkeln und daraufhin zum Innenwinkelsatz für Dreiecke. Dieser lässt sich letztlich zum Innenwinkelsatz für beliebige n-Ecke ausweiten. Im weiteren Lernverlauf können nach der Behandlung des Strahlensatzes nun auch Seitenlängen von Dreiecken bestimmt werden, indem diese in geeigneter Weise in Strahlensatzfiguren eingebettet werden. Die Satzgruppe des Pythagoras ermöglicht es Schülerinnen und Schülern weitere Streckenlängen in rechtwinkligen Dreiecken zu berechnen und zeigt ihren Nutzen in vielfältigen Anwendungsaufgaben, die meist darauf beruhen, Figuren in rechtwinklige Dreiecke zu zerlegen. Der Rückbezug auf ähnliche Dreiecke muss nun nicht mehr erfolgen. Schließlich lassen sich durch die Einführung der trigonometrischen Beziehungen und der Entdeckung des Sinus- und Kosinussatzes alle unbekannten Größen in beliebigen Dreiecken berechnen. Zusammenfassend lässt sich diese Entwicklung in fünf Stufen darstellen (vgl. Filler 2021):

  1. 1.

    Berechnung von Flächeninhalten in Rechtecken, Dreiecken und Parallelogrammen.

  2. 2.

    Berechnung von Winkeln ebener geometrischer Figuren durch Winkelsätze.

  3. 3.

    Berechnung von Seitenlängen durch die Anwendung von Strahlensätzen und der Ähnlichkeit geometrischer Figuren.

  4. 4.

    Weitere Möglichkeiten zur Berechnung von unbekannten Größen durch die Satzgruppe des Pythagoras.

  5. 5.

    Berechnung aller unbekannten Größen in beliebigen Dreiecken durch trigonometrische Beziehungen.

Diese Darstellung zeigt, wie sich die trigonometrischen Verhältnisse am rechtwinkligen Dreieck aus innermathematischer Perspektive in das Schulcurriculum einfügen und an welche mathematischen Lerninhalte diese anknüpfen.

Die Einführung der Sinusfunktion am Einheitskreis: Verglichen mit der Interpretation des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und der Fülle an Anwendungsaufgaben, gibt es nur wenige Aufgaben mit Realitätsbezug aus der Schule, die an die Darstellung des Sinus am Einheitskreis anknüpfen. Meist handelt es sich um eingekleidete Aufgaben, die den Zweck der mathematischen Modellierung erfüllen. Eine typische Aufgabe besteht in der Modellierung der Bewegung einer Gondel, die an einem Riesenrad aufgehängt ist. Statt eines Riesenrades können alternativ auch andere, sich im Kreis drehende Objekte genutzt werden. Darunter fallen zum Beispiel Schallplatten, Zahnräder oder Kreissägen. Es geht stets um die Lokalisierung eines Punktes auf dem sich drehenden Objekt in Abhängigkeit der Zeit. In diesem Modellierungsprozess steht nicht die Antwort auf die konkrete Frage, wo sich ein Objekt zu einem expliziten Zeitpunkt befindet, im Vordergrund, sondern der Modellierungsprozess selbst. Das bedeutet, dass der herausgearbeitete funktionale Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist.

Durch die Interpretation am Einheitskreis können Argumente außerhalb des Intervalls \((0^\circ ,90^\circ )\) mit trigonometrischen Funktionen ausgewertet werden. Die Einführung des Bogenmaßes durch die Umrechnungsformel \(\alpha_{rad} = \alpha_{Grad} \cdot \frac{\pi }{180^\circ }\) erlaubt schließlich eine Erweiterung auf die reellen Zahlen:

Mithilfe des Einheitskreises können außerdem Symmetrieeigenschaften der Sinusfunktion hergeleitet werden. In Abbildung 4.1 werden die folgenden drei Gleichungen veranschaulicht:

$$\sin \left( \alpha \right) = - {\text{sin}}\left( {180^\circ + \alpha } \right) , \;\sin \left( \alpha \right) = - \sin \left( { - \alpha } \right), \;\sin \left( \alpha \right) = {\text{sin}}\left( {180^\circ - \alpha } \right)$$
Abbildung 4.1
figure 1

Symmetrieeigenschaften der Sinusfunktion am Einheitskreis

Des Weiteren können mithilfe des Einheitskreises die Additionstheoreme hergeleitet werden (vgl. Abschnitt 4.2.6). In der Sekundarstufe II kann der Zusammenhang zwischen der Sinusfunktion und der Kosinusfunktion als ihre Ableitung hergestellt werden (vgl. Abschnitt 4.3.3). Vermittels der Definition am Einheitskreis kann schließlich der Graph der Sinusfunktion hergeleitet und unter der Zuhilfenahme dynamischer Geometriesoftware anschaulich dargestellt werden (vgl. Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2
figure 2

Herleitung des Graphen der Sinusfunktion vermittels der Definition am Einheitskreis

Ergänzend zum schulischen Weg bei dem der Einheitskreis als analytisches Werkzeug zur Definition und Untersuchung der Sinusfunktion genutzt wird, kann das Spannungsfeld zwischen Konstruierbarkeit und Berechenbarkeit, das bereits in der Dreieckstrigonometrie zur Einführung der trigonometrischen Seitenverhältnisse geführt hat, als Motivation zum Einstieg in die Kreistrigonometrie beitragen. Das Grundproblem lautet dann: Wie lassen sich unbekannte Größen in einem Kreis berechnen? Bressoud (2010) sieht in dieser Frage auch historische Relevanz und führt das Beispiel der Sehnenberechnung an, das seiner Meinung nach auch in der Schule als einführendes Beispiel in die Trigonometrie genutzt werden kann. Inwieweit diese historische Einführung tatsächlich der individuellen Begriffsgenese zuträglich ist, ist allerdings eine noch offene Frage. Der übliche Weg führt in der Schule von der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck zur Definition am Einheitskreis und nicht umgekehrt.

Modellierung periodischer Prozesse: Durch die Einführung der Sinusfunktion erschließt sich eine Reihe neuer Vorgänge, die sich der Modellierung durch mathematische Funktionen bis dahin entzogen. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die sich nach einer bestimmten Zeitspanne periodisch wiederholen, wie die Schwingung eines Federpendels oder der Wechsel von Ebbe und Flut. Durch die Nutzung zur Modellierung periodischer Prozesse gewinnen die trigonometrischen Funktionen im Unterricht erheblich an Bedeutung und weisen zudem eine hohe Anwendungsrelevanz in den Naturwissenschaften auf. Im Zusammenhang mit periodischen Prozessen tauchen allerdings neue Begrifflichkeiten auf, mit denen sich die Lernenden vertraut machen müssen und die den Umgang mit Winkelfunktionen deutlich anspruchsvoller machen. Begriffe wie Amplitude, Periodenlänge, Wellenlänge oder Frequenz müssen in den passenden Anwendungskontext korrekt verwendet und gedeutet werden.

Bezugnehmend auf die zu Beginn des Kapitels gestellten Fragen nach der Rolle der Trigonometrie in aktuellen und in früheren Kernlehrplänen, den in der Schule verwendeten Sachzusammenhängen und den typischen Lernwegen, lassen sich folgende Antworten formulieren: Die Bedeutung der Trigonometrie in der Schule hat in den letzten 100 Jahren einen inhaltlichen Wandel durchlaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts diente die Trigonometrie in der Schule zum großen Teil der Himmelskunde und Navigation auf der Erde. Heutzutage liegen die Anwendungsbereiche in der Physik, im Messen und Berechnen im Gelände und in der Modellierung periodischer Prozesse. Der typische schulische Lernweg der Trigonometrie führt über rechtwinklige Dreiecke zum Einheitskreis und von dort zur Definition der trigonometrischen Funktionen. Auf diesem Weg werden unterschiedliche Darstellungen des Sinus genutzt und miteinander in Verbindung gebracht. Ergänzend werden innermathematische und realitätsbezogene Aufgaben zur Einführung und Verfestigung des trigonometrischen Wissens genutzt.

Nachdem nun ein Überblick über die schulische Behandlung der Trigonometrie damals und in der heutigen Zeit gegeben und die eingangs gestellten Fragen beantwortet wurden, folgt nun eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Trigonometrie, aus der weitere Gesichtspunkte zur Herleitung der Grundvorstellungen folgen.

4.2 Historische Genese der Trigonometrie

Die Geschichte der Mathematik kann auf verschiedene Weise in den Mathematikunterricht eingebunden werden (Kronfellner 1998). In Form einer Anekdote, die vom Lehrenden vorgetragen wird, oder als historische Kurzinformationen, die zum Nachdenken und Diskutieren anregen soll. Neuere mathematische Fortschritte der Zeitgeschichte können thematisiert werden, um die Mathematik als eine sich entwickelnde Wissenschaft erfahrbar zu machen. Die Geschichte der Mathematik kann weiter eine Rolle bei der Entwicklung fächerübergreifenden Unterrichts spielen, indem der soziokulturelle Kontext in die Unterrichtsplanung mit einbezogen wird. Nicht zuletzt kann die Einbindung historischer Beispiele in den Mathematikunterricht affektive Ziele verfolgen, indem sie den Unterricht auflockern oder motivierend auf Schülerinnen und Schüler wirken:

Die Erkenntnis, dass Mathematik vom Menschen „gemacht“ wurde, dass diese Fehler begangen und uns naheliegend erscheinende Weiterentwicklungen nicht erkannt haben, könnte der vielen Menschen als kühl und unmenschlich erscheinenden Mathematik ein menschlicheres Antlitz verleihen und zum Abbau psychischer Barrieren führen. (Kronfellner 1997, S. 84)

Die Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte der Trigonometrie verfolgt zum einen das Ziel, relevante Sachzusammenhänge zu erkunden, die als Grundlage für die Formulierung normativer Grundvorstellungen dienen können. Zum anderen lässt sie verstehen, wie und warum es zu den unterschiedlichen Darstellungen der Sinusfunktion gekommen ist. Zum genetischen Lehren der Himmelskunde schreibt Wagenschein (2010) Folgendes:

Wir müssen Verstehen lehren. Das heißt nicht: es den Kindern nachweisen, so dass sie es zugeben müssen, ob sie es nun glauben oder nicht. Es heißt: sie einsehen lassen, wie die Menschheit auf den Gedanken kommen konnte (und kann), so etwas nachzuweisen, weil die Natur es ihr anbot (und weiter anbietet). (Wagenschein 2010, S. 311)

Die Analyse der historischen Genese der Trigonometrie wird unter Berücksichtigung der folgenden Fragen durchgeführt:

  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen der historischen Genese der Trigonometrie und der derzeitigen Umsetzung mathematischer Inhalte im Schulunterricht?

  • Welche Erkenntnissinteressen haben zur historischen Entwicklung der Trigonometrie beigetragen?

  • Welche Sachzusammenhänge können als Grundlage für die Formulierung normativer Grundvorstellungen dienen?

Im folgenden Abschnitt wird zunächst eine tabellarische Übersicht über die historische Entwicklung des Sinusbegriffs gegeben. Anschließend werden einzelne Entwicklungsschritte ausgewählt, die eine didaktische Relevanz aufzeigen, und im Detail dargestellt. Diese Hintergründe sind zum Beispiel dazu geeignet, um einen indirekten genetischen Zugang (Graumann 1987) zur Thematik herauszuarbeiten.

4.2.1 Tabellarische Übersicht

Die Trigonometrie ist aus mathematikhistorischer Sicht eine der bedeutsamsten Bereiche der Mathematik. Dies hängt damit zusammen, dass auf eine fast 4000-jährige Entwicklungsgeschichte zurückgeblickt werden kann, die auf mehreren Kontinenten spielte und kulturübergreifend stattgefunden hat (Braunmühl 1903; Katz 2004). Die Trigonometrie und mit ihr die Himmelskunde waren treibende Kräfte in der Entwicklung von anspruchsvollen mathematischen Algorithmen, die zu immer besseren Berechnungen der Sinuswerte geführt haben (Espenshade 1967; McCarthy & Byrne 2003; Shirali 2011). Im Folgenden werden einige wichtige Meilensteine der historischen Entwicklung tabellarisch dargestellt, aus denen anschließend ausgewählte Beispiele im Detail vorgestellt werden (Tabelle 4.1):

Tabelle 4.1 historische Entwicklung der Trigonometrie

Bei der vorliegenden Tabelle handelt es sich um eine exemplarische Sammlung wichtiger Meilensteine, anhand derer die Fortschritte, typischen Probleme und Fragestellungen der damaligen Zeit erkannt werden können. Zunächst finden sich Seitenverhältnisse in rechtwinkligen Dreiecken bei der Vermessung im Gelände und konstruktionsbedingten Problemen bei dem Bau der Pyramiden. Die Entwicklung der Sehnentafeln und damit letztlich die Definition des Sinus als halbe Sehne lassen sich auf astronomische Berechnungen zurückzuführen, bei denen unbekannte Größen im Kreis gesucht wurden. Diese astronomischen Berechnungen wurden unter anderem durchgeführt um Sonnenauf- und Sonnenuntergangszeiten zu bestimmen, den Lauf der Planeten vorherzusagen oder die Zeiten von Sonnen- und Mondfinsternissen zu berechnen. Die immer genauere Bestimmung dieser Werte führte zu besseren numerischen Verfahren und Algorithmen, die eng an die geometrische Darstellung am (Einheits-) Kreis anknüpfen. Erst im 15. Jahrhundert entwickelte sich die Trigonometrie zu einem eigenständigen Themengebiet, dass von da an, losgelöst von der Astronomie, eine Eigendynamik entwickelte und auf formaler Ebene neue Erkenntnisse produzierte.

Auf der Grundlage dieser Übersicht werden historische Beispiele ausgewählt, die eine didaktische Relevanz aufweisen. Diese Relevanz ergibt sich unter anderem aus den Grundproblemen und allgemeinen Prinzipien, die durch das Beispiel sichtbar gemacht werden und es somit zu einem Bildungsinhalt im Sinne Klafkis machen (vgl. Abschnitt 3.3). Weiterhin kann eine Relevanz dadurch gegeben sein, dass es entsprechende Schulbuchaufgaben gibt, die sich mit dem historischen Zusammenhängen befassen. Es folgt nun eine detaillierte Darstellung der ausgewählten Beispiele.

4.2.2 Ahmes – Papyrus Rhind (1650 vor Chr.)

Auf einer seiner Reisen nach Ägypten im Jahre 1858 erstand der schottische Anwalt und Antiquar Henry Rhind auf einem Basar im Niltal eine fünf Meter lange und 32 Zentimeter breite Papyrusrolle, die von unschätzbarem historischem Wert war. Der nach ihm benannte Papyrus Rhind wird auf das Jahr 1650 vor Christus zurückdatiert und wurde niedergeschrieben von A’h-mose, der auch unter dem Namen Ahmes bekannt ist. Was diesen Papyrus so besonders macht, ist neben seinem Alter besonders der Inhalt. Es handelt sich um eine der ersten mathematischen Abhandlungen der Menschheitsgeschichte. Der Papyrus Rhind enthält 84 mathematische Probleme zu verschiedenen mathematischen Teilbereichen. Die meisten Probleme beziehen sich auf konkrete Aufgaben des Alltags, wie beispielsweise die Berechnung der Fläche eines Feldes oder das Volumen eines Getreidespeichers oder darauf, wie man eine Menge Brotlaibe auf mehrere Leute aufteilen kann (Eisenlohr 1877). Die Probleme 56–60 beschäftigen sich mit dem Bau von Pyramiden und sind für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, da sich dort erste Ansätze trigonometrischer Überlegungen finden lassen. Die Ägypter nutzten bereits ein Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck, welches mit dem Wort seqt bezeichnet wird (vgl. Tropfke, 1903, S. 190). Eine Definition des seqt wird nicht vorgelegt, kann aber durch eine Analyse der bereitgestellten Lösung zum Problem 56 abgeleitet werden. Eine Übersetzung der ca. 3650 Jahre alten Lösung aus dem Papyrus Rhind findet sich bei Eisenlohr (vgl. Abbildung 4.3).

Abbildung 4.3
figure 3

Originaltext aus dem Papyrus Rhind. Aufgabe 65 (Eisenlohr 1877, S. 139)

In angepasster Sprache lautet die eingangs gestellte Frage:

  • Die Kante einer Pyramide ist 250 Ellen lang und eine Seite ihrer Grundfläche ist 360 Ellen lang. Lass mich ihr Verhältnis (seqt) wissen?

Und die Lösung dazu:

  • Nimm die Hälfte von 360. Multipliziere 250 so, dass du 180 bekommst. Das macht \({\frac{1}{2}} {\frac{1}{5}} {\frac{1}{50}}\) einer Elle. Eine Elle sind sieben Handflächen. Das ergibt \(5 \frac{1}{25}\) Händflächen.

Eine Elle entspricht in etwa der Länge von der Spitze des Mittelfingers bis zum Ende des Ellenbogens und variiert zwischen 440 und 529 mm. Es gehört zu den historischen ägyptischen Längenmaßen. Eine königliche Elle entspricht dort ca. 526 mm und ist aufgeteilt in sieben Handflächen, die wiederum in vier Finger aufgeteilt sind.

Es ist zunächst nicht ersichtlich, welches Verhältnis in diesem Problem gemeint ist. Der Satz „Multipliziere 250 so, dass du 180 bekommst“ verrät allerdings, dass das Produkt des gesuchten Verhältnisses \(s\) mit der halben Grundseite der Länge der Kante entspricht:

$$250 \cdot s = 180$$

Anders ausgedrückt: \(s\) entspricht dem Verhältnis von halber Grundseite zur Kante der Pyramide; also dem Verhältnis von Ankathete zu Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck bzw. dem Kosinus.

In Problem 57 wird die vorherige Problemstellung umgedreht: Statt den seqt einer Pyramide zu bestimmen, ist dieser nun gegeben und wird dazu benutzt, die Höhe einer Pyramide zu finden. Problem 58 benutzt dieselben Werte wie in Problem 57, diesmal ist jedoch der seqt gesucht:

  • Problem 57: Der seqt einer Pyramide ist fünf Handflächen und ein Finger und eine Seite ihrer Grundfläche ist 140 Ellen lang. Wie viele Ellen ist die Pyramide hoch?

  • Problem 58: Eine Pyramide ist 93 1/3 Ellen hoch und eine Seite ihrer Grundfläche ist 140 Seiten lang. Wie groß ist ihr seqt?

Problem 59 und 60 sind analog zu den beiden vorherigen Problemen mit jeweils anderen Werten.

Es ist interessant festzustellen, dass dieselben Aufgabentypen, die schon vor ca. 3500 Jahren formuliert wurden, auch heutzutage in der Schule verwendet werden. Auch wenn die Terminologien und die Maßeinheiten sich verändert haben, so ist das Prinzip das Gleiche. Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe, die Höhe von Bäumen anhand der Schattenlänge und des Blickwinkels zu bestimmen, berechnen die Steigung einer Straße oder erhalten ähnliche Aufgaben im Pyramidenkontext (Dippel et al. 2016). Weitere typische Aufgabenformate, die nach wie vor in der Schule gebräuchlich sind, beziehen sich auf Thales von Milet, der ca. 1000 Jahre nach Ahmes lebte.

4.2.3 Thales von Milet (634–548 vor Christus)

Thales von Milet war ein griechischer Geometer, Naturphilosoph und Astronom. Er lebte in der Zeit von 624–548 vor Christus und hielt sich einige Zeit in Ägypten auf, wo er von den dortigen Priestern die Geometrie erlernte (Braunmühl 1903). Im schulischen Kontext ist er bis heute bekannt für den nach ihm benannten Satz:

  • Ein Dreieck, dessen Eckpunkte alle auf einem Kreis liegen und bei dem eine Dreiecksseite der Länge des Durchmessers des Kreises entspricht, ist rechtwinklig.

Thales beschäftigte sich nicht nur mit Dreiecken in Kreisen, sondern auch mit Dreiecken, die erzeugt werden, wenn hohe Gebäude ihre Schatten werfen. Es ist überliefert, dass Thales bereits in der Lage war, die Höhe von Pyramiden über ihren Schattenwurf zu berechnen. Braunmühl schreibt dazu, dass Thales „die Höhe der Pyramiden mittels ihres Schattens gemessen habe und zwar, indem er denselben bestimmte, wenn seine Länge mit der Höhe des zu messenden Gegenstandes übereinstimmte“ (Braunmühl 1903, S. 6). Thales Trick bestand also darin, die vertikale Messung durch eine horizontale Messung zu ersetzen, was wesentlich einfacher durchzuführen war. In den Sieben Weisen von Plutarch wird Thales auch nachgesagt, dass er die Höhen von Pyramiden bestimmte, indem er den Schatten eines Stockes zur Hilfe nahm. Er verwendete dabei sein Wissend darüber, dass die beiden so entstandenen Dreiecke dieselben Seitenverhältnisse aufweisen (Maor 1998). Auch hier wird die horizontale Messung wieder durch eine vertikale Messung ersetzt, allerdings nutzt Thales darüber hinaus die Ähnlichkeit von Dreiecken um die Höhe der Pyramide zu bestimmen. Eine weitere Erzählung über Thales, die in Verbindung mit der Ähnlichkeit von Dreiecken steht, befasst sich mit der Berechnung von Distanzen zwischen Schiffen und einem Leuchtturm in Milet. Braunmühl berichtet von der folgenden Geschichte:

Wahrscheinlich nahm er diese Messung vor, indem er von einem hohen Standpunkt, etwa einem Turm aus, den Winkel bestimmte, welchen die von dem Beobachtungsorte nach dem Schiffe gezogene Gerade mit der Vertikalen bildet. War nun die Höhe des Turmes schon vorher gemessen, so konnte man mit Hilfe der Ähnlichkeit (aber geometrisch auch nur mit dieser) auf die Entfernung des Schiffes vom Fußpunkte des ersteren schließen. (Braunmühl 1903, S. 6)

Dieses Beispiel steht exemplarisch für eine Reihe von anwendungsbezogenen Mathematikaufgaben, die sich mit der Vermessung im Gelände beschäftigen, und wird auch heutzutage noch in Schulbüchern thematisiert (Cornetz et al. 2019). Innermathematisch lässt es sich auf die Berechnung von unbekannten Größen in einem rechtwinkligen Dreieck zurückführen. Das Grundprinzip, welches den Lernenden durch dieses Beispiel sichtbar gemacht werden kann, liegt in der Ähnlichkeit von Dreiecken und wird in besonderer Weise erfahrbar durch den Vergleich unterschiedlicher Schattenlängen.

4.2.4 Aristarch von Samos (310–230 vor Chr.)

Aristarch von Samos war mit seinen astronomischen Beobachtungen einer der frühesten historischen Personen, die eine mathematische Aufarbeitung und Begründung seiner Entdeckungen bereitstellte. Er ist berühmt dafür, dass er der erste Mathematiker und Astronom war, der ein heliozentrisches Weltbild präsentierte (van Brummelen, S. 22). Trotzdem basiert die einzig originale, von ihm erhaltene Überlieferung auf dem geozentrischen Weltbild und beinhaltet eine Abhandlung über die Größen und Distanzen von Sonne und Mond. Bei seiner Berechnung der Entfernung zwischen Sonne und Erde, die als Methode der Monddistanzen bekannt ist, nutzt Aristarch Argumentationen an rechtwinkligen Dreiecken, die in die Kreisbahn der Sonne um die Erde eingebettet sind (Braunmühl 1903). Aristarch gab die Entfernung zwischen Sonne und Mond in Vielfachen der Entfernung zwischen Mond und Erde an. Dafür untersuchte er die Konstellation von Sonne, Mond und Erde, wenn auf der Erde ein Halbmond zu sehen ist. Seinen Überlegungen nach ergeben zu diesem Zeitpunkt Sonne, Mond und Erde ein rechtwinkliges Dreieck. Den zweiten Winkel dieses Dreiecks wird Aristarch aus seinen Sternenbeobachtungen empirisch erhalten haben. Dafür musste er den Winkel zwischen Mondaufgang und Sonnenaufgang bestimmen (vgl. Abbildung 4.4). Seine Messungen lieferten ihm einen Wert von 87° und mit diesem Wert kam er zu dem Ergebnis, dass die Entfernung der Sonne zur Erde das circa 18–20 Fache der Entfernung von Erde zu Mond beträgt (Berggren & Sidoli 2007). Ein extrem kleiner Wert, denn das eigentliche Verhältnis liegt bei einem durchschnittlichen Wert von 389. Um zu verstehen, wie es zu diesem enormen Fehler kommen konnte, soll Aristarchs Modell an der vereinfachten Darstellung in Abbildung 4.4 und mit dem heutigen Wissen über die Kosinusfunktion erläutert werden.

