In diesem Abschnitt soll zunächst eine Antwort auf die Frage gegeben werden, wieso es sich bei der Trigonometrie um ein für die didaktische Forschung relevantes Themengebiet handelt.

Trigonometrische Funktionen gehören zur Funktionsklasse der elementaren nicht-algebraischen Funktionen (Blum & Törner 1983). Funktionen dieser Funktionsklasse sind dadurch ausgezeichnet, dass es keine endliche algebraische Formel gibt mit der Werte dieser Funktionen ausgerechnet werden können. In der Schule können Werte der Sinusfunktion durch geometrische Argumentationen oder heuristische Verfahren am Einheitskreis und an rechtwinkligen Dreiecken bestimmt werden. Weitere Verfahren zur Berechnung bedienen sich der höheren Mathematik, wie der Approximation durch Taylorreihen oder der komplexen Exponentialfunktion (vgl. Abschnitt 4.3). Darüber hinaus zeichnet sich die historische Entwicklung der Trigonometrie besonders durch die Vielzahl unterschiedlicher Methoden und Verfahren aus, die zu immer genaueren Berechnungen der Sinuswerte beigetragen haben (vgl. Abschnitt 4.2). Für das Verständnis trigonometrischer Funktionen ist also nicht nur ein allgemeines Verständnis von Funktionen und arithmetischen Operationen notwendig, sondern auch die inhaltlichen Deutungen dieser Funktionen in unterschiedlichen mathematischen und geometrischen sowie realen Kontexten. Diese inhaltlichen Deutungen bauen jeweils auf umfangreichem fachlichen Vorwissen auf und sind mit weiteren mathematischen Konzepten verknüpft. Zur Beschreibung des komplexen Netzwerks an Informationen können verschiedene didaktische Theorien genutzt werden, darunter die Theorie der kognitiven Schemata (Skemp 1987) oder des concept image (Tall & Vinner 1981). Weiterhin steht die Thematik in Beziehung zur Konstruktion von Wissen und dem Aufbau von Grundvorstellungen (vom Hofe 1995).

Obwohl trigonometrische Funktionen aufgrund der oben genannten Gründe ein weitreichendes Feld für mathematikdidaktische Forschungen darstellen, gibt es im deutschsprachigen Raum wenig empirische Studien, die explizit einen inhaltlichen Schwerpunkt in der Trigonometrie setzen. Ganz anders stellt sich die Situation im englischsprachigen Raum dar, wo die Trigonometrie Bestandteil zahlreicher didaktischer Studien ist. Diese große Anzahl an Studien kann durch den hohen Stellenwert der Trigonometrie in den High-School-curricula der Vereinigten Staaten begründet werden (van Sickle 2011).

In diesem Kapitel wird nun zunächst ein kurzer Überblick über die didaktische Forschung im Allgemeinen gegeben. Anschließend werden relevante didaktische Studien zur Trigonometrie vorgestellt. Zum Schluss werden auf der Grundlage der untersuchten Studien Forschungsdesiderata entwickelt.

2.1 Didaktische Forschung

In der didaktischen Forschung kann grob zwischen theoretischer und empirischer Forschung unterschieden werden (Bellmann 2020). Theoretische Forschung versucht Modelle zu entwickeln, die Lern- und Denkprozesse adäquat und praktikabel abbilden können. Dahingegen versucht die empirische Forschung Zusammenhänge in Lernsituationen zu beobachten und dadurch Vorhersagen über das Lernverhalten zu überprüfen. Diese Unterscheidung darf keinesfalls trennscharf verstanden werden, stattdessen zeigt sich stets eine enge Verzahnung der Theorie und der Praxis. Empirische Befunde beeinflussen die in der Theorie aufgestellten Modelle und die theoretischen Modelle spielen eine Rolle bei der Entwicklung der Messinstrumente und der Auswertungsmethoden.

Die theoretische Forschung beinhaltet inhaltsbezogene und kognitionsbezogene Aspekte. Inhaltsbezogene theoretische Forschung beschäftigt sich mit konkreten mathematischen Inhalten, wie zum Beispiel der Ableitung, Brüchen oder der Sinusfunktion. Diese Inhalte können beispielsweise durch eine didaktisch orientierte Sachanalyse untersucht werden, um normative Grundvorstellungen zu identifizieren oder idealtypische Lernwege zu entwickeln, die dabei helfen können, die mathematischen Inhalte verständnisorientiert zugänglich zu machen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Stoffdidaktik (Hußmann et al. 2016). Kognitionsbezogene theoretische Forschung beschäftigt sich mit allgemeinen Theorien zum Lehren und Lernen von Mathematik. Dazu gehören unter anderem Theorien zum genetischen Lernen (Wagenschein 1966), das Grundvorstellungskonzept (vom Hofe 1995) oder kognitive Schemata (Skemp 1987).

In der empirischen Forschung gibt es im Wesentlichen zwei Arten von Studien: explorative Studien, die geeignet sind um Hypothesen aufzustellen und Interventionsstudien, die geeignet sind, um Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen. Je nach Art der Studie werden ein entsprechendes Forschungsdesign und eine Forschungsmethode gewählt. Das Forschungsdesign beschreibt, wie eine Forschung im Einzelnen durchgeführt wird. Welche Zielgruppe hat die Arbeit? Gibt es eine Kontrollgruppe? Welche Methoden werden verwendet und wie werden die Ergebnisse ausgewertet? Zu den Methoden zählen Interviews, Leistungstests, Beobachtungen, Experimente etc. Die Auswertung der Daten geschieht quantitativ oder qualitativ. In der quantitativen Forschung werden durch Operationalisierungen theoretische Begriffe in empirisch messbare Merkmale umgewandelt. Viele der theoretischen Begriffe in der Mathematikdidaktik sind allerdings umfassender und präziser durch qualitative Methoden wie Inhaltsanalysen oder interpretative Forschungsmethoden nachweisbar.

2.2 Didaktische Studien zur Trigonometrie

Um einen Überblick über die didaktischen Studien zur Trigonometrie zu bekommen, lassen sich zunächst zwei Zielgruppen ausmachen. Studien mit einem Fokus auf Lernende und Studien mit einem Fokus auf Lehrende (Jamshid Nejad 2017). Unabhängig von den spezifischen Inhalten formuliert Jamshid Nejad zu jeder dieser Zielgruppen zentrale prozessorientierte Aspekte der Forschung.

Studien mit einem Fokus auf Lernende, die sich beschäftigen mit…

  • … der Konstruktion von Wissen und Vorstellungen zu Begriffen aus der Trigonometrie.

  • … Schwierigkeiten und Fehlvorstellungen von Lernenden im Umgang mit Konzepten aus der Trigonometrie.

  • … dem Einfluss von digitalen Medien beim Lernen von Trigonometrie.

Studien mit einem Fokus auf Lehrende, die sich beschäftigen mit…

  • … unterschiedlichen Einführungen in die Trigonometrie.

  • … Schwierigkeiten von Lehrenden im Umgang mit Konzepten aus der Trigonometrie.

  • … Umsetzung trigonometrischer Inhalte im Unterricht.

  • … Lehrerprofessionswissen.

Inhaltlich werden in den Studien unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, die in der Regel mit dem Umgang des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und als trigonometrische Funktion zu tun haben. In einigen Studien werden Unterschiede sowie Zusammenhänge zwischen diesen Darstellungen herausgearbeitet. Brown (2005) untersucht in ihrer Studie den Übergang zwischen den Darstellungen bei Schülerinnen und Schülern und entwickelt ein Verstehensmodell des Sinus am Einheitskreis. Kendall und Stacey (1996) vergleichen den Zugang zur Trigonometrie über rechtwinklige Dreiecke mit dem Zugang über den Einheitskreis und stellen fest, dass eine Einführung über rechtwinklige Dreiecke zu besseren Ergebnissen in dem von ihnen entwickelten Test führt.

Die Entwicklung von kohärenten Vorstellungen zum Winkelmaß ist Kern der Studie von Moore (2012). Er stellt in Fallstudien mit Lehramtsstudierenden fest, dass bestimmte Winkelmaße fest mit konkreten geometrischen Objekten verknüpft und von den Studierenden nicht als Ergebnisse eines Messprozesses verstanden werden. Der Umgang mit dem Bogenmaß ist Untersuchungsgegenstand mehrerer Studien (Thompson et al. 2007; Akkoc 2008; Cetin 2015; Katter 2019). Akkoc (2008) stellt fest, dass Lehramtsstudierende überwiegend das Gradmaß dem Bogenmaß vorziehen. Viele Studierende hatten generell Schwierigkeiten damit, reelle Zahlen als Definitionsbereich für trigonometrische Funktionen zuzulassen und akzeptierten nur Werte im Gradmaß. Diese Ergebnisse decken sich mit den Einsichten von Cetin (2015), der außerdem mittels Selbsteinschätzungstests zu den Ergebnissen kommt, dass Studierende sich im Bereich der Trigonometrie kompetenter einstuften als der in der Studie verwendete Leistungstest es misst. Weitere Studien untersuchten den Umgang mit dem Sinus als periodische Funktion (Challenger 2009; Jamshid Nejad 2017; Martinez Ortega et al. 2017). Jamshid Nejad fand heraus, dass viele Mathematikstudierende Schwierigkeiten damit haben, den Zusammenhang zwischen den Parametern in der allgemeinen Funktionsgleichung der Sinusfunktion \({\text{a}} \cdot \sin \left( {b \cdot x + c} \right) + d\) und dem zugehörigen Graphen herzustellen.

Nach diesem kurzen Überblick über exemplarische Studien, wird im Folgenden auf einige relevante Studien genauer eingegangen. Diese Studien wurden deshalb ausgewählt, weil die dort verwendeten und entwickelten Theorien einen Bezug zum Grundvorstellungskonzept aufweisen. So werden im Bereich der Trigonometrie Verstehensmodelle entwickelt, sinngebende Handlungserfahrungen untersucht, kognitive Schemata analysiert und Grundwissen, das im Zusammenhang mit den trigonometrischen Funktionen steht, bei Studierenden abgeprüft. Anschließend werden auf Grundlage der untersuchten Studien Forschungsdesiderata formuliert.

2.2.1 Brown – Verstehensmodell

Eine der umfangreichsten Arbeiten zu fachdidaktischen Fragen der Trigonometrie wurde von Brown (2005) durchgeführt. Brown verfolgt dabei zwei Forschungsziele:

  1. 1.

    Entwicklung und Erprobung eines Tests, basierend auf der vorgestellten Rahmentheorie.

  2. 2.

    Entwicklung eines Verstehensmodells zur Trigonometrie am Einheitskreis.

Mit dem entwickelten Test überprüft Brown, welche Verbindungen Studierende zwischen den Darstellungen des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und am Funktionsgraphen herstellen können. In dem von Brown anschließend entwickelten Verstehensmodell wird zwischen drei Interpretation des Sinus am Einheitskreis unterschieden. In den folgenden Abschnitten wird dargelegt, welche Ergebnisse des Tests zur Entwicklung des Verstehensmodells beigetragen haben. Abschließend wird dieses Modell vorgestellt und es werden Zusammenhänge zu den Grundvorstellungen des Sinus hergestellt.