Abbildung 4.4
figure 4

Methode der Monddistanzen

In dem rechtwinkligen Dreieck erhält man den Kosinus von 87° in dem das Verhältnis der Distanzen zwischen Erde und Mond \(EM\), sowie Erde und Sonne \(ES\) gebildet wird. Das bedeutet

$$\cos 87^\circ = \frac{EM}{{ES}}$$

Stellt man die Gleichung nach ES um, erhält man:

$$ES = \frac{1}{\cos 87^\circ }EM = 19,1 \cdot EM$$

Wird dieser Wert im Sachkontext interpretiert, so bedeutet dies, dass die Entfernung von der Erde zur Sonne 19,1 Mal der Entfernung von der Erde zum Mond entspricht. Wo liegt nun der Fehler in Aristarchs Berechnung? Der gemessene Winkel von 87° weicht 2°50‘ Minuten von der exakte Winkelgröße 89°50‘ ab. Da der Kosinus von 90° gleich 0 ist, wird der Kehrwert des Kosinus in der Nähe um 90° beliebig groß. Da dieser Kehrwert in der Verhältnisgleichung auftaucht, hat ein kleiner Messfehler von 2°50‘ große Auswirkungen auf das Ergebnis und man erhält einen weitaus größeren Wert von \(\frac{1}{{\cos 87^\circ 50^{\prime}}} = 343,78\). Dieser ist schon wesentlich näher am eigentlichen Verhältnis.

Trotz der fehlerhaften Messung bleiben die Modellierung der Situation und die Idee, die Längen der Seiten in einem Dreieck in Relation zueinander anzugeben, eine außergewöhnliche und raffinierte Leistung. Eine Einbindung dieses historischen Sachzusammenhanges in den mathematischen Unterricht der Sekundarstufe I wurde bereits von Jahnke (1998) vorgeschlagen und wird auch in Mathematikbüchern erwähnt (Dippel et al. 2016). Als Anwendungsbeispiel aus der Astronomie unterscheidet es sich von den Aufgaben zur Vermessung im Gelände und markiert einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Genese der Trigonometrie. Aus mathematischer Sicht lehrt dieses Beispiel, welche Auswirkungen kleine Messfehler auf das Ergebnis einer Rechnung haben. Es lassen sich außerdem Aussagen über das Änderungsverhalten der Kosinusfunktion um den Wert \(90^\circ\) ableiten. Es zeigt sich, dass kleine Veränderungen des Argumentes um den Wert \(90^\circ\) eine relativ große Auswirkung auf den Funktionswert habe. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die Ableitung der Kosinusfunktion an der Stelle 90° gleich 1 ist.

4.2.5 Hipparch von Nicäa (um 190 v Chr.)

Hipparch gehört zu den bedeutendsten Astronomen der Antike. Seine astronomischen Beobachtungen und Berechnungen waren wegweisend für eine ganze Generation von Wissenschaftlern und er gilt bei einigen als der Begründer der trigonometrischen Lehre (Tropfke 1903). Trotz seiner Wichtigkeit sind keine Originalwerke von ihm erhalten und sein Beitrag zur Wissenschaft ist nur durch Überlieferungen bekannt. Uneinigkeit herrscht über die Größe und Inhalte seines Lebenswerkes. Einigen Quellen zufolge (Tropfke 1903, S. 186; Maor 1998, S. 24) bestand sein großes Werk aus zwölf Büchern (oder Abschnitten), die sich mit der Berechnung von Sehnen eines Kreises zu einem gegebenen Innenwinkel beschäftigen (vgl. Abbildung 4.5).

Abbildung 4.5
figure 5

Berechnung der Kreissehne

  • In einem Kreis mit dem Radius \(r = 1\) trennt die Sehne \(a\) ein Kreisbogenstück mit der Länge \(d = \frac{2}{3}\pi\) ab.

  • Berechne die Länge von \(a\).

Auszüge aus dem tatsächlichen Werk wurden allerdings nie gefunden und auch die Größe des Werkes scheint unangemessen für den Inhalt, weswegen es starke Zweifel an dieser Überlieferung gibt (van Brummelen, 2009, S. 42). Es ist unbestritten, dass Hipparch einen großen Einfluss auf das Werk des Ptolemäus ausübte, dessen Schrift Almagest bis ins Mittelalter einen hohen Stellenwert hatte. Ein Problem aus dem Almagest wird vielfach als Originalarbeit Hipparchs zitiert und beschäftigt sich mit den ungleichen Längen der Jahreszeiten:

Bereits den Ägyptern war die ungleiche Länge der Jahreszeiten bekannt, die nicht so recht in das Weltbild passte, in dem die Sonne sich gleichmäßig in einer Kreisbahn um die Erde dreht. Die Sonne braucht 94 ½ Tage um von der Frühlings Tag-und-Nacht-Gleiche zur Sommersonnenwende zu gelangen und von dort 92 ½ Tage zur Herbst Tag-und-Nacht-Gleiche. Die restlichen Tage verteilen sich auf den Herbst mit einer Länge von 88 1/8 Tagen und auf den Winter mit einer Länge von 90 1/8 Tagen (van Brummelen 2009). Zwar ist die Arbeit von Hipparch zur Lösung dieses Problems verloren gegangen, die Überlieferung durch Ptolemäus ist aber noch erhalten. Ptolemäus löste das Problem, in dem er die Erde aus dem Zentrum der Umlaufbahn der Sonne hinausbewegte, wodurch die orthogonalen Sehnen, welche die Jahreszeiten voneinander abgrenzen, Kreisbögen unterschiedlicher Länge von der Umlaufbahn der Sonne abtrennen (vgl. Abbildung 4.6). Das Ziel ist nun, sowohl die horizontale als auch die vertikale Entfernung vom Zentrum der Sonnenumlaufbahn zu ermitteln. Dazu rechnete Ptolemäus im ersten Schritt die Längen der einzelnen Jahreszeiten in Grad um. Wird der Kreis in 360 Teile geteilt, so beansprucht der Frühling bei einer Jahresdauer von 365,25 Tagen genau \(\left( {94,5 \div 365,25} \right) \cdot 360^\circ = 93,15^\circ\) und der Sommer \(\left( {92,5 \div 365,25} \right) \cdot 360^\circ = 91,17^\circ\). Zusammengenommen ergibt das für den Kreisbogen von Frühlingsanfang bis Herbstanfang eine Länge von 184,32 Grad. Die horizontale Abweichung vom Zentrum der Sonnenumlaufbahn entspricht also der halben Sehnenlänge, die von einem Winkel von 4,32° abgetrennt wird (vgl. Abbildung 4.6).

Abbildung 4.6
figure 6

Abweichung der Erde vom Zentrum der Sonnenumlaufbahn

Da die tatsächliche Größe vom Radius der Umlaufbahn abhängt und dieser damals nicht bekannt war, konnte Hipparch nur einen relativen Anteil, gemessen an der Distanz von der Erde zur Sonne, bestimmen. Heutzutage ist bekannt, dass diese Distanz ca. 149.600.000 km oder 1 Astronomische Einheit (AE) beträgt. Da die Länge der halben Sehne eines Winkels von 4,32° dem Sinus von 2,16° entspricht, erhält man mit der Sinusfunktion eine Länge von \(\sin \left( {2,16^\circ } \right) \approx 0,038\) AE, also in etwa \(3,8\%\) der Entfernung von der Erde zur Sonne. Dahingegen beträgt die vertikale Abweichung in etwa 0,0043 AE, also weniger als \(0,5\%\).

Zwar ist das vorliegende Beispiel nicht mit dem heliozentrischen Weltbild zu vereinbaren und ist aus heutiger Sicht fehlerhaft, dennoch ist es wesentlicher Bestandteil der geschichtlichen Entwicklung und zeigt als solches, wie Mathematik vom Menschen gemacht wird (Kronfellner 1998). Es vermittelt dadurch ein realistisches Bild der Entwicklungsgeschichte der Mathematik, die geprägt ist von Versuchen, Abzweigungen und Verwerfungen und nicht so geradlinig verläuft, wie mathematische Fachvorlesungen es mitunter suggerieren. Zudem liefert es eine Problematik, die erst durch die Berechnung von Sehnenlängen gelöst werden kann. Dadurch erhält die Berechnung von Sehnenlängen eine neue Anwendungsdimension. Bressoud (2010) setzt Hipparchs Methode didaktisch um, indem er eine historisch motivierte Einführung der Trigonometrie entwickelt und zeigt damit, dass eine Einführung des Sinus am Einheitskreis aus historischer Sicht möglich und sinnvoll ist.

4.2.6 Ptolemäus (um 160 n. Chr.)

Ptolemäus war ein griechischer Mathematiker und Astronom. Er lebte in der Zeit um 160 n. Chr. in Alexandria in Ägypten, das zu dieser Zeit unter römischer Herrschaft stand. Ptolemäus ist durch seine Schriften zu weitreichendem und langanhaltendem Ruhm gekommen. Sein Hauptwerk Almagest war bis ins späte Mittelalter das am weitesten verbreitete Werk über die antike Astronomie. Es beruht auf einem geozentrischen Weltbild, in dem sich die Planeten in Kreisbahnen um die ruhende kugelförmige Erde bewegen. Von großem Nutzen waren die von ihm niedergeschriebenen Sehnentafeln. Diese Sehnentafeln liefern die Länge einer Sehne \(s\), die von einem Winkel der Größe \(\alpha\) in einem Kreis abgetrennt wird. Der Kreis hatte bei Ptolemäus einen Durchmesser von 120 Einheiten. Die Funktion, die zu einem Winkel \(\alpha\) die Länge einer Sehne \(s\) ausgibt, wird meist mit \(crd\left( \alpha \right)\) bezeichnet [engl.: crd = chord, zu dt.: Sehne]. Diese Sehnenfunktion steht in dem folgenden Zusammenhang zu der heutzutage geläufigeren Sinusfunktion:

$$crd\left( \alpha \right) = 2 \cdot \sin \left( {\frac{\alpha }{2 \cdot 360^\circ } \cdot 2 \pi } \right)$$

Es wird überliefert, dass Ptolemäus diese Sehnentafeln unter anderem dazu nutzte, um den Durchmesser des Breitengrades von Rhodos (36°) zu bestimmen (vgl. Abbildung 4.7, van Brummelen 2009).

Abbildung 4.7
figure 7

Berechnung des Breitengrades nach Ptolemäus

Die Sehnentafel von Ptolemäus geht in 30 Sekunden-Schritten voran, was \(\frac{1}{2}\) ° entspricht. Die Einteilung des Kreises in 360° geht wiederum auf die Babylonier ca. 800 vor Christus zurück. Eine Vermutung lautet, dass diese Zahl gewählt wurde, weil sie sehr nah an den 365 Jahrestagen liegt. Bei den Beobachtungen der Planetenbewegungen konnten die Babylonier dann in etwa sagen, dass sich die Sonne am Fixsternhimmel entlang der Ekliptik circa 1° pro Tag weiterbewegt. Eine andere Erklärung führt diese Einteilung darauf zurück, dass ein Kreis auf natürliche Weise in sechs Abschnitte eingeteilt werden kann, wobei jeder dieser Abschnitte von einer Sehne abgetrennt wird, die dem Radius des Kreises entsprechen (Maor 1998). Sicher ist, dass die Babylonier im Sexagesimalsystem rechneten: Ein Zahlensystem zu der Basis 60. Die Griechen übernahmen schließlich diese Einteilung und führten das Gradmaß ein. Ein Grad entspricht im Sexagesimalsystem 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden. Die Worte Minute und Sekunde entstammen dem Lateinischen pars minuta prima, dies bedeutet erster kleiner Teil und pars minuta secunda, dies bedeutet zweiter kleiner Teil (Bressoud 2010). In Fachbüchern steht beispielsweise für 3 Grad, 14 Minuten und 15 Sekunden die Notation 3°14‘15‘‘ oder auch einfach 3;14,15. Dabei ist es nicht unüblich, auch Längen und andere Größen im Sexagesimalsystem auszudrücken. Ptolemäus nutzte beispielsweise den Wert 3;8,30 als Näherung von \(\pi\). Im Dezimalsystem entspricht das 3 + 8/60 + 30/3600 = 3,141666… Darüber hinaus lässt sich die bereits erwähnte Einteilung des Durchmessers eines Kreises in 120 Teile auf das Sexagesimalsystem zurückführen. In diesem System hat die Einteilung den Vorteil, dass Brüche größtenteils vermieden werden. Der Radius wird in 60 Teile geteilt, die jeweils wiederum in 60 kleinere Teile geteilt werden und so fort. Bei den Berechnungen von Sehnenlänge zu einem Kreisbogenstück gab Ptolemäus die Länge also immer in Relation zu einem Radius von 60 Teilen an.

4.2.7 Berechnung der Sehnentafeln

Die Berechnungen der Sehnentafeln von Ptolemäus stellen aus historischer Perspektive einen Meilenstein der geschichtlichen Entwicklung der Trigonometrie dar. Ptolemäus schaffte es, die Sehne für einen Winkel von \(1^\circ\) zu bestimmen und nutzte dafür in systematischer Weise die mathematischen Erkenntnisse seiner historischen Vorgänger. Anschließend berechnete er alle weiteren Werte im Abstand von \(1^\circ\). Neben den Ergebnissen seiner Berechnungen, die großen Nutzen in der Astronomie aufwiesen, war demnach seine Vorgehensweise von besonderer Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich seine mathematische Arbeit auf drei Grundsätze zurückführen:

  1. 1.

    Berechnung der Seitenlängen vom regelmäßigen 3-, 4-, 5-, 6- und 10-Eck,

  2. 2.

    der Ptolemäische Satz,

  3. 3.

    der Halbsehnensatz.

Auf der Grundlage dieser mathematischen Sätze entwickelte Katz (2011) eine historisch orientierte Unterrichtsreihe die als Einführung in die Trigonometrie dienen kann. Dabei orientierte Katz sich an der Arbeit von Kopernikus (1995), dessen Methoden denen von Ptolemäus stark ähneln. Ein solcher Unterrichtsentwurf, der die Arbeiten von Ptolemäus einbezieht, hat für den Lernenden aus didaktischer Sicht mehrere Vorteile. Durch eine Behandlung der historischen Rechenverfahren im Unterricht wird den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben, nachzuvollziehen, wie Werte der Sinusfunktion konkret ausgerechnet werden können. Da es sich bei Ptolemäus Vorgehen um ein mehrstufiges Verfahren handelt, dass in seiner Komplexität von Schritt zu Schritt steigt, können seine Arbeiten außerdem zur Entwicklung differenzierender Unterrichtseinheiten verwendet werden. Der erste Schritt – das Berechnen von Sehnenlängen in regelmäßigen 3-, 4- und 6-Ecke – wird beispielsweise nach wie vor im Unterricht behandelt, um die Werte der Sinusfunktion für \(\alpha = 60^\circ , 45^\circ\) und \(30^\circ\) geometrisch zu bestimmen. Aus diesen Gründen werden im Folgenden die mathematischen Grundlagen eines historisch orientierten Unterrichtskonzepts ausführlich dargestellt. Ergänzend zum Artikel von Katz (2011) werden einige mathematische Berechnungen und Beweise in diesem Abschnitt im Detail durchgeführt, die im Original in der Art nicht vorkommen.

Zunächst werden die Seitenlängen der regelmäßigen 3-, 4-, 5-, 6- und 10-Ecke im Einheitskreis bestimmt, die bereits in den Büchern von Euklid untersucht wurden. Dort berechnete Euklid die Seitenlängen der regelmäßigen n-Ecke, die jeweils den Sehnen zu den Winkeln 130°, 90°, 72°, 60° und 36° entsprechen. Die Seitenlängen können mithilfe elementargeometrischer und algebraischer Überlegungen im Einzelnen hergeleitet werden. Dabei bildet das \(6\)-Eck den einfachsten Fall: Dort sind die Seiten gleich dem Radius des Kreises. In einem Kreis mit dem Radius \(r = 1\) gilt also für die Seitenlänge des 6-Ecks \(s_{6} = 1\). Das regelmäßige \(4\)-Eck wird durch die Diagonalen in vier gleichschenklige rechtwinklige Dreiecke zerlegt, deren Katheten die Länge 1 haben. Für die Seitenlänge gilt nach dem Satz des Pythagoras \(s_{4} = \sqrt 2\). Die Seiten des regelmäßigen \(3\)-Ecks können aus der Seitenlänge des regelmäßigen Sechsecks und dem Satz des Pythagoras hergeleitet werden, es gilt \(s_{3} = \sqrt 3\). Bei dem regelmäßigen \(5\)- und \(10\)-Eck stellt sich die Situation etwas komplizierter dar. Euklid löst das Problem in den Elementen in Kapitel XIII zu platonischen Körpern mithilfe zweier Gleichungen (Geyer 2001). Er zeigt zunächst in Gleichung Nr. 9, dass für die Seiten \(s_{6}\) und \(s_{10}\) die folgende Gleichung gilt:

$$\frac{{s_{6} + s_{10} }}{{s_{6} }} = \frac{{s_{6} }}{{s_{10} }}$$

Damit erhält man den Wert \(s_{10} = \frac{\sqrt 5 - 1}{2}\). Anschließend folgert er aus Gleichung Nr. 10 den Wert für \(s_{5} = \sqrt {\frac{5 - \sqrt 5 }{2}}\). Die Gleichung lautet:

$$s_{5}^{2} = s_{6}^{2} + s_{10}^{2}$$

Im Folgenden wird nun ein alternativer Weg vorgestellt, der ohne die beiden Gleichungen auskommt und in keiner der in dieser Arbeit verwendeten Quellen zu finden ist.

Das regelmäßige 5-Eck: Die Seiten eines regelmäßigen 5-Ecks in einem Kreis mit dem Radius \(r = 1\) haben die Länge \(s_{5} = \sqrt {\frac{5 - \sqrt 5 }{2}}\).

Abbildung 4.8
figure 8

Regelmäßiges 5-Eck mit Hilfslinien

In Abbildung 4.8 sind die Dreiecke \(\Delta {\text{AMB}}\) und \(\Delta CST\) sind ähnlich zueinander, daher gilt für die Länge \(\left| {\overline{ST} } \right|\):

$$\frac{1}{{s_{5} }} = \frac{{s_{5} }}{{\left| {\overline{{ST}} } \right|}}\,\,{\text{und damit}}\,\,\left| {\overline{{ST}} } \right| = s_{5}^{2}$$

Mithilfe des Satzes von Pythagoras kann nun die Länge der Diagonale \(d_{5} = \left| {\overline{BC} } \right|\) in Abhängigkeit der Seitenlänge \(s_{5}\) angegeben werden. Es gilt:

$$\left( {\frac{1}{2}\left| {\overline{BC} } \right|} \right)^{2} + \left( {\frac{1}{2}\left| {\overline{ST} } \right|} \right)^{2} = s_{5}^{2}$$
$$\left| {\overline{BC} } \right|^{2} = 4 \cdot \left( {s_{5}^{2} - \frac{1}{4}s_{5}^{4} } \right)$$
$$d_{5} = \left| {\overline{BC} } \right| = s_{5} \cdot \sqrt {4 - s_{5}^{2} }$$

Eine andere Möglichkeit \(d_{5}\) in Abhängigkeit von \(s_{5}\) anzugeben, nutzt die Seitenverhältnisse im goldenen Dreieck \(\Delta ABC\) (vgl. Abbildung 4.9):

Abbildung 4.9
figure 9

Regelmäßiges 5-Eck mit goldenem Dreieck

Die Dreiecke \(\Delta ABC\) und \(\Delta ASB\) sind ähnlich zueinander. Daher gilt:

$$\overline{AC} :\overline{AB} = \overline{AB} :\overline{AS}$$
$$\frac{{d_{5} }}{{s_{5} }} = \frac{{s_{5} }}{{d_{5} - s_{5} }}$$
$$\left( {d_{5} } \right)^{2} - d_{5} s_{5} = \left( {s_{5} } \right)^{2}$$
$$\left( {d_{5} } \right)^{2} - d_{5} s_{5} + \left( {\frac{1}{2}s_{5} } \right)^{2} = \left( {s_{5} } \right)^{2} + \left( {\frac{1}{2}s_{5} } \right)^{2}$$
$$\left( {d_{5} - \frac{1}{2}s_{5} } \right)^{2} = \left( {s_{5} } \right)^{2} + \left( {\frac{1}{2}s_{5} } \right)^{2}$$
$$d_{5} = s_{5} \frac{\sqrt 5 }{2} + \frac{1}{2}s_{5} = \frac{1 + \sqrt 5 }{2} \cdot s_{5}$$

Werden beide Gleichungen für \(d_{5}\) gleichgesetzt, erhält man:

$$s_{5} \cdot \sqrt {4 - s_{5}^{2} } = \frac{1 + \sqrt 5 }{2} \cdot s_{5}$$
$$- s_{5}^{2} = \left( {\frac{1 + \sqrt 5 }{2}} \right)^{2} - 4$$
$$s_{5} = \sqrt {\frac{5 - \sqrt 5 }{2}}$$

Mit dem Wissen über die Sehnenlängen zu den Winkeln 130°, 90°, 72°, 60° und 36° ermöglicht es nun der Ptolemäische Satz, die Sehnen von Summen und Differenzen zweier Winkel zu berechnen. Dadurch gelangt man zu Sehnenlängen von weiteren Winkeln, die vorher nicht zu berechnen waren. So zum Beispiel zur Sehnenlänge eines Winkels von \(12^\circ = 72^\circ - 60^\circ\).

Der Ptolemäische Satz : In einem Sehnenviereck ist das Produkt der Längen der Diagonalen gleich der Summe der Produkte der Längen der gegenüberliegenden Seiten.

Abbildung 4.10
figure 10

\(AD \cdot BC + AB \cdot CD = BD \cdot AC\)

Beweis: Zum Beweis wird der Winkel \(\alpha = \measuredangle ABD\) an dem Schenkel BC abgetragen (vgl. Abbildung 4.10) Auf diese Weise erhält man einen neuen Punkt \(E\) auf der Diagonale \(AC\). Da die Winkel \(\measuredangle BDA\) und \(\measuredangle BCA\) nach dem Peripheriewinkelsatz gleich sind, sind die Dreiecke \(\Delta DAB\) und \(\Delta BEC\) ähnlich zueinander. Daher gilt:

$$BD:AD = BC:EC$$
$$BD \cdot EC = BC \cdot AD$$

Weiter sind auch die Dreiecke \(\Delta ABE\) und \(\Delta BDC\) ähnlich zueinander und es gilt:

$$AB:AE = BD:CD$$
$$BD \cdot AE = AB \cdot CD$$

Werden beide Gleichungen zusammenaddiert, erhält man die Behauptung:

$$BD \cdot \left( {EC + AE} \right) = AD \cdot BC + AB \cdot DC$$
$$BD \cdot AC = AD \cdot BC + AB \cdot DC$$

Hat man zwei Sehnen AB und AD zu den jeweiligen Winkeln \(\alpha\) und \(\beta\) gegeben, kann die Sehne zu dem Winkel \(\alpha + \beta\) ausgerechnet werden. Diese entspricht der Diagonalen BD. Dazu wird der Punkt C so gewählt, dass die Strecke AC gleich dem Durchmesser des Kreises ist. Nach dem Satz des Thales sind die Dreiecke \(\Delta ABC\) und \(\Delta ADC\) rechtwinklig und es ist möglich, mit dem Satz des Pythagoras die anderen Sehnen BC und DC auszurechnen. Damit sind bis auf BD alle Werte in der ptolemäischen Gleichung bekannt und durch Umstellen kann die Länge der Diagonale BD ausgerechnet werden.

Um die Sehne zur Differenz zweier Winkel zu berechnen, werden die bereits bekannten Sehnen an die Stelle AD und BD gelegt. Anschließend wird C derart gewählt, dass DC gleich dem Durchmesser des Kreises ist. Daraufhin werden wieder alle Seiten bis auf AB mit dem Satz des Pythagoras berechnet. Die Seite AB erhält man schließlich durch den Satz des Ptolemäus. Da sechs der größte gemeinsame Teiler von 120, 90, 72, 60, 36 ist, ist 6° auch die kleinste Winkelgröße, die mithilfe der Summe und der Differenzen der bekannten Sehnenlängen ermittelt werden kann. Um zu weiteren Winkelgrößen zu kommen, kann der Halbsehnensatz genutzt werden.

Halbsehnensatz: In einem Kreis mit dem Radius r = 1 ist die Länge \(a\) einer Sehne AB zu einem Mittelpunktswinkel \(\alpha\) bekannt (vgl. Abbildung 4.11). Man erhält die Länge \(b\) einer Sehne BC zum halben Mittelpunktswinkel durch die Formel:

$$b = \sqrt {2 - \sqrt {4 - a^{2} } }$$
$$\left( {b = \sqrt {2r^{2} - r\sqrt {4r^{2} - a^{2} } } } \right)$$
Abbildung 4.11
figure 11

der Halbsehnensatz

Beweis: Angenommen \(\overline{AB} = a\) ist bekannt. Durch die Teilung des Winkels \(\measuredangle BOA\), kann die Sehne \(BC\) zu einem Kreisbogenstück der halben Länge konstruiert werden (vgl. Abbildung 4.12). Es wird gezeigt, wie die Länge dieser Sehne berechnet werden kann.

Abbildung 4.12
figure 12

Beweis des Halbsehnensatz

Das Dreieck ABD ist rechtwinklig. Der Satz des Pythagoras liefert die Länge

$$\overline{AD} = \sqrt {4r^{2} - a^{2} }$$

Wird nun die Länge \(a{`}\) auf den Durchmesser DB abgetragen, erhält man den Punkt E. Die Strecke \(\overline{DC}\) halbiert den Winkel in D, weshalb die beiden Dreiecke \(\Delta DAC\) und \(\Delta DEC\) ähnlich zueinander sind. Damit gilt Gleichheit für die drei Seiten \(AC = EC = BC\).