Der Test umfasst zwölf offene Fragen, in denen Eigenschaften der Sinusfunktion anhand unterschiedlicher Darstellungen begründet und Zusammenhänge zwischen diesen Darstellungen erklärt werden sollten. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Übergang von der Darstellung des Sinus am Einheitskreis zur Darstellung der Sinusfunktion durch den Funktionsgraphen. An dem Test nahmen 120 Studierende teil. Von diesen wurden sieben Studierende zu einem Interview eingeladen. Es folgt nun eine Darstellung der Ergebnisse von Browns Studie.

Brown kommt zu dem Ergebnis, dass Studierende, welche die unterschiedlichen Interpretationen des Sinus verknüpfen und flexibel zwischen diesen Interpretationen wechseln können, die Sinusfunktion sowohl besser definieren als auch Probleme besser mathematisch lösen können. Darüber hinaus identifizierte Brown mehrere didaktisch relevante Themenbereiche im Zusammenhang mit trigonometrischen Funktionen:

  • die unterschiedlichen Definitionen des Sinus,

  • das Konzept des Drehwinkels,

  • Sinuswerte als reelle Zahlen und als Quotient,

  • Koordinaten als Distanzen,

  • positive und negative Sinuswerte,

  • der Übergang zum Graphen der Sinusfunktion.

Brown nutzt in ihrer Arbeit das Modell der concept definition (Tall & Vinner 1981). Sie unterscheidet zwischen der concept definition des Sinus und Kosinus, also der Definition, die auf direkte Anfrage hin konkret von den Lernenden formuliert wird und der working definition, also der Definition mit der tatsächlich gearbeitet wird. Sie stellt fest, dass diese beiden Konzepte bei den Teilnehmenden meist übereinstimmen und in der Testbearbeitung sowie in Interviews häufig lediglich eine Definition genutzt wird, statt abzuwägen welche Definition für entsprechende Aufgaben am besten geeignet ist (Brown 2005, S. 194).

Die nun folgenden von Brown identifizierten Problemfelder stehen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Erklärungsmodellen der Studienteilnehmenden. Diese Erklärungsmodelle werden von Brown in einem Verstehensmodell zusammengefasst, dass am Ende dieses Abschnittes erläutert wird.

Brown stellt fest, dass sich das Winkelkonzept beim Übergang von der Deutung des Sinus am rechtwinkligen Dreieck hin zur Deutung des Sinus am Einheitskreis grundlegend ändert. Die starre Auffassung eines Winkels als Teil eines Dreiecks wird erweitert durch die dynamische Vorstellung des Drehwinkels in einem Koordinatensystem. Im Umgang mit Drehwinkeln formuliert Brown drei Schwierigkeiten (Brown 2005, S. 199):

  1. 1.

    Das Einzeichnen eines Referenzdreiecks im Einheitskreis.

  2. 2.

    Das Verständnis des Rotationswinkels als unabhängige Variable der Sinusfunktion.

  3. 3.

    Das Einzeichnen eines Rotationswinkels im Koordinatensystem.

Eine weitere Schwierigkeit, mit der sich die Studienteilnehmenden konfrontiert sahen, liegt in der Unterscheidung des Sinus als Zahl und als Verhältnis von Zahlen.

Another issue is related to the definition of sine and cosine in terms of triangles, distances and coordinates. There is a very basic dichotomy at play. The sine or cosine of an angle is both a single number and a comparison between two numbers. (Brown 2005, S. 204)

In Browns Studie hatten einige Teilnehmende Schwierigkeiten, die Darstellung eines Sinuswertes als Bruch mit der Deutung des Sinus am Einheitskreis in Einklang zu bringen. Die Darstellung des Sinuswertes \(\sin \left( \alpha \right) = \frac{3}{5}\) weckte bei einer Studierenden die Vorstellung, der Sinus sei das Verhältnis zweier Seiten der Länge 3 und 5 in einem rechtwinkligen Dreieck (Brown 2005, S. 205). Dadurch war sie nicht in der Lage, diesen Quotienten als Wert des Sinus am Einheitskreis zu deuten. Eine Darstellung in Dezimalschreibweise \(\sin \left( \alpha \right) = 0,6\) hätte in diesem Fall möglicherweise andere Assoziationen geweckt. Dieses Problem hängt laut Brown damit zusammen, dass das Verhältnis in der Definition des Sinus am Einheitskreis im Verborgenen bleibt.

Algebraische Ausdrücke haben im kartesischen Koordinatensystem geometrische Entsprechungen. Brown (2005) spricht in diesem Zusammenhang von der Cartesian Connection. So kann beispielsweise dem Ausdruck \(y_{2} - y_{1}\) im Koordinatensystem eine gerichtete Strecke auf der \(y\)-Achse zugeordnet werden. Ähnlich verhält es sich in der Trigonometrie mit den Koordinaten eines Punktes \(P = \left( {x,y} \right)\) auf dem Einheitskreis. Diesen Koordinaten können die Längen einer Strecke vom Punkt \(P\) zur \(y\)-Achse bzw. zur \(x\)-Achse zugeordnet werden. Diese Interpretation der Punktkoordinaten ist notwendig, um die Deutung am Einheitskreis und am rechtwinkligen Dreieck zu verknüpfen. Es zeigt sich, dass diese Verknüpfung einigen Lernenden Schwierigkeiten bereitet. Diese Studierenden arbeiten nicht aktiv mit den Koordinaten als Streckenlängen. Andere hingegen haben Probleme damit sich von der Vorstellung der Streckenlängen zu lösen und Sinus und Kosinus allein als Koordinaten des Punktes zu deuten.

Im Hinblick auf den Übergang vom Einheitskreis zur Sinusfunktion konnte Brown beobachten, dass nur die Hälfte der Teilnehmenden einem Punkt auf dem Einheitskreis einen korrekten Punkt auf dem Graphen der Sinusfunktion zuordnen konnte. Diejenigen, die den korrekten Punkt zuordnen konnten, bekamen Schwierigkeiten, wenn sie dazu aufgefordert wurden zu erklären, welche Größen auf der \(x\)- und der \(y\)-Achse dargestellt werden. Einige Studierende konnten nicht sagen, dass die \(x\)-Achse das Winkelmaß darstellt und die \(y\)-Achse die Höhe bzw. die \(y\)-Koordinate des entsprechenden Punktes auf dem Einheitskreis.

Auf der Grundlage der oben genannten Problemfelder, die jeweils verschiedene Erklärungsmodelle des Sinus nutzen, entwickelt Brown ein Verstehensmodell, in dem der Sinus am Einheitskreis auf drei unterschiedliche Arten dargestellt wird:

  1. 1.

    Der Sinus als Verhältnis von Seitenlängen in einem rechtwinkligen Referenzdreieck.

  2. 2.

    Der Sinus als Abstand eines Punktes auf dem Einheitskreis zu den Achsen.

  3. 3.

    Der Sinus als Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis.

Die von Brown identifizierten Verstehensmodelle stehen in Beziehung zu der von Salle und Frohn (2017) formulierten Einheitskreisvorstellung mit und ohne einbeschriebenem Dreieck (vgl. Abschnitt 2.2.5). Die Ausschärfung der Einheitskreisvorstellung in Abschnitt 4.6 bezieht die Überlegungen von Brown mit ein und formuliert zu Punkt 1. und Punkt 3. ihres Verstehensmodells neue Grundvorstellungen.

Am Ende ihrer Arbeit bemerkt Brown, dass der Unterschied in diesen Deutungen zunächst nicht gravierend zu sein scheint und die Gefahr besteht, dass geübte Mathematikschaffende und erfahrene Lehrende diesen Unterschied nicht mehr wahrnehmen, da sie keine Notwendigkeit sehen, zwischen diesen Darstellungen zu differenzieren. Lernenden können diese Unterschiede allerdings Probleme bereiten. Daher ist es hilfreich diese Nuancen zu berücksichtigen, um typische Fehler frühzeitig zu erkennen und den Schülern und Schülerinnen die Inhalte der Trigonometrie verständnisorientiert zugänglich zu machen.

2.2.2 Weber – Prozept

Einen anderen Ansatz, um das Verständnis von Studierenden im Bereich der Trigonometrie zu erfassen, verfolgt Weber (2005). Dafür nutzt er als didaktisches Modell den von Gray und Tall (1994) geprägten Begriff des Prozepts, der von ihnen wie folgt beschrieben wird:

the amalgam of three components: a process that produces a mathematical object, and a symbol which is used to represent either process or object. (Gray & Tall 1994, S. 121)

Das Wort Prozept ist eine Neuschöpfung, welches aus den beiden Wörtern Prozess und Konzept zusammengesetzt ist. Ein Prozept kann als verinnerlichter Prozess, Prozedur oder Handlung verstanden werden, der/die so tief verankert ist, dass der Lernende damit wie mit einem Objekt operieren kann. Das heißt, die Lernenden können zum Beispiel Merkmale eines Prozesses verändern und die Konsequenzen vorhersagen, ohne den Prozess selbst komplett zu durchlaufen.

Weber beantwortet in seiner Studie die Fragen, welche Prozesse sich Studierende hinter dem Begriff Sinus vorstellen und ob sie in der Lage sind, trigonometrische Funktionen als Prozept zu begreifen. Webers theoretische Arbeit mit dem Begriff des Prozepts im Zusammenhang mit dem Sinus liefert eine neue Perspektive auf die Darstellungen des Sinus am Einheitskreis und am rechtwinkligen Dreieck. Er unterscheidet zwischen der symbolischen Darstellung, dem dahinterliegenden Prozess und dem mathematischen Objekt und gibt der didaktischen Arbeit mit mathematischen Darstellungen dadurch eine begriffliche Klarheit. Da Darstellungen mathematischer Objekte in der vorliegenden Arbeit als Träger von Grundvorstellungen fungieren, erweist sich diese begriffliche Trennung als sachdienlich.

Um trigonometrische Funktionen als Prozept zu begreifen, stellt Weber zunächst die Prozesse vor, die hinter dem Sinusbegriff stecken. Studierende, die dazu aufgefordert werden den Wert für \({\text{sin}}\left( {20^\circ } \right)\) zu schätzen, können diese Aufgabe auf zwei unterschiedliche Weisen lösen:

  • Sie konstruieren (mental oder auf einem Stück Papier) ein rechtwinkliges Dreieck mit einem Winkel von 20°, schätzen die Länge der Gegenkathete und der Hypotenuse des so konstruierten Dreiecks und bemerken, dass die Hypotenuse ungefähr dreimal so lang ist wie die Gegenkathete. Anschließend bilden sie das Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse und erhalten einen Wert von \(\frac{1}{3}\).