Das Dreieck \(\Delta EBC\) ist damit gleichschenklig und \(EZ = ZB\). Daraus folgt für

$$ZB = \frac{1}{2} \left( {DB - DE} \right) = \frac{1}{2}\left( {2r - \sqrt {4r^{2} - a^{2} } } \right)$$

Wird der Kathetensatz auf das Dreieck \(\Delta DBC\) angewandt und der Radius des Kreises auf \(r = 1\) gesetzt, erhält man für

$$BC = \sqrt {ZB \cdot DB = } \sqrt {2 - \sqrt {4 - a^{2} } }$$

Weiterführende Bemerkung: Aus dem vorangegangen Satz kann in der heutigen Notation die folgenden Gleichheit gefolgert werden: \(\sin \frac{1}{2}\alpha = \sqrt {\frac{1}{2}\left( {1 - \cos \alpha } \right)}\).

Abbildung 4.13
figure 13

Begründung der Formel \(\sin \frac{1}{2}\alpha = \sqrt {\frac{1}{2}(1 - \cos \alpha } )\)

Wird der Einheitskreis in ein Koordinatensystem eingebettet (Abbildung 4.13), so besitzt die Sehne mit AB der Länge \(a\) einen Zentriwinkel der Größe \(2\alpha\). Man vergewissere sich darüber hinaus, dass \(a = 2 \cdot \sin \alpha\) ist. Es gilt nun:

\(\begin{aligned} \sin \frac{1}{2}\alpha & = \frac{1}{2}CD = \frac{1}{2}\sqrt {2 - \sqrt {4 - a^{2} } } \\ & = \sqrt {\frac{1}{4}\left( {2 - 2\sqrt {1 - {\text{sin}}^{2} \left( \alpha \right)} } \right)} \\ & = \sqrt {\frac{1}{2}(1 - \cos \alpha )} \\ \end{aligned}\)

Der Halbsehnensatz kann nicht nur dazu genutzt werden, weitere Sehnenlängen zu berechnen, sondern hat auch noch eine innermathematische Bedeutung. So wird im Abschnitt 4.3 gezeigt, wie die Gleichung für die halbe Sehne genutzt werden kann, um die Sinusfunktion fachlich zu charakterisieren. Es handelt sich bei der Formel also um eine charakteristische mathematische Eigenschaft der Sinusfunktion.

Die Sehne zu 1°: Mit den Werkzeugen, die bisher dargelegt wurden, ist es möglich, Sehnen für Winkel der Größe \(3^\circ\), \(1\frac{1}{2}\) ° und \(\frac{3}{4}\) ° zu bestimmen. Es ist aber nicht möglich, die Sehnenlänge für ganzzahlige Winkelgrößen zu berechnen, die kein Vielfaches von \(3\)° sind. Dafür ist es notwendig, die Sehne für den Winkel von 1° zu approximieren. Van Brummelen (2009) zufolge nutzte Ptolemäus dazu die folgenden Ungleichung. Für Winkel \(\alpha < \beta < 90^\circ\) gilt:

$$\frac{Crd\left( \alpha \right)}{{Crd\left( \beta \right)}} < \frac{\alpha }{\beta }$$

Dass diese Ungleichung korrekt ist, kann folgendermaßen begründet werden: Wächst \(\alpha\) so wächst auch \(crd\left( \alpha \right)\), allerdings nimmt das Wachstum der Chordfunktion mit größer werdendem \(\alpha\) ab. Das ist äquivalent zu der Aussage, dass die Ableitung der Sinusfunktion im Intervall \(\left[ {0^\circ ,90^\circ } \right]\) monoton fällt. Wird nun zunächst \(\alpha = 1^\circ\), \(\beta = \frac{3}{4}^\circ\) und anschließend \(\alpha = \frac{3}{2}\)°, \(\beta = 1\)° ausgewählt, erhält man die folgende Ungleichungskette:

$$\frac{2}{3}Crd\left( {\frac{3}{2} \circ } \right){\text{ < }}\,Crd\left( 1 \right){\text{ < }}\,\frac{4}{3}Crd\left( {\frac{3}{4} \circ } \right)$$

Für einen Kreis mit Durchmesser von – \(120\)so wie Ptolemäus ihn wählte – beträgt die obere und untere Schranke in etwa \(1,402\) Einheiten und damit \(crd\left( 1 \right) = 1,402\). Gewappnet mit diesen Werkzeugen war Ptolemäus schließlich in der Lage, seine Sehnentafeln fertig zu stellen.

Das vorgestellte Beispiel ist aus mathematischer Sicht bedeutend, da erstmals geometrische Verfahrensweisen angewendet werden, um konkrete Werte für die Sehnenlängen und damit für die Sinusfunktion zu berechnen. In der Schule können Teile dieser Methode genutzt werden, um den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, welche Schwierigkeiten das Berechnen dieser Werte mit sich bringt und welches geometrische Geschick für die Lösung von Nöten ist. Diese Erkenntnis ist außerdem von besonderem didaktischem Interesse, da die Berechnung der Sinuswerte in der Schule, bis auf wenige Ausnahmen, üblicherweise nur mit dem Taschenrechner stattfindet. Die Werte der Sinusfunktion können für die Lernenden durch eine geeignete didaktische Umsetzung des Verfahrens im Mathematikunterricht an Bedeutung gewinnen.

4.2.8 Aryabhata (um 500 n. Chr.)

Nach Ptolemäus Almagest blieb es zunächst still um die griechische Astronomie. Es gibt wenige Überlieferungen die von herausragenden Werken oder neuen Erkenntnissen berichten (van Brummelen 2009). Die Werkzeuge des Ptolemäus waren lange Zeit ausreichend, um die damaligen Probleme zu lösen. Die ersten Fortschritte ließen sich Jahrhunderte später bei den Indern erkennen. Indien gehört somit zu den ersten wirklichen Nachfolgern, die das Erbe der Griechen antraten und ihre Werkzeuge, Berechnungen und Ideen weiterentwickelten. Aryabhata war einer der ersten indischen Astronomen, der die Arbeit der Griechen fortführte. Seine Erkenntnissinteressen waren dieselben wie die der Griechen. Er bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, berechnete Planetenbahnen und Auf- und Untergangszeiten der Sonne. Ungeachtet dessen war seine Arbeit eine grundlegend andere, da er aus einer anderen Warte an die Dinge heranging. Einer der augenfälligsten Unterschiede liegt darin, dass Aryabhata keine Sehnenlängen berechnete, sondern sich auf die jya-ardha (halbe Sehne) beschränkte. Diesem Wort entstammt auch unsere heutige Bezeichnung Sinus. Als arabische Astronomen die indische Trigonometrie weiterentwickelten, wurde das Wort \(jya\) fälscherweise durch das Wort Jayb ersetzt, was so viel bedeutet wie Bucht oder Falte. Zu der Zeit, in der arabische Texte ins Lateinische übersetzt wurden, wurde als Übersetzung das bedeutungsgleiche Wort Sinus gewählt (Bressoud 2010). Zudem arbeitete Aryabhata mit einem Kreis der einen Radius von 3438 Einheiten hat. Diese Normierung rührt daher, dass er zunächst den Umfang des Kreises in 360° eingeteilt hat, die jeweils aus 60‘ bestehen. Es sind also 21600‘ in einem Kreis. Legt man diese Einteilung des Kreises zugrunde und wählt eine Bogenminute als Einheit, so erhält man einen Radius \(r = \frac{21600}{{2\pi }} \approx 3438\).

Aryabhata berechnete sukzessiv die Länge halber Sehnen im Abstand von \(3\frac{3}{4}^\circ = 225^{\prime}\). Da die halben Sehnen für kleine Werte in etwa der Länge des Kreisbogens entsprechen gilt für den Winkel \(\alpha_{1} = 225^{\prime}\):

$$R \cdot \sin \left( {\alpha_{1} } \right) = R \cdot {\text{sin}}\left( {225^{\prime}} \right) \approx 225$$

Für \(\alpha_{0} = 0\) gilt weiterhin \(R \cdot \sin \left( {\alpha_{0} } \right) = 0\). Ausgehend von diesen Startwerten lassen sich nun alle weiteren Werte in äquidistanten Abständen bestimmen. Gilt für die Winkel \(\alpha_{i} = i \cdot 3\frac{3}{4}^\circ\), so lässt sich seine Methode für diese Schrittweite in einem Satz zusammenfassen:

  • Die Differenz zwischen einem Sinuswert und dem Nächsten ist gleich der vorherigen Differenz minus \(\frac{1}{225}\) des vorherigen Sinuswert (van Brummelen 2020). Formal ausgedrückt:

    $$\Delta \left( {n + 1} \right) = \Delta \left( n \right) - \frac{1}{225} \cdot \sin \left( {\alpha_{n} } \right)$$

Wobei \(\Delta \left( {n + 1} \right) = \sin \left( {\alpha_{n + 1} } \right) - {\text{sin}}\left( {\alpha_{n} } \right)\)

Aryabhatas Formel beschreibt also in gewissem Maße das Änderungsverhalten der Sinusfunktion im Intervall \(\left[ {0,90^\circ } \right]\) und kann historisch als Vorstufe zur Differentialrechnung verstanden werden. Bei einer äquidistanten Einteilung des Intervalls \(\left[ {0,90^\circ } \right]\) kann aus der Gleichung der Differenzen gefolgert werden, dass die absolute Änderung von einem Schritt zum Nächsten mit größer werdendem Winkel abnimmt. Das hängt damit zusammen, dass sich die neue Änderung aus der alten ergibt, indem ein Teil des vorherigen Sinuswertes von ihr abgezogen wird. Dieser Teil ergibt sich aus der Multiplikation mit einem konstanten Faktor, der von der Einteilung des Intervalls abhängt. In Aryabhatas Fall entspricht der Faktor dem Wert \(\frac{1}{225}\). Wie genau dieser Faktor von der Einteilung des rechten Winkels abhängt, wird im Folgenden erläutert.

4.2.9 Aryabathas Berechnung der Sehnentafel

In Anlehnung an van Brummelen (2009) wird Aryabhatas Algorithmus am Einheitskreis erklärt, indem der rechte Winkel in 90 Stücke \(x_{0} ,x_{1} , \ldots x_{90}\) von 1° geteilt wird (vgl. Abbildung 4.14). Für die n-te Differenz gilt:\(\Delta \left( n \right) = \sin \left( {x_{n} } \right) - {\text{sin}}\left( {x_{n - 1} } \right)\). Es wird zunächst eine Formel gesucht um diese Differenzen zu bestimmen.

Abbildung 4.14
figure 14

Berechnung der n-ten Differenzen

Der Übersicht halber wurde der rechte Winkel in Abbildung 4.14 nicht in 90 sondern in neun Teile eingeteilt, wodurch die Abbildung allerdings nicht maßstabsgetreu ist. Die \(x_{i}\) in der Abbildung stehen repräsentativ für die 90 Teile. Die \(y_{i}\) liegen auf dem Kreisbogen in der Mitte zwischen \(x_{i}\) und \(x_{i + 1}\) d. h. \(y_{i} = \frac{{x_{i + 1} + x_{i} }}{2}\). Die gesuchten Sinuswerte sind gleich den Längen der Strecken \(x_{i} P_{i}\). Die beiden Strecken \(Oy_{i}\) und \(x_{i} x_{i - 1}\) stehen senkrecht aufeinander, daher sind die rechtwinkligen Dreiecke \(\Delta Oy_{i} T_{i}\) und \(\Delta x_{i} Cx_{i - 1}\) ähnlich zueinander. Dieser Zusammenhang lässt sich zum Beispiel dadurch erkennen, dass die beiden Geraden auf denen \(Oy_{i}\) und \(x_{i} x_{i - 1}\) liegen, eine negativ inverse Steigung haben. Da die Steigung über das Seitenverhältnis in den jeweiligen Dreiecken angegeben wird, sind diese damit ähnlich. Es gilt:

$$\frac{{Cx_{i} }}{{x_{i} x_{i - 1 } }} = \frac{{OT_{i} }}{{Oy_{i} }}$$
$$\frac{{\sin \left( {x_{i} } \right) - \sin \left( {x_{i - 1} } \right)}}{{2 \cdot {\text{sin}}\left( {0,5^\circ } \right)}} = \frac{{\cos \left( {y_{i} } \right)}}{1}$$
$$\Delta \left( i \right) = [\sin \left( {x_{i} } \right) - \sin \left( {x_{i - 1} } \right)] = \cos \left( {y_{i} } \right) \cdot 2 \cdot {\text{sin}}\left( {0,5^\circ } \right)$$

Für die zweiten Differenzen gilt:

$$\Delta \left( i \right) - \Delta \left( {i + 1} \right) = \left[ {\cos \left( {y_{i} } \right) - \cos \left( {y_{i + 1} } \right)} \right] \cdot 2 \cdot {\text{sin}}\left( {0,5^\circ } \right)$$

Als nächstes suchen wir eine Formel für die Differenzen der Kosinuswerte. Mit demselben Argument wie oben beschrieen sind die beiden Dreiecke \(\Delta Ox_{i - 1} P_{i - 1}\) und \(\Delta Dy_{i} y_{i - 1}\) ähnlich zueinander. Daher gilt für ihre Seitenverhältnisse:

$$\frac{{Dy_{i - 1} }}{{y_{i} y_{i - 1} }} = \frac{{x_{i} P_{i} }}{{Ox_{i} }}$$
$$\frac{{\cos \left( {y_{i - 1} } \right) - \cos \left( {y_{i} } \right)}}{{2 \cdot {\text{sin}}\left( {0,5^\circ } \right)}} = \frac{{\sin \left( {x_{i} } \right)}}{1}$$
$$\cos \left( {y_{i - 1} } \right) - \cos \left( {y_{i} } \right) = \sin \left( {x_{i} } \right) \cdot 2 \cdot {\text{sin}}\left( {0,5^\circ } \right)$$

Wird diese Formel in die Gleichung für die zweiten Differenzen der Sinuswerte eingesetzt und umgestellt, erhält man:

$$\frac{{\Delta \left( i \right) - \Delta \left( {i + 1} \right)}}{{{\text{sin}}\left( {x_{i} } \right)}} = 4 \cdot \sin \left( {0,5^\circ } \right)^{2}$$

Der Term auf der rechten Seite der Gleichung ist konstant, womit der Term auf der linken Seite unabhängig von \(i\) ist. Das dieser Quotient konstant ist, hat im Übrigen damit zu tun, dass für die zweite Ableitung der Sinusfunktion \(sin^{\prime\prime}\left( x \right) = - {\text{sin}}\left( x \right)\) gilt und die zweiten Differenzen \(\Delta \left( i \right) - \Delta \left( {i + 1} \right)\) aus historischer Perspektive als diskrete Vorstufe zur zweiten Ableitung verstanden werden können.

Wir setzen nun \(q{ := }4 \cdot \sin \left( {0,5^\circ } \right)^{2}\). Hat man bereits zwei aufeinanderfolgende Sinuswerte gegeben, z. B. die Startwerte \(\sin \left( {0^\circ } \right) = 0\) und \(\sin \left( {1^\circ } \right) = 0,0174\), wird zunächst die Differenz \(\Delta \left( 2 \right) = \Delta \left( 1 \right) - q \cdot {\text{sin}}\left( {1^\circ } \right)\) berechnet. Anschließend erhält man \({\text{sin}}\left( {2^\circ } \right)\) durch \(\sin \left( {2^\circ } \right) = \sin \left( {1^\circ } \right) + \Delta \left( 2 \right)\). Allgemein wird die Berechnung der Sinuswerte in zwei Schritten durchgeführt:

  1. 1.

    Schritt: Berechnung \(\Delta \left( n \right)\)

    $$\Delta \left( n \right) = \Delta \left( {n - 1} \right) - q \cdot {\text{sin}}\left( {x_{n} } \right)$$
  1. 2.

    Schritt: Berechnung von \(\sin \left( {x_{n + 1} } \right)\) durch

    $$\sin \left( {x_{n + 1} } \right) = \sin \left( {x_{n} } \right) + \Delta \left( n \right)$$

Zur didaktischen Umsetzung des Verfahrens im Unterricht bietet sich eine Excel Tabelle an, in der die einzelnen Schritte formalisiert werden. Die Formeln dafür lassen sich in der folgenden Tabelle ablesen (vgl. Tabelle 4.2):

Tabelle 4.2 Exceltabelle zur Berechnung der n-ten Differenzen

Weiterführende Bemerkungen: Für eine Einteilung in \(n\) Teile kann der Faktor \(q\) durch folgende Formel berechnet werden:

$$q = 4 \cdot \sin \left( {\frac{90^\circ }{{2 \cdot n}}} \right)^{2}$$

Aryabhata nutzt in seinem Beispiel für den Faktor \(q = 4 \cdot \sin \left( {\frac{1}{2} \cdot 3,75} \right)^{2}\) eine Näherung von \(\frac{1}{225} = 0,00\overline{4}\), der genaue Wert liegt bei ungefähr 0,00428. Die beste Approximation durch einen Stammbruch liegt bei \(\frac{1}{234} \approx 0,004273.\) Dennoch liefert diese Approximation sehr gute Werte.

Die Herleitung für die Differenzen der Sinus- und Kosinuswerte, mithilfe der identifizierten ähnlichen Dreiecke, lässt sich auch auf beliebige Werte \(y < x < 90^\circ\) anwenden. Man erhält dann die Formeln:

$$\sin \left( y \right) - \sin \left( x \right) = 2 \cdot \cos \left( {\frac{x + y}{2}} \right) \cdot \sin \left( {\frac{y - x}{2}} \right)$$
$$\cos \left( x \right) - \cos \left( y \right) = 2 \cdot \sin \left( {\frac{x + y}{2}} \right) \cdot \sin \left( {\frac{y - x}{2}} \right)$$

Dazu betrachte man Abbildung 4.15:

Abbildung 4.15
figure 15

Skizze zur Differenzenformel

Da die beiden Dreiecke \(\Delta OAz\) und \(\Delta xyS\) ähnlich zueinander sind gilt:

$$\frac{Sx}{{yx}} = \frac{Az}{{Oz}}$$
$$\frac{\cos \left( x \right) - \cos \left( y \right)}{{\sin \left( {\frac{y - x}{2}} \right)}} = \frac{{\sin \left( {\frac{x + y}{2}} \right)}}{1}$$
$$\cos \left( x \right) - \cos \left( y \right) = 2 \cdot \sin \left( {\frac{x + y}{2}} \right) \cdot \sin \left( {\frac{y - x}{2}} \right)$$

In ähnlicher Weise kann man die Differenzenformel für den Sinus herleiten.

Aus genetischer Perspektive können mithilfe dieses Beispiels die historischen Ursprünge trigonometrischer Identitäten – in diesem Fall die Differenzenformel – aufgezeigt werden. Es wird ersichtlich, zu welchen Problemen die Differenzenformel eine Antwort liefern kann und welche geometrischen Überlegungen zu der Formulierung einer solchen Gleichheit beigetragen haben. Bei Aryabhaths Methode handelt es sich aus didaktischer Sicht um einen anspruchsvollen mathematischen Algorithmus, der gegebenenfalls in einem gymnasialen Leistungskurs oder in der Hochschule thematisiert werden kann. Dabei kann entschieden werden, das Verfahren mit digitalen Hilfsmitteln umzusetzen oder den gesamten Herleitungsprozess zu besprechen. Weiterhin kann man diese Differenzenmethode historisch gesehen als Vorstufe der Differentialrechnung ansehen und in diesem Zusammenhang auch die Ableitung der Sinusfunktion thematisieren.

4.2.10 Joost Bürgi (um 1588 n. Chr.)

Fast 1000 Jahre nach den Arbeiten der Inder entwickelte sich die Trigonometrie zu einem selbstständigen Teilgebiet der Mathematik weiter. Regiomontanus, der einzige Schüler von Kopernikus, veröffentlichte um 1440 n. Chr. Sinustafeln zu allen sechs trigonometrischen Funktionen: Sinus, Kosinus, Tangens und den inversen Arcus-Funktionen. Diese Veröffentlichung wird als Beginn der ebenen Trigonometrie angesehen. Circa 100 Jahre später, im Jahre 1552, wurde Joost Bürgi in der Schweiz geboren. Bürgi ist bekannt für seine Arbeit zur Logarithmen-Methode, die er parallel zu Napier entwickelte (Klein 1924). Mit den Logarithmen konnten schwierige Multiplikationen von langen Dezimalzahlen auf wesentlich einfachere Additionen zurückgeführt werden, die mit Hilfe einer Logarithmentafel zu dem gewünschten Produkt führen. Bürgi war außerdem Uhrmacher am Fürstenhof von Hessen-Kassel und konstruierte dort die erste Uhr mit Sekundenzeiger. Sein Beitrag zur geschichtlichen Entwicklung der Trigonometrie ist unter dem Namen Kunstweg bekannt. Bei dem Kunstweg handelt es sich um eine Methode, mit der es möglich war, Sinuswerte für nahezu alle Winkelgrößen beliebig genau zu bestimmen. Der dahinterstehende Algorithmus blieb lange Zeit verschollen. Alles was darüber bekannt war, war in einer rätselhaften Skizze verborgen (Launert 2016, vgl. Abbildung 4.16).

Abbildung 4.16
figure 16

Bürgis Kunstweg in schematischer Darstellung (Ursus 1588)

Dies änderte sich mit der Wiederentdeckung einer alten Schrift im Jahre 2016 in einer Universität in Breslau, die von Folkerts, Launert und Thom (2016) untersucht wurde. Folkerts et. al. waren in der Lage, Bürgis Algorithmus in einer verständlichen Form wiederzugeben. Es folgt nun eine Darstellung des Kunstweges in fünf Schritten:

  1. 1.

    Im ersten Schritt wird ein Winkel von 90° in \(n\) äquidistante Teile aufgeteilt und die entsprechenden Winkelgrößen werden von oben nach unten in eine Spalte geschrieben.

  2. 2.

    Werte für die halbe Sehne dieser n-Teile werden geschätzt und in einer neuen Spalte in einer Tabelle eingetragen, diese Spalte liegt links von der ersten Spalte (der erste Wert der Spalte ist 0, der letzte Wert gibt den Durchmesser des Kreises an).

  3. 3.

    Der letzte Wert wird halbiert und links unten in einer neuen Spalte eingetragen. Schrittweise werden nun die alten Werte von unten nach oben addiert.

  4. 4.

    In einer neuen Spalte wird mit dem Wert 0 angefangen und dann der oberste Wert der alten Spalte übernommen. Nun werden die Werte schrittweise von oben nach unten addiert.

  5. 5.

    Schritt 3 und 4 können beliebig oft wiederholt werden.

Bürgis Kunstweg soll nun an einem Beispiel verdeutlicht werden: Wird der Kreis in fünf äquidistante Teile geteilt, entstehen die Winkelgrößen 0°, 18°, 36°, 54°, 72° und 90°. Anschließend werden Werte für die Länge der Halbsehnen geschätzt; beispielsweise 0, 1, 2, 3, 4, 5. Es handelt sich also um Schätzungen der Halbsehnen in einem Kreis mit dem Radius 5. Diese Schätzung ist sehr ungenau, wird aber durch den Algorithmus Schritt für Schritt verbessert. Dazu wird der letzte Wert halbiert und anschließend werden sukzessiv die vorigen Werte addiert. Auf diese Weise entstehen die Werte, die von unten nach oben eingetragen werden:

$$c_{6} = 2,5\,\,c_{5} = 6,5\,\,c_{4} = 9,5\,\,c_{3} = 11,5\,\,c_{2} = 12,5$$

Im nächsten Schritt wird eine Null oben in die nächste Spalte eingefügt und der oberste Wert der letzten Spalte übernommen. Es werden wieder sukzessiv die Werte addiert, dieses Mal von oben nach unten. So erhält man die Zahlenfolge:

$$d_{2} = 12,5\,\,d_{3} = 24\,\,d_{4} = 33,5\,\,d_{5} = 40\,\,d_{6} = 42,5$$

Die Werte sind in der folgenden Tabelle dargestellt (vgl. Tabelle 4.3):

Tabelle 4.3 Beispielrechnung für Bürgis Kunstweg

Auf diese Weise gelangt man von einer zur übernächsten Spalte zu immer besseren Approximationen für die Halbsehnen, die allerdings in jedem Schritt zu einem Kreis mit größerem Radius gehören. In Spalte B ist die erste Schätzung in einem Kreis mit Radius 5, in Spalte D beträgt der Radius bereits 42,5.

Es ist bis heute nicht einschlägig geklärt, wie Bürgi auf diese Methode gekommen ist. Es finden sich aktuelle Arbeiten, welche die Funktionsweise mit modernen mathematischen Werkzeugen erklären und beweisen (Folkerts et al. 2016). Diese Werkzeuge standen Bürgi allerdings nicht zur Verfügung. Einen Erklärungsversuch liefert Roegel (2015). Es ist davon auszugehen, dass Bürgi sich intensiv mit den Tafeln des Regiomontanus auseinandergesetzt hat. Auf der Suche nach einem Muster spielte er mit den Zahlen, las sie vorwärts und rückwärts, bildete Differenzen und Differenzen dieser Differenzen. Dabei kann ihm aufgefallen sein, dass die Verhältnisse zwischen den Ursprungswerten und den zweiten Differenzen stets konstant waren. Der Wert dieser Konstanten hängt von der Einteilung des rechten Winkels ab. Wird der rechte Winkel in 10° Schritten eingeteilt, liegt das Verhältnis bei 32,911. Diese Tatsache hängt damit zusammen, dass die zweite Ableitung der Sinusfunktion der negativen Sinusfunktion entspricht, allerdings war die Differentialrechnung zu Bürgis Zeit noch weitgehend unbekanntes Terrain. Die zweite wichtige Beobachtung liegt darin, dass der letzte Wert der ersten Differenz in etwa der Hälfte des Wertes am Ende der zweiten Differenzen entspricht. Wurden diese beiden Beobachtungen einmal gemacht, könnte es sein, dass Bürgi versucht hat den Prozess umzukehren und statt Differenzen Summen zu bilden. Eine nachvollziehbare Erklärung besagt also, dass Bürgi durch aufmerksame Analyse der ihm gegebenen Sinustafeln in einer Art heuristischem Verfahren zu seinem Ergebnis gelangte.

Zusammenfassung: Verglichen mit den schulischen Lernwegen, bei dem die Trigonometrie mithilfe von Seitenverhältnissen im rechtwinkligen Dreieck eingeführt wird, geht die geschichtliche Entwicklung einen etwas anderen Weg. Zwar finden sich die Seitenverhältnisse rechtwinkliger Dreiecke bei dem Bau der Pyramiden und den Vermessungstechniken des Thales wieder, allerdings war die Berechnung unbekannter Größen im Kreis, insbesondere die der Längen von Sehnen zu einem gegebenen Mittelpunktswinkel, die treibende Kraft in der geschichtlichen Entwicklung der Trigonometrie. Durch die Arbeit der Inder, in der die Sehne im Kreis halbiert wurde, entstand eine Definition, die der heutzutage üblichen Definition am Einheitskreis ähnelt. Erst später, Anfang des 15. Jahrhunderts mit der Arbeit von Rheticus, entkoppelte sich die Trigonometrie langsam von der Darstellung am Einheitskreis (Folkerts et al. 2016). Auch wenn die Abfolge der Inhalte in der Schule nicht der historischen Abfolge entspricht, bleibt festzuhalten, dass die Darstellungen am rechtwinkligen Dreieck und am Einheitskreis urtypische Darstellungsformen des Sinus sind, durch die mathematische Grundprinzipien, wie die gleichbleibenden Seitenverhältnisse in ähnlichen Dreiecken, oder Grundkenntnisse, wie die Additionstheoreme, erfahrbar gemacht werden können. Die didaktische Umsetzung derartiger historischer Beispiele im schulischen oder universitären Kontext könnte weiterhin dabei helfen, den Lernenden die Mathematik als Schöpfung des menschlichen Geistes näher zu bringen (Winter 1996) und ihnen dadurch ein authentisches Bild der Mathematik zu vermitteln.

Die durch die historische Genese gefunden Sachzusammenhänge und Prinzipien werden in Abschnitt 4.5 mit Anwendungskontexten und mathematischen Definitionen zusammengeführt und entsprechenden Darstellungsformen zugeordnet. Anschließend werden sie in Klassen zusammengefasst, die den Ausgangspunkt für die Formulierung normativer Grundvorstellungen bilden. Im folgenden Abschnitt wird nun die logische Genese der Trigonometrie untersucht.

4.3 Logische Genese der Trigonometrie

Die logische Genese eines mathematischen Begriffs offenbart die innere Struktur des Begriffs und gibt Lernenden die Möglichkeit, diese Strukturen verstehend nachzuvollziehen (Möller 2001). Auf diese Weise lässt sich erkennen, wie ein Begriff in das formale System der Mathematik eingebettet ist und welcher inneren Aufbaulogik dieser folgt. Bei der Analyse der logischen Genese sind die unterschiedlichen Definitionen eines mathematischen Begriffs sowie Grundkenntnisse im Umgang mit dem mathematischen Inhalt und Zusammenhänge zu weiteren Themenbereichen zu berücksichtigen. Diese Aspekte sind Untersuchungsgestand fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Arbeiten. Korntreff (2018) setzt sich beispielsweise auf fachdidaktischer Ebene mit der Einführung des Bogenmaßes, den Additionstheoremen und der Ableitung der Sinus- und Kosinusfunktion auseinander. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der Herleitung der Ableitung der Sinusfunktion über Differentiale (Katz 1995; Petrache 2014). Sowohl Kirsch (1979) als auch Lowsky (2013) geben unterschiedliche Zugänge zur Behandlung der Sinusfunktion und ihrer Ableitung an, die in ihrer Anschaulichkeit und der mathematischen Strenge variieren. Die Sachanalyse von Podbelsek (1972) liefert eine umfassende und detaillierte Beschreibung darüber, wie die Sinusfunktion in verschiedenen Bereichen der Mathematik fachlich korrekt definiert werden kann. Insgesamt kommt Podbelsek auf elf mögliche Definitionen. Diese reichen von der Definition über das Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck, den Einheitskreis, die Euler-Formel, Vektormodelle, Äquivalenzklassen, Riemann Integrale, Potenzreihen, Differentialgleichungen bis hin zur Funktionalgleichung. Podbelsek stellt darüber hinaus Varianten dieser Modelle vor, in denen er beispielsweise den Einheitskreis durch ein Quadrat ersetzt und dadurch eine square function definiert. Diese square function wurde bereits von Biddle (1967) eingeführt und ausführlich analysiert. Salle und Frohn (2020) nutzen diese alternative Sinusfunktion, um Transferprozesse im Unterricht zu aktivieren und dadurch ein tieferes Verständnis von trigonometrischen Funktionen und Periodizität bei Schülerinnen und Schülern auszubilden. Ein tieferes Verständnis wird ihrer Meinung nach durch die Konstruktion von Grundvorstellungen zu Sinus und Kosinus erworben (Frohn & Salle 2017). Grundvorstellungsgeleitete Unterrichtsentwürfe zur Ableitung der Sinusfunktion und zum Übergang vom Sinus am rechtwinkligen Dreieck über den Einheitskreis zur Sinusfunktion sind bei Katter (2017; 2020b) zu finden.

In diesem Abschnitt wird nun, ausgehend von den Definitionen der Sinusfunktion aus der Geometrie und der Analysis, eine Analyse der inneren logischen Struktur des Sinusbegriffes durchgeführt. Grundlage dieser Analyse bilden die folgenden Fragen:

  • Welchem Bereich der Mathematik kann die Definition der Sinusfunktion zugeordnet werden?

  • Welche Begriffe, Symbole und Formeln werden explizit in der Definition genannt?

  • Welche Begriffe, Symbole und Konzepte spielen bei der Definition eine implizite Rolle?

  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen unterschiedlichen Definitionen des Sinus?

Es folgt eine diagrammatische Übersicht ausgewählter Definitionen des Sinus und ihren Verbindungen (Abbildung 4.17). Die einzelnen Definitionen werden im Anschluss genauer erläutert und schließlich die Zusammenhänge erklärt.

Abbildung 4.17
figure 17

Schaubild fachliche Charakterisierung

4.3.1 Fachliche Charakterisierungen

Definition am rechtwinkligen Dreieck: Die übliche Art und Weise, die Sinusfunktion in der Schule einzuführen, verläuft über die Definition als Seitenverhältnis in rechtwinkligen Dreiecken. Diese Definition ist Teil eines langen Lernweges, bei dem die fundamentalen Ideen des Messens und Berechnens von Flächeninhalten und Seitenlängen sowie der Konstruktion von geometrischen Objekten im Zentrum stehen (vgl. Abschnitt 4.1). Es handelt sich um eine Definition die in der rechnerischen Geometrie anzusiedeln ist, da sie algebraische und rechnerische Elemente (Gleichungen) und geometrische Objekte (Dreiecke) miteinander in Verbindung setzt (Abbildung 4.18).

  • Sei \(\alpha\) ein Winkel in einem rechtwinkligen Dreieck, mit der Hypotenuse \(c\) und der Gegenkathete \(a\), dann bezeichnet \(sin(\alpha )\) das Verhältnis der Längen von Gegenkathete zur Hypotenuse

    $$sin\left( \alpha \right) = \frac{a}{c}$$
Abbildung 4.18
figure 18

rechtwinkliges Dreieck

Die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck rückt die Berechnung von Größen in geometrischen Figuren in den Mittelpunkt. Die zentralen mathematischen Begriffe, die explizit in dieser Definition auftauchen, sind: Winkel, Dreieck, Hypotenuse, Gegenkathete, Verhältnis und Länge. Diese Begriffe müssen den Lernenden wohlbekannt sein, um ein grundlegendes Verständnis für diese Definition zu entwickeln. Für ein tieferes Verständnis der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck sind die Konzepte der Ähnlichkeit und der zentrischen Streckung von Dreiecken hilfreich. Diese Konzepte können selbst wieder Ausgangspunkt einer Sachanalyse sein. Sie bauen auf weiteren Konzepten auf, sind verknüpft mit anderen Inhalten und lassen sich mit Grundkenntnissen in Verbindung bringen. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die genannten Konzepte, da diese sich für die Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck als besonders relevant herausstellen. Es besteht eine enge Beziehung zur Definition des Sinus am Einheitskreis, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird.

Definition am Einheitskreis: Die Definition des Sinus am Einheitskreis macht es möglich, Werte für Winkel zu bestimmen, die außerhalb des Intervalls \(\left( {0^\circ ,90^\circ } \right)\) liegen. Schließlich kann durch die Einführung des Bogenmaßes der Definitionsbereich auf die reellen Zahlen erweitert werden. Der Einheitskreis eignet sich weitergehend im besonderen Maße dazu, dynamische Aspekte wie das Kovariationsverhalten der Sinusfunktion zu diskutieren. Auch hierbei handelt es sich um eine Definition, die in der rechnerischen Geometrie zu verorten ist, da sie sowohl algebraische als auch geometrische Aspekte miteinander vereint.

  • Der freie Schenkel des Winkels \(\alpha\) schneide den Einheitskreis in dem Punkt \(P = \left( {x,y} \right)\) wie in der Skizze (Abbildung 4.19) angezeigt, dann bezeichnet \(sin\left( \alpha \right)\) den \(y\)-Wert dieses Punktes.

    $$sin\left( \alpha \right) = y$$
Abbildung 4.19
figure 19

Sinus am Einheitskreis

Form bzw. Darstellung des Sinus am Einheitskreis können variieren und unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund rücken. Beigefügte Bilder zu den Definitionen können ein in den Einheitskreis eingezeichnetes Referenzdreieck beinhalten oder ohne ein solches auskommen. Der Sinus kann über das Bogenmaß oder das Gradmaß definiert werden und es kann von Koordinaten eines Punktes oder von dem Abstand zur \(x\)-Achse gesprochen werden.

Wie bei der Dreiecksdefinition tauchen auch bei der Einheitskreisdefinition explizit zentrale Begriffe und Symbole auf, deren Kenntnis notwendig für ein grundlegendes Verständnis dieser Charakterisierung ist. Diese Begriffe und Symbole sind: Winkel, Einheitskreis, Punkt, \(P = \left( {x,y} \right)\), \(\sin \left( \alpha \right) {\text{und}}\) \(y\)-Wert. Für ein tieferes Verständnis ist ein vertrauter Umgang mit dem Koordinatensystem oder der Parameterdarstellung von Kurven hilfreich. Die Einheitskreisdefinition steht sowohl im engen Zusammenhang mit der Dreiecksdefinition als auch mit der Definition des Sinus über die Exponentialfunktion. Die Definitionen über die Funktionalgleichung und die Verdopplungsformel entsprechen den Additionstheoremen und der Formel für den doppelten Winkel. Beide Formeln können am Einheitskreis hergeleitet werden und erhalten erst dadurch eine inhaltliche Deutung. Diese Zusammenhänge werden im nächsten Abschnitt explizit besprochen.

Definition über die Umkehrfunktion der Bogenlängenfunktion des Einheitskreises: Die Definition des Sinus am Einheitskreis kann weiter formalisiert werden um einen Bogen zur Analysis und zur Differentialrechnung zu spannen. Dazu wird Sinus am Einheitskreis als Zuordnung interpretiert, die einem bestimmten Kreisbogenstück auf dem Einheitskreis die Länge einer Strecke \(y\) auf der \(y\)-Achse zuordnet. Ausgehend von dieser Deutung findet nun eine Formalisierung dieser Zuordnung statt. In einem ersten Schritt wird diese Zuordnung umgekehrt um eine Funktion aufzustellen, die zu einer gegebenen Länge \(x\) auf der \(x\)-Achse ein Kreisbogenstück auf dem Einheitskreis liefert. Anschließend wird der Sinus über die Umkehrfunktion dieser Funktion definiert. Die folgende Definition ist übernommen von Brown und Rice (2011) (Abbildung 4.20).

  • Sei \(s \in \left[ { - 1,1} \right]\). Die Bogenlänge des Einheitskreis zwischen den Punkten \(P = \left( {0,1} \right)\) und \(Q = \left( {s, \sqrt {1 - s^{2} } } \right)\) ist gegeben durch

    $$u = \mathop \smallint \limits_{0}^{s} \frac{1}{{\sqrt {1 - x^{2} } }}dx$$
Abbildung 4.20
figure 20

Arcussinus als Bogenlänge

  • Dann existiert eine Umkehrfunktion \(s\left( x \right):\left[ { - \frac{\pi }{2},\frac{\pi }{2}} \right] \to \left[ { - 1,1} \right]\);\(s\left( u \right) = s\)

  • Die Sinusfunktion wird auf dem Intervall \(\left[ { - \frac{\pi }{2},\frac{\pi }{2}} \right]\) definiert. Es gilt:

    $$\sin \left( u \right): = s\left( u \right)$$

Durch eine Erweiterung von \(s\left( u \right)\) auf die reellen Zahlen erhält man schließlich die Sinusfunktion in rein analytischer Form. Dazu wird \(s\left( x \right)\) stückweise wie folgt definiert:

$$s_{ - 2} \left( x \right):\left[ { - \frac{5\pi }{2}, - \frac{3\pi }{2}} \right] \to \left[ { - 1,1} \right];s_{ - 1} \left( x \right) = s\left( {x + 2\pi } \right)$$
$$s_{ - 1} \left( x \right):\left[ { - \frac{3\pi }{2}, - \frac{\pi }{2}} \right] \to \left[ { - 1,1} \right];s_{ - 1} \left( x \right) = s\left( { - \pi - x} \right)$$
$$s_{0} \left( x \right) = s\left( x \right)$$
$$s_{1} \left( x \right):\left[ {\frac{{\uppi }}{2},\frac{{3{\uppi }}}{2}} \right] \to \left[ { - 1,1} \right];s_{1} \left( x \right) = s\left( {\pi - x} \right)$$
$$s_{2} \left( x \right):\left[ {\frac{{3{\uppi }}}{2},\frac{{5{\uppi }}}{2}} \right] \to \left[ { - 1,1} \right];s_{1} \left( x \right) = s\left( {x - 2\pi } \right)$$

Der Vorteil dieser fachlichen Charakterisierung liegt Brown und Rice (2011) zufolge darin, dass der Hauptnutzen der Trigonometrie in der Anwendung periodischer Funktionen liegt, die dazu dienen, periodische Prozesse zu modellieren, und ohne geometrische Anschauungen auskommen sollten. Der dreiecksfreie Zugang lässt tiefer hineinblicken in die mathematische Struktur des Sinus und liefert einen rein analytischen Zugang zu den Kerneigenschaften wie Periodizität, Symmetrieeigenschaften, der Ableitung und den Taylorreihen (Brown & Rice 2011).

Definition über die Exponentialfunktion: In der Hochschule, insbesondere im Laufe eines fachmathematischen Studiums, wird oftmals ein rein analytischer Zugang zur Sinusfunktion gewählt. Hierbei wird die Deutung am Einheitskreis sehr wohl thematisiert, die Sinusfunktion in ihrer analytischen Form wird jedoch mithilfe der Exponentialfunktion und von Potenzreihen definiert. Auf diese Weise löst sich die Analysis schlussendlich von der Geometrie und erreicht so eine höhere Ebene der Abstraktion. Diese fachliche Charakterisierung lässt schließlich eine analytische Fortsetzung der Sinusfunktion auf die komplexen Zahlen zu. Die Darstellung der Sinusfunktion mithilfe der Exponentialfunktion ist rein analytisch, kompakt und kann in einer Analysis Vorlesung genutzt werden, um nahezu nahtlos an bereits vorhandenes technisches Wissen über Exponentialfunktionen anzuschließen.

  • Die Funktion \(\sin :C \to C\) ist definiert über

    $$\sin \left( z \right) = \frac{{e^{iz} - e^{ - iz} }}{2i}$$

Voraussetzung für ein grundlegendes Verständnis der Definition bilden die symbolischen Darstellungen: \(\sin :C \to C{\text{ und}}\sin \left( z \right) = \frac{{e^{iz} - e^{ - iz} }}{{2{\text{i}}}}\). Darin enthalten sind die Konzepte: Funktion, komplexe Zahlen, Wertebereich, Definitionsbereich und Exponentialfunktion. Für ein tieferes Verständnis kann das Konzept der komplexwertigen Funktionen hilfreich sei. Es können Zusammenhänge zur Definition des Sinus am Einheitskreis, der Definition über Potenzreihen und zur Schwingungsdifferentialgleichung hergestellt werden.

Definition über Potenzreihen: Die Definition der Sinusfunktion mithilfe von Potenzreihen baut auf der Leitidee der Approximation auf, indem die ursprüngliche Funktion durch Taylorpolynome angenähert wird. Dadurch wird eine mögliche Rechenvorschrift gegeben, mit der Näherungswerte der Sinusfunktion ausgerechnet werden können.

  • Die Funktion sin \(R \to R\) ist definiert über

    $$\sin \left( x \right){ := }\mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} x^{2n} }}{{\left( {2n} \right)!}}$$

Bei dieser fachlichen Charakterisierung handelt es sich um eine vergleichsweise komplexe Definition, die auf eine beachtliche Menge an mathematischem Vorwissen und technischen Kompetenzen zurückgreift. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Definitionen benötigt diese Definition umfangreiches implizites Wissen. Auch ist der symbolische Anteil wesentlich höher. Um ein grundlegendes Verständnis zu erlangen, ist die Kenntnis der folgenden symbolischen Darstellungen notwendig: sin\(R \to R\),\(\mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} x^{2n} }}{{\left( {2n} \right)!}}\) und\(\sin \left( x \right)\). Ein verständiger Umgang mit diesen Symbolen beinhaltet die direkte Kenntnis der Konzepte: Funktion, Wertebereich, Definitionsbereich, Summenzeichen, Potenzregeln und Fakultät. Implizite Konzepte, die zu einem tieferen Verständnis beitragen, sind: Taylorreihen, Ableitung, Polynome und Grenzwerte.

Definition über die Produktdarstellung: Neben der Darstellung als unendliche Reihe, kann die Sinusfunktion auch als unendliches Produkt dargestellt werden. Die folgende Definition der Sinusfunktion geht auf Euler zurück, der als Erster systematisch mit unendlichen Produkten gearbeitet und wichtige Produktentwicklungen aufgestellt hat. Bereits 1734 gab Euler eine Produktdarstellung der Sinusfunktion an (Remmert & Schumacher 2007).

  • Es gilt für alle \(z \in C\)

    $$sin\left( {\pi z} \right) = \pi z\mathop \prod \limits_{k = 1}^{\infty } \left( {1 - \frac{{z^{2} }}{{k^{2} }}} \right)$$

Beweise für diese Aussage finden sich bei Remmert & Schumacher (2007). Dort wird gezeigt, dass die logarithmische Ableitung der Produktdarstellung gleich dem Kotangens ist. Da dies auch die logarithmische Ableitung der Sinusfunktion ist, müssen beide Funktionen bis auf einen konstanten Faktor identisch sein. Alternativ geben Remmert und Schumacher noch einen Beweis mithilfe der Verdopplungsformel an. Die Produktdarstellung des Sinus ist dem Bereich der Funktionentheorie zuzuordnen und entstammt der Theorie der unendlichen Produkte, die Ähnlichkeiten zu der Theorie der unendlichen Reihen aufweist. Entscheidend ist es, die Konvergenz eines solchen Produktes korrekt zu erfassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein unendliches Produkt genau dann konvergiert, wenn die Reihe aus Logarithmen der Faktoren konvergent ist (Balser 2008).

Um eine Funktion mit einer unendlichen Menge an Nullstellen zu konstruieren, wird der Produktsatz von Weierstraß benötigt, der mit konvergenzerzeugenden Faktoren arbeitet. Im Fall der Funktion \(f\left( z \right) = {\text{sin}}\left( {\pi z} \right)\) ist die Nullstellenmenge gleich den ganzen Zahlen \({\mathbb{Z}}\). Der Satz von Weierstraß liefert zu dieser Nullstellenmenge die obige Produktdarstellung. Es ist zu erkennen, dass zu jeder ganzen Zahl genau ein Faktor in dieser Darstellung gleich Null wird und das Produkt somit auf den ganzen Zahlen verschwindet.

Definition über die Schwingungsdifferentialgleichung: Eine fachliche Charakterisierung der Sinusfunktion, die besonders in der Physik eine Rolle spielt, liefert die Lösung der Schwingungsdifferentialgleichung. Differentialgleichungen sind ein wesentliches Werkzeug der mathematischen Modellierung. Die Modellierung von Schwingungen eignet sich in besonderer Weise um den Nutzen der Sinusfunktion als Modellfunktion für periodische Prozesse zu motivieren.

  • Für \(x \in R\) definieren wir die Funktionen sin \(R \to R\) als Lösung der Differentialgleichung

    $$f^{\prime\prime}\left( x \right) = - f\left( x \right)$$
  • Mit der Anfangsbedingung

$$f\left( 0 \right) = 0\,{\text{ und }}\,f^{\prime } \left( 0 \right) = 1$$

In dieser Definition werden nicht nur analytische, formale und technische Eigenschaften der Funktion beschrieben, sondern substantielle Eigenschaften geliefert, die in geeigneten Kontexten inhaltlich gedeutet werden können. In einem physikalischen Kontext kann die Sinusfunktion genutzt werden, um die momentane Auslenkung eines schwingenden Feder-Masse-Systems zu beschreiben. Die erste Ableitung beschreibt in diesem Szenario die Geschwindigkeit des Gewichtes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die zweite Ableitung ist ein Maß für die Beschleunigung. Die allgemeine Schwingungsdifferentialgleichung für ein Feder-Masse-System wird in der Physik durch die folgende Gleichung beschrieben:

$$f^{\prime\prime}\left( t \right) = - \frac{D}{m} \cdot f\left( t \right)$$

Dabei bezeichnet \(D\) die Federkonstante und \(m\) die Masse. Eine Lösung der Differentialgleichung ist \(f\left( t \right) = \sin \left( {\sqrt{\frac{D}{m}} \cdot t} \right)\). Der physikalische Zusammenhang der durch diese Differentialgleichung beschrieben wird, lässt sich wie folgt ausdrücken:

  • Die Beschleunigung, die ein Gewicht an einem Federpendel erfährt, zeigt in Richtung der Ruheposition und ist proportional zur Auslenkung des Gewichts.

Man erkennt in der Lösung außerdem, dass die Frequenz der Lösungsfunktion von der Masse abhängt. Da \(m\) im Nenner des Bruchs steht, gilt: Je größer die Masse ist, desto kleiner ist die Frequenz.

Definition über das Funktionalgleichungssystem: Blum und Törner (1983) stellen in ihrem Buch Didaktik der Analysis schulische Einführungen zu den elementaren nicht-algebraischen Funktionen vor, die neben den ganzrationalen Funktionen zu den wichtigsten Funktionen zählen. Zu diesen Funktionen gehören die Exponentialfunktion, die Logarithmusfunktion und die trigonometrische Funktion. Die unterschiedlichen Zugänge dienen dazu, Schülerinnen und Schüler „exemplarisch mit der charakterisierenden Axiomatik vertraut zu machen“ (Blum & Törner 1983). Blum und Törner unterscheiden zwischen der elementar geometrischen Einführung, der Einführung der Sinusfunktion über die Arcussinusfunktion, dem Zugang über die Differentialgleichung und der axiomatischen Einführung über die Funktionalgleichung. Im Gegensatz zur algebraischen Funktion können nicht-algebraische Funktionen nicht durch die Angabe einer Zuordnungsvorschrift eingeführt werden. Darum müssen nicht-algebraische Funktionen auf andere Weise fachlich charakterisiert werden. Dieser Gedankengang führt bei der Exponentialfunktion und der Logarithmusfunktion zu den Funktionalgleichungen \(f\left( {x + y} \right) = f\left( x \right) \cdot f\left( y \right)\) und \(f\left( {x \cdot y} \right) = f\left( x \right) + f\left( y \right)\), die sich in diesen speziellen Fällen geradezu aufdrängen. Bei den Winkelfunktionen liegt der Sachverhalt etwas anders und es fehlt ein direkter Zugang zu den Funktionalgleichungen. Dennoch ist es möglich, sie durch eben solche zu charakterisieren:

  • Für \(x \in R\) werden die Funktionen sin \(R \to R\) und cos \(R \to R\) als Lösung der Funktionalgleichungen definiert:

    $$\sin \left( {x + y} \right) = \sin \left( x \right)\cos \left( y \right) + \cos \left( x \right)\sin \left( y \right)$$
    $$\cos \left( {x + y} \right) = \cos \left( x \right)\cos \left( y \right) - \sin \left( x \right)\sin \left( y \right)$$
  • mit den Bedingungen

    $$\mathop {\lim }\limits_{x \to 0 } \frac{\sin \left( x \right)}{x} = 0$$
    $$\cos \left( 0 \right) = 1$$

Blum und Törner weisen darauf hin, dass es sich bei der Einführung der Sinusfunktion über die Funktionalgleichung um eine grundlagentheoretisch interessante Vorgehensweise handelt, diese jedoch nicht als Einführung der Winkelfunktionen geeignet ist.