  • Sie konstruieren (mental oder auf einem Stück Papier) einen Einheitskreis in einem Koordinatensystem. Schlagen einen Winkel von 20° auf, dessen Schenkel den Einheitskreis schneidet und bestimmen den \(y\)-Wert des Schnittpunktes. Auf diese Weise erhalten sie einen Wert von ca. 0,3.

In beiden Fällen ist das Symbol \({\text{sin}}\left( {20^\circ } \right)\) stellvertretend für einen Prozess, der wiederum ein bestimmtes mathematisches Objekt liefert. Im Fall des Sinus können diese Objekte die \(y\)-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis oder das Seitenverhältnis in einem Dreieck sein (vgl. Abbildung 2.1). Weber argumentiert, dass das Begreifen trigonometrischer Funktionen als Prozept nicht nur hilfreich ist, um Werte der Funktionen zu schätzen, sondern auch, um Eigenschaften der Sinusfunktion zu begründen, beispielsweise, dass \(\sin \left( {270^{^\circ } } \right) = - 1\) oder dass die Sinusfunktion keine Werte größer als 1 annehmen kann.

Abbildung 2.1
figure 1

Sinus als Prozept

Um herauszufinden, wie sich unterschiedliche Lehrmethoden auf die Entwicklung prozeptuellem Wissens auswirken, führt Weber eine Vergleichsstudie mit einem Pre- und Posttest durch, bei der zwei Klassen im Bereich der Trigonometrie geprüft wurden. Eine der Klassen erhält eine Standardeinführung in die Trigonometrie, die andere verfolgt einen experimentellen Ansatz, der darauf ausgelegt ist prozeptuelles Denken zu fördern. Weber nutzt dazu unter anderem Arbeitsblätter, in denen zeichnerisch der Wert der Sinusfunktion am Einheitskreis bestimmt werden soll. Der Pretest besteht aus vier offen Fragen, in dem die Schülerinnen und Schüler beschreiben, was sie sich unter dem Sinus vorstellen. Der Posttest besteht aus fünf Fragen in denen unter anderem begründet werden soll, warum die Gleichung \(\cos \left( x \right)^{2} + \sin \left( x \right)^{2} = 1\) gilt. Weber stellt erwartungsgemäß fest, dass Schülerinnen und Schüler aus der experimentellen Gruppe besser dazu in der Lage waren, bestimmte Eigenschaften der Sinusfunktion zu begründen. Außerdem brachten sie Werte der Sinusfunktion mit entsprechenden geometrischen Prozessen in Verbindung, wodurch eine inhaltliche Deutung möglich war.

2.2.3 Burch – trigonometrische Schemata

Burch (1981) untersucht in seiner Arbeit die kognitiven Strukturen, die beim Lernen von Trigonometrie konstruiert werden. Dazu entwickelt er zunächst auf theoretisch-normativer Ebene Schemata zu trigonometrischen Funktionen, die später zur Analyse von Problemlösestrategien genutzt werden. Diese Schemata entspringen der Theorie der kognitiven Strukturen nach Skemp (1987) und basieren auf drei Interpretationen der trigonometrischen Funktionen:

  1. 1.

    Die Interpretation am rechtwinkligen Dreieck.

  2. 2.

    Die Interpretation im Koordinatensystem.

  3. 3.

    Die Interpretation am Einheitskreis.

Daraus entwickelt er das R-Schema für rechtwinklige Dreiecken, das C-Schema für das Koordinatensystem, das U-Schema für den Einheitskreis und das T-Schema, welches die Verbindung zwischen dem U- und C-Schema herstellt. R steht für right angled triangel, C für coordinate system, U für Unit Circle und T für trigonometry. Die von Burch entwickelten kognitiven Schemata stehen im Zusammenhang mit den Darstellungen des Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und als Funktionsgraph. Ein trigonometrisches Schema wird von Burch graphisch durch ein Netzwerk von Knoten und Kanten dargestellt (vgl. Abbildung 2.2). Die Knoten des Graphen entsprechen mathematischen Konzepten, die für einen verständigen Umgang entscheidend sind. Die Verbindungslinien zwischen den Knoten symbolisieren Operationen, die diese Zustände miteinander verbinden. Die Schemata bilden, so betrachtet, ein Modell für das Netzwerk an Grundvorstellungen, das notwendig ist um tragfähige sekundäre Grundvorstellungen aufzubauen (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Schemata werden schließlich bei Burch dazu verwendet, Problemlöseprozesse zu analysieren. Es folgt nun eine Darstellung des R-Schemas. Das R-Schema basiert auf der Definition der trigonometrischen Funktionen an rechtwinkligen Dreiecken:

Ist \(\alpha\) ein Winkel in einem rechtwinkligen Dreieck und \(a\) die Gegenkathete, \(b\) die Ankathete und \(c\) die Hypotenuse, dann gilt:

$$\sin \left( \alpha \right) = \frac{a}{c}, \;\;\cos \left( \alpha \right) = \frac{b}{c}, \;\;\tan \left( \alpha \right) = \frac{a}{b}$$

Burch identifiziert vier mathematische Konzepte, die in dem R-Schema enthalten sind. Diese Konzepte werden im Schema durch Knotenpunkte dargestellt und können unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Diese mathematischen Konzepte können elementar sein oder bei genauerer Analyse selbst wieder in kleinere Struktureinheiten zerfallen. Das Verständnis des R-Schemas hängt also grundlegend mit der Verknüpfung dieser vier mathematischen Konzepte zusammen.

  1. 1.

    Winkelmaß (AM)

    Gradmaß

  2. 2.