Definition über die Verdopplungsformel: Der Vollständigkeit halber wird zum Schluss noch die Verdopplungsformel als charakteristische Funktionalgleichung der Sinusfunktion hervorgehoben (Remmert & Schumacher 2007).

  • Der Sinus ist gekennzeichnet durch die Eigenschaft

    $$\sin \left( {2\pi z} \right) = 2\sin \left( {\pi z} \right)\sin \left( {\pi \left( {z + \frac{1}{2}} \right)} \right)$$

Sowohl die Additionstheoreme als auch die Verdopplungsformel können genutzt werden, um die Sinusfunktion zu definieren und sind damit charakterisierende Eigenschaften. Somit wird einmal mehr die Wichtigkeit dieser besonderen Gleichungen signalisiert und gezeigt, wie tief verankert sie im Kern der Trigonometrie sind.

4.3.2 Zusammenhänge zwischen den fachlichen Charakterisierungen

In diesem Abschnitt werden Zusammenhänge zwischen den fachlichen Charakterisierungen erklärt und mathematisch formalisiert.

Zusammenhang zwischen Dreiecksdefinition und Einheitskreisdefinition: Es wird an dieser Stelle gezeigt, dass die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck mit der Definition des Sinus auf dem Intervall \(\left( {0,90^\circ } \right)\) beziehungsweise \(\left( {0,\frac{\pi }{2}} \right)\) übereinstimmt. Die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck induziert eine Äquivalenzrelation auf der Menge der rechtwinkligen Dreiecke. Dreiecke, die in einer Äquivalenzklasse liegen, haben das gleiche Seitenverhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse. Dadurch sind auch alle weiteren Seitenverhältnisse gleich. Alle Dreiecke einer Äquivalenzklasse sind damit ähnlich zueinander. In jeder Klasse liegt ein Repräsentant, dessen Hypotenuse die Länge \(1\) besitzt (Abbildung 4.21). Bettet man dieses Dreieck wie in Abbildung 4.22 in ein Koordinatensystem ein, erhält man einen Punkt \(P\) auf dem Einheitskreis, dessen \(y\)-Koordinate dem entsprechenden Seitenverhältnis im rechtwinkligen Dreieck entspricht.

Abbildung 4.21
figure 21

Äquivalenzklasse von rechtwinkligen Dreiecken

Auf der anderen Seite lässt sich zu jedem Punkt \(P\) im ersten Quadranten auf dem Einheitskreis ein rechtwinkliges Referenzdreieck konstruieren, indem der Punkt \(P\) auf die \(x\)-Achse projiziert wird (vgl. Abbildung 4.22). Jedes dieser Referenzdreiecke ist Repräsentant einer Äquivalenzklasse. Da die Hypotenuse des Referenzdreiecks die Länge \(1\) hat, entspricht die \(y\)-Koordinate des Punktes \(P\) dem entsprechenden Seitenverhältnis.

Abbildung 4.22
figure 22

Einheitskreis mit Referenzdreieck

Die beiden Definitionen gleichen sich auf dem Intervall \(\left( {0,90^\circ } \right)\) beziehungsweise auf \(\left( {0,\frac{\pi }{2}} \right)\) und sind unabhängig von der Wahl eines Repräsentanten. Die Definition des Sinus am Einheitskreis lässt sich auf die reellen Zahlen erweitern.

Zusammenhang zwischen der Definition am Einheitskreis und über die Umkehrfunktion der Bogenlängenfunktion: Durch die Umkehrung der Bogenlängenfunktion wird die geometrische Definition am Einheitskreis formalisiert und damit der Analysis zugänglich gemacht. Die Sinusfunktion ordnet einem Kreisbogenstück der Länge \(\alpha\) die Länge \(s\) auf der \(y\)-Achse zu (vgl. Abbildung 4.23 links). Die Umkehrfunktion der Sinusfunktion \(\arcsin \left( s \right)\) kehrt diese Zuordnung um; einem Stück auf der \(y\)-Achse wird die Länge eines Bogenstücks \(\alpha\) zugeordnet: \(\arcsin \left( s \right) = \alpha\). Da üblicherweise Abbildungen angeschaut werden, die Werte auf der x-Achse als Argumente nehmen, wird das Koordinatensystem für die Umkehrfunktion \({\text{arcsin}}\left( s \right)\) an der Geraden \(y = x\) gespiegelt (vgl. Abbildung 4.23). Ziel ist es nun, zum Wert \(s\) den passenden Kreisbogenabschnitt \(\alpha\) zu berechnen.

Abbildung 4.23
figure 23

Arkusinusfunktion

Die obere Hälfte des Einheitskreises über der \(x\)-Achse kann durch den positiven Teil der Wurzelfunktion \(f\left( x \right) = + \sqrt {1 - x^{2} }\) dargestellt werden. Die Bogenlänge einer Funktion \(f\left( x \right)\) auf dem Intervall \(\left[ {0,s} \right]\) kann mit der Formel \(L_{f} \left( s \right) = \mathop \smallint \limits_{0}^{s} \sqrt {1 + \left( {f\left( x \right)^{^{\prime}} } \right)^{2} } \cdot dx\) berechnet werden. Für ein \(s \in \left[ { - \frac{\pi }{2},\frac{\pi }{2}} \right]\) erhält man damit für die Bogenlänge \(\alpha\):

$$\alpha = \mathop \smallint \limits_{0}^{s} \sqrt {1 + \left( {f\left( x \right)^{^{\prime}} } \right)^{2} } \cdot dx = \mathop \smallint \limits_{0}^{s} \sqrt {1 + \left( {\frac{1}{{2\sqrt {1 - x^{2} } }} \cdot \left( { - 2x} \right)} \right)^{2} } \cdot dx = \mathop \smallint \limits_{0}^{s} \frac{1}{{\sqrt {1 - x^{2} } }} \cdot dx$$

Bei dem ermittelten Funktionsterm auf der rechten Seite der Gleichung handelt es sich um die Integraldarstellung der Arkussinusfunktion. Die Umkehrfunktion der Arkussinusfunktion entspricht daher der Sinusfunktion.

Zusammenhang zwischen der Definition über die Exponentialfunktion und der Definition am Einheitskreis: Es folgt eine geometrische Deutung der Gleichung am Einheitskreis:

$$\sin \left( x \right) = \frac{{e^{ix} - e^{ - ix} }}{2i}$$

Für den Betrag von \(e^{ix}\) gilt: \(\left| {e^{{ix}} } \right|^{2} = e^{{ix}} \cdot \overline{{e^{{ix}} }} = e^{{ix}} \cdot e^{{\overline{{ix}} }} = e^{{ix}} \cdot e^{{ - ix}} = e^{0} = {\mkern 1mu} 1\)

Die Werte von \(e^{ix}\) haben einen Abstand von \(1\) zum Ursprung und liegen somit auf dem Einheitskreis in der komplexen Zahlenebene. Weiterhin sind \(e^{ix}\). und \(e^{ - ix}\) komplex konjugiert zueinander, das bedeutet, dass sie an der x-Achse gespiegelt sind. Dementsprechend sind \(e^{ix}\) und \(- e^{ - ix}\) auch an der \(y\).-Achse gespiegelt. Werden beide Terme addiert, verschwindet der reelle Part und das Ergebnis liegt auf der imaginären Achse und ist betragsmäßig doppelt so groß wie der Imaginärteil von \(e^{ix}\). . Durch die Division mit \(2i\) entsteht einen reeller Wert, der dem Sinus von \(x\) entspricht (vgl. Abbildung 4.24).

Abbildung 4.24
figure 24

Die Definition über die Exponentialfunktion am Einheitskreis

Zusammenhang zwischen der Definition über die Exponentialfunktion und der Definition über Potenzreihen: Das entscheidende Bindeglied zwischen den beiden Darstellungen liegt in der eulerschen Formel \(e^{iz} = \cos \left( z \right) + i \cdot {\text{sin}}\left( z \right)\). Diese Formel kann auf algebraischem Wege verifiziert werden, indem die Theorie der Taylorreihen hinzugezogen wird. Dazu reicht die Kenntnis der \(n\)-ten Ableitung der Exponentialfunktion, der Sinusfunktion und der Kosinusfunktion aus.

Funktion

\({\varvec{n}}\)-te Ableitung

\(f\left( x \right) = e^{x}\)

\(f^{\left( n \right)} \left( x \right) = e^{x}\)

\(f\left( x \right) = \sin \left( x \right)\)

\(f^{\left( n \right)} \left( x \right) = \left( { - 1} \right)^{\frac{n}{2}} \cdot {\text{sin}}\left( x \right)\)      für \(n\). gerade

\(f^{\left( n \right)} \left( x \right) = \left( { - 1} \right)^{{\frac{n - 1}{2}}} \cdot {\text{cos}}\left( x \right)\)       für \(n\) ungerade

\(f\left( x \right) = \cos \left( x \right)\)

\(f^{\left( n \right)} \left( x \right) = \left( { - 1} \right)^{\frac{n}{2}} \cdot {\text{cos}}\left( x \right)\)       für \(n\) gerade

\(f^{\left( n \right)} \left( x \right) = \left( { - 1} \right)^{{\frac{n + 1}{2}}} \cdot {\text{sin}}\left( x \right)\)       für \(n\) ungerade

Die Taylorreihe einer Funktion \(g(x)\) um die Stelle 0 wird durch folgende Vorschrift gebildet:

$$T_{g} \left( {x,0} \right) = \mathop \sum \limits_{{n = 0}}^{\infty } \frac{{g^{{\left( n \right)}} \left( 0 \right)}}{{n!}}x^{n}$$

Somit entsteht für die Exponentialfunktion die Reihe:

$$T_{{e^{x} }} \left( {x,0} \right) = \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{e^{0} }}{n!}x^{n} = \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{x^{n} }}{n!} = 1 + x + \frac{{x^{2} }}{2!} + \frac{{x^{3} }}{3!} + \frac{{x^{4} }}{4!} + \ldots$$

für die Sinusfunktion:

$$T_{\sin \left( x \right)} \left( {x,0} \right) = \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} \cdot \sin \left( 0 \right)}}{2n!}x^{2n} + \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} \cdot {\text{cos}}\left( 0 \right)}}{{\left( {2n + 1} \right)!}}x^{2n + 1}$$
$$= \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \left( { - 1} \right)^{n} \frac{{x^{2n + 1} }}{{\left( {2n + 1} \right)!}} = x - \frac{{x^{3} }}{3!} + \frac{{x^{5} }}{5!} - \frac{{x^{7} }}{7!} + \ldots$$

und für die Kosinusfunktion:

$$T_{\cos \left( x \right)} \left( {x,0} \right) = \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} \cdot \cos \left( 0 \right)}}{2n!}x^{2n} + \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} \cdot {\text{sin}}\left( 0 \right)}}{{\left( {2n + 1} \right)!}}x^{2n + 1}$$
$$= \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \left( { - 1} \right)^{n} \frac{{x^{2n} }}{2n!} = 1 - \frac{{x^{2} }}{2!} + \frac{{x^{4} }}{4!} - \frac{{x^{6} }}{6!} + \ldots$$

Es ist bereits zu erkennen, dass sich die Potenzen in der Taylorreihe der Exponentialfunktion auf die Taylorreihe der Sinus- und Kosinusfunktion aufteilen. Hierbei tauchen die ungeraden Exponenten in der Sinusfunktion und die geraden Exponenten in der Kosinusfunktion auf. Das alternierende Vorzeichen lässt sich durch das rein komplexe Argument erklären, denn es gilt \(i^{2n} = \left( { - 1} \right)^{n}\) und \(i^{2n + 1} = \left( { - 1} \right)^{n} \cdot i\) und damit:

$$T_{{e^{x} }} \left( {ix,0} \right) = \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( {ix} \right)^{n} }}{n!} = 1 + ix + \frac{{\left( {ix} \right)^{2} }}{2!} + \frac{{\left( {ix} \right)^{3} }}{3!} + \frac{{\left( {ix} \right)^{4} }}{4!} + \frac{{\left( {ix} \right)^{5} }}{5!} \ldots$$
$$= 1 + i - \frac{{x^{2} }}{2!} - i \cdot \frac{{x^{3} }}{3!} + \frac{{x^{4} }}{4!} + i \cdot \frac{{x^{5} }}{5!} + \ldots$$
$$= i\mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \left( { - 1} \right)^{2n} \frac{{x^{2n} }}{2n!} + \mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \left( { - 1} \right)^{2n + 1} \frac{{x^{2n + 1} }}{{\left( {2n + 1} \right)!}}$$
$$= i \cdot T_{\cos \left( x \right)} \left( {x,0} \right) + T_{\sin \left( x \right)} \left( {x,0} \right)$$

Mit dieser Gleichheit zeigt sich schließlich die Korrektheit der eulerschen Gleichung und man erhält:

$$\frac{{e^{ix} - e^{ - ix} }}{2i} = \frac{{\cos \left( x \right) + i\sin \left( x \right) - \left( {\cos \left( { - x} \right) + i\sin \left( { - x} \right)} \right)}}{2i}$$
$$= \frac{{\cos \left( x \right) + i\sin \left( x \right) - \left( {\cos \left( x \right) - i\sin \left( x \right)} \right)}}{2i}$$
$$= \frac{2 \cdot i \cdot \sin \left( x \right)}{{2i}} = \sin \left( x \right)$$

Zusammenhang zwischen der Potenzreihendarstellung und der Produktdarstellung: Mit den Taylorreihen als Grenzwert der Taylorpolynome ist es möglich, auch nicht-algebraische Funktionen wie die Sinusfunktion als unendliche Summe von Potenzen einer Variable darzustellen. Jedes Taylorpolynom ist endlich und zerfällt nach dem Hauptsatz der linearen Algebra über den komplexen Zahlen in Linearfaktoren. So ist es möglich, zu der Folge der \(n\)-ten Taylorpolynome eine Folge von Produktdarstellungen zu konstruieren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Folge von Produktdarstellungen konvergiert und wie ein solcher Grenzwert aussieht. Der weierstraßsche Produktsatz gibt eine Antwort auf diese Frage und führt zur Produktdarstellung des Sinus.

Zusammenhang zwischen der Definition über die Exponentialfunktion und der Schwingungsdifferentialgleichung: Bei der Schwingungsdifferentialgleichung handelt es sich um eine lineare homogene Differentialgleichung 2. Grades. Die Anfangsbedingungen \(f\left( 0 \right) = 0\) und \(f^{\prime}\left( 0 \right) = 1\) legen eine eindeutige Lösung fest, die mit dem Exponentialansatz gefunden werden kann. Dafür wird \(f\left( x \right) = e^{\lambda x}\) gesetzt. Eingesetzt in die Differentialgleichung \(f^{\prime\prime}\left( x \right) = - f\left( x \right)\) erhält man \(\lambda^{2} = - 1\), also \(\lambda = \pm \sqrt { - 1} = \pm i\). Die allgemeine Lösung der Differentialgleichung lautet:

$$f\left( x \right) = c_{1} e^{ - ix} + c_{2} e^{ix}$$

Aus den Anfangsbedingungen \(f\left( 0 \right) = 0\) und \(f^{\prime}\left( 0 \right) = 1\) ergibt sich das folgenden lineare Gleichungssystem:

$$c_{1} + c_{2} = 0$$
$$- i \cdot c_{1} + i \cdot c_{2} = 1$$

Und damit \(c_{1} = \frac{ - 1}{{2i}}\) und \(c_{2} = \frac{1}{2i}\). Die spezielle Lösung lautet:

$$\frac{{ - e^{ - ix} + e^{ix} }}{2i} = {\text{sin}}\left( x \right)$$

Alternativ kann dieser Zusammenhang rein algebraisch durch direktes zweifaches Ableiten der über die Exponentialfunktion definierten Sinusfunktion gezeigt werden. Es gilt:

$$f\left( z \right) = \frac{{e^{iz} - e^{ - iz} }}{2i}$$
$$f^{\prime}\left( z \right) = \frac{{i \cdot e^{iz} - \left( { - i} \right) \cdot e^{ - iz} }}{2i} = \frac{{e^{iz} + e^{ - iz} }}{2}$$
$$f^{\prime\prime}\left( z \right) = \frac{{i \cdot e^{iz} + \left( { - i} \right) \cdot e^{ - iz} }}{2} = \frac{{ - e^{iz} + e^{ - iz} }}{2i} = - f\left( z \right)$$

Außerdem gilt \(f\left( 0 \right) = 0\) und \(f^{\prime}\left( 0 \right) = 1,\) damit ist \(f\left( z \right)\) die eindeutige Lösung der Differentialgleichung.

Zusammenhang zwischen der Schwingungsdifferentialgleichung, der Verdopplungsformel und dem Funktionalgleichungssystem: Die Definition über die Schwingungsdifferentialgleichung unterscheidet sich von den vorherigen Definitionen im Wesentlichen dadurch, dass bei diesem Zugang weder eine konkrete Rechenvorschrift noch eine geometrische Interpretation angegeben wird. Stattdessen wird die Sinusfunktion mit einer für sie charakterisierenden Eigenschaft beschrieben: die zweite Ableitung der Funktion ist gleich der negativen Ursprungsfunktion. Eine Funktion, die dieser Differentialgleichung genügt und die außerdem die Anfangsbedingungen \(f\left( 0 \right) = 0\) und \(f^{\prime}\left( 0 \right) = 1\) erfüllt, ist die Sinusfunktion. Eine ähnliche Differentialgleichung ist von der Exponentialfunktion bekannt, bei der die erste Ableitung der Ursprungsfunktion gleicht. In diesem Sinne ähnelt diese Art der Charakterisierung der Definition über die Verdopplungsformel und über das Funktionalgleichungssystem. In allen drei Fällen wird die Sinusfunktion in gewisser Weise axiomatisch eingeführt. Das heißt, es werden Eigenschaften einer Funktion vorgeschrieben, welche die Funktion vollständig charakterisieren ohne dabei Aussagen über deren Anwendung oder Rechenvorschrift zu machen. Die Verdopplungsformel gibt an, wie sich der Funktionswert verändert, wenn das Argument verdoppelt wird und macht damit Aussagen über das charakteristische Kovariationsverhalten der Sinusfunktion im multiplikativen Fall. In Analogie dazu führt beispielsweise bei quadratischen Funktionen die Multiplikation des Arguments mit dem Faktor 2 zu einer Vervierfachung des Funktionswertes. Das Funktionalgleichungssystem erklärt wiederum, wie sich Werte der trigonometrischen Funktionen verhalten, wenn zwei Argumente addiert werden. Dieses Gleichungssystem ist für die trigonometrischen Funktionen genauso charakterisierend, wie es die Gleichung \(f\left( {x + y} \right) = f\left( x \right) + f\left( y \right)\) für die linearen Funktionen ist.

Zusammenhang zwischen dem Funktionalgleichungssystem, der Verdopplungsformel, der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck und am Einheitskreis: Bei dem Funktionalgleichungssystem handelt es sich um die Additionstheoreme für Sinus und Kosinus. Diese können sowohl am Einheitskreis als auch am rechtwinkligen Dreieck hergeleitet werden. Im Folgenden betrachten wir die Herleitung mithilfe rechtwinkliger Dreiecke (vgl. Abbildung 4.25):

Abbildung 4.25
figure 25

Herleitung der Additionstheoreme mithilfe rechtwinkliger Dreiecke

Da die Strecke \(OC = 1\) ist, gelten mit der Definition des Sinus als Verhältnis von Gegenkathete zu Ankathete im rechtwinkligen Dreieck die folgenden Gleichungen:

$$OB = \cos \left( \beta \right)\,{\text{und}}\,\,CB = \sin \left( \beta \right)$$

Weiterhin gilt:

$$OA = {\text{cos}}\left( \beta \right){\text{cos}}\left( \alpha \right)\,{\text{und}}\,\,AB = \sin \left( \alpha \right){\text{cos}}\left( \beta \right)$$

Da der gesuchte Winkel an der Stelle \(B\) gleich dem Winkel \(\alpha\) ist, erhält man außerdem die folgenden Gleichungen:

$$DB = \cos \left( \alpha \right){\text{sin}}\left( \beta \right)\,{\text{und}}\,\,CD = {\text{sin}}\left( \alpha \right){\text{sin}}\left( \beta \right)$$

Der gesuchte Winkel am Punkt \(C\) beträgt \(\alpha + \beta\) und damit gilt:

$$EC = \cos \left( {\alpha + \beta } \right)\,{\text{und}}\,\,OE = {\text{sin}}\left( {\alpha + \beta } \right)$$

Es gilt weiterhin:

$$EC = OA - CD$$
$$OE = DB + BA$$

Wird alles zusammengefügt, erhält man die Additionstheoreme für Sinus und Kosinus:

$$\sin \left( {\alpha + \beta } \right) = \cos \left( \alpha \right)\sin \left( \beta \right) + \sin \left( \alpha \right){\text{cos}}\left( \beta \right)$$
$$\cos \left( {\alpha + \beta } \right) = \cos \left( \beta \right)\cos \left( \alpha \right) - \sin \left( \beta \right){\text{sin}}\left( \alpha \right)$$

Aus den Additionstheoremen folgt schließlich auch die Verdopplungsformel, denn es gilt:

$$\sin \left( {2 \cdot \alpha } \right) = \cos \left( \alpha \right)\sin \left( \alpha \right) + \sin \left( \alpha \right)\cos \left( \alpha \right) = 2 \cdot \sin \left( \alpha \right)\cos \left( \alpha \right)$$
$$= 2 \cdot \sin \left( \alpha \right) \cdot {\text{sin}}\left( {\alpha + 90^\circ } \right)$$

4.3.3 Die Ableitung der Sinusfunktion

Wie in den vorigen Abschnitten gezeigt wurde, spielt die Ableitung der Sinusfunktion eine wichtige Rolle, wenn es darum geht den Zusammenhang zwischen bestimmten Darstellungen herzustellen oder zu überprüfen, ob eine gewählte Darstellung der Sinusfunktion korrekt ist. So ergibt sich beispielsweise die Potenzreihenentwicklung der Sinusfunktion aus der Kenntnis der Ableitung der Exponentialfunktion, des Sinus und des Kosinus. Die Produktdarstellung erweist sich als korrekt, weil ihre logarithmische Ableitung mit der des Sinus übereinstimmt und die Definition über die Schwingungsdifferentialgleichung macht Aussagen über die zweite Ableitung der Sinusfunktion. Daher wird in diesem Abschnitt die Ableitung der Sinusfunktion – unter Berücksichtigung formaler und anschaulicher Aspekte – dargestellt.

Der klassische algebraische Beweis um die Kosinusfunktion als Ableitung der Sinusfunktion zu etablieren, verläuft über die Bildung des Differentialquotienten für \({\text{sin}}\left( x \right)\) unter zur Hilfenahme des Additionstheorems:

$$\sin \left( {x + h} \right) = \sin \left( x \right)\cos \left( h \right) + \cos \left( {\text{x}} \right){\text{sin}}\left( {\text{h}} \right)$$
(4.1)

und der Grenzwerte:

$$\mathop {\lim }\limits_{h \to 0} \frac{\sin \left( h \right)}{h} = 1$$
(4.2)
$$\mathop {\lim }\limits_{h \to 0} \frac{\cos \left( h \right) - 1}{h} = 0$$
(4.3)

Die Additionstheoreme wurden bereits im vorigen Abschnitt bewiesen. Für den Grenzwert in Gleichung 4.2) betrachte man Abbildung 4.26:

Abbildung 4.26
figure 26

Grenzwert sin(h)/h

Für die Flächen der Dreiecke \(\Delta OCB\) und \(\Delta OCD\), sowie die Fläche des Kreissegments \(\measuredangle OCB\) gilt die folgende Ungleichung:

$$\Delta OCB \le \measuredangle OCB \le OCD$$

Weiterhin lassen sich die Flächen mit den folgenden Formeln berechnen:

$$\Delta OCB = \frac{{{\text{sin}}\left( h \right)}}{2}\,\;,\,\measuredangle OCD = \frac{h}{2}\;\,{\text{und}}\,\;\Delta OCD = \frac{{\tan \left( h \right)}}{2}$$

Damit ergibt sich:

$$\sin \left( h \right) < h < {\text{tan}}\left( h \right)\quad \quad \Rightarrow \quad \quad 1 \ge \frac{\sin \left( h \right)}{h} \ge \cos \left( h \right)$$

Für den Grenzwert \(h \to 0\) erhält man den gesuchten Grenzwert. Der Grenzwert in Gleichung 4.3) lässt sich durch die folgende Gleichungskette beweisen (Korntreff 2018):

$$\frac{\cos \left( h \right) - 1}{h} = - \frac{{1 - \cos \left( {\frac{h}{2} + \frac{h}{2}} \right)}}{h} = - \frac{{1 - \cos \left( \frac{h}{2} \right)^{2} + \sin \left( \frac{h}{2} \right)^{2} }}{h}$$
$$= - \frac{{2 \cdot \sin \left( \frac{h}{2} \right)^{2} }}{h} = - \frac{{\sin \left( \frac{h}{2} \right)}}{\frac{h}{2}} \cdot \sin \left( \frac{h}{2} \right)$$

Mit dem Grenzwert aus Gleichung 4.2) folgt das gesuchte Ergebnis. Für den Differentialquotienten gilt dann:

$$\begin{aligned} \mathop {\lim }\limits_{h \to 0} \frac{{\sin \left( {x + h} \right) - \sin \left( x \right)}}{h} & = \mathop {\lim }\limits_{h \to 0} \frac{\sin \left( x \right)\cos \left( h \right) + \cos \left( x \right)\sin \left( h \right) - \sin \left( x \right)}{h} \\ & = \mathop {\lim }\limits_{h \to 0} \sin \left( x \right)\frac{\cos \left( h \right) - 1}{h} + \mathop {{\text{lim}}}\limits_{{{\text{h}} \to 0{ }}} {\text{cos}}\left( x \right)\frac{\sin \left( h \right)}{h} \\ & = \cos \left( x \right) \\ \end{aligned}$$

Es handelt sich um einen formal deduktiven Beweis, der kaum an konkrete geometrische Vorstellungen des Sinus anknüpft. Kirsch (1979) hält in seiner Arbeit dennoch ein starkes Plädoyer für die Behandlung der Ableitung der Sinusfunktion in der Schule. Statt des klassischen algebraischen Beweises, liefert Kirsch Alternativen um die Ableitung der Sinusfunktion verständnisorientiert zu unterrichten und auf den geometrischen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler aufzubauen. Dazu wird die Sinusfunktion anhand des Funktionsgraphen zeichnerisch differenziert, um die Gleichung \(sin^{\prime}\left( x \right) = {\text{cos}}\left( x \right)\) anschaulich zu begründen. Anschließend wird eine inhaltliche Begründung des Sachverhaltes geliefert. Dies kann durch eine Argumentation am Einheitskreis geschehen. Kirsch stellt dazu verschiedene Ansätze vor, die in ihrer mathematischen Strenge variieren. Ein anschaulicher präformaler Beweis nutzt die folgende Skizze (vgl. Abbildung 4.27):

Abbildung 4.27
figure 27

Ableitung der Sinusfunktion am Einheitskreis (vgl. Kirsch 1979)

In dieser Skizze zeigt sich, wie sich die y-Koordinate eines Punktes \(P\) verändert, wenn dieser ein kleines Stück \(h\) entlang des Kreisbogens läuft. Für sehr kleine Bogenstücke \(h\) kann dieser Teil durch die Tangente angenähert werden. Hierdurch entsteht ein kleines rechtwinkliges Dreieck am Punkt \(P\), das ähnlich zu dem großen Dreieck \(\Delta OQP\) ist. Werden nun die entsprechenden Seitenverhältnisse in beiden Dreiecken verglichen, erhält man die Gleichung:

$$\frac{\cos \left( x \right)}{1} = \frac{{\sin \left( {x + h} \right) - \sin \left( x \right)}}{h}$$

Ein ganz ähnliches Argument kann in der Differenzenmethode des Aryabhata (vgl. Abschnitt 4.2.8) gefunden werden. Auch die Ableitung als momentane Änderungsrate lässt sich durch geeignete periodische Prozesse in Verbindung mit der Sinusfunktion bringen (Katter 2017).

Eine andere Möglichkeit, die Ableitung der Sinusfunktion zu verstehen, erhält man, indem der Einheitskreis als Kurve aufgefasst wird, die über die Sinus- und Kosinusfunktion parametrisiert ist \(\phi :R \to R^{2}\), \(\phi \left( x \right) = \left( {\cos \left( x \right),\sin \left( x \right)} \right)\). Die geometrische Deutung der Ableitung von \(\phi\) am Punkt \(x_{0}\) entspricht dem Tangentialvektor am Einheitskreis mit der Länge 1 (vgl. Abbildung 4.28). Dieser steht orthogonal zum Radius. Wird der Tangentialvektor in den Ursprung verschoben, ist zu erkennen, dass dieser Vektor dem Ortsvektor des Punktes \(\phi \left( {x_{0} } \right)\) um 90° bzw. \(\frac{\pi }{2}\) vorrauseilt. Somit folgt:

$$\phi^{\prime}\left( {x_{0} } \right) = \left( {cos^{\prime}\left( {x_{0} } \right),sin^{\prime}\left( {x_{0} } \right)} \right) = \left( { - \sin \left( {x_{0} } \right),\cos \left( {x_{0} } \right)} \right)$$
Abbildung 4.28
figure 28

Anschauliche Begründung der Ableitung der Sinusfunktion am Einheitskreis

Zusammenfassung: Durch die logische Genese der Trigonometrie wird deutlich, dass die Sinusfunktion auf äußerst vielfältige Weise definiert bzw. dargestellt werden kann. Jede der untersuchten Definitionen bildet gewisse Aspekte der Sinusfunktion ab und erfüllt dadurch unterschiedliche Zwecke. Die geometrischen Definitionen am rechtwinkligen Dreieck und am Einheitskreis sind aufgrund ihrer Anschaulichkeit im besonderen Maße dazu geeignet, Grundvorstellungen beim Lernenden aufzubauen. Mithilfe der explizit und implizit verwendeten mathematischen Konzepte ist es möglich, bei der Formulierung von Grundvorstellungen entsprechende Grundkenntnisse zu benennen, die notwendig sind, um ein Grundverständnis aufzubauen. Im Falle der Definition am rechtwinkligen Dreieck ist eins dieser implizit verwendeten Konzepte die „Ähnlichkeit von Dreiecken“. Die zugehörige Grundkenntnis, die zur Definition am rechtwinkligen Dreieck gehört, lautet: entsprechende Seitenverhältnisse in ähnlichen Dreiecken sind gleich. Auch zu den formal algebraischen Definitionen ist es denkbar, spezifische Grundvorstellungen mit entsprechenden Grundkenntnissen zu formulieren, die sich im jeweiligen mathematischen Gebiet als nützlich erweisen.

4.4 Anwendungskontexte der Trigonometrie

Anwendungskontexte sind der Schlüssel zur Konzeption fächerverbindenden Unterrichts. Sie können auf Schülerinnen und Schüler durch ihre Anwendungsrelevanz motivationsfördernd wirken und bilden außerdem die Grundlage für tragfähige Individualvorstellungen. Im Schulunterricht beziehen sich die Anwendungskontexte der Trigonometrie zu einem Großteil auf die Berechnung von Seiten in rechtwinkligen Dreiecken, dabei haben viele Anwendungskontexte trigonometrischer Funktionen nur wenig mit Dreiecken zu tun. Trigonometrische Funktionen sind unsere ständigen Begleiter, wenn wir einen Anruf auf einem Handy entgegennehmen, uns mit einem Laptop ins W-Lan einloggen oder Musik über eine Stereoanlage hören. Bei all diesen Phänomenen spielen elektromagnetische und mechanische Wellen, die durch den Graphen der Sinusfunktion dargestellt und mathematisch modelliert werden können, eine entscheidende Rolle. Die Ähnlichkeit zwischen dem Funktionsgraphen der Sinusfunktion und der Momentaufnahme einer schwingenden Saite lässt auf die wesentliche Bedeutung trigonometrischer Funktionen auch in der Musiktheorie schließen. Ähnlich bedeutend sind diese Welleneigenschaften bei der Untersuchung von Wellenbewegungen in der Ozeanographie, Seismologie und der Radiologie. Sie sind außerdem ein wichtiges Werkzeug um wiederkehrende Phänomene aus Bereichen der Klimaforschung, der Biologie und der Ökonomie zu modellieren (Brown & Rice 2011). Eine der weitreichendsten Anwendungen trigonometrischer Funktionen liegt im Einsatz von Fourierreihen: unendliche Summen von Sinus- und Kosinusfunktionen mit denen alle periodischen Funktionen approximiert werden können. Durch die sogenannte Fourieranalyse können Funktionen in ihre periodischen Anteile zerlegt werden. Diese Technik ist außerordentlich nützlich bei der Lösung partieller Differentialgleichung, wie der Wärmeleitungsgleichung, da Sinusfunktionen besonders einfache Lösungen dieser Gleichung liefern. Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Signalverarbeitung, wo beispielsweise durch die diskrete Kosinustransformation die Größe von Video-, Audio- und Bilddateien verändert werden kann (Mali & Müller 2000).

4.4.1 Fourieranalyse

In Abschnitt 4.3.2 wurde gezeigt, wie mithilfe der Taylorpolynome die Sinusfunktion \(\mathrm{sin}\) als unendliche Summe von Potenzen der Variable \(x\) dargestellt werden kann. Charles Fourier (1772–1837) drehte den Spieß um: Statt trigonometrische Funktionen durch Polynome auszudrücken, konstruierte er eine Reihe von Funktionen, indem er Sinus- und Kosinusfunktionen nutzte. Diese Fourieranalyse ist in der Lage, periodische Funktionen in ihre elementaren Bausteine aufzubrechen. Man stelle sich vor, ein Geiger spiele zwei Saiten seiner Geige gleichzeitig an: Beide Saiten senden jeweils eine Schallwelle aus. Ein Mikrophon, das diesen Klang aufnimmt, registriert jedoch nur eine Schallwelle und zwar die Überlagerung dieser beiden Schallwellen. Mit der Methode von Fourier ist es rechnerisch möglich, aus dieser Schallwelle die Frequenzen der beiden Saiten zurückzugewinnen.

Darüber hinaus können selbst unstetige Funktionen durch eine unendliche Summe von Sinus- und Kosinusfunktionen approximiert werden. Ein klassisches Beispiel ist die Rechteckschwingung, die zwischen zwei Werten hin und her schwingt (vgl. Abbildung 4.29).

Abbildung 4.29
figure 29

Rechteckschwingung

Diese Rechteckschwingungen werden beispielsweise bei der Klangerzeugung in Synthesizern benutzt. Die Fourierreihe für die Rechteckschwingung mit einer Amplitude von 1 und einer Periode von 2 lautet (van Brummelen 2020):

$$\frac{4}{\pi }\sin \left( {\pi t} \right) + \frac{4}{3\pi }\sin \left( {3\pi t} \right) + \frac{4}{5\pi }\sin \left( {5\pi t} \right) + \frac{4}{7\pi }\sin \left( {7\pi t} \right) + \ldots$$

Um die Koeffizienten und die Frequenzen der Fourierreihe zu finden, wird folgendermaßen vorgegangen: Fouriers Annahme besagt im diskreten Fall, dass eine periodische Funktion \(f\left( t \right)\) durch die Summe:\(f\left( t \right) \approx \mathop \sum \limits_{k = 1}^{n} \left( {a_{k} \sin \left( {k \pi t} \right) + b_{k} \cos \left( {k \pi t} \right)} \right)\) approximiert werden kann. Da es sich bei der Rechteckschwingung um eine ungerade Funktion handelt, kann auf den Kosinusteil verzichtet werden. Die Aufgabe besteht nun also darin, die Koeffizienten \(a_{k}\) zu finden. Dazu wird zunächst \(f\left( t \right)\) mit \({\text{sin}}\left( t \right)\) multipliziert.

$$f\left( t \right) \cdot \sin \left( {\pi t} \right) = a_{1} \cdot \sin \left( {\pi t} \right)^{2} + a_{2} \cdot \sin \left( {2\pi t} \right) \cdot \sin \left( {\pi t} \right) + a_{3} \cdot \sin \left( {3\pi t} \right) \cdot \sin \left( {\pi t} \right) + \ldots$$

Anschließend wird das Integral der einzelnen Summanden auf dem Intervall [0,2] berechnet. Bei allen Summanden, außer bei \(a_{1}\), verläuft die Kurve des Produktes genau so viel oberhalb wie unterhalb der x-Achse, wodurch alle Summanden bis auf einen verschwinden. Diese Eigenschaft wird auch als Orthogonalitätsrelation bezeichnet. Es gilt:

$$ \mathop \smallint \limits_{0}^{2\pi } \sin \left( {m \cdot t} \right)\sin \left( {n \cdot t} \right) = \left\{ {\begin{array}{*{20}c} {0 f\ddot{\rm u} r n \ne m} \\ {1 f\ddot{\rm u} r n = m} \\ \end{array} } \right. $$

Das bedeutet:

$$\mathop \smallint \limits_{0}^{2} f\left( t \right)\sin \left( {\pi t} \right)dt = \mathop \smallint \limits_{0}^{2} a_{1} \sin \left( {\pi t} \right)^{2} dt$$

Auf der rechten Seite der Gleichung bleibt \(a_{1}\) stehen. Für die linke Seite gelangt man zu folgender Rechnung:

$$f\left( t \right) = \left\{ {\begin{array}{*{20}c} {1\,x \in \left[ {0,1} \right]} \\ { - 1\,x \in \left[ {1,2} \right]} \\ \end{array} } \right.$$
$$\mathop \smallint \limits_{0}^{2} f\left( t \right)\sin \left( {\pi t} \right)dt = 2\mathop \smallint \limits_{0}^{1} \sin \left( {\pi t} \right)dt = 2\left[ { - \frac{{\cos \left( {\pi t} \right)}}{\pi }} \right]\begin{array}{*{20}c} 1 \\ 0 \\ \end{array} = \frac{4}{\pi } = a_{1}$$

In gleicher Weise fährt man für \(a_{n}\) fort, indem \(f\left( t \right)\) mit \({\text{sin}}\left( {n\pi t} \right)\) multipliziert wird.

4.4.2 Schwingungen und Wellen

Als Schwingungen werden zeitlich periodische Schwankung einer Zustandsgröße bezeichnet, wohingegen eine Welle als räumliche Ausbreitung einer Schwingung definiert wird (Magnus et al. 2016). Schwingungen und Wellen tauchen in der Natur und in vielen Bereichen der Technik auf: es ändert sich in regelmäßigen Abständen der Wasserstand in Küstengebieten durch die Gezeitenkräfte, eine Gitarrensaite schwingt auf und ab und erzeugt dadurch eine Schallwelle, Schwingkreise in einem Radiosender erzeugen elektromagnetische Wellen, die Informationen über weite Distanzen übermitteln können. Der Zustand dieser Systeme kann durch die geeignete Wahl einer Zustandsgröße beschrieben werden: Höhe, Druck, elektrische Spannung etc. Schwingungen beschreiben die zeitliche Änderung \(x\left( t \right)\) dieser Zustandsgröße. Von besonderem Interesse sind Vorgänge, in denen sich diese Zustandsgrößen periodisch ändern. In diesen Fällen gilt:

$$x\left( {t + T} \right) = x\left( t \right)$$

Der Wert \(T\) wird als Periode oder Schwingungsdauer bezeichnet. Die Frequenz \(f\) ergibt sich als Kehrwert der Periode \(f = \frac{1}{T}\) und wird in Hertz angegeben. Ein weiterer Kennwert einer periodischen Schwingung ist die Amplitude. Die Amplitude \(A\) gibt den Maximalwert der Schwingung an \(A = x_{max}\) an. Die Schwingung der A-Saite einer Gitarre durchläuft innerhalb einer Sekunde 110 Schwingungen. Die Periodenlänge beträgt also \(\frac{1}{110}\) Sekunden, die Frequenz beträgt 110 Hertz. Die Amplitude hängt von der Spannkraft der Saite ab und bewegt sich in einem Bereich von ca. \(- 1mm\) bis \(+ 1mm\). Die Schallwelle, die von dieser Saite ausgesendet wird, entsteht durch Luftstöße, die den Luftdruck in Richtung der Schallwelle in stetiger Weise erhöhen und verringern. Bei einer Schallgeschwindigkeit von \(343,2\) m/s entsteht so eine Schallwelle mit einer Wellenlänge von \(3,12\) Metern.

Ein Schwingungsvorgang wird meist in einem \(s,t\)-Diagramm dargestellt. Auf der \(x\)-Achse wird die Zeit \(t\) und auf der \(y\)-Achse der Wert \(s\) der Zustandsgröße abgetragen. Eine gleichförmige periodische Schwingung liefert auf diese Weise den Graphen einer Sinusfunktion. Ein weiterer Zusammenhang besteht zwischen der Sinusfunktion und einer gleichförmigen Kreisbewegung, der mithilfe eines Zeigerdiagramms veranschaulicht werden kann.

Die Sinusfunktion bildet bei vielen in der Natur und der Technik vorkommenden Prozessen eine gute Annäherung und wird zur Modellierung eben jener Phänomene genutzt. Auch bei nicht gleichförmigen Schwingungen bietet sich die Sinusfunktion an. Durch eine Kombination aus Sinusfunktionen mit unterschiedlichen Frequenzen können auch kompliziertere periodische Prozesse modelliert werden.

4.4.3 Rundfunk

Mit der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz (1857–1894) begann auch die Geschichte des Rundfunks. In kürzester Zeit wurde das Phänomen der elektromagnetischen Schwingkreise genutzt und durch Radioempfänger technisch salonfähig gemacht. Damit war es möglich, Informationen umgehend über weite Strecken zu senden und damit nahezu jegliches physische Hindernis zu überwinden. Dabei wurden die gewünschten Informationen, wie zum Beispiel eine Audiobotschaft, den elektromagnetischen Wellen gewissermaßen aufgeprägt. Eine Radiostation nutzt dafür eine Welle mit einer bestimmten Trägerfrequenz. Der Frequenzbereich eines handelsüblichen Ultrakurzwellen- (UKW) Radios liegt zwischen 87–108 Megahertz. Also ca. 100 Millionen Oszillationen in der Sekunde. Um eine Audiobotschaft über eine Radiostation mit einer elektromagnetischen Trägerfrequenz zu verschicken, können analoge Modulationsverfahren verwendet werden. Die Modulation einer sinusförmigen Trägerschwingung erfolgt durch eine zeitliche Änderung der Amplitude \(a\), der Frequenz \(f\) oder der Phase \(\phi\):

$$x\left( t \right) = a\sin \left( {2\pi bt + \phi } \right)$$

Je nachdem welcher Parameter verändert wird, wird von der Amplitudenmodulation (AM), Frequenzmodulation (FM) oder Phasenmodulation (PM) gesprochen (Roppel 2006). In den Anfängen des Rundfunks wurde hauptsächlich die Amplitudenmodulation genutzt. Diese ist einfach umzusetzen, hat allerdings eine geringere Bandbreite als die Frequenzmodulation und ist zudem auch störanfälliger. Sie wird auf ein Frequenzband von 0 bis 4,5 Kilohertz übertragen.

Bei der Amplitudenmodulation wird die Amplitude einer hochfrequenten Trägerschwingung \(x\left( t \right) = A \cdot {\text{sin}}\left( {2\pi ft} \right)\) durch ein analoges Signal \(s\left( t \right)\) moduliert (vgl. Abbildung 4.30). Mathematisch wird diese Modulation durch ein Produkt der beiden Funktionen beschrieben:

$$x_{s} \left( t \right) = \left( {1 + \mu s\left( t \right)} \right) \cdot x\left( t \right)$$

Die Amplitude des analogen Signals ist auf \(1\) normiert, somit gilt \(\left| {s\left( t \right)} \right| < 1\) und der Modulationsindex \(\mu\) liegt zwischen 0 und 1.

Abbildung 4.30
figure 30

Amplitudenmodulation einer Sinuswelle (\(x\left( t \right),\left( {1 + 0,9 s\left( t \right)} \right)\) und \(x_{s} \left( t \right)\))

Dieses Beispiel zeigt, wie sich der Nutzen der trigonometrischen Funktionen im Laufe der Zeit gewandelt hat. Dienten die Sinus- und Kosinusfunktionen bis zum 16. Jahrhundert hauptsächlich dazu, geometrische Probleme zu lösen, die aus Vermessungsaufgaben und der Navigation entstammten, werden sie heutzutage genutzt, um Wellen und Schwingungen zu beschreiben.

4.4.4 Die schiefe Ebene

Im Umgang mit vektoriellen physikalischen Größen dient die Sinusfunktion als Hilfsmittel, um in entsprechenden Situationen Projektionen dieser Größen zu berechnen. Beispielhaft wird diese Anwendung an der schiefen Ebene erläutert. Exemplarisch dafür steht die für den Physikunterricht schulrelevante Frage: Wie schnell rollt ein Fahrrad einen Berg hinunter? Oder präziser ausgedrückt: Mit welcher Kraft wird ein Fahrrad beschleunigt, das einen Berg hinabrollt? Zunächst erscheint es offensichtlich, dass diese Kraft von der Neigung der Ebene abhängt: je steiler der Abhang, desto schneller rollt das Rad. Doch wie genau die Kraft von der Neigung der Ebene abhängt, muss geklärt werden:

Im freien Fall wird das Fahrrad von der Gewichtskraft \(\overrightarrow {{F_{g} }}\) beschleunigt. Das bedeutet, dass das Fahrrad eine Beschleunigung von 9.81 \(\frac{m}{{s^{2} }}\) erfährt. An einem Abhang wird diese Kraft in zwei Komponenten aufgeteilt. Die Komponente, die parallel zur schiefen Ebene wirkt, wird als Hangabtriebskraft \(\overrightarrow {{F_{H} }}\) bezeichnet, während die andere Komponente, die senkrecht auf ihr steht, Normalkraft \(\overrightarrow {{F_{N} }}\) heißt. Zur Berechnung der Hangabtriebskraft wird der Vektor der Gewichtskraft auf die schiefe Ebene projiziert, wodurch ein rechtwinkliges Dreieck entsteht (vgl. Abbildung 4.31). Bei einer Neigung von \(\alpha\) gilt damit: \(\overrightarrow {{F_{H} }} = \overrightarrow {{F_{g} }} \cdot \sin \left( \alpha \right)\). Der Faktor \(\sin \left( \alpha \right)\) gibt also das Verhältnis von Hangabtriebskraft zur Gewichtskraft an und kann in diesem Kontext als Projektionsfaktor verstanden werden.

Abbildung 4.31
figure 31

Projektion der Gewichtskraft auf eine schiefe Ebene

Beispiel: Die Steigung deutscher Autobahnen überschreitet selten einen Wert von 8 %. Bei dieser Steigung liegt der Neigungswinkel bei \(\arctan \left( \frac{8}{100} \right) \approx 4.57^\circ\). Der Faktor zur Berechnung der Hangabtriebskraft beträgt \(\sin \left( {4.57^\circ } \right) \approx 0.08\). Ein Auto, das eine solche Straße ungebremst und reibungsfrei eine Minute hinunterrollen würde, erfährt eine Beschleunigung von \(0.08 \cdot 9.81\frac{m}{{s^{2} }} = 0.72\frac{m}{{s^{2} }}\) und würde damit eine Endgeschwindigkeit von \(60 \cdot 0.72\frac{m}{s} = 155.5 km/h\) erreichen, ein Wert, der wegen der Luftreibung und anderen Reibungsverlusten eher unrealistisch ist.

4.4.5 Sternenparallaxe

Wie bereits im historischen Überblick dargestellt, sind die Ursprünge der Trigonometrie zum großen Teil in der Astronomie zu verorten (vgl. Abschnitt 4.2). Die Astronomie beschäftigte sich mit der Bestimmung von Abstandsverhältnissen im Sonnensystem durch die keplerschen Gesetze, der Beschreibung der Planetenbahnen und den Auf- und Untergangszeiten der Sonne. Bei diesen Arbeiten wurden unbekannte Größen in sphärischen Dreiecken berechnet, also Dreiecken, die auf einer Kugeloberfläche liegen, woraus sich die sphärische Trigonometrie entwickelte. Seit dem 17. Jahrhundert tauchen trigonometrische Verhältnisse in der Astronomie unter anderem bei den Entfernungsmessungen mit Hilfe der Parallaxe auf. Die Parallaxe beschreibt ein optisches Phänomen, bei dem ein entfernter Gegenstand scheinbar seine Position ändert, wenn der Betrachter seine Position ändert. Selber wahrgenommen werden kann der Effekt, wenn bei ausgestrecktem Arm der Daumen abwechselnd mit dem linken und rechten Auge betrachtet wird: der Daumen scheint zu springen. Was im kleinen Maßstab funktioniert, kann auch im großen Maßstab gemessen werden. Wird die Position eines erdnahen Sternes einmal im Sommer und einmal im Winter gemessen, so verschiebt sich dieser Stern einmal nach rechts und einmal nach links. Allerdings ist diese Verschiebung winzig, so dass die ersten Messungen dieser Art erst im 19. Jahrhundert durchgeführt werden konnten (Falcke & Römer 2020). Die Parallaxe ist ein derart wichtiges Messverfahren, dass ihr in der Astronomie eine eigene Einheit zugeordnet wurde. Ein Parsec ist die Entfernung eines Sternes zur Erde, bei der der mittlere Radius der Erdbahn unter einem Winkel von einer Bogensekunde erscheint (vgl. Abbildung 4.32).