    Rechtwinklige Dreiecke (RT)

    Das Konzept eines rechten Winkels

    Kenntnis über die Begriffe Ankathete, Gegenkathete und Hypotenuse

  3. 3.

    Länge (L)

    Länge von Strecken

  4. 4.

    Verhältnis (R)

    Kenntnis über die speziellen trigonometrischen Verhältnisse

    Kehrwertbildung

    Äquivalenz von Brüchen

    Umkehrfunktion

In der folgenden Abbildung 2.2 ist das R-Schema mit den vier Knoten AM, RT, L und R und den jeweiligen Verbindungslinien zu sehen. Insgesamt befinden sich elf unterschiedliche Verbindungslinien im Schema. Beispielsweise kann die Verbindungslinie Calculator zwischen AM\(\to\)R und R\(\to\)AM gefunden werden. Diese Verbindung stellt die Benutzung eines Taschenrechners dar, mit dem entweder aus dem Winkelmaß trigonometrische Verhältnisse oder aus den trigonometrischen Verhältnissen das Winkelmaß berechnet wird. Andere Operationen sind das Konstruieren von rechtwinkligen Dreiecken aus den Seitenlängen L\(\to\)RT (Construct), das Bilden von Verhältnissen aus den Seitenlängen L\(\to\)R (Form Ratio) oder das Lösen von trigonometrischen Gleichungen zum Berechnen der Seitenlängen R\(\to\)L (Solve).

Abbildung 2.2
figure 2

Das R-Schema (Burch 1981)

Burch formuliert außerdem eine Reihe von Routineaufgaben, die mit dem R-Schema gelöst werden können. Jeder dieser Aufgaben ordnet er einen Pfad im Schema zu, bestehend aus einer Kette von Zuständen, die jeweils mit Operationen verbunden sind (vgl.Abbildung 2.3). Eines der Probleme lautet:

$$Sei\;tan \left( \theta \right) = \frac{3}{2} = 1,5.\;Bestimme\;cos\left( \theta \right)$$

Zur Lösung dieser Aufgabe existieren vier Wege im R-Schema.

Abbildung 2.3
figure 3

Lösungspfade im R-Schema (Burch 1981)

An der Studie nahmen insgesamt sechs Studierende teil, davon vier Männer und zwei Frauen. Von diesen sechs Teilnehmenden hatten zwei sehr gute Noten (A-students) in Mathematik, zwei sehr schlechte (D-students) und zwei mittelmäßige (B-, C- students). Jeder von ihnen wurde viermal jeweils eine Stunde lang zu einem der vier Schemata interviewt. Die Fragen der Interviews bildeten die von Burch formulierten Routineaufgaben, mit dazugehörigen Detailfragen. Zur Analyse wurden dann im theoretischen Modell gebildeten Lösungspfade herangezogen und mögliche neue Lösungspfade, die in den Interviews auftauchten, festgehalten. Auf diese Weise rekonstruierte Burch die individuellen Schemata der Teilnehmenden zu dem gegebenen Inhalt. Dabei stellte er fest, dass sich bei Teilnehmenden mit sehr guten mathematischen Leistungen ein vollständigeres Schema zeigte, als bei Teilnehmenden mit schlechten mathematischen Leistungen. Das heißt, dass die Schemata der leistungsstarken Teilnehmenden mehr Knotenpunkte und Verbindungen besaßen.

2.2.4 Fi – fachliches und fachdidaktisches Wissen und die geplante Umsetzung der Inhalte im Unterricht

Fi (2003) widmet sich in seiner Studie der Frage, in welcher Beziehung Fachwissen und fachdidaktisches Wissen von angehenden Mathematiklehrenden der Sekundarstufe zur geplanten Umsetzung der Inhalte im Unterricht steht. Es handelt sich dabei um eine explorative Studie, bei der unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen und eine umfangreiche Sammlung an fachlichen Testitems entwickelt wurde.

Dazu erhebt er Daten von insgesamt 14 angehenden Mathematiklehrenden, die bereits an Methodenkursen für den Unterricht teilgenommen und Erfahrungen im Unterrichten gesammelt haben. Die erste Phase der Datenerhebung besteht aus drei Teilen:

  1. 1.

    Ein Test zum Fachwissen im Bereich der Trigonometrie.

  2. 2.

    Eine Kartensortieraktivität zum überprüfen des fachdidaktischen Wissens.

  3. 3.

    Die Anfertigung zweier Mindmaps.

Der Test zum Fachwissen war so konzipiert, dass man ihn ohne Taschenrechner lösen konnte. Darin enthalten waren Fragen, die auf das konzeptuelle Verständnis trigonometrischer Inhalte abzielen. Inhaltlich wurden die folgenden Bereiche abgedeckt (Fi 2003, S. 46): Definitionen und Terminologien, Winkel und Bogenmaß, Umkehrfunktionen, Drehwinkel, besondere Winkel (30°, 45°, 60°) und deren Sinuswerte, trigonometrische Funktionen und ihre Graphen, Werte- und Definitionsbereiche, Transformationen trigonometrischer Funktionen, gerade und ungerade Funktionen, Kosinussatz, Periodizität, trigonometrische Identitäten, Algebra und Analysis mit trigonometrischen Funktionen und der Nutzen trigonometrischer Funktionen beim Modellieren realer Prozesse.