Abbildung 4.32
figure 32

Parsec

Dabei entspricht eine Bogensekunde einem \(\frac{1}{3600}\) eines Grades. Der Erdbahnradius bzw. der mittlere Abstand von der Erde zur Sonne entspricht einer astronomischen Einheit (AE) und beträgt etwa \(149\;597\;870 km\). Damit gilt für ein Parsec:

$$1 Parsec = \frac{149\;597\;870 km}{{tan\left( {\frac{1^\circ }{{3600}}} \right)}} = 3,086*10^{13} km$$

Das entspricht in etwa 3,26 Lichtjahren. Erstmals angewendet wurde die Parallaxe als Messgröße im Jahre 1672 von den Astronomen Giovanni Cassini und Jean Richter, als der Mars der Erde sehr nahekam. Cassini und Richter maßen die Position des Mars an zwei weit entfernten Orten auf der Erde: Paris und Französisch Guyana. Werden diese beiden Orte mit einer Geraden verbunden, kommt man auf eine Entfernung von ca. 6700 km, halbiert ergibt das \(r = 3350{\text{ km}}\) (Rodrigue 2018). Am 01. Oktober 1972 maßen die beiden Astronomen an diesen Orten eine Parallaxe von 9,5 Bogensekunden. Mithilfe des Verhältnisses zwischen Ankathete und Gegenkathete ergibt das eine Entfernung zwischen Erde und Mars \(D_{EM}\) von:

$$D_{EM} = \frac{3350 km}{{\arctan \left( {9,5^{\prime\prime}} \right)}} = 72 \cdot 10^{6} km$$

Also in etwa 72 Millionen Kilometer. Weiter konnten Cassini und Richter vermittels des dritten keplerschen Gesetzes den Abstand von der Sonne zur Erde \(d_{Erde}\) bestimmen. Das dritte keplersche Gesetzt sagt aus, dass für einen Planeten \(P\) in unserem Sonnensystem das Verhältnis zwischen dem Quadrat der Umlaufzeit \(T_{P}^{2}\) um die Sonne zur dritten Potenz der Entfernung zur Sonne \(d_{P}^{3}\) konstant ist:

$$\frac{{T_{P}^{2} }}{{d_{P}^{3} }} = C$$

Am 01. Oktober 1672 lagen Erde, Mars und Sonne in Konjunktion, das heißt sie lagen auf einer Geraden. Daher galt für die Entfernung von Sonne zu Mars \(d_{Mars} = d_{Erde} + D_{EM}\). Die Umlaufzeiten der Erde \(T_{Erde} = 365,25\) und des Mars \(T_{Mars} = 686,98\) waren auch bekannt. Bezeichnet q das Verhältnis von \(T_{Erde}\) zu \(T_{Mars}\), kann aus dem dritten keplerschen Gesetz die folgende Gleichung hergeleitet werden:

$$\frac{{d_{Erde}^{3} }}{{\left( {d_{Erde} + D_{EM} } \right)^{3} }} = q^{2}$$
$$d_{Erde} = \frac{{\sqrt[3]{{q^{2} }}}}{{1 - \sqrt[3]{{q^{2} }}}} \cdot D_{EM} = 137 \cdot 10^{6} km$$

Verglichen mit dem heutigen Wert von \(147 \cdot 10^{6}\) liegt der Fehler bei lediglich 7,3 %.

4.4.6 Innermathematische Anwendungskontexte

In der Geometrie werden die Sinus- und die Kosinusfunktion genutzt, um unbekannte Größen in rechtwinkligen Dreiecken zu berechnen. Weiterhin können mithilfe des Kosinussatzes Größen in beliebigen Dreiecken berechnet werden. Der Sinus spielt außerdem eine Rolle bei der Darstellung von Kurven wie Kreisen, Ellipsen oder Epizykeln. In der Analysis und der linearen Algebra ist ein Verständnis der trigonometrischen Funktionen notwendig, um sicher mit Vektoren, Polarkoordinaten, Skalarprodukten und komplexen Zahlen umzugehen. Hinzu kommt, dass Schülerinnen und Schüler mit den trigonometrischen Funktionen zum ersten Mal einer Funktionsklasse begegnen, deren Funktionswerte nicht durch konkrete endliche Rechenvorschriften bestimmt werden können. Das hat unter anderem zur Folge, dass die inhaltliche Deutung und die Definition der trigonometrischen Funktionen eine wesentliche Bedeutung im Begriffsbildungsprozess spielen. Dadurch entstehen außerdem unterschiedliche Herangehensweisen, um charakteristische Eigenschaften wie das Kovariationsverhalten oder die Periodizität dieser Funktionen nachzuweisen bzw. zu analysieren. Dies kann Lernenden helfen zu erkennen, dass Funktionen mehr sind als eine Reihe von Rechnungen, die ausgeführt werden müssen, und ermöglicht es allgemeine funktionale Grundvorstellungen weiter auszubilden.

4.4.7 Polarkoordinaten

Ein Punkt \(P\) in der euklidischen Ebene \(R^{2}\) kann auf mindestens zwei verschiedene Weisen dargestellt werden. Zum einen gibt es die Darstellung über kartesische Koordinaten \(P_{kart} = \left( {x,y} \right)\), welche die Positionierung des Punktes relativ zu zwei gewählten orthogonalen Koordinatenachsen angeben. Zum anderen gibt es die Darstellung über Polarkoordinaten \(P_{Pol} = \left( {r,\phi } \right)\), bei der die Position des Punktes relativ zum Koordinatenursprung und einem im Koordinatenursprung beginnenden Strahl angegeben wird. Dabei entspricht \(r\) dem Abstand zum Ursprung und wird als Radius bezeichnet und \(\phi\) entspricht dem Winkel zum ausgezeichneten Strahl. Um von den Polarkoordinaten eines Punktes \(P_{Pol} = \left( {r,\phi } \right)\) zu den kartesischen Koordinaten zu gelangen, werden die trigonometrischen Funktionen benötigt, denn es gilt:

$$P_{kart} = \left( {r \cdot cos\left( \phi \right),r \cdot \sin \left( \phi \right)} \right)$$

Umgekehrt erhält man zu einem Punkt \(P_{kart} = \left( {x,y} \right)\) die Polarkoordinaten durch:

$$P_{Pol} = \left( {\sqrt {x^{2} + y^{2} } ,arcos\left( {\frac{x}{{\sqrt {x^{2} + y^{2} } }}} \right)} \right)$$

Polarkoordinaten haben den Vorteil, dass der Punkt in der komplexen Zahlenebene übersichtlich mithilfe der Exponentialfunktion dargestellt werden kann. Dazu wird die Darstellung \(r \cdot e^{i \cdot \phi }\) gewählt. Mit der eulerschen Identität folgt:

$$r \cdot e^{i \cdot \phi } = r \cdot \left( {\cos \left( \phi \right) + i \cdot sin\left( \phi \right)} \right)$$

Zusammenfassung: Die Darstellung wichtiger Anwendungskontexte beendet die erste Phase der didaktisch orientierten Sachanalyse. Anwendungskontexte sind von didaktischer Bedeutung, da sie den Aufbau von Grundvorstellungen fördern und dadurch die innermathematische Begriffsbildung begünstigen (vgl. Greefrath 2018). Von besonderem Interesse sind in diesem Abschnitt die Anwendungen in der Physik, da durch diese Sachzusammenhänge zwei neue Aspekte der Sinusfunktion erfahrbar werden, die in der historischen und der logischen Genese in dieser Deutlichkeit bisher noch nicht auftraten. Zum einen tritt der Projektionsgedanke der Sinusfunktion bei der Projektion von Kräften auf der schiefen Ebene auf, zum anderen wird durch die Modellierung von Schwingungsprozessen durch die Sinusfunktion die neue Klasse periodischer Prozesse mathematisch zugänglich gemacht. Die Sinusfunktion ist nun nicht mehr nur ein Werkzeug zur Berechnung unbekannter Größen in geometrischen Figuren, sondern dient auch dazu, Oszillationsvorgänge zu beschreiben, indem sie sich periodisch ändernde Zustandsgrößen mathematisch beschreibt.

Der zweite Schritt der didaktisch orientierten Sachanalyse besteht darin, die gesammelten Sachzusammenhänge den Darstellungen der Sinusfunktion zuzuordnen. Daher werden die Darstellungsformen der Sinusfunktion zu Beginn des nächsten Kapitels analysiert.

4.5 Darstellungen der Sinusfunktion

Sowohl in der historischen, der logischen und der individuellen Genese als auch bei den Anwendungskontexten treten unterschiedliche Darstellungen der Sinusfunktion auf, die an dieser Stelle zusammengefasst, geordnet und beschrieben werden. Als erste Einteilung wird zwischen dem graphischen und dem symbolisch-algebraischen Register unterschieden (vgl. Abschnitt 3.1). Zu den graphischen Darstellungen gehören zum einen geometrische Darstellungen, die den Einheitskreis und rechtwinklige Dreiecke mit einbeziehen, zum anderen gibt es die Darstellung der Sinusfunktion als Funktionsgraphen.

Geometrische Darstellungen beziehen geometrische Figuren mit ein. In diesen Fällen stehen der Einheitskreis und das rechtwinklige Dreieck nicht stellvertretend für die Funktion, vielmehr stehen der Einheitskreis und das rechtwinklige Dreieck für die mathematischen Sachzusammenhänge, die durch die Sinusfunktion rechnerisch zugänglich gemacht werden (Abbildung 4.33). Anwendungsaufgaben, bei denen Messungen und Berechnungen im Gelände vorgenommen werden oder bei denen Projektionsfiguren vorkommen, nutzen die Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck. Diese Darstellung kann also in gewisser Weise als mathematisches Modell von Realsituationen aufgefasst werden. Genauso ist die Darstellung am Einheitskreis das mathematische Modell einer Kreisbewegung oder steht in Beziehung zu astronomischen Berechnungen am Kreis.

Abbildung 4.33
figure 33

Sinus am rechtwinkligen Dreieck und am Einheitskreis

Anhand der Darstellung des Sinus am Einheitskreis kann der Graph der Sinusfunktion hergeleitet werden, an dem charakteristische Eigenschaften der Sinusfunktion abgelesen werden können (Abbildung 4.34). Ein Blick auf den Funktionsgraphen zeigt etwa die Periodizität der Funktion, Punktsymmetrien an den Stellen \(k \cdot \pi\) für \(k \in Z\) oder das Intervall des Wertebereichs \(\left[ { - 1,1} \right]\). Diese Darstellung steht tatsächlich stellvertretend für die Sinusfunktion. Der Unterschied zu den geometrischen Darstellungen wird bereits durch die Formulierungen „Darstellung als Funktionsgraph“ und „Darstellung am Einheitskreis“ deutlich.

Abbildung 4.34
figure 34

Graph der Sinusfunktion

Symbolische Darstellungen In der Aufarbeitung der logischen Genese der Sinusfunktion in Abschnitt 4.3 wurden Definitionen der Sinusfunktion untersucht, welche die Sinusfunktion in den entsprechenden mathematischen Teilbereichen fachlich charakterisieren. In diesen Definitionen taucht eine Reihe von symbolisch-algebraischen Darstellungen auf. Jede dieser Darstellungen legt den Fokus auf unterschiedliche Aspekte der Sinusfunktion. Die Darstellung über Potenzreihen legt das Augenmerk auf die Approximation über die Taylorentwicklung, die Produktdarstellung stellt einen Zusammenhang zur Funktionentheorie her und bei der Schwingungsdifferentialgleichung stehen physikalische Anwendungen im Mittelpunkt. In diesem Sinne wäre es denkbar jeder dieser Darstellungen eine eigene Klasse von inner- und außermathematischen Anwendungskontexten zuzuordnen und jeweils eine eigene Grundvorstellung zu formulieren. Da dieses Vorgehen nicht zielführend im Hinblick auf die Ausbildung von schulrelevanten Grundvorstellungen ist, wird an dieser Stelle lediglich ein Impuls gegeben, wie eine weitere Unterscheidung dieser Sammlung an symbolisch-algebraischen Darstellungen vorgenommen werden kann. Innerhalb dieser Menge von Darstellungen wird zwischen analytischen und funktionalen Darstellungen unterschiedenen.

Analytische Darstellungen enthalten einen Funktionsterm in expliziter geschlossener Form. In diesen Darstellungen stehen die Formeln stellvertretend für die Sinusfunktion selbst – Taylorreihe (4.4), Exponentialfunktion (4.5), Bogenlängenfunktion (4.6), Produktdarstellung (4.7):

$$\sin \left( x \right){ := }\mathop \sum \limits_{n = 0}^{\infty } \frac{{\left( { - 1} \right)^{n} x^{2k} }}{{\left( {2k} \right)!}}$$
(4.4)
$$\sin \left( z \right) = \frac{{e^{iz} - e^{ - iz} }}{2i}$$
(4.5)
$$\sin \left( x \right) = \left( {\mathop \smallint \limits_{0}^{s} \frac{1}{{\sqrt {1 - x^{2} } }}dx} \right)^{ - 1}$$
(4.6)
$${\text{ sin}}\left( {\pi z} \right) = \pi z\mathop \prod \limits_{k = 1}^{\infty } \left( {1 - \frac{{z^{2} }}{{k^{2} }}} \right)$$
(4.7)

Funktionale Darstellungen geben keinen Funktionsterm in geschlossener Form an, sondern definieren die Sinusfunktion implizit über charakteristische Eigenschaften. Diese werden in einer Funktionalgleichung zusammengefasst. Zu diesen funktionalen Darstellungen gehören die Darstellung über das Funktionalgleichungssystem (4.8), die Schwingungsdifferentialgleichung (4.9) und die Verdopplungsformel (4.10):

$$\begin{aligned} & \sin x + y = \sin x\cos y + \cos x\sin y~ \\ & \cos x + y = \cos x\cos y - \sin x\sin y~ \\ ~ & \quad \quad \mathop {\lim }\limits_{{x \to 0~}} \frac{{\sin x}}{x} = 0;~\cos 0 = 1 \\ \end{aligned}$$
(4.8)
$$\begin{gathered} f^{{\prime \prime }} \left( x \right) = - f\left( x \right) \hfill \\ f\left( 0 \right) = 0f^{\prime } \left( 0 \right) = 1 \hfill \\ \end{gathered}$$
(4.9)
$$\sin \left( {2\pi z} \right) = 2\sin \left( {\pi z} \right)\sin \left( {\pi \left( {z + \frac{1}{2}} \right)} \right)$$
(4.10)

Prinzipiell eignen sich die analytischen Darstellungen dazu, konkrete Werte auszurechnen bzw. zu approximieren. Dieser Nutzen kann dementsprechend den mathematischen Kern dieser Darstellungen erfassen und Basis einer Grundvorstellung sein. Die Funktionalen Darstellungen stellen Strukturmerkmale der Sinusfunktion heraus und tragen damit dazu bei, ein algebraisches Verständnis der Sinusfunktion zu entwickeln.

Klassenbildung: Die gesammelten Darstellungen können verschiedene Klassen ähnlicher Phänomene bzw. Anwendungszusammenhänge beschreiben und dadurch unterschiedliche inhaltliche Deutungen ermöglichen. Wie bereits erwähnt, kann die Darstellung der Sinusfunktion am rechtwinkligen Dreieck dazu genutzt werden, um Anwendungsaufgaben zu lösen, in denen Vermessungen und Berechnungen im Gelände vorgenommen werden (vgl. Abschnitt 4.1). Sie kann aber auch zur Bestimmung der Projektion von Kräften in der Physik genutzt werden. Derartige Klassen ähnlicher Sachzusammenhänge können zur normativen Entwicklung von Grundvorstellungen dienen:

Sie [Grundvorstellungen] beschreiben dabei keine speziellen gegenständlichen Realisierungen, sondern […] die Struktur von Gegenstandskonstellationen, die den mathematischen Kern eines Begriffes repräsentieren; somit werden jeweils Klassen von Gegenstandskonstellationen erfasst. (vom Hofe 1995, S.93)

Diese Klassenbildung ist dabei kein Selbstzweck, sondern muss auf die kognitiven Fähigkeiten der anvisierten Lerngruppe ausgerichtet sein. Im nächsten Abschnitt werden die gesammelten Sachkontexte unterschiedlichen Darstellungsformen zugeteilt. Dazu werden vier Darstellungskategorien gebildet:

  • Darstellung am rechtwinkligen Dreieck

  • Darstellung am Einheitskreis

  • Darstellung als Funktionsgraph

  • Symbolische Darstellungen

Ordnen der Sachkontexte nach Darstellungsformen: Bevor es zur Formulierung normativer Grundvorstellungen kommt, werden weitere Schritte vorgenommen: Zuerst werden unter den relevanten mathematischen Darstellungsformen des Sinus – Dreieck, Kreis, Funktionsgraph und symbolische Darstellungen – die Sachkontexte zusammengefasst, die in der didaktischen orientierten Sachanalyse gesammelt wurden und in denen hauptsächlich mit der entsprechenden Darstellung gearbeitet wird. Im zweiten Schritt werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Sachkontexten der jeweiligen Darstellungsform herausgearbeitet und gegebenenfalls neue Unterteilungen vorgenommen. Anschließend können zu den so gewonnenen Klassen von Anwendungszusammenhängen mathematische Grundprinzipien formuliert werden, die den gemeinsamen mathematischen Kern der Sachkontexte erfassen. Daraus resultieren die normativ geprägten Grundvorstellungen, die von den Lernenden im Idealfall ausgebildet werden sollen. Zuletzt werden zu jeder Grundvorstellung Grundkenntnisse formuliert, die zu einem verständigen Umgang mit der jeweiligen Grundvorstellung beitragen und es ermöglichen ein Grundverständnis aufzubauen. Es folgt nun die Ordnung nach Darstellungsformen:

Rechtwinklige Dreiecke

  • Bau der Pyramiden (vgl. Abschnitt 4.2.2)

  • Indirekte Messung von Gebäuden (vgl. Abschnitt 4.2.3)

  • Indirekte Messung von Abständen zwischen Sternen und Planeten (vgl. Abschnitt 4.2.4)

  • Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Die schiefe Ebene (vgl. Abschnitt 4.4.4)

  • Sternenparallaxe (vgl. Abschnitt 4.4.5)

Kreise

  • Bestimmung der Kreissehne (vgl. Abschnitt 4.2.5)

  • Erstellung von Sehnentafeln (vgl. Abschnitt 4.2.6)

  • Differenzenformel zur rekursiven Berechnung von Sinuswerten (vgl. Abschnitt 4.2.8)

  • Bürgis Kunstweg (vgl. Abschnitt 4.2.10)

  • Definition am Einheitskreis (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Definition über die Umkehrfunktion der Bogenlängenfunktion des Einheitskreises (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Polarkoordinaten (vgl. Abschnitt 4.4.7)

Graph der Sinusfunktion

  • Fourieranalyse (vgl. Abschnitt 4.4.1)

  • Schwingungen und Wellen (vgl. Abschnitt 4.4.2)

  • Rundfunk (vgl. Abschnitt 4.4.3)

  • Periodische Funktionen (vgl. Abschnitt 4.4.6)

Symbolische Darstellung

  • Definition über die Exponentialfunktion (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Definition über Potenzreihen (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Definition über die Produktdarstellung (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Definition über das Funktionalgleichungssystem (vgl. Abschnitt 4.3.1)

  • Definition über die Schwingungsdifferentialgleichung (vgl. Abschnitt 4.3.1)

4.6 Grundvorstellungen zum Sinus

Das individuelle Verständnis des Sinusbegriffs basiert auf dem komplexen Zusammenspiel zwischen fachlichen Charakterisierungen, mathematischen Darstellungsformen und mentalen Repräsentationen. Wege der fachlichen Charakterisierung wurden bereits im Abschnitt 4.3 vorgestellt, reichen aber allein meist nicht aus, um inhaltliche Deutungen zu ermöglichen. Die Vorstellungen, die ein Individuum konstruiert, hängen maßgeblich von den Erfahrungen und dem Vorwissen ab, auf das Lernende zurückgreifen können. Komplexe mathematische Konzepte bauen in diesem Konstruktionsprozess oftmals auf bereits erlernten mathematischen Konzepten auf und beziehen mathematische Darstellungen mit ein, die als Träger bestimmter Grundvorstellungen dienen, indem sie diese im Individuum aktivieren können. Im Falle des Sinus sind diese Vorstellungsträger rechtwinklige Dreiecke, der Einheitskreis, der Graph der Sinusfunktion oder symbolische Darstellungen.

Wie bereits in Abschnitt 3.2 erwähnt, lassen sich Grundvorstellungen zu einem mathematischen Inhalt aufbauen, indem an Phänomene bzw. Sachzusammenhänge angeknüpft wird, durch die Aspekte des Begriffs erfahrbar werden. Diese Sachzusammenhänge wurden in den Abschnitten 4.14.4 in der didaktisch orientierten Sachanalyse gesammelt, im Abschnitt 4.5 Darstellungen zugeordnet und dienen nun als Grundlage, um auf normativer Ebene Grundvorstellungen zu formulieren. Anknüpfend an die Darstellung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck folgt zunächst die Seitenverhältnisvorstellung und die Projektionsvorstellung, die bereits von Salle und Frohn (2017) formuliert und von Salle und Clüver (2021) in ähnlicher Weise hergeleitet wurden.

4.6.1 Die Seitenverhältnisvorstellung

Der Bau der Pyramiden (vgl. Abschnitt 4.2.2), die indirekte Messung von Gebäuden (vgl. Abschnitt 4.2.3), die indirekte Messung von Abständen zwischen Sternen und Planeten (vgl. Abschnitt 4.2.4) sowie die Sternenparallaxe (vgl. Abschnitt 4.4.5) wecken zunächst die inhaltliche Vorstellung, dass der Sinus ein Werkzeug bei Vermessungsaufgaben ist. Nimmt man die Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck (vgl. Abschnitt 4.3.1) hinzu, wird deutlich, dass all diese Anwendungen auf dasselbe Grundprinzip zurück zu führen sind. Mathematisch ausgedrückt lässt sich dieses Prinzip wie folgt formulieren:

  • Entsprechende Seitenverhältnisse in zwei ähnlichen Dreiecken sind gleich.

Kennt man also das Seitenverhältnis eines Dreiecks, kennt man auch das entsprechende Seitenverhältnis aller ähnlichen Dreiecke und man kann unbekannte Größen durch das Umstellen der Verhältnisgleichung \(\frac{a}{b} = \frac{{a^{\prime}}}{{b^{\prime}}}\) einfach berechnen (vgl. Abbildung 4.35).

Abbildung 4.35
figure 35

Strahlensatz Figur

Dieser Sachverhalt, der sich beispielsweise mithilfe der zentrischen Streckung erklären lässt, bildet den Ausgangspunkt der ebenen Trigonometrie am rechtwinkligen Dreieck. Weitergehend sind zwei rechtwinklige Dreiecke ähnlich zueinander, wenn diese sich in einem weiteren Winkel gleichen. Ein Winkel steht in diesem Fall also stellvertretend für eine ganze Klasse von ähnlichen rechtwinkligen Dreiecken. Der Sinus dieses Winkels bezeichnet dann das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse. Auf dieser Grundlage lässt sich die folgende normative mathematische Grundvorstellung formulieren:

  • Die Seitenverhältnisvorstellung

  • Der Sinus zu einem Winkel \(\alpha\) gibt das Seitenverhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse einer ganzen Klasse von ähnlichen rechtwinkligen Dreiecken an.

In dieser Formulierung handelt es sich bei der Seitenverhältnisvorstellung um eine sekundäre Grundvorstellung, also eine Grundvorstellung, die Bedeutung durch das Anknüpfen an mathematische Konzepte erlangt. Bei dem Bilden des Verhältnisses zweier Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks handelt es sich um eine mathematische Operation an einem geometrischen Objekt.

Zur Seitenverhältnisvorstellung lassen sich darüber hinaus eine Reihe von mathematischen Grundkenntnissen formulieren (vgl. Salle & Clüver 2021):

  • Der Sinus ist definiert auf dem Intervall [0°,90°].

  • Die Hypotenuse ist die längste Seite im rechtwinkligen Dreieck, daher ist das Verhältnis immer kleiner als 1.

  • Je länger die Gegenkathete \(a\) bei gleicher Hypotenuse \(c\) ist, desto größer ist \(\sin \left( \alpha \right)\).

  • Je größer der Winkel \(\alpha\), desto größer ist \(\sin \left( \alpha \right)\).