Es gab zwei unterschiedliche Karten-sortier-Aktivitäten. In der ersten wurden 15 Karten mit Aussagen aus der Trigonometrie ausgeteilt. Diese Aussagen mussten auf drei Stapel verteilt werden. Auf dem ersten Stapel landeten die Karten mit Aussagen die “immer wahr” sind, auf dem zweiten Stapel die, die “manchmal war” sind und auf dem dritten Stapel die, die “nie wahr” sind. In der zweiten Karten-sortier-Aktivität ging es darum Karten mit trigonometrischen Begriffen in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Diese Aktivität war darauf ausgelegt, zu überprüfen, ob die Teilnehmenden sich bewusst darüber sind, inwieweit bestimmte mathematische Konzepte als Voraussetzung für andere Konzepte dienen. Wird bei dieser Aktion der Begriff „Koordinatensystem“ nach dem Begriff „Einheitskreis“ eingeordnet, wird dies als „out-of-place placement“ [falsche Einordnung] (ebd. S. 71) eingestuft. Die so gewonnenen Daten messen nach Fi die „prerequisite integrity“ [das Wissen über notwendige Vorkenntnisse].

Fi kommt zu dem Ergebnis, dass Lehrende, die den zu lehrenden trigonometrischen Konzepten nicht explizit die notwendigen Vorkenntnisse zuordnen können, Probleme damit haben können, angemessene Unterrichtsplanungen zu entwickeln. Es kann ihnen schwerfallen, Fehler von Lernenden zu diagnostizieren und zu erklären. Auch können Schwierigkeiten auftreten, Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen trigonometrischen Aspekten und Darstellungen herzustellen. Insgesamt ist eine unzureichende Kenntnis der notwendigen Vorkenntnisse ein Indiz für schwaches fachdidaktisches Wissen (ebd. S. 207).

2.2.5 Frohn und Salle – Grundvorstellungen

Frohn und Salle (2017) formulieren in ihrem Artikel vier für die Schule relevante Grundvorstellungen zu Sinus und Kosinus: Die Verhältnisvorstellung, die Projektionsvorstellung, die Einheitskreisvorstellung und die Oszillationsvorstellung. Diese vier Grundvorstellungen werden in Beziehung zueinander und zu anderen Grundvorstellungen gesetzt, wodurch ein Blick auf das mentale Netzwerk der Grundvorstellungen im Bereich der Trigonometrie gegeben wird.

Die Verhältnisvorstellung knüpft an die Definition des Sinus als Verhältnis von Gegenkathete zu Hypotenuse am rechtwinkligen Dreieck an: „In der Gleichung \(\sin \left( \alpha \right) = \frac{a}{c}\) interpretiert man den Bruch als Verhältnis von \(a\) zu \(c\)“ (Frohn & Salle 2017). Damit baut diese Grundvorstellung auf der Grundvorstellung eines „Bruchs als Verhältnis“ auf. Der Sinus dient in diesem Zusammenhang als Werkzeug um unbekannte Größen in rechtwinkligen Dreiecken zu bestimmen.

Die Projektionsvorstellung knüpft auch an rechtwinklige Dreiecke an. In der Gleichung \(b = \sin \left( \alpha \right) \cdot c\) wird \(\sin \left( \alpha \right)\) als Faktor interpretiert, der angibt, wie stark sich die Strecke \(c\) unter einer orthogonalen Projektion verkürzt. Diese Vorstellung ist in der Physik nützlich, wenn es um die Projektion von Kräften geht, und taucht auch in der Definition des Skalarproduktes auf.

Die Einheitskreisvorstellung knüpft an die Definition des Sinus am Einheitskreis an. Salle und Frohn unterscheiden zwei Sichtweisen: mit und ohne einbeschriebenem Dreieck. Stellen Lernende sich ein einbeschriebenes Dreieck im Einheitskreis vor, so wird in der Gleichung \(\sin \left( \alpha \right) = y\) das Verhältnis der Gegenkathete mit der Länge \(y\) zur Hypotenuse der Länge 1 gebildet. Ohne einbeschriebenes Dreieck hingegen liefert \(\sin \left( \alpha \right) = y\) den \(y\)-Wert eines Punktes, der sich auf dem Einheitskreis bewegt. Der entsprechende Wert kann durch die Projektion auf die y-Achse erhalten werden.

Die Oszillationsvorstellung bezieht sich auf die Vorstellung der Sinusfunktion als Modellfunktion für periodische Prozesse. Sie baut auf der Vorstellung einer Funktion als Objekt auf, indem sie einen sich zeitlich ablaufenden Prozess als Objekt fassbar macht.

Neben diesen vier Grundvorstellungen weisen Salle und Frohn darauf hin, dass es durchaus noch weitere Grundvorstellungen geben kann, und nennen die Sinusfunktion in ihrer Potenzreihendarstellung sowie die Schwingungsdifferentialgleichung. Dabei lassen die Autoren die Frage offen, welche Sachzusammenhänge beziehungsweise empirischen Belege die Grundlage für diese Grundvorstellung bilden.

2.3 Forschungsdesiderata

Die ausgewählten Studien und deren Ergebnisse verdeutlichen, dass die Trigonometrie in mathematikdidaktischer Hinsicht großes Potential für die theoretische, wie auch für die empirische Forschung bereithält. Dies zeigt sich unter anderem in der theoretischen Auseinandersetzung mit fachlichen Aspekten trigonometrischer Funktionen, des Winkelmaßes und des Einheitskreises. Die entwickelten Verstehensmodelle, idealtypischen Lernwege und normativen Grundvorstellungen tragen weiterhin zu einer fachlichen wie auch didaktischen Durchdringung des mathematischen Inhaltes auf theoretischer Ebene bei.