Die in dieser Arbeit gewählte Formulierung unterscheidet sich von der bei Salle und Clüver (Salle & Clüver 2021). Dort heißt es: Seitenverhältnisvorstellung: Sinus eines Winkels als Seitenverhältnis von Gegenkathete und Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck. In dieser Arbeit wurde diese Formulierung um den Begriff der „Ähnlichkeit“ erweitert um dadurch dem invarianten Seitenverhältnis ähnlicher Dreiecke Rechnung zu tragen, das in der vorliegenden Analyse als Grundprinzip herausgestellt wurde.

4.6.2 Die Projektionsvorstellung

In der Physik wird der Sinus genutzt, um die orthogonale Projektion von vektoriellen Größen zu berechnen. Dies wird am Beispiel der schiefen Ebene (vgl. Abschnitt 4.4.4) erläutert. Der Projektionsgedanke taucht auch beim Skalarprodukt auf. Diese speziellen Anwendungskontexte geben Anlass zu der Überlegung, ob dem Sinus am rechtwinkligen Dreieck noch eine weitere Vorstellung zugeordnet werden kann. Bei genauerer Analyse der Sachzusammenhänge wird klar, dass das gleichbleibende Seitenverhältnis in ähnlichen Dreiecken zwar genutzt wird, aber nicht mehr im Vordergrund steht. Vielmehr ist es die Verkleinerung einer Strecke durch eine orthogonale Projektion, die von Interesse ist. Das Grundprinzip lautet:

  • Eine Strecke \(c\) verkleinert sich unter einer orthogonalen Projektion mit dem Winkel \(\alpha\) gemäß der Formel \(a = \sin \left( \alpha \right) \cdot v\).

In der Gleichung \(a = \sin \left( \alpha \right) \cdot v\) wird \({\text{sin}}\left( \alpha \right)\) im Idealfall als Verkleinerungsfaktor aufgefasst (vgl. Abbildung 4.36). Das führt zu der Formulierung der folgenden Grundvorstellung:

  • Die Projektionsvorstellung

  • Der Wert \(\sin \left( \alpha \right)\) entspricht dem Faktor, um den sich eine vektorielle Größe verkleinert, die in einem Winkel von \(\alpha\) orthogonal auf eine Gerade projiziert wird.

Abbildung 4.36
figure 36

Projektionsfigur

Die Grundkenntnisse zur Projektionsvorstellung ähneln denen zur Seitenverhältnisvorstellung. Mit der Projektionsvorstellung lässt sich allerdings anders argumentieren:

  • Die orthogonale Projektion einer vektoriellen Größe kann diese nicht vergrößern, sondern nur verkleinern. Der Faktor \(\sin \left( \alpha \right)\) liegt damit im Intervall \(\left[ {0,1} \right]\).

Auch die Projektionsvorstellung unterscheidet sich in ihrer Formulierung von der bei Salle und Clüver (2021). Dort heißt es: Projektionsvorstellung: Sinus eines Winkels als Projektionsfaktor, der angibt, wie sich in einem rechtwinkligen Dreieck die Länge der Hypotenuse bei Projektion auf die durch die Gegenkathete festgelegte Gerade verringert. Die Formulierung dieser Arbeit nutzt den Begriff der vektoriellen Größe um die sinngebenden Phänomene aus der Physik zu berücksichtigen. Des Weiteren wird auf die Nennung des rechtwinkligen Dreiecks verzichtet, da es sich dabei um das Ergebnis der orthogonalen Projektion handelt.

Es folgt nun eine Formulierung der Referenzdreiecksvorstellung und der Koordinatenvorstellung, die sich beide auf die Darstellung des Sinus am Einheitskreis beziehen. Es handelt sich dabei um eine Differenzierung der von Salle und Frohn (2017) formulierten Einheitskreisvorstellung. Die beiden Autoren weisen bereits darauf hin, dass die Einheitskreisvorstellung zwei Aspekte beinhaltet nämlich die Einheitskreisvorstellung mit und ohne einbeschriebenem Dreieck. Diese Unterscheidung wird im Folgenden spezifiziert.

4.6.3 Die Referenzdreiecksvorstellung

Die Sachzusammenhänge der zweiten Kategorie zeichnen ein anderes Bild des Sinus. Die Bestimmung der Kreissehne (vgl. Abschnitt 4.2.5), die Erstellung der Sehnentafeln (vgl. Abschnitt 4.2.6) und der Halbsehnensatz (vgl. Abschnitt 4.2.8) lassen darauf schließen, dass der Sinus ein Hilfsmittel zur Berechnung von Sehnen in einem Kreis ist. Das Grundprinzip, welches hinter den historischen Beispielen steckt, lässt sich wie folgt formulieren:

  • Die Länge einer Sehne in einem Kreis ist eindeutig bestimmt durch den Radius und den Mittelpunktswinkel.

Die Konstruierbarkeit einer Kreissehne in der Geometrie führt zu der Frage, wie sich die Länge einer solchen Sehne berechnen lässt. Die Sinusfunktion liefert über Umwege eine Lösung zu diesem Problem. Die Definition des Sinus bezieht sich nämlich nicht auf die Kreissehne, sondern auf die halbe Sehne. Aus historischer Perspektive wird erst bei der Differenzenformel zur rekursiven Berechnung von Sinuswerten (vgl. Abschnitt 4.2.8) und Bürgis Kunstweg (vgl. Abschnitt 4.2.10) die Sehne des Kreises halbiert und man erkennt den Sinus in seiner heutzutage üblichen Definition.

  • Durch die Halbierung der Sehne im Einheitskreis entsteht ein rechtwinkliges Referenzdreieck.

Auf der Grundlage dieser Sachkontexte lässt sich eine weitere Grundvorstellung zum Sinus formulieren:

  • Die Referenzdreiecksvorstellung

  • Der Sinus zum Winkel \(\alpha\) gibt die gerichtete Länge der Gegenkathete des im Einheitskreis eingezeichneten Referenzdreiecks an.

Abbildung 4.37
figure 37

Einheitskreis mit Referenzdreieck

Es handelt sich erneut um eine sekundäre Grundvorstellung. Der Sinus erhält Bedeutung durch das Berechnen der gerichteten Länge einer Seite des Referenzdreiecks (vgl. Abbildung 4.37). Auch zur Referenzdreiecksvorstellung lassen sich einige Grundkenntnisse formulieren:

  • Die Hypotenuse im Referenzdreiecks hat die Länge 1, daher entspricht das Seitenverhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse genau der Länge der Gegenkathete.

  • Der Sinus ist im ersten und zweiten Quadranten positiv, im dritten und vierten Quadranten negativ.

  • Spiegelt man das Dreieck an der x-Achse, ändert sich das Vorzeichen.

  • Spiegelt man das Dreieck an der y-Achse, bleibt das Vorzeichen gleich.

4.6.4 Die Koordinatenvorstellung

Die Definition am Einheitskreis (vgl. Abschnitt 4.3.1), die Definition über die Umkehrfunktion der Bogenlängenfunktion des Einheitskreises (vgl. Abschnitt 4.3.1) und die Anwendung der Sinusfunktion im Zusammenhang mit den Polarkoordinaten (vgl. Abschnitt 4.4.7) führen zu einer weiteren innermathematischen Vorstellung. In diesen Zusammenhängen wird die Sinusfunktion nicht primär mit Kreissehnen in Verbindung gebracht, sondern dient dazu, gemeinsam mit der Kosinusfunktion, den Einheitskreis zu parametrisieren. Das Grundprinzip in diesen Sachzusammenhängen lässt sich wie folgt formulieren:

  • Die Sinus- und die Kosinusfunktion parametrisieren den Einheitskreis im kartesischen Koordinatensystem. \(K{ := }\left\{ {\left( {\cos \left( t \right),\sin \left( t \right)} \right){|}t \in R} \right\}\).

Dieses Prinzip führt zur Koordinatenvorstellung des Sinus. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Grundvorstellungen, die rein geometrischer Natur waren, kommen bei der Koordinatenvorstellung analytische Aspekte hinzu. Der Kreis wird in das kartesische Koordinatensystem eingebettet und der Definitionsbereich der Sinusfunktion wird auf die reellen Zahlen erweitert.

  • Die Koordinatenvorstellung

  • Der Sinus zu einem Winkel \(\alpha\) liefert die y-Koordinate eines Punktes \(P\), der vom Punkt \(\left( {1,0} \right)\) aus entlang des Einheitskreises entgegen dem Uhrzeigersinn gewandert ist und eine Strecke von \(\alpha\) zurückgelegt hat (vgl. Abbildung 4.38).

Abbildung 4.38
figure 38

Parameterdarstellung des Einheitskreises

Im Zusammenhang mit der Koordinatenvorstellung werden meist Winkel im Bogenmaß angegeben, die über den Kreisbogen des Einheitskreises definiert werden. In der Schule wird die Koordinatenvorstellung dazu genutzt, um den Graphen der Sinusfunktion einzuführen und aus den Symmetrieeigenschaften des Kreises Symmetrieeigenschaften der Sinusfunktion herzuleiten. Bei den meisten schulischen Modellierungsaufgaben handelt es sich um eingekleidete Aufgaben, die wenig Anwendungsrelevanz aufweisen. Im Gegensatz zur Referenzdreiecksvorstellung zeichnet sich die Koordinatenvorstellung durch eine mathematische Klarheit aus, da auf den unhandlichen Begriff der gerichteten Längen verzichtet werden kann. Ein weiterer Vorteil gegenüber der Seitenverhältnisvorstellung liegt in der geometrischen Anschaulichkeit. Malle (2001) schreibt dazu:

Sinus und Kosinus sind – zumindest wie wir sie eingeführt haben – Verhältnisse. Verhältnisse lassen sich aber nicht direkt visualisieren, man muss sie vielmehr in die jeweilige Figur eindenken. Der große Vorteil des Einheitskreises liegt nun gerade darin, dass sich Sinus und Kosinus als Objekte, nämlich Punkte oder Strecken, visualisieren lassen. (Malle 2001, S. 44)

Beispiele für Grundkenntnisse zur Koordinatenvorstellung lauten:

  • Der Sinus ist definiert auf den reellen Zahlen.

  • Da es sich bei dem Sinus um die y-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis handelt, variieren die Werte in dem Intervall \(\left[ { - 1,1} \right]\).

  • Der Sinus ist eine periodische Funktion.

  • \(\sin \left( x \right) = - {\text{sin}}\left( {x + \pi } \right)\).

Es folgt nun eine Formulierung der Oszillationsvorstellung, die sich aus der Eigenschaft der Sinusfunktion als Modellfunktion für periodische Prozesse herleiten lässt.

4.6.5 Die Oszillationsvorstellung

Schwingungen und Wellen (vgl. Abschnitt 4.4.2) sind zentrale durch die Sinusfunktion zu beschreibende Phänomene. Zu diesen Phänomenen gehören Pendelschwingungen, Schallwellen sowie elektromagnetische Wellen, die im Rundfunk (vgl. Abschnitt 4.4.3) eine Rolle spielen. Eine übergeordnete mathematische Theorie, welche die Möglichkeit einer mathematischen Beschreibung dieser Phänomene durch trigonometrische Funktionen sicherstellt, ist die Fourieranalyse (vgl. Abschnitt 4.4.1). Durch die Untersuchung der vorliegenden Kontexte, lässt sich im Rahmen der Sinusfunktion zusammenfassend das folgende Grundprinzip formulieren:

  • Die Sinusfunktion ist das prototypische Werkzeug zur Modellierung periodischer Prozesse.

Ob nun der Luftdruck bei einer Schallwelle gemessen wird oder die Auslenkung eines Federpendels; in beiden Fällen eignet sich die Sinusfunktion um die sich periodisch ändernden Zustandsgrößen zu beschreiben. Auch diskrete Werte, wie die sich ändernde Dauer von Sonnenauf- zu Sonnenuntergang während eines Jahres, können mit der Sinusfunktion modelliert werden. In den einfachsten Fällen wird ein Prozess durch genau eine Sinusfunktion beschrieben, deren Amplitude und Frequenz bestimmt werden müssen. In komplizierteren Fällen wird ein periodischer Prozess durch eine Summe oder das Produkt mehrerer Sinus- und Kosinusfunktionen mit unterschiedlichen Frequenzen und Amplituden modelliert. In allen Fällen kann aus mathematischer Sicht eine Fourierreihe – eine potentiell unendliche Summe aus Sinus- und Kosinusfunktionen – gefunden werden, mit der dieser Prozess dargestellt werden kann. In der Fourieranalyse bilden die Sinus- und Kosinusfunktionen die Grundbausteine aller periodischen Funktionen und werden dadurch als prototypische periodische Funktionen etabliert. Auf der Grundlage dieser Sachzusammenhänge lässt sich die Oszillationsvorstellung der Sinusfunktion formulieren:

  • Die Oszillationsvorstellung

  • Die Funktion \(\sin \left( {\omega t} \right)\) gibt die (normierte) Auslenkung eines sich periodisch um seine Ruhelage bewegenden Körpers zum Zeitpunkt \(t\) an. Diese Auslenkung ist im Falle eines linearen Kraftgesetzes proportional zu ihrer zweiten Ableitung: \(f\left( t \right) \sim sin^{^{\prime\prime}} \left( {\omega t} \right)\) (vgl. Abbildung 4.39).

Abbildung 4.39
figure 39

Ausprägung eines schwingenden Federpendels

Der Einheitskreis kann genutzt werden, um die Wellenform des Graphen der Sinusfunktion zu erklären, allerdings liegt die Stärke der Oszillationsvorstellung darin, dass sie direkt an periodische Prozesse bzw. reale Sachkontexte anknüpft und dadurch eine hohe Anwendungsrelevanz erhält. Diese Anwendungsrelevanz ist wiederum ein wichtiger Faktor bei der Sinnkonstruktion zu einem mathematischen Begriff. Grundkenntnisse zur Oszillationsvorstellung lauten wie folgt:

  • Die Periodenlänge gibt an, in welchem Zeitabstand sich ein Vorgang wiederholt.

  • Die Frequenz verhält sich antiproportional zur Periodenlänge.

  • Die Amplitude gibt den Wert der höchsten Ausprägung einer Zustandsgröße an.

  • Die Phase gibt an, in welchem Zustand ein periodischer Prozess startet.

  • Bei einem Federpendel ist die Rückstellkraft proportional zur Auslenkung.

Die Idee der Oszillationsvorstellung findet sich bereits bei Salle und Frohn (2017), dort werden zwar sinngebende Phänomene aufgezählt, allerdings keine konkrete Formulierung der Oszillationsvorstellung angegeben. Die Formulierung der vorliegenden Arbeit orientiert sich an den zu beschreibenden physikalischen Phänomenen, weshalb der Ausdruck „Ausprägung einer Zustandsgröße“ und die Variable \(t\) gewählt wurde.

Zuletzt werden die Zusammenhänge analysiert, in denen vorwiegend formal symbolische Darstellungen der Sinusfunktion genutzt werden. Auf dieser Grundlage wird die Funktionsvorstellung hergeleitet, die bisher noch nicht explizit formuliert wurde.

4.6.6 Die Funktionsvorstellung

Zu den Sachzusammenhängen, in denen die symbolische Darstellung der Sinusfunktion auftauchen, gehören die fachlichen Charakterisierungen, die in der logischen Genese (vgl. Abschnitt 4.3.1) zusammengetragen wurden. Im analytischen Umgang mit der Sinusfunktion lässt sich auf der Grundlage dieser Definitionen folgendes Grundprinzip erkennen:

  • Die Sinusfunktion gehört zur Funktionsklasse der periodischen Funktionen und ist als solche mit charakteristischen Eigenschaften ausgestattet.

Die Erkundung und fachliche Darstellung dieser für die Sinusfunktion charakteristischen Eigenschaften ist ein zentrales innermathematisches Erkenntnisinteresse.

  • Die Funktionsvorstellung

  • Die Sinusfunktion \(sin\left( x \right)\) ist ein mathematisches Objekt, mit dem wie mit anderen Funktionen umgegangen werden kann.

Der mathematische Umgang mit der Sinusfunktion zeigt sich zum einen in den mathematischen Operationen mit Funktionen, wie sie bei der Objektvorstellung für Funktionen in Allgemeinen ausgebildet werden (vgl. Vollrath 1989), zum anderen in der Art und Weise wie Funktionen in unterschiedlichen Teilbereichen (Differentialgleichungen, Funktionentheorie, Theorie der Taylorreihen) der Mathematik analysiert werden.

Mathematische Operationen mit Funktionen, die Lernende bereits von anderen Funktionsklassen kennen, können auch bei der Sinusfunktion adaptiert werden. So kann die Manipulation der Faktoren \(a,b,c,d\) im Funktionsterm \(a \cdot \sin \left( {b \cdot x + c} \right) + d\) als Streckung bzw. Stauchung oder als Verschiebung des Funktionsgraphen in \(x\)- bzw. \(y\)- Richtung gedeutet werden. Die Analyse der Sinusfunktion mit Werkzeugen der Funktionentheorie führt schließlich zur Produktdarstellung und die Theorie der Taylorreihen ermöglicht eine Darstellung als Potenzreihe.

Grundkenntnisse zur Funktionsvorstellung lassen sich wie folgt formulieren:

  • Der Graph der Sinusfunktion ist punktsymmetrisch.

  • Die Sinusfunktion hat Maxima an den Stellen \(\frac{\pi }{2} + k \cdot 2 \cdot \pi\) und Minima an den Stellen \(\frac{3 \cdot \pi }{2} + k \cdot 2 \cdot \pi\).

  • Die Nullstellen der Sinusfunktion liegen bei \(k \cdot \pi\).

  • Die Ableitung der Sinusfunktion ist die Kosinusfunktion.

  • Die Sinusfunktion hat eine Amplitude von 1.

  • Die Sinusfunktion hat eine Wellenlänge von \(2\pi\).

  • Um eine Periodenlänge von 1 zu erhalten, muss das Argument in der Sinusfunktion durch \(2\pi\) geteilt werden: \(\sin \left( {\frac{x}{2\pi }} \right)\).

Die Formulierungen konkreter Grundvorstellungen zum Sinus markieren den Abschluss der didaktisch orientierten Sachanalyse und des Theorieteils. Auf der Grundlage dieser Aufteilung ist es Lehrenden theoretisch möglich, Schwierigkeiten bei Darstellungswechseln zu erkennen und zu erklären. Welchen Nutzen diese Grundvorstellungen in der empirischen Forschung haben, wird im nächsten Teil untersucht.

4.6.7 Ausbildung funktionsklassenspezifischer Grundvorstellungen

Bei den formulierten funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinus handelt es sich um normative Kategorien, die aus inhaltlichen Überlegungen zur Genese des Begriffs entstanden sind. Sie stellen somit sachadäquate Deutungsmöglichkeiten dar, mit denen der mathematische Kern einer Klasse von Sachzusammenhängen beschrieben wird (vom Hofe 1995). Die in dieser Arbeit entwickelte didaktisch orientierte Sachanalyse, mit der diese Grundvorstellungen identifiziert wurden, entspricht im Modell von vom Hofe (1995) zur Ausbildung von Grundvorstellungen der Schritt des inhaltlichen Bestimmens (vgl. Abbildung 4.40).

Abbildung 4.40
figure 40

Modell zum Ausbilden von Grundvorstellungen (vom Hofe 1995)

In diesem Modell werden didaktische Entscheidungen des Lehrenden den kognitiven Aktivitäten der Lernenden gegenübergestellt. Nach der inhaltlichen Bestimmung werden diese Grundvorstellungen in Lernkontexten vom Lehrenden didaktisch umgesetzt. Dazu müssen geeignete Sachzusammenhänge ausgewählt werden, die den Kern des mathematischen Begriffs repräsentieren. Passende Aufgabenstellungen sollen schließlich Lernprozesse in Gang bringen, die im Individuum Handlungsvorstellungen und Erklärungsmodelle aktivieren. Auf der anderen Seite wird es den Lernenden ermöglicht, durch die wiederholte Aktivierung dieser Erfahrungsbereiche, den Kern des Sachzusammenhangs zu erfassen und dadurch Grundvorstellungen aufzubauen. Diese Grundvorstellungen dienen schließlich dazu, mathematische Begriffe inhaltlich zu deuten und damit zu verstehen.

Vom Hofe (1995, S. 123 f.) betont, dass die inhaltliche Bestimmung solcher Grundvorstellungen nicht allein vom mathematischen Inhalt her erfolgen kann, sondern sich immer auch am Erfahrungshorizont der Schülerinnen und Schüler orientieren soll. Diese Orientierung an den Erfahrungen und kognitiven Fähigkeiten der Lernenden erfolgt durch didaktische Entscheidungen des Lehrenden, die im Voraus getroffen werden. Die Herleitung der Grundvorstellungen in dieser Arbeit fand mit der Fokussierung auf Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe statt. Es stellt sich also die Frage, inwieweit die aus der didaktisch orientierten Sachanalyse formulierten Grundvorstellungen auch tatsächlich an den Wissens- und Erfahrungsstand dieser Zielgruppe anknüpfen.

Da es sich bei der ausgewählten Zielgruppe um eine sehr breite und heterogene Gruppe handelt, deren Erfahrungshorizont nur begrenzt erfasst werden kann, orientiert sich die hier entwickelte didaktisch orientierte Sachanalyse an einschlägigen schulischen Lehrwerken, in denen ein Querschnitt sinngebender Sachzusammenhänge erfasst ist (Körner 2015; Griesel et al. 2016; vom Hofe et al. 2019). Entsprechende Aufgaben wurden bereits in Abschnitt 4.1 zur aktuellen Umsetzung trigonometrischer Inhalte im mathematischen Unterricht, in Abschnitt 4.2 zur historischen Genese und in Abschnitt 4.4 zu Anwendungskontexten gesammelt. Es zeigt sich, dass die Seitenverhältnisvorstellung am rechtwinkligen Dreieck in der Sekundarstufe I in einer Reihe von Aufgaben zur Vermessung im Gelände und zur Berechnung von Größen in zwei- und dreidimensionalen geometrischen Objekten eine Rolle spielt. Die Projektionsvorstellung knüpft beispielsweise an Aufgaben zur Projektion von Kräften im Physikunterricht an, kann aber auch bei der Deutung am Einheitskreis auftauchen. Die Referenzdreiecksvorstellung und die Koordinatenvorstellung finden sich bei Aufgaben am Ende der Sekundarstufe I bzw. am Anfang der Sekundarstufe II wieder. Dabei handelt es sich um typische Modellierungsaufgaben, die an die Darstellung am Einheitskreis anknüpfen, oder um innermathematische Zusammenhänge, bei denen Symmetrieeigenschaften der Sinusfunktion am Einheitskreis gezeigt werden. Die Oszillationsvorstellung tritt bei Modellierungsaufgaben zu periodischen Prozessen in der Sekundarstufe II auf und ist insbesondere im Physikunterricht bei der Behandlung von Schwingungen und Wellen nützlich. Der Funktionsvorstellung lassen sich Aufgaben aus der Sekundarstufe II zuordnen, bei denen mit der Sinusfunktion auf symbolischer Ebene umgegangen wird. Dazu gehören beispielsweise Aufgaben in denen verkettete Funktionen abgeleitet werden. Insgesamt zeigt sich also, dass die formulierten Grundvorstellungen sich in den Schulinhalten der Sekundarstufe I und II wiederfinden lassen.

Inwieweit sich diese Grundvorstellungen tatsächlich ausbilden und als individuelle Schülervorstellungen deskriptiv erfassen lassen, bleibt darüber hinaus festzustellen. Die Ausbildung funktionsklassenspezifischer Grundvorstellungen zum Sinus hängt im obigen Modell unter anderem davon ab, ob sie sich in angemessener Weise vom Lehrenden didaktisch umsetzen lassen. Diese Umsetzung findet in Form passender Lernsituationen statt, die das Potential haben, bei den Lernenden Erfahrungsbereiche zu aktivieren (vgl. Abbildung 4.40) Bei der Frage, ob die hier identifizierten Grundvorstellungen zum Sinus geeignet sind, um entsprechende Lernsituationen zu entwickeln, die eine solche Aktivierung im Lernenden auslösen, handelt es sich um ein sehr weites Forschungsfeld, das umfangreiche empirische Untersuchungen erfordert, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Ziel dieses Forschungsvorhabens ist es daher, in einer explorativen Studie mit qualitativen Methoden zu untersuchen, inwieweit sich die Grundvorstellungen zum Sinus in den Denk- und Handlungsweisen von angehenden Lehrkräften identifizieren lassen. Lehramtsstudierende sind für die Studie besonders relevant, da es ihre berufliche Aufgabe ist, mathematische Zusammenhänge darzustellen und zu erklären. Weiterhin beruht die didaktische Umsetzung eines mathematischen Inhaltes auf inhaltlichen und methodischen Entscheidungen der Lehrkraft, die auf fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen zurückgehen. Zu den fachlichen Kompetenzen gehören ein flexibler Umgang mit technischen Werkzeugen der Mathematik und ein Überblick über mathematische Zusammenhänge. Zu den fachdidaktischen Kompetenzen gehört ein verständiger Umgang mit den unterschiedlichen Darstellungen, die als Träger von Grundvorstellungen dienen. Damit ist es von besonderer Bedeutung, dass die zukünftigen Lehrkräfte selbst über tragfähige Grundvorstellungen zum Sinusbegriff verfügen, um diese in angemessener Weise den Schülerinnen und Schülern zugänglich zu machen.