In der empirischen Forschung können didaktische Theorien hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf trigonometrische Inhalte geprüft werden. Dadurch, dass der Trigonometrie in der didaktischen Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, eignet sie sich besonders dafür, um Lehr- und Lernprinzipien auf unerforschte mathematische Inhalte anzuwenden und dadurch ihre Applikabilität und Allgemeingültigkeit zu überprüfen. Nach der Sichtung des derzeitigen Forschungsstandes lassen sich einige Themengebiete ausmachen, die bisher unerforscht oder lückenhaft blieben und deren Klärung einen substantiellen Beitrag zur mathematikdidaktischen Forschung leisten. Diese Themenbereiche werden in den folgenden Forschungsdesiderata zusammengefasst.

Forschungsdesiderat 1 – Didaktisch orientierte Sachanalyse: Allgemeine Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff wurden bereits 1989 von Vollrath formuliert und sind nach wie vor relevant in der aktuellen mathematikdidaktischen Forschung (Klinger 2018). Zu diesen Grundvorstellungen zählt die Objektvorstellung, die Kovariationsvorstellung und die Zuordnungsvorstellung (Vollrath 1989; Greefrath et al. 2016). Diese Vorstellungen können auf alle Funktionsklassen gleichermaßen angewendet werden. In jeder Funktionsklasse sind diese Vorstellungen allerdings mit charakteristischen Sachzusammenhängen sowie Denk- und Handlungsweisen verbunden, die wiederum als Ausgangspunkt neuer, differenzierter Grundvorstellungen dienen können. Um den Ursprung der Grundvorstellungen zum Sinus (Frohn & Salle 2017) zu klären, benötigt es die Durchführung einer ausführlichen didaktisch orientierten Sachanalyse (Griesel 1971). Eine erste systematische Herleitung der Verhältnis- und der Projektionsvorstellung über geeignete Sachzusammenhänge wurde von Salle und Clüver (2021) durchgeführt. Eine umfassende didaktisch orientierte Sachanalyse, die auch die historisch epistemologische Genese und die Anwendungsfelder miteinbezieht, steht dagegen noch aus.

Forschungsdesiderat 2 – Grundvorstellungskonzept: Die in Abschnitt 2.2 untersuchten empirischen Arbeiten zur Trigonometrie nutzen als theoretische Grundlage das concept image, fachliches und fachdidaktisches Wissen, den Begriff des Prozept oder die Theorie der kognitiven Schemata. Die Analyse von Denkprozesse mithilfe von Grundvorstellungen ist bisher nicht durchgeführt worden. Es zeigt sich in anderen mathematischen Bereichen, dass das Grundvorstellungskonzept geeignet ist, um Schwierigkeiten beim Darstellungswechsel und bei Umbrüchen auf Vorstellungsebene zu erklären (Padberg & Wartha 2017) und Denkprozesse von Lernenden zu rekonstruieren (Kollhoff 2021). Daher scheint es vielversprechend, dieses Konzept auf den Sinus anzuwenden, der sich eben dadurch auszeichnet auf vielen unterschiedlichen Darstellungsebenen Bedeutung zu erlangen.

Forschungsdesiderat 3 – Kooperatives Problemlösen: Die wenigen qualitativen Studien, die Daten zum Umgang mit trigonometrischen Funktionen erhoben haben, arbeiten fast ausschließlich mit Interviews oder Fragebögen (Brown 2005; Weber 2005; Martín-Fernández et al. 2019). Es ließen sich keine Arbeiten finden, in denen Denkprozesse von Lernenden rekonstruiert wurden, die sich in kooperativen Arbeitssituationen befanden. Eine qualitative Beforschung kollaborativer Problemlösesituationen lässt erhoffen, einen natürlicheren und unverfälschten Einblick in die Aushandlungsprozesse von Bedeutung zu erlangen.

Forschungsdesiderat 4 – Fachdidaktisches Wissen: Es gibt kaum Studien, die sich mit fachdidaktischem Wissen im Bereich der Trigonometrie beschäftigen. Arbeiten, die das fachdidaktische Wissen erheben, haben entweder einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt (Krauss et al. 2008; Schumacher 2017) oder das fachdidaktische Wissen wird mit sehr unspezifischen Testinstrumenten erhoben, die mathematisch relevante Details kaum erfassen (Fi 2003; Challenger 2009). Challenger untersucht das fachdidaktische Wissen durch die Anfertigung von concept maps, während Fi das fachdidaktische Wissen seiner Probanden mithilfe zweier Karten-sortier-Aktivitäten überprüft. Beide Autoren bilden damit hauptsächlich den Bereich der Sequenzierungskompetenz mathematischer Inhalte ab. Der Teilbereich des Erklärens und Darstellens mathematischer Inhalte bleibt weitgehend unberücksichtigt. Die Konstruktion passender Testitems, die weitere Teilbereiche des Professionswissen angehender Lehrenden erfassen, würde dabei helfen, die Anforderungen des Lehramtsstudiums weiter zu konkretisieren und Divergenzen mit den tatsächlichen Kompetenzen der Lehrenden aufzudecken.

Die Forschungsdesiderata gliedern die vorliegende Arbeit in zwei Teile. Im Theorieteil werden Grundvorstellungen mithilfe einer didaktisch orientierten Sachanalyse hergeleitet. Im Empirieteil werden Fallstudien durchgeführt, bei denen sich Lehramtsstudierende in kooperativen Problemlösesituationen befinden. Anschließend werden die Denkprozesse der Teilnehmenden in einem rekonstruktiven Verfahren mithilfe des Grundvorstellungskonzeptes analysiert